26

Unvermittelt begann Cornelia Johansson zu wimmern wie ein verlassenes Kind, das sich in den Schlaf weint. Ihre Schultern bebten und zuckten. Beerbaum lag regungslos da. Wie lange schon? Fünf Minuten? Zehn? Eine Viertelstunde? Das Tropfen des Wasserhahns schien lauter geworden zu sein.

Auf einmal wieder die Stimme der Frau. Tonlos. Hoffnungslos. »Es ist … Es war …« Sie kaute auf der Unterlippe. Dann sah sie auf. Starrte voller Abscheu auf ihren Mann. »Er war’s! Er hat sie umgebracht!«, keuchte sie, plötzlich wieder voller Hass und ohne jede Rücksicht auf den Sprengstoff an ihrer Brust. »Er war’s! Er!«

Das grüne Lämpchen erlosch. Es wechselte nicht die Farbe, was Alarm bedeutet hätte, es ging einfach aus.

Ich verstand nichts.

»Wen?«, fragte ich und sah abwechselnd sie und Beerbaum an. »Wen hat er umgebracht?«

Ihre Worte waren fast nicht zu hören. Erst beim zweiten Mal verstand ich: »Seine Schwester!«

Ich begriff noch immer nicht. Noch eine Tote? Hatte Hörrle eine Schwester? Gab es einen Mord, von dem ich noch gar nichts wusste?

»Verstehen Sie nicht: Hörrles Frau, Isolde, sie war doch Jakobs Schwester«, flüsterte sie. »Als ihm das Wasser schon am Hals stand, hat er sie besucht. Wollte sich ein bisschen Geld pumpen. Letzten Sommer war das. Die beiden haben sich ja nie besonders gut verstanden. Nein, das ist untertrieben, gehasst haben sie sich, gehasst. Sie war so eine Hexe, so ein zänkisches Biest. Sie hat ja mehr Geld gehabt, als sie jemals ausgeben konnte. Sie hat genau so viel geerbt wie Jakob. Aber sie hat überhaupt nichts angefangen damit, sondern es einfach nur auf die Bank gelegt und die Zinsen versoffen. Gar nicht für lange, nur für ein Jahr wollte er sich was leihen, zwei, eine, sogar eine halbe Million hätte uns gerettet. Bis der Aktienmarkt sich wieder erholt hat. Er hätte es doch zurückgezahlt! Er wollte doch nichts geschenkt! Aber das geizige Stück, sie war ja so … so ein Biest … Ausgelacht hat sie ihn. Einfach gelacht.« Sie atmete heftig und tief. Das Lämpchen an der Zündelektronik war immer noch aus. Die fünf Sekunden waren längst um. Wir lebten noch.

»Jakob kann manchmal so jähzornig sein. Und er kann es nicht vertragen, wenn man ihn auslacht«, murmelte sie tonlos. »Und schon gar nicht Isolde. Die mussten ja nur zwei Worte wechseln, schon hatten sie Krach, die beiden.«

Ich versuchte, Ordnung zu schaffen in meinem Gehirn. »Damit ich alles richtig verstehe: Hörrle ist unschuldig? Er hat seine Frau gar nicht getötet?«

Sie nickte stumm.

»Aber warum … Ich verstehe immer noch nicht … Was hatte dann McFerrin mit der ganzen Sache zu tun?«

In dem Augenblick, als ich die Frage aussprach, kam ich selbst auf die Antwort. Beim Mord an Isolde Beerbaum sprachen alle Indizien gegen ihren Ehemann. Wie Beerbaum es geschafft hatte, keine Spuren zu hinterlassen, wusste ich nicht. Vermutlich hatte er einfach nur das unverschämte Glück der Amateure gehabt. Die Heilbronner Kollegen hatten keine Spuren am Tatort gefunden, die auf die Anwesenheit eines Dritten hindeuteten. Vielleicht hatten sie nicht mit der notwendigen Sorgfalt gesucht, waren sich ihrer Sache zu sicher gewesen. Alles war ja so offensichtlich. Vitus Hörrle, der am fraglichen Abend schwer betrunkene und als gewalttätig bekannte Mann, gab den perfekten Mörder ab. Wozu also große Umstände?

Als Hörrle begriff, dass niemand ihm Glauben schenken würde, hatte er die Aufklärung des Verbrechens selbst in die Hand genommen. Da er im Gefängnis saß, brauchte er einen Helfer. In seinem alten Freund Dean Morris McFerrin fand er ihn. Der hatte für ihn den wahren Mörder ausfindig gemacht. Es hatte lange gedauert, bis er den Beweis hatte. Vielleicht keinen gerichtsverwertbaren Beweis, aber immerhin etwas, das Hörrle genügte. Am Abend vor seinem Tod hatte er ihm diesen Beweis übermittelt, in einem Brief, und Hörrle hatte sich umgehend auf den Weg gemacht, um Rache zu üben.

Ich erhob mich. »Nicht erschrecken. Ich mache Ihnen jetzt den Gürtel ab und binde Ihre Hände los.«

Mit angstweiten Augen beobachtete sie jeden meiner Handgriffe. Erst als der Gürtel ab war, entspannte sie sich und sank in ihrem Stuhl zusammen. Legte das Gesicht in die gepflegten Hände. Der Waschmittelgeruch war plötzlich stärker. Mir kam ein Verdacht. Vorsichtig öffnete ich eines der Päckchen an dem Gürtel. Sie waren aus Wachstuch gefertigt unter Zuhilfenahme von Leukoplast und viel Isolierband. In dem Päckchen befand sich weißes Pulver mit blauen Körnchen. Vermutlich hatte Hörrle nach der Explosion des Hauses überhaupt keinen Sprengstoff mehr gehabt.

Wütend schmiss ich den Krempel in die Ecke. Cornelia Johansson fuhr zusammen und riss die Hände vom Gesicht.

»Entspannen Sie sich«, sagte ich. »Es war alles nur ein Trick. Ein ganz billiger Trick.«

Sie räusperte sich erst zaghaft, dann stärker. »Das mit Isolde habe ich selbst erst heute Nachmittag erfahren«, sagte sie schließlich und starrte immer noch fassungslos die Reste des Gürtels an. »Ich habe ihn dasselbe gefragt wie Sie mich. Mir kam das auch alles ziemlich spanisch vor, mit McFerrin. Und da hat er schließlich gebeichtet. Jakob hat Dean bei diesem Abend in der Kneipe aus Versehen selbst den Hinweis gegeben, dass er es war, der Isolde umgebracht hat. Dean wusste nämlich gar nicht, wie sie ums Leben gekommen war, dass der Täter ihr das Genick gebrochen hatte. Das stand nie in den Zeitungen. Jakob hat es ihm erzählt, in einem Nebensatz nur, aber da ist Dean auf einmal alles klar geworden. Das ist nämlich der Witz dabei: Dean hat Jakob selbst gezeigt, wie das geht! Dean war in dieser Beziehung ziemlich pervers, er hatte Spaß an solchen Sachen. Deshalb hat er ja auch diese ganzen Waffen gesammelt. Und wie Jakob ihm nun beiläufig erzählt, dass der Mörder Isolde auf genau diese Weise den Hals gebrochen hat, da ist Dean aufgegangen, wer der Mörder gewesen sein musste.

Jakob war völlig durcheinander, als er an dem Abend heimkam. Gesagt hat er aber nur, dass McFerrin ihm kein Geld gibt. Dass er behauptet, er hat es nicht. Am nächsten Morgen ist er in aller Frühe nach Oberhausen gefahren, hat sich dort ein Hotel genommen, damit er ein Alibi hat. Am späten Abend ist er heimlich zurückgekommen. Aber das wusste ich damals natürlich alles noch nicht.«

Ihr Atem normalisierte sich allmählich. Die Gesichtsfarbe war schon fast wieder gesund. Immer noch beobachtete sie den Gürtel am Boden wie eine schlafende Schlange.

»Sie machen sich keine Vorstellung, wie ich erschrocken bin, als Jakob mitten in der Nacht auf einmal dasteht. Wie er Dean gefunden hat, weiß ich nicht. Jedenfalls hat er ihn gefunden. Vielleicht hatte er gehofft, er erwischt ihn, bevor er mit Hörrle reden kann. Aber das hat wohl nicht geklappt. Es ist alles schief gegangen. Jakob ist noch in der Nacht zurück nach Oberhausen, nachdem wir den Mercedes im Rhein versenkt hatten, und für ein paar Tage abgetaucht. Freunde von uns haben ein Haus auf Juist. Als wir merkten, dass Sie nicht auf ihn kommen, dass Sie ihn nicht verdächtigen …«

»… und er zudem in den Nachrichten hörte, dass Hörrle tot war, hat er seinen Urlaub beendet.«

Nun passte alles zusammen. »Ihr Mann war früher auch bei der Bundeswehr?«

»Von da haben die drei sich doch gekannt.« Sie sah mir offen ins Gesicht. »Ich weiß nicht genau, was er dort gemacht hat. Auf jeden Fall hatte er auch mit Elektronik und Funk zu tun, wie die anderen. So sind sie dann ja später ins Geschäft gekommen. Und auf diesem Weg hat Hörrle auch Isolde kennen gelernt. Und als Jakobs Eltern starben, da war er auf einmal reich und konnte seinen Job bei der Armee hinschmeißen.«

Es fiel mir schwer, die Füße zu heben, als ich zu meinem Stuhl zurückging. Der Wasserhahn unten tropfte und tropfte.

»Darf ich Sie was fragen?« Mit dunklen, verzweifelten Kinderaugen sah Cornelia Johansson mir ins Gesicht. »Muss ich ins Gefängnis?«

»Auch das wird der Richter entscheiden«, erwiderte ich müde. »Es kommt allerhand zusammen. Aber Sie werden es überstehen.«

Beerbaum seufzte leise. Sein Mund zuckte, die Gesichtsfarbe war nicht mehr gar so beängstigend wie zuvor. Offenbar stabilisierte sich sein Kreislauf. Ich griff zum Handy und wählte Vangelis’ Nummer.

 

Jakob Beerbaum hatte keinen Herzinfarkt erlitten, sondern lediglich einen schweren Kreislaufkollaps. Schon nach zwei Tagen in der Uniklinik wurde er zur weiteren Genesung ins Zentralkrankenhaus des Baden-Württembergischen Strafvollzugs in Hohenasperg verlegt. Derzeit wartet er dort auf die Eröffnung des Hauptverfahrens.

Cornelia Johansson befindet sich nach wie vor auf freiem Fuß. Auch sie hat mit einer Anklage zu rechnen wegen diverser minderschwerer Delikte wie Vertuschung einer Straftat. Aber nach Einschätzung von Frau Doktor Steinbeißer hat sie nur mit einer Bewährungsstrafe zu rechnen.

Vitus Hörrle dagegen ist uns entkommen. Unsere Techniker vermuten, dass er schon jenseits der französischen Grenze war, als ich das Haus am Hang über Schriesheim betrat. Wo er sich derzeit aufhält, wovon er lebt, ist nicht bekannt. Vielleicht ist er bei der Fremdenlegion untergekommen. Ein Luzerner Anwalt kümmert sich um sein Erbe. Die Villa in Lauffen steht zum Verkauf.

Ob Diana Gold-Fehrenbachs Geschäft mit den Chinesen vom erhofften Erfolg gekrönt war, ob die chinesischen Behörden die Erfindung von Sören Kriegel und Dean Morris McFerrin erfolgreich zur Niederhaltung der Informationsfreiheit in ihrem Land einsetzen, entzieht sich ebenfalls meiner Kenntnis. Falls ja, dann werden neue Erfindungen ihren Erfolg rasch zunichte machen.

Wenn es auf dieser Welt etwas gibt, was auf Dauer keinerlei Grenzen respektiert, weder politische noch moralische oder technische, dann ist es Information.

 

Am Morgen nach Hörrles Verschwinden und Beerbaums Verhaftung hatte ich eine lange Unterredung mit Liebekind. Noch war nicht alles erledigt, noch gab es eine Kleinigkeit zu tun. Am Ende gelang es mir, ihn von meinem Standpunkt zu überzeugen. Er gab mir im Prinzip Recht, erklärte aber in ernstem Ton, im Fall des Falles wisse er lieber von nichts. Ich handelte auf eigenes Risiko.

So fuhr ich ein letztes Mal nach Viernheim, um Vanessa Kriegel aufzusuchen.

»Sie dürfen es ruhig nehmen.«

Sören Kriegels Witwe riss die Augen auf und drückte ihr Söhnchen an sich. Als ich ihr auffordernd den Aktenkoffer hinhielt, schüttelte sie den Kopf.

»Das ist doch kriminelles Geld! Nein, ich will das nicht!«

Björn strahlte mich an und krähte begeistert. Ich lächelte ihm zu, da warf er sein Plastikauto nach mir.

»Es ist nicht ganz einfach, da haben Sie Recht. Aber man kann es auch so sehen: Den ursprünglichen Besitzer werden wir voraussichtlich nie ermitteln. Und ich glaube kaum, dass er jemals Ansprüche auf das Geld anmelden wird. Die Überbringerin ist verschwunden und will es offenbar ebenfalls nicht haben. Das Verkaufen von Hochtechnologie nach China ist rechtlich sicher nicht ganz in Ordnung, aber es wird keine Anklage erhoben, und damit ist das Geschäft nach unserer Auffassung juristisch nicht anzufechten. Ihr Mann war der letzte rechtmäßige Besitzer dieses Koffers, Sie sind seine Erbin. Und ich denke, Sie können es vielleicht brauchen.«

Als sie noch immer keine Anstalten machte, das Geld an sich zu nehmen, stellte ich den Koffer zu ihren Füßen ab, legte die Tüte Amarettini darauf, die ich für Björn gekauft hatte, strich dem fröhlich zappelnden Knirps über die klebrige Wange und ging.

 

Am Abend lud ich meine Töchter zum Essen ein, als Dank für ihre Dienste auf Kosten der Spesenkasse der Polizeidirektion. Selbstverständlich durften sie das Lokal auswählen, und entgegen meinen Befürchtungen wollten sie nicht in einen Schnellimbiss, sondern ins vornehme Restaurant des Hotel Ritter. Wir speisten lange und fürstlich. Die Zwillinge hatten sich fein herausgeputzt und bestanden darauf, alt genug zu sein, zum Essen Wein zu trinken.

Erst nach elf kamen wir glänzend gelaunt nach Hause, und ich musste an Veras Worte denken: »Kinder sind immer ein bisschen weiter, als man denkt.«

 

Was ich fast vergessen hätte: Drei Wochen nach dem Brand tauchte Anne Hörrles Katze wieder auf. Eines Morgens saß sie im Garten. Abgemagert und von Kämpfen zerzaust, aber gesund und kratzlustig wie eh und je. Heute lebt sie wieder bei ihrer Besitzerin, die den Wiederaufbau ihres Hauses plant. Woher sie das Geld dazu hat, wird wohl für immer ihr Geheimnis bleiben.