21
In dieser Nacht schlief ich endlich einmal wieder tief und traumlos. Am Sonntagmorgen war ich viel zu früh wach und beschloss noch im Liegen, meinem inneren Schweinehund Beine zu machen.
Die Luft war kalt, über dem Königstuhl ging gerade die Sonne auf, und ich trabte durch die noch menschenleeren Straßen in Richtung Westen. Auf die Quälerei den Gaisberg hinauf hatte ich heute keine Lust.
Bald wurden meine Füße und Hände warm, mein Atem ging ruhig, und ich fühlte mich gut. Ich gehöre nicht zu den Menschen, deren Organismus beim Laufen Endorphine freisetzt, das Runner’s High ist mir gänzlich unbekannt, und das einzig euphorisierende an dieser sportlichen Betätigung ist für mich der Kaffee hinterher. Aber heute ging es von Schritt zu Schritt besser. Wenn ich nicht doch ein wenig außer Atem gewesen wäre, ich hätte ein Liedchen gepfiffen.
Wieder einmal war ein Fall gelöst. Die Presse würde noch ein wenig herummäkeln, weil wir Hörrles Selbstmord nicht verhindert hatten. Aber außer ihm war niemand zu Schaden gekommen, und im Grunde würden sie uns dankbar sein. Wann bekamen sie sonst so spektakuläre Bilder vor die Linsen? Nicht einmal die benachbarten Gebäude hatten gelitten. Es hätte wahrhaftig schlimmer kommen können. Sehr viel schlimmer. Anne Hörrle musste zum genau richtigen Zeitpunkt gestolpert sein, sodass der Schuss sie verfehlte. Geistesgegenwärtig war sie liegen geblieben. Nicht übel für eine alte, zu Tode erschrockene Dame.
Ich überquerte die Eisenbahn, bald blieben die Häuser zurück, und es breiteten sich Wiesen und Felder vor mir aus. In einem Gebäude des Flugplatzes war trotz der frühen Stunde schon Licht, im Osten stieg die Sonne allmählich höher. Als ich den Pfaffengrunder Sportplatz erreichte, machte ich kehrt. Der Rückweg war mühsamer, da ich jetzt den nicht starken, aber doch unangenehmen Ostwind im Gesicht hatte. Irgendwo krähten zwei Hähne um die Wette. Es roch nach schwerer, fruchtbarer Erde und vermodernden Pflanzenresten auf den Äckern.
Dieser Unbekannte fiel mir wieder ein, der einen silberfarbenen Lancia fuhr und vielleicht Biermann hieß. Eine Menge sprach dafür, dass er der Mann war, der Kriegel in den Tod gehetzt und auch McFerrin auf dem Gewissen hatte. Das Motiv im ersten Fall war klar – Geld. Aber warum McFerrin? Vermutlich hatte er versucht, seinen späteren Mörder zu erpressen. Und vielleicht hatte unser Unbekannter schließlich keine andere Möglichkeit mehr gesehen, als den lästigen Mitwisser aus dem Verkehr zu ziehen.
Dieses Mal musste ich an der Speyerer Straße stehen bleiben und auf Grün warten. Inzwischen wärmten mich die Sonnenstrahlen. Ein seegrüner Van mit fünf oder sechs Kindern auf den hinteren Sitzen kam vorbei. Sie winkten ausgelassen. Ich winkte zurück und hörte sie durch die geschlossenen Scheiben jubeln. Ein Streifenwagen fuhr langsam stadtauswärts. Die beiden Schupos musterten mich argwöhnisch. Als sie mich erkannten, grüßten sie verlegen und fuhren schneller. Die Ampel wurde grün.
Von Hörrles Mordmethode hatte der Unbekannte vielleicht in der Zeitung gelesen, von seinem Ausbruch im Radio gehört. Und so hatte er kurz entschlossen Hörrles Handschrift imitiert, um den Verdacht auf ihn zu lenken. Wer würde schon einem Kerl Glauben schenken, der mit bloßen Händen seine eigene Frau ermordet hatte?
Wir mussten diesen Mann auftreiben, dessen Name mit »Bier« begann. Jetzt, nachdem das Geiseldrama zu Ende war, hatten wir Zeit und Leute, um uns darum zu kümmern. Im Fall Kriegel würden wir ihm schwerlich etwas nachweisen können. Aber bei McFerrin musste es für eine Verurteilung reichen. Aufgrund der dürftigen Spurenlage würde es nicht einfach werden, aber unsere Chancen standen gut.
Als ich die Wohnung wieder betrat, läutete das Telefon. Ich hatte es schon von der Treppe gehört. Es war Balke. Schon der Ton seiner ersten Worte machte mir klar, es war aus mit der sonntäglichen Beschaulichkeit.
»Haben Sie schon gefrühstückt?«, fragte er heiser.
»Warum?«
»Er ist verschwunden. Hörrle. Wir finden keine Leiche im Haus. Fragen Sie mich nicht, wie er es angestellt hat, aber er ist uns durch die Lappen gegangen.«
Ich setzte mich. Meine Knie waren nicht nur von der ungewohnten Anstrengung weich.
»In den Sekunden nach der Explosion«, überlegte ich, »der Nebel, die Kameras waren blind, alle haben auf die Tante gestarrt …«
»Exakt das vermute ich auch. Und in dem ganzen Chaos muss er irgendwie getürmt sein. Sind Sie gerannt? Sie schnaufen so.«
»Aber er musste über die Straße! Irgendwer hätte ihn sehen müssen!«
»Nicht ganz. Er hat sich einfach im Schuppen am Ende des Grundstücks versteckt. Wir haben dort Spuren gefunden. Von der Küchentür hat er nur zwei, drei Sekunden gebraucht bis dorthin. Und alles gut durch den Nebel getarnt, den wir ihm freundlicherweise zur Verfügung gestellt haben.«
»Und später, als alles ruhig war, ist er in aller Seelenruhe davonspaziert.« Mir war nicht klar, ob der Schweiß, den ich mir von der Stirn wischte, von der Anstrengung herrührte oder von den neuesten Entwicklungen im Fall Hörrle. »Okay. Veranlassen Sie das Übliche. Ich dusche kurz, wir treffen uns später in meinem Büro.«
»Das Übliche ist schon veranlasst. Und noch was …«
»Keine schlechten Nachrichten mehr. Wir haben Sonntag.«
»Ich kann’s nicht ändern.« Balke lachte. »In dem Schuppen war ein Fahrrad. Und das ist jetzt verschwunden. Trotz Sonntag. Sorry.«
»Was ist mit der Tante?«
Vangelis schlug die Beine übereinander, zupfte ihren Rock zurecht und gähnte. Sie war bodenlos wütend. »Die liegt im Kurpfalzkrankenhaus und erholt sich von ihrem Schreck. Sie ist aber schon wieder ganz munter.«
»Hat schon jemand mit ihr gesprochen?«
Balke gähnte ebenfalls. Aber trotz seiner Beulen und Schrammen im Gesicht, trotz der Pleite in Wieblingen, schien er heute gut gelaunt zu sein.
»Die Ärzte meinen, sie braucht noch ein paar Stunden, bis sie vernehmungsfähig ist«, erwiderte Vangelis.
»Ich rede mit ihr. Sie kümmern sich um den Rest.«
»Wohin kann er wollen?«, fragte Balke mehr sich selbst als uns. »Was, zur Hölle, hat der Irre vor?«
Ich berichtete von meiner Theorie.
»Sie meinen, er kennt McFerrins Mörder?«
»Ich vermute, die beiden standen die ganze Zeit miteinander in Verbindung. An dem Abend, als er in Bad Friedrichshall war, hat McFerrin Hörrle eine Nachricht zukommen lassen. Wenige Stunden später ist er ausgebrochen.«
»Das ist doch sonnenklar.« Balke grinste in die Runde wie ein Schuljunge, der gerade einen genialen Streich ausgeheckt hat. »Hörrle will sich das viele schöne Geld holen.«
»Richtig. McFerrin muss irgendwie herausgefunden haben, wo es ist.« Vangelis steckte ihren silbernen Stift in die Innentasche des auf Taille geschnittenen Nadelstreifen-Jacketts und erhob sich. »Allein hat er sich vielleicht nicht rangetraut, also hat er Hörrle um Hilfe gebeten. Und der holt es sich nun alleine, nachdem McFerrin nicht mehr lebt.«
Ich wandte mich an Balke. »Haben die Hunde denn keine Spur von ihm gefunden?«
»Doch, natürlich. Vom Schuppen bis zur Straße, dann ist er aufs Rad gestiegen. Ein Nachbar hat morgens gegen halb fünf einen Kerl beobachtet, der einen Reifen aufgepumpt hat. Er sei nicht mal besonders in Eile gewesen.«
»Wenn unsere Theorie richtig ist«, überlegte ich, »dann wird Hörrle also früher oder später beim Schlosshotel in Heinsheim auftauchen.«
»Wir dürfen nicht vergessen, dass es noch einen zweiten Mann gibt, der hinter dem Geldkoffer her ist. Diesen unbekannten Herrn Biermann.« Vangelis schlug das oberste von McFerrins Fotoalben auf, die immer noch auf meinem Tisch lagen, blätterte langsam, deutete schließlich auf ein Gesicht. »Vielleicht ist es der hier?«
»Vit, Jack and me«, las Balke ratlos. »Du meinst, Jack hat auch was mit der Geschichte zu tun?«
Sie sah nachdenklich auf uns herunter. »Wir sollten das Foto Meyers zeigen.«
»Das Arschgesicht hat mein Haus in die Luft gesprengt!«, fauchte Anne Hörrle mich an, noch bevor ich die Tür hinter mir geschlossen hatte. Sie lag in einem Einzelzimmer des Kurpfalz-Krankenhauses in der Bonhoefferstraße. Auf dem Nachttisch stand eine Flasche Mineralwasser neben einem kleinen Glas. Es roch, wie es in jedem Krankenhaus riecht. Durch das Fenster sah man auf Platanen, in der Ferne glitzerte sogar ein Zipfel des Neckars. Das Kopfende ihres Betts hatte sie fast senkrecht gestellt. Nun funkelte sie mich an und wirkte, vielleicht wegen ihres glühenden Zorns, jünger als sie war. Das ungewöhnlich scheußliche, türkisgrüne Nachthemd, das man ihr vermutlich geliehen hatte, war mindestens zwei Größen zu eng. Ihr vor Empörung wogender Busen drohte es jeden Augenblick zu sprengen.
Anne Hörrle war sehr, sehr wütend.
»Wo soll ich denn jetzt hin?«, herrschte sie mich an. »Und ihr Penner lasst den Dreckskerl auch noch laufen! Habt ihr ihn schon geschnappt?«
»Noch nicht. Aber wir sind ihm dicht auf den Fersen.« Ich schob einen Stuhl neben das Bett und setzte mich.
Sie schimpfte noch eine Weile vor sich hin, dann schwollen die Adern an ihrem Hals ab, und sie schnaufte nur noch grimmig. Eine alte Frau, die vier Tage und Nächte in ständiger Todesangst verbracht hatte, hatte ich mir ein wenig anders vorgestellt. Bei den Hörrles schienen nicht nur die Männer harte Knochen zu sein.
Ich fragte, was sie über die Pläne ihres Neffen wusste.
»Pläne? Was für Pläne denn?«, fragte sie misstrauisch zurück.
»Hat er nie erwähnt, was er vorhat?«
»Abhauen. Abhauen wollt er, was sonst? Und anscheinend hat’s ja nun auch prima geklappt!« Ihre Gesichtsfarbe wurde schon wieder dunkel. »Wie könnt ihr denn diesen Saftsack davonlaufen lassen, ihr Penner? Wie viele wart ihr? Zwanzig? Dreißig? Gegen einen! Und kriegt ihn nicht mal?« Sie schüttelte den runden Kopf ob der unglaublichen Dummheit der Staatsgewalt.
Das Schlimmste war, ich konnte ihr nicht einmal widersprechen.
Eine große Krankenschwester mit dünnem, kastanienbraunem Haar trat geräuschlos ein. Als sie nach dem Arm der Patientin greifen wollte, scheuchte diese sie fort. »Hau ab, du Pillenschubse! Ich bin nicht krank! Mir hat man bloß das Haus angezündet! Und da weiß ich auch ohne dein blödes Gerät, dass der Blutdruck ein bisschen hoch ist!«
Die Schwester errötete tief und trollte sich.
Anne Hörrle erzählte mir zeternd und keifend, in Sätzen voller nie gehörter Schimpfwörter, wie sie die vergangenen Tage verbracht hatte. Am Mittwochmorgen um halb sechs hatte ihr Neffe Sturm geklingelt. Nichts ahnend hatte sie ihn hereingelassen.
»Woher soll ich denn wissen, dass der aus dem Knast ausgebüxt ist? Hab gedacht, ihr habt ihn laufen lassen. Kriegt heut nicht jeder mildernde Umstände? Lasst ihr sie nicht alle laufen? Kinderschänder, Vergewaltiger, Mörder, alles rennt doch heutzutage frei rum und sprengt friedlichen Leuten das Haus weg, wie’s gerade passt!«
Bevor sie wusste, wie ihr geschah, hatte Hörrle sie auf einen Stuhl gefesselt und ihren Mund mit einem Pflaster verschlossen.
»Dann hat er regelrecht Inventur gemacht. Wie lange wir zu essen haben, ob genug Kerzen da sind, ob Batterien in der Taschenlampe sind.«
Also hatte Hörrle sich von der ersten Sekunde an auf eine Belagerung eingerichtet. Warum? Warum hatte er sich nicht mit dem Nötigsten eingedeckt und zugesehen, dass er weiterkam? Seinen Vorsprung genutzt? Warum hatte er sich in dem Haus verbarrikadiert? Worauf hatte er gewartet?
»Später ist er runter zu seinen Sachen.«
»Welche Sachen?«
»Dieses Zeug im Keller. Er hat da einen Raum gehabt, die alte Waschküche. Früher war das seine Bastelbude, und später hat er da eben sein Zeug gehabt. Gewehre, Pistolen, Funkgeräte, was weiß ich. Ich hab da ja nie reingucken dürfen. Er hat’s mir verboten! In meinem eigenen Haus verboten!«
»Seit wann lagen die Sachen dort unten?«
Sie schien zu überlegen, ob sie sich mit einer Aussage selbst belastete. »Der hat ja schon mit sechzehn angefangen, solchen Krempel zu sammeln. Anfangs hat er nur ein Luftgewehr gehabt, mit dem hat er Spatzen geschossen. Am Ende hat er eine richtige Ausrüstung gehabt. Sogar eine Maschinenpistole, eine Uzi und so ein Präzisionsgewehr für Scharfschützen und Sprengstoff mit Zündern und alle möglichen elektronischen Geräte.«
»Und da haben Sie keine Angst gehabt all die Jahre?«
»Woher soll ich denn ahnen, dass dieser Idiot auf seine eigenen Leute schießt? Und ich hab ja auch gar nicht so genau gewusst, was er da im Keller immer bastelt und lötet. War mir auch egal. Lieber tüftelt er im Keller, als dass er auf der Straße rumhängt, hab ich gedacht. Da macht er wenigstens keine Dummheiten, hab ich gedacht, ich blöde Kuh.«
Später hatte Hörrle sie losgebunden und ihr das Pflaster vom Mund gerissen. Sie hatte ihm versprechen müssen, nicht herumzuschreien und keinen Ausbruch zu versuchen.
»Das Telefon hat er gleich rausgezogen, der Mistbeutel, und im Schrank eingeschlossen. Und die Türen verrammelt mit allem, was er finden konnte.«
»Und dann?«
»Nichts. Wir haben da gehockt und uns dumm und dämlich gelangweilt. Nur das Radio hat er dauernd angehabt, wegen den Nachrichten, und manchmal auch den Fernseher. Wenn was über ihn gekommen ist, dann hat er gelacht. Nur ein Mal, wie sie gesagt haben, er hätte diesen Typ umgelegt, den mit dem schottischen Namen, da hat er sich furchtbar aufgeregt.«
»Ich weiß. Daraufhin hat er mich angerufen.«
»Sie sind das gewesen?« Sie betrachtete mich neugierig. »Dann sag ich lieber nicht, was er alles über Sie abgelästert hat. Sonst werd ich am Ende noch wegen Majestätsbeleidigung verknackt.«
»Sonst hat er unseres Wissens nie telefoniert.«
»Aber wie! Immer wieder!«
»Das kann nicht sein. Die Leitung war angezapft. Wir hätten es gemerkt.«
»Er hat ein Handy gehabt.«
»Da war nie ein Handy eingeschaltet. Unsere Messgeräte haben jedenfalls nichts angezeigt.«
»Was weiß ich, wie er das wieder angestellt hat. Ich versteh ja nichts davon. Aber der Vitus, der kennt sich aus mit so Zeug. Wie oft hat er getönt, er könnt’s mit jedem Geheimdienst der Welt aufnehmen bei dem ganzen Zeug in meiner alten Waschküche!«
»Können Sie sagen, mit wem er telefoniert hat?«
»Er ist immer rausgegangen dazu. Und wenn ich lausche, hat er gesagt, dann legt er mich um.«
»War er immer schon so gewalttätig?«
»Ich weiß nicht. Ja. Schon.« Sie sah zum Fenster hinaus und schnaufte. »Die Irene, das ist meine Schwester, ist ihm keine gute Mutter gewesen. Sie war gerade mal siebzehn, als sie ihn gekriegt hat. Wie er klein war, da hat sie ihn zwei, drei Mal um ein Haar totgeschlagen. Drum hat das Jugendamt ihn dann ins Heim gesteckt.« Plötzlich starrte sie mich an. »Und ich dumme Kuh hab ihn zu mir genommen, weil er mir Leid getan hat. Da ist er acht gewesen und – na ja – eigentlich ein ganz Netter. Aber wissen Sie, was er gemacht hat? Noch keine vier Wochen ist er bei mir, da prügelt er meine Katze windelweich. Nur, weil sie ihn ein bisschen gekratzt hat! Und dabei ist sie noch so jung gewesen und so lieb und eine hübsche dazu! Nicht so eine Kratzbürste, wie ich jetzt eine hab.« Ihr Blick wurde trüb. »Ihr habt nicht zufällig eine graue Katze gefunden? So eine kleine, drahtige, die sich nicht anfassen lässt?«
Verlegen schüttelte ich den Kopf.
»Na ja«, murmelte sie nach kurzem Schweigen. »Werd ich mir eine neue holen müssen. Katzen gibt’s ja jede Menge.«
»Dieses Handy, hat das auch zu seiner Ausrüstung gehört?«
»Das ist kein richtiges Handy gewesen. Es war viel größer als normal.«
Ich bat sie, kurz zu warten, und ging hinaus, um zu telefonieren.
»Puh! Das gibt aber ’ne verdammte Menge Arbeit«, maulte Balke. »Wir wissen ja nicht mal, mit welchem Trick er sich in welches Netz eingeschlichen hat. Und das sind vermutlich tausend Gespräche, die jeden Tag über die infrage kommenden Antennen gehen.«
Natürlich hatte er Recht. Was ich vorschlug, war die Suche nach einer Stecknadel in einem ungeheuren elektronischen Heuhaufen.
»Versuchen wir es trotzdem. Jetzt können unsere Techniker mal zeigen, was sie können.«
Ich ging wieder hinein.
»Wie ist es Ihnen eigentlich gelungen zu fliehen?«
Anne Hörrle starrte mich verständnislos an.
»Ist er eingeschlafen? War er auf dem Klo?«
Sie zupfte am bestickten Saum Ihres Nachhemds beim vergeblichen Versuch, ihren Busen besser zu verbergen.
Plötzlich begriff ich, wie es abgelaufen war. Auf einmal war mir klar, warum Hörrle seine Tante nicht getroffen hatte.
»Er wollte Sie gar nicht treffen?«
»Ich soll laufen, hat er gesagt, und wenn er schießt, dann soll ich mich hinfallen lassen und tot stellen. Und wenn ich’s nicht richtig mach, hat dieser Flachwichser gesagt, dann schießt er nochmal, und dann richtig. Dann bräuchte ich nicht so zu tun, als wär ich hin. Vorher hat er stundenlang rumgeräumt. Überall solche Kistchen hingemacht und Drähte angeschlossen. Da war mir klar, der hat was vor.« Entnervt gab sie die Zupferei auf. »Ich hab bloß nicht gewusst, was.«
»Und Sie haben ihm geglaubt, dass er tatsächlich auf Sie schießen würde?«
»Wer seine Frau totschlägt, der bringt auch seine Tante um.«
»Können Sie sich erklären, warum er so lange gewartet hat mit seinem Ausbruch? Ist irgendwas Besonderes vorgefallen, gestern im Lauf des Tages?«
Sie zog eine mürrische Grimasse. »Hab mich die ganze Zeit gefragt, wie der Blödian da lebend rauskommen will. Wart’s ab, Anne, hat er nur gesagt und gelacht. Der hat einen Plan gehabt, das war mir klar. Der hat auf irgendwas gewartet. Auf was, hat er mir nicht gesagt.«
Als ich das Krankenzimmer verließ, hörte ich die alte Frau murmeln: »Vielleicht wär’s besser gewesen. Vielleicht hätte sie ihn totschlagen sollen, damals.«