17

»Drei Personen«, sagte ich zu Vangelis, als wir in meinem Büro saßen. Wir hatten beschlossen, dass Runkel auch noch eine weitere halbe Stunde die Verantwortung tragen konnte. »Kriegel, McFerrin und Hörrle, die auf den ersten Blick nicht viel miteinander zu tun haben. Aber irgendwo muss es eine Verbindung geben.«

»Vier.« Sie betrachtete das Radar-Foto mit einer Miene, als wäre dort ein Kindermord zu sehen. »Da Hörrle McFerrin nicht auf dem Gewissen hat, muss es noch einen Vierten geben. Und dann ist da auch noch diese Frau, Diana Gold-Irgendwas.«

»Die ist aus dem Spiel. In diesem Punkt glaube ich ihrem Mann. Sie hat ein gutes Geschäft gemacht und sich irgendwohin verdrückt, wo sie ihren Gewinn in Ruhe ausgeben kann.«

Ich wählte Vanessa Kriegels Nummer. Vielleicht fiel ihr zu den Namen McFerrin und Hörrle etwas ein. Aber sie nahm nicht ab. Vermutlich war sie arbeiten. Von vier bis acht an der Kasse bei Lidl.

Als Nächstes versuchte ich es bei der SETAC. Dort meldete sich genau die Person, die ich jetzt brauchte: Frau Knorr, die noch vor einem halben Jahr Chefsekretärin gewesen war.

»McFerrin und Kriegel? Aber klar. Die haben sich gut gekannt. Ich würde sogar sagen, sie waren befreundet. McFerrin war damals bei der Heidelberger Druck gewesen. Und wenn ich mich recht erinnere, dann ist Kriegel eine Weile arbeitslos gewesen. Der war Informatiker, und damals war der große Boom der Computerbranche schon vorbei.«

»Dass Kriegel sich bei der Analytech beworben hat, verstehe ich. Aber warum McFerrin? Der hatte doch einen guten Job?«

»Das weiß ich nicht.« Sie überlegte. »Der Meyers war es, der hat die beiden angeschleppt. Damals hat’s schon ein bisschen gekriselt, und die Geschäftsleitung hat gesagt, die neuen Geräte müssen jetzt unbedingt auf den Markt. Und die alte Mannschaft …«

»Was war mit denen?«

»Eine nette Truppe war das damals, aber alle so im Alter wie der Unterweger. Und da haben sie junge Leute gesucht, frisches Blut. Sie haben den beiden vermutlich gutes Geld geboten. Die anderen waren dann bei den Ersten, die gefeuert wurden, als die neue Geschäftsleitung kam. Nur Meyers und Unterweger, die haben sie behalten. Meyers war jung genug, und der Unterweger ist ein Genie. Ohne den gäb’s die Firma sowieso nicht mehr.«

Es wurde immer offensichtlicher: Auch Meyers spielte eine Rolle in diesem Stück. Hoffentlich bedeutete der Umstand, dass wir ihn noch immer nicht gefunden hatten, nicht das, was ich inzwischen befürchtete.

»Meyers muss Kriegel und McFerrin also von früher gekannt haben«, sagte ich mehr zu mir selbst als zu meiner Gesprächspartnerin.

»Da haben Sie Recht«, erwiderte sie zögernd. »Die sind auch gleich per du gewesen. Jetzt, wo Sie’s sagen, fällt’s mir erst auf. Die waren alle drei wie … ja, wie alte Kumpels.«

Vangelis machte mir Zeichen. Ich gab ihre Frage weiter: »Sagt Ihnen der Name Hörrle etwas?«

»Hörrle? Ist das nicht dieser Geiselgangster? Nein, den kenne ich nicht. Gott sei Dank, muss man da wohl sagen.«

Ich bedankte mich mit warmen Worten. Diese Frau war Gold wert.

»Haben Sie schon das Neueste gehört?«, fragte sie zum Schluss. »Wir werden schon wieder verkauft! Die SETAC wird von der amerikanischen Konkurrenz übernommen. Heute Mittag haben wir es erfahren, per Rund-Mail, stellen Sie sich das vor! Früher, da hätte man wegen so was eine ordentliche Personalversammlung einberufen und den Leuten ins Gesicht gesehen, aber heute …« Sie seufzte. »Die Hälfte der europäischen Standorte wird geschlossen. Wegen der Synergieeffekte. Heidelberg ist auch dabei.«

»Das tut mir Leid für Sie.«

»Ach, das braucht es nicht. Ich hätte so oder so früher oder später gekündigt. Ich find schon wieder was. Aber wissen Sie, was mich freut? Dass dieser blöde Holthausen jetzt arbeitslos wird. Dass es auch mal einen von denen erwischt.«

Vangelis verabschiedete sich, um endlich in Wieblingen ihre Schicht anzutreten, und ich versuchte es noch einmal bei Vanessa Kriegel. Dieses Mal nahm sie sofort ab.

»McFerrin? Ja, den Namen hat Sören ein paar Mal erwähnt. War das nicht ein Kollege von ihm?«

»Hat er ihn schon früher gekannt?«

»Das weiß ich nicht. Da war ich ja nicht dabei.«

»Was hat Ihr Mann gemacht, bevor er arbeitslos wurde?«

»Selbstständig war er. Das habe ich Ihnen doch erzählt. Er hat eine kleine Firma gehabt.«

»Was wissen Sie darüber? Was hat die Firma hergestellt?«

»Nur, dass er was mit Computern gemacht hat. Damit hat er sich ja ausgekannt.« Aus ihren letzten Worten klang Stolz.

Im Hintergrund krachte etwas. Björn begann zu brüllen.

»Fast hätte er sogar seinen Doktor gemacht, aber dann hat er doch lieber eine Firma gegründet. Er konnte es nicht leiden, von anderen abhängig sein.«

»Und wie hieß diese Firma?«

»Warten Sie, hier liegen überall noch Kugelschreiber rum, wo es draufsteht.« Ich musste einige Sekunden warten. Was ich dann hörte, machte mich kein bisschen schlauer. »Secusoft. Secusoft GmbH.«

Björn brüllte immer noch.

»Sind im Arbeitszimmer Ihres Mannes vielleicht noch alte Unterlagen? Ordner? Disketten, CDs?«

»Bestimmt. Ich kann später nachsehen. Aber jetzt muss ich erst gucken, was dieses Kind schon wieder angestellt hat.«

Später meldete sich endlich Theresa. Wie üblich von Handy zu Handy. »Ich habe ja versucht, es ihm auszureden. Aber er freut sich schon so auf das Essen morgen Abend, du musst einfach kommen.«

Ich stöhnte auf. »Woher weiß er überhaupt, dass wir miteinander gesprochen haben? Ich hatte das deutliche Gefühl, dass er weiß, dass wir uns treffen.«

»Erstens«, erwiderte sie lachend, »ist das schlechtes Deutsch, ein Satz mit zwei Mal ›dass‹. Und zweitens, was ist das für eine merkwürdige Frage? Egonchen hat mich gebeten, dich anzurufen. Weiter nichts. Was denkst du denn?«

Ich gab mir Mühe, ihr zu glauben. »Es geht aber trotzdem nicht. Würde es helfen, wenn ich krank werde? Wenn meine Mädels Mumps kriegen?«

»Sei ein Mann und stelle dich der Herausforderung!«

Was blieb mir übrig? Wer legt sich schon gleichzeitig mit seinem Chef und seiner Geliebten an? Wir verabredeten uns auf sieben Uhr.

»Legere Kleidung, Smoking ist nicht nötig«, sagte sie am Ende. »Ich muss auflegen, er kommt.«

Sönnchen sah herein, um mir ein schönes Wochenende zu wünschen und zu fragen, wie es mir ging. Ich behauptete, es ginge mir gut, und versprach, mir endlich einmal wieder einen freien Abend zu gönnen.

»Aber wenn Sie zufällig irgendwas über eine Firma Secusoft in Erfahrung bringen, Sönnchen, dann rufen Sie mich bitte sofort an. Auch am Wochenende.«

 

An diesem Abend waren meine Töchter zu Hause, als ich die Tür aufschloss. Sie hockten in der Küche, spielten mit ihren Handys und begrüßten mich mit dieser gelangweilten Herablassung, die nur weibliche Teenager und satte Katzen aufbringen.

Die Handys hatte ich den beiden zu Weihnachten geschenkt, weil alle Handys hatten, einfach alle, nur meine armen Töchter nicht. Natürlich war das nicht ganz ohne Hintergedanken geschehen, weil ich sie so eher unter Kontrolle halten konnte, wenn sie unterwegs waren.

»Na, schon daheim?«, fragte ich leutselig. »Habt ihr was gegessen?«

»Kein Hunger«, kam es in Stereo.

»Ich hab heute Abend frei. Sollen wir irgendwas machen?«

»Keine Lust.«

Ich setzte mich, nahm ihnen die Handys weg. »Was ist los mit euch beiden?«

»Nichts.«

»Ihr bekommt eure Spielzeuge erst wieder, wenn ich weiß, warum ihr in den letzten Tagen so komisch seid.«

»Komisch?« Erstaunt sahen sie sich an. »Sind wir komisch?«

»Ihr geht nicht mehr zusammen aus. Ihr zieht euch verschieden an. Eine ist weg, die andere hängt hier rum und bläst Trübsal. Am nächsten Tag ist es umgekehrt. Da stimmt doch was nicht. Raus mit der Sprache. Ich lasse nicht locker. Geht’s um Jungs?«

»Jungs?«, fragten sie mit großen Augen zurück. Aber ich war mir sicher, den wunden Punkt getroffen zu haben. Sehnsuchtsvoll äugten sie nach ihren Handys. Nach der Tür. Nach irgendeinem Ausweg. Sie begannen zu blinzeln. Sie schluckten. Und dann fingen sie gleichzeitig an zu zetern. Über Jungs im Allgemeinen und einen bestimmten Frank im Besonderen, der zwar ein Ass in Französisch war, und ein hübscher Kerl mit unglaublich schönen Augen obendrein, aber ansonsten etwas ganz unvorstellbar Widerliches. Ein Hund, ein Schwein, ein Lügner und Betrüger und noch Diverses anderes.

Als sie sich endlich beruhigten und wieder in normaler Lautstärke und zusammenhängenden Sätzen sprechen konnten, hatte ich mir das Wesentliche schon zusammengereimt. Dieser Frank, der wirklich ein außerordentlich charakterloser Kerl und Macho sein musste, hatte meinen armen Töchtern den Kopf verdreht. Prompt hatten sie sich in ihn verliebt, beide, und dieser Schuft hatte erst versucht, meine kleine Louise herumzukriegen (»Ins Bett wollte der mit mir! Sonst nichts! Sag mal, sind alle Männer so?«) und als das nicht klappen wollte, hatte er die Front gewechselt und es bei Sarah versucht: »Jungs! Die wollen doch alle nur das Eine!«

Ich verkniff mir die Bemerkung, dass es durchaus auch Frauen gab, die nichts anderes im Kopf hatten. Wir beschlossen, heute Abend alle Handys ausgeschaltet zu lassen, und überlegten, was wir essen wollten. Plötzlich hatten sie doch Hunger. Wir einigten uns auf Spaghetti, zur Feier des Tages mit Cola, und ich fand sogar noch eine Flasche Chianti in der Küche. Es wurde ein schöner Abend, bei dem wir endlich wieder einmal zusammen lachten. Zum ersten Mal seit langer Zeit waren wir wieder so etwas wie eine Familie.

Erst als ich im Bett lag, schaltete ich mein Handy wieder ein. Aber es blieb still. Nur kurz dachte ich an das drohende Abendessen im Hause Liebekind, und dass ich völlig vergessen hatte, meine Töchter vorzuwarnen. Aber vielleicht geschah ja doch noch ein Wunder. Vielleicht bekam Liebekind heute Nacht die Grippe, oder Theresa fand im letzten Moment einen Vorwand, ihm die Veranstaltung auszureden. Über dieser Hoffnung schlief ich ein.

 

Am Samstagmorgen weckte mich die Sonne kurz nach acht. Mein erster Griff ging zum Handy. Aber es meldete keine entgangenen Alarmrufe, keine SMS. In der Welt herrschte noch Frieden. Beruhigt drehte ich mich zur Wand und schlief wieder ein.

Erst gegen neun zwang ich mich aus dem Bett, holte frische Brötchen, kochte Kaffee, leistete mir ein ausgiebiges Frühstück und blätterte die Zeitung durch. Die Übernahme der SETAC war die Meldung des Tages. Fast einhundert Arbeitsplätze waren in akuter Gefahr, für eine Stadt von der Größe Heidelbergs keine kleine Sache. Die bewegte Geschichte des Unternehmens, seine lange Tradition und die zunehmend schwierigeren letzten Jahre wurden beschrieben. Als der Kaffee leer und die Zeitung wieder zusammengefaltet war, wollte mir auch beim besten Willen keine Ausrede mehr einfallen. So zog ich meine Sportsachen an.

Über Nacht war es Frühling geworden. Frau Brenneisen winkte aus ihrem Kiosk. Auf den Gehwegen probierten bunt gekleidete Kinder ihre fahrbaren Weihnachtsgeschenke aus. Schon als ich die Rohrbacher Straße überquerte, kam ich ins Schwitzen. Am Ende der Steigung in den Wald hinauf war ich restlos außer Atem und musste ein Stück gehen, bis die Sternchen vor meinen Augen wieder verblassten. Mein Trost waren andere, jüngere sogar, denen es kein bisschen besser ging. Die überraschende Wärme hatte offenbar nicht nur mich an die guten Vorsätze der Silvesternacht erinnert.

Ein drahtiger Kerl, der aus nichts als Muskeln und Sehnen bestand, flitzte ruhig atmend an mir vorbei. Leider war er auch noch deutlich älter als ich. Erfolgreich widerstand ich dem Drang, ihm ein Bein zu stellen, und machte kehrt. Man soll sich am Anfang nicht zu viel zumuten, das liest man überall. Da ich offensichtlich außer Stande war, meine sportlichen Betätigungen regelmäßig zu betreiben, kam ich nur leider aus den Anfängen nie heraus.

Um elf war ich wieder zu Hause und fühlte mich trotz allem wie ein Sieger. Die Zwillinge saßen in der Küche, heute wieder gleich angezogen, und verputzten munter die Brötchen.

»Paps, also diese Handys …«, begrüßte Sarah mich mit vollem Mund.

»Was ist damit? Funktionieren sie nicht richtig?«

»Klar, funktionieren tun sie schon«, wand sich Louise. »Aber …«

»Aber?« Ich setzte mich zu ihnen an den Tisch. Die Zeit, die sie brauchten, um von der Einleitung bis zum Punkt zu kommen, war in der Regel ein gutes Maß für die Summe, die mich die Lösung des Problems am Ende kosten würde.

»Man kann ja bloß telefonieren damit.«

»Erstens schreibt ihr pro Tag ungefähr eine Million SMS, und zweitens hatte ich bisher gedacht, ein Handy sei ein Funktelefon. Habe ich da was falsch verstanden?«

Es war ihnen anzusehen, welche Qualen sie litten, weil das Schicksal sie mit einem so begriffsstutzigen Vater geschlagen hatte.

»Doch. Natürlich.« Endlich holten sie Luft zum Endschlag. »Man kann aber keine Fotos damit machen.«

»Fotos macht man mit dem Fotoapparat, telefonieren tut man mit dem Telefon.« In stummer Verzweiflung rollten zwei Paar große blaue Augen. »Wisst ihr ungefähr, was das Verschicken eines Fotos per Handy kostet? Dafür könnt ihr drei Ansichtskarten samt Briefmarken kaufen!«

Das Augenrollen wurde beängstigend.

»Aber alle haben Foto-Handys«, erklärte mir Louise gequält.

»Nur wir nicht«, ergänzte Sarah deprimiert.

»Und was machen diese anderen mit ihren tollen Fotos?«

Sie musterten mich wie einen Geisteskranken. »Na, angucken, was sonst?«

»Und findet ihr es nicht auch ziemlich bescheuert, Fotos zu machen, um sie sich anschließend auf einem Display anzusehen, für das man eine Lupe braucht? Wozu habt ihr die Digitalkameras, die euch Oma und Opa geschenkt haben?«

»Aber darum geht’s doch überhaupt nicht!« Grimmig machten sie sich wieder an ihre Schokoladencreme-Schmiererei. Ihre Laune wurde noch um mehrere Grade schlechter, als ich ihnen klar machte, dass wir heute Abend bei meinem Chef zum Essen geladen waren. Und dass es keine Ausrede gab. Keine.

»Müssen wir etwa Kleidchen anziehen?«, fragte Louise giftig, die ich noch vor wenigen Tagen in genau diesem Aufzug gesehen hatte.

»Es reicht, wenn ihr euch menschenwürdig benehmt und nicht allzu laut am Essen herummeckert.«

 

Als ich eine Stunde später vom Einkaufen zurückkam, waren die Zwillinge verschwunden, und das Lämpchen des Anrufbeantworters blinkte. Es war Sönnchens Stimme. Die Nachricht war erst auf den zweiten Blick interessant. Über Sören Kriegels Firma hatte sie bisher nichts in Erfahrung bringen können, dafür aber etwas anderes. Er war früher schon einmal verheiratet gewesen. Cornelia Johansson, notierte ich, Branichstraße, irgendwo in einem vornehmen Wohnviertel oberhalb von Schriesheim. Sogar die Telefonnummer hatte meine unersetzliche Sekretärin ermittelt.

Sollte ich? Sollte ich nicht? Ich trödelte eine Weile in der Küche herum, verstaute meine Einkäufe, überlegte, was ich zu Mittag kochen würde und ob ich meine Töchter dabei einplanen sollte. Nein, ich würde nicht anrufen. Auch ein Kripochef hat ab und zu ein Recht auf ein bisschen freie Zeit. Außerdem sah die Küche aus, als hätten die Hunnen darin ihr Erntedankfest gefeiert, der Wäschekorb war kaum noch zu finden unter dem Berg schmutziger Wäsche. Dienst ist Dienst, Haushalt ist Haushalt.

Eine halbe Stunde später brummten Wasch- und Spülmaschine um die Wette, das ärgste Chaos war beseitigt, und ich hielt es nicht mehr länger aus.

 

Cornelia Johansson war eine beeindruckende Erscheinung. Nicht gerade eine Schönheit, aber doch um Klassen attraktiver als Vanessa Kriegel. Ihre Haltung strahlte Ruhe und Selbstsicherheit aus, das einfache, aber gewiss nicht billige Kleid aus sandfarbenem Leinen verriet sicheren Geschmack und unaufdringlichen Wohlstand. Erst auf den dritten Blick entdeckte ich das dezente Dior-Emblem. Es war offensichtlich, dass diese Frau es mit ihrer zweiten Ehe besser getroffen hatte als mit der ersten.

»Haben Sie sich verfahren?«, waren ihre ersten, freundlichen Worte.

»Ein bisschen.«

Sie lachte. »Alle verfahren sich, wenn sie zum ersten Mal hier heraufkommen.«

Sie führte mich in einen spärlich und mit Verstand eingerichteten Wohnraum eines lichtdurchfluteten zweigeschossigen Hauses hoch am Hang über Schriesheim. Es roch nach altem Zigarettenrauch und einem Hauch von teurem Parfüm. Auf dem Couchtisch stand eine Vase mit langstieligen, dunkelroten und schon fast verblühten Rosen.

»Einen kleinen Cognac?«, fragte meine Gesprächspartnerin. »Oder sind Sie etwa im Dienst?«

Nein, ich war nicht im Dienst. Die Schwenker, die sie brachte, waren groß, der Cognac gut und zweifellos teuer. Die Flasche hatte ich nicht zu sehen bekommen. Angeberei schien nicht zu den Lastern dieser Leute zu zählen. Das große Haus lag so, dass es von der Straße kaum zu sehen war. Dem schweren Tisch mit hellgrauer Granitplatte sah man erst beim zweiten Blick an, dass er nicht aus dem Möbelmarkt stammte. Alles hier verriet: Man hatte es nicht nötig zu sparen, aber das musste nicht jeder wissen. Kinder gab es nicht in diesem Haus, das sah ich auf den ersten Blick. Cornelia Johansson setzte sich mir gegenüber auf eine weiße Couch und schlug die Beine übereinander.

»Ich habe nicht so viel Zeit«, begann sie. Das fast schwarze Haar hatte sie im Nacken nachlässig mit einer Spange hochgesteckt. »Es geht um Sören, haben Sie am Telefon gesagt. Was möchten Sie über ihn wissen?« Bei aller Freundlichkeit blieb ihr Blick distanziert. Der Name ihres ersten Mannes schien keine guten Erinnerungen ihr wecken. Ihre Stimme war ein wenig kratzig. Sie räusperte sich oft.

»Ihnen ist bekannt, dass er letzten Sommer ums Leben kam?«

»Natürlich. Aber Sie erwarten hoffentlich nicht, dass ich die trauernde Witwe spiele?« Ihr kurzes Lachen war ungekünstelt.

»Ich habe nur ein paar Fragen bezüglich seiner Firma. Was hat sie hergestellt? Wie viele Beschäftigte gab es? Können Sie sich noch an Namen von Angestellten erinnern? Und schließlich, und das ist nun wirklich die letzte Frage, warum ist sie am Ende Bankrott gegangen?«

Sie nippte an ihrem Cognac und stellte das Glas mit plötzlichem Widerwillen beiseite. »Das war keine Firma, wie Sie sich das vielleicht vorstellen. Eher eine Art Ingenieurbüro. Sie haben andere Unternehmen beraten. Anfangs hatte Sören nur drei, vier Leute. Später, auf dem Höhepunkt, vielleicht zehn oder zwölf.«

»Um welche Art von Beratung ging es dabei?«

Sie neigte den Kopf zur Seite, schob eine vorwitzige Locke hinters Ohr. »Datensicherheit. Das war damals, in den Neunzigern, ein wichtiges Thema. Sie haben für die ganz Großen gearbeitet, BASF, Daimler, MLP.«

»Könnten Sie mir das ein wenig genauer erklären? Ich verstehe nicht viel von Computern.«

Sie senkte den Blick und spielte mit ihren Fingern. Offenbar war sie nervös. Vermutlich ging ich ihr auf die Nerven, aber sie war zu gut erzogen, um es mich merken zu lassen.

»Grob gesagt ging es darum, dass niemand die E-Mails mitlesen kann, dass die internen Rechnernetze nicht von Hackern angezapft werden, dass wichtige Daten nicht in falsche Hände geraten. Eine paar Jahre hat Sören blendend verdient damit. Alle hatten damals eine Höllenangst, dass mit dem Aufkommen des Internet irgendwas Schreckliches passiert, dass man die Kontrolle verliert über die Datenströme. Die Wenigsten haben wirklich verstanden, was auf sie zukam. Und genau diese Angst, dieses Nichts-Wissen-aber-alles-Fürchten, das war sein Geschäft.«

Der Blick durch die Glasfront ins Rheintal war sehenswert. Am gegenüberliegenden Hang die Strahlenburg, unten Schriesheim mit seinen Sträßchen und Fachwerkhäusern. In der Ferne glitzerten Autos auf der A 5 in der Mittagssonne. In Richtung Süden war bereits Stau. Alle wollten ins Grüne, an die frische Luft, und nun bekamen sie stattdessen Abgase und grauen Beton. Außer dem dezenten Ticken einer modernen Uhr an der Wand war kein Geräusch zu hören. Eine hochbeinige rote Katze schlich neugierig herein und verschwand nach einem kurzen Schnuppern an meinen Schuhen so still, wie sie gekommen war.

»Man liest auch heute noch viel von Industriespionage und Computerviren, und wie viel Schaden Jahr für Jahr dadurch entsteht. Warum konnte die Firma sich am Ende trotzdem nicht halten?«

Frau Johansson nickte nachdenklich und sah an mir vorbei ins Weite. »Jedes Jahr hat Sören noch mehr Leute eingestellt. Damals hat er gedacht, er hat’s geschafft. Aber dann ist es auf einmal irgendwie schief gegangen. Diese Computerwelt dreht sich so rasend schnell. Ein halbes Jahr nicht aufgepasst, und schon sind Sie weg. Erst hat er sich mit einem großen Kunden verkracht, ich meine, es war die BASF. Er hat eine Weile herumprozessiert, weil die eine Rechnung nicht bezahlen wollten. Am Ende hat er verloren, es ging um über eine halbe Million oder sogar noch mehr. Er hatte von Anfang an keine Chance gegen die. Sören war manchmal … ich will nicht sagen streitsüchtig, aber ein bisschen schwierig. Er war eben Techniker und kein Verkäufer. Und er konnte es nicht leiden, wenn er im Unrecht war. Auch innerhalb der Firma hat es öfter Krach und Streit gegeben seinetwegen. Einer hat sogar gekündigt, weil er Sören als Chef nicht ertragen konnte.«

Sie musste sich weit vorbeugen, um den Cognacschwenker wieder in die Hand zu nehmen.

»Es war aber nicht nur das. Seine Kunden begannen mit der Zeit, eigenes Know-how aufzubauen. Die wollten den Schutz ihrer geheimsten Geheimnisse auf Dauer natürlich nicht externen Beratern überlassen. Und auf einmal musste er sich nach neuen Geschäftsfeldern umsehen. Das war nicht einfach. Die Goldgräberzeit der EDV-Branche war schon vorbei. Damals hat ja jeder, der eine Maus richtig herum halten konnte, eine Firma aufgemacht. Dann kam auch noch der Zusammenbruch dieser Internet-Euphorie, und die Preise für alles, was mit Computern zu tun hatte, sausten in den Keller. Innerhalb weniger Monate musste Sören den größten Teil seiner Leute entlassen und war auf einmal hoch verschuldet. Irgendwann kam er dann mit einer tollen Idee, etwas ganz Neues, Sensationelles, womit sie wieder groß rauskommen würden. Und damit hat er sich dann endgültig übernommen. Noch bevor sie fertig waren mit dieser genialen Entwicklung, ging ihm das Geld aus.«

»Was für eine Art von Projekt war das?«, fragte ich aufmerksam.

»Ehrlich, ich habe keinen Schimmer.« Die Bewegung, mit der sie sich über die Stirn fuhr, wirkte fahrig. Vielleicht berührte das Thema sie doch mehr, als sie wahrhaben mochte. »Ich weiß nur, dass es der Durchbruch werden sollte, ein Neuanfang, die Lösung aller Probleme. Sören hat sehr wichtig getan damit, niemand durfte etwas Genaueres wissen, nicht mal ich. Aber damals hab ich mich auch schon nicht mehr so sehr interessiert für seinen Kram.«

Bei den letzten Worten hatte ihre Miene sich verfinstert. Auf dem Tisch lagen säuberlich nebeneinander ein kleiner Keramik-Aschenbecher, eine geöffnete Packung Dunhill und ein schlankes, silbernes Feuerzeug. Ihre Hand und ihr Blick glitten immer wieder dorthin, aber jedes Mal zuckte sie zurück. Vermutlich war sie dabei, sich das Rauchen abzugewöhnen.

»Warum sagen Sie das? Warum in diesem Ton?«

Sie wandte den Blick ab und blinzelte ins Weite. »Sehen Sie, Herr Gerlach, es gibt Männer, die betrügen einen mit einer anderen Frau. Und es gibt andere, die betrügen einen mit ihrer Arbeit. Anfangs dachte ich, das Zweite wäre die bessere Variante. Aber inzwischen weiß ich, das stimmt nicht. Auf eine Rivalin kann man wenigstens mit Recht eifersüchtig sein. Auf eine Firma nicht. Das war ja das Mieseste dabei: Er hat sich auch noch groß gefühlt, wenn er wieder mal nachts um halb zwei heimgekommen ist, mir irgendwas von einem tollen Durchbruch vorgeschwärmt hat und in der nächsten Minute eingeschlafen war. ›Schatz, ich tue das doch auch für dich‹, was glauben Sie wohl, wie oft ich diese Worte gehört habe?«

»Die Trennung ist dann von Ihnen ausgegangen?«

Irgendwo trillerte ein Telefon. Mit einem entschuldigenden Blick sprang sie auf und ging hinaus in den Vorraum. Sie sprach leise, und ich konnte nicht viel verstehen.

»Nein, der ist immer noch in Urlaub … Ich glaube kaum, dass Sie das was angeht … Morgen? Ja, möglich …« Ihre Stimme wurde ungeduldig. »Okay … Ja, er wird Sie zurückrufen, wenn es wirklich so dringend ist.«

Mir fiel auf, dass es in diesem Haus nicht so sauber war, wie es dem gepflegten Ambiente entsprochen hätte. Auf der Platte des Couchtischs lag eine feine Staubschicht, der helle Teppich hatte länger keinen Staubsauger gesehen. Vielleicht war die Putzfrau erkrankt. Frau Johansson wirkte auf mich nicht wie eine Frau, die selbst zum Lappen greift.

Sie kam zurück und nahm wieder Platz. Ihr Blick klebte an der Zigarettenpackung.

»Was für eine Nervensäge«, schnaubte sie und räusperte sich schon wieder. »Schon zum dritten Mal ruft er an und will unbedingt meinen Mann sprechen wegen irgendwelcher Geschäfte.«

»Darf ich fragen, was Ihr Mann arbeitet?«

Nun nahm sie sich doch eine Zigarette. »Geschäfte. Immobilien. Aber zurzeit macht er ein bisschen Ferien. Und ich denke, er hat sich ein paar Tage Ruhe verdient.« Sie stieß den Rauch durch die Nase und sah mich finster an. »Wo waren wir stehen geblieben?«

»Von wem die Trennung ausging.«

Sie lachte unmotiviert auf und warf den Kopf zurück. »Ich weiß zwar nicht, warum ich Ihnen das alles erzähle, aber gut. Ich habe damals Jakob kennen gelernt. Wie es so geht: Vernachlässigte Ehefrau, ein wohlhabender Mann, der noch dazu nicht schlecht aussieht.« Gierig saugte sie an der Zigarette. »Jakob arbeitet auch viel und ist oft unterwegs. Aber wenn er hier ist, dann ist er hier. Wenn man ihn was fragt, dann bekommt man eine Antwort und wird nicht angeguckt wie ein Goldfisch, der plötzlich anfängt zu singen. Die Geschichte mit uns lief zwei, drei Jahre, ohne dass Sören auch nur den leisesten Verdacht hatte. Ich glaube, wenn ich einfach gegangen wäre, er hätte es erst gemerkt, wenn er im Kühlschrank kein Bier mehr gefunden hätte.«

Einige Sekunden schwieg sie und überprüfte den Nagellack an ihren Fingern. »Irgendwann fing Jakob an zu drängeln. Ich musste mich entscheiden. Und das habe ich getan.«

»Wie hat Ihr Mann reagiert?«

»Gott!« Wieder lachte sie auf. »Ein wenig rumgejammert hat er schon. Aber ich bin sicher, hätte sein Porsche einen Motorschaden gehabt, es hätte ihn härter getroffen. Finanziell gab’s keine Probleme. Ich brauchte nichts und ich wollte nichts von ihm.«

»Können Sie mir Namen seiner Angestellten nennen?«

»So viele sind’s ja nicht gewesen. Da war erst mal Dean, Dean McFerrin.« Ich war nicht einmal überrascht, diesen Namen hier zu hören. »Sören und er waren sozusagen der Kern der Firma. Ohne die beiden wäre nichts gegangen. Dann gab’s eine Sekretärin, von der weiß ich aber nur den Vornamen: Ilse. Alle haben sie immer nur Ilsebilse gerufen. Und einer hat Meyer geheißen, glaube ich.«

»Könnte es auch Meyers gewesen sein?«

Sie zog eine schiefe Grimasse. »Möglich.«

Ein Großteil der Belegschaft von Kriegels Firma hatte offenbar nach dem Zusammenbruch erst zur Analytech und später zur SETAC gewechselt.

»Und das waren alle?«

Mit einem Ruck leerte sie ihren Cognacschwenker. »Natürlich nicht. Aber wie gesagt …« Inzwischen gab sie sich keine Mühe mehr zu verbergen, dass sie mich los sein wollte.

»Haben Sie den Namen Hörrle in diesem Zusammenhang einmal gehört? Vitus Hörrle?«

»Hörrle? Warten Sie …« Sekundenlang sah sie durch mich hindurch. »Ist das so ein Quadratschädel in Uniform?«

Ich musste lachen. »So könnte man ihn beschreiben. Bei der Bundeswehr ist er allerdings nicht mehr.«

Sie nickte einige Male in Gedanken. »Irgendwas hat Sören mit dem zu tun gehabt. Fragen Sie mich aber nicht, was. Ein paar Mal hab ich den in der Firma gesehen, abends. Sie hatten irgendwas zu besprechen, dieser Hörrle, Sören und Dean. Hat immer ziemlich gedauert, und wie üblich haben sie ein Geheimnis daraus gemacht. Vielleicht kann Ilsebilse Ihnen mehr darüber sagen? Oder McFerrin?«

Offenbar hörte Frau Johansson keine Nachrichten. Ich klärte sie über die jüngsten Geschehnisse auf.

»Wie jetzt?«, fragte sie erschrocken und drückte die halb gerauchte Zigarette aus. »Tot? Dean auch?«

»Lesen Sie denn keine Zeitung?«

»Doch. Aber mehr den Teil für Überregionales. Es interessiert mich nicht besonders, wenn ein Hund unter die Straßenbahn kommt oder ein paar Studenten von der Alten Brücke in den Neckar pinkeln.«

»Wann war das, als Sie Hörrle gesehen haben?«

Seufzend langte sie wieder nach der Dunhill-Packung. Für heute war das Projekt Nikotinentzug offenbar beendet. Als das Feuerzeug schon brannte, schüttelte sie den Kopf und zerkrümelte die Zigarette im Aschenbecher.

»Ziemlich gegen Ende schon. Vermutlich hatte er was mit Sörens Projekt zu tun.«

Ich berichtete im Telegrammstil von Hörrles jüngsten Unternehmungen.

»Aber was geht denn da vor, um Gottes willen?«, fragte sie fassungslos. »Drehen jetzt alle durch?«

»Diese Frage ist der Grund dafür, dass ich hier sitze.« Ich leerte meinen Cognac und stellte den Schwenker neben die Vase mit den Rosen. »Alles scheint irgendwie miteinander zusammenzuhängen. Der Tod Ihres geschiedenen Mannes, der Mord an McFerrin, sogar Hörrles hirnloser Amoklauf. Und jetzt, nach unserem Gespräch, vermute ich, das Ganze hat mit der Firma zu tun. Vielleicht sogar mit diesem mysteriösen Projekt.«

Sie dachte lange nach. Dann sah sie erst auf die Uhr und dann in mein Gesicht.

»Sie entschuldigen. Ich habe einen Termin beim Friseur um zwei.«

Ich legte ein Visitenkärtchen auf den Tisch und bat sie, mich unbedingt anzurufen, falls ihr noch etwas einfallen sollte.

»Kriminalrat, ist das was Höheres?«, fragte sie mit plötzlichem Interesse.

»Es geht«, erwiderte ich lächelnd. »Manchmal ist es mir zu hoch.«

Als ich vor die Haustür trat, schien die Sonne noch wärmer als zuvor. Vögel probten wieder ihre Frühlingslieder. Der Stau auf der A 5 war länger geworden. Siedend heiß fiel mir ein, dass ich für den Abend noch einen Blumenstrauß für Theresa und irgendeine Kleinigkeit für Liebekind besorgen musste. Vielleicht eine Zigarre, die in seiner Sammlung noch fehlte? Oder lieber eine Flasche Wein? Das war sicherer.