Kapitel Einunddreißig

1

»Merkwürdig«, sagte Frank und schlug mit dem Finger auf das Kompaßglas, »der Zeiger bleibt nicht stehen. Die alberne Nadel springt immer wieder nach Süden. Hugh, sieh doch mal, was dein Kompaß anzeigt.«

Sie saßen um ein Lagerfeuer. Es waren auf den Tag genau vier Wochen vergangen, seit sie in Kalagandra zu dieser Expedition aufgebrochen waren. Die Gruppe war wegen der Stürme in der Großen Bucht erst spät nach Westaustralien gekommen. Der Kapitän mußte immer wieder in kleineren Häfen entlang der südaustralischen Küste Schutz suchen. Und als sie schließlich Kalagandra erreicht hatten, fanden sie keine Männer, die bereit waren, in die Wüste zu ziehen, um eine verschollene Frau zu suchen, denn wer nach Kalagandra kam, hatte es auf Gold abgesehen. Deshalb waren seit der Abreise von Merinda beinahe drei Monate vergangen, bis sie schließlich Männer, Kamele und Proviant zusammenhatten. Am ersten Tag im November brach die Karawane ins Unbekannte auf.

Und jetzt, achtundzwanzig Tage später, glaubten sie, in der Nähe der Stelle zu sein, an der die Flutwelle Joanna und ihre Gefährten überrascht hatte. Hugh und Frank hatten Eric Graham im St.-Albany-Krankenhaus besucht, wo Schwester Veronika ihn pflegte. »Wir hatten uns verirrt«, berichtete Graham, »keiner der Kompasse funktionierte mehr, und dann kam die Flutwelle. Hätten mich die Goldsucher nicht zufällig gefunden, wäre ich wie die anderen gestorben.«

Hugh zog seinen Kompaß aus der Tasche und blickte auf den Zeiger. »Ja«, sagte er und nickte, »mit meinem ist auch etwas nicht in Ordnung. Und Eric hat gesagt, etwa an diesem Punkt sei das Unglück geschehen.«

Graham hatte ihnen eine ungefähre Karte von ihrem Weg in die Wildnis gezeichnet. Sein Notizbuch war von der Flutwelle davongetragen worden, aber er hatte sich unterwegs besondere Merkmale der Landschaft eingeprägt. Hugh entfaltete jetzt die Karte und betrachtete sie im Schein des Lagerfeuers.

»Na gut«, sagte er, »Eric hat erzählt, sie sind immer nach Osten gezogen und haben durchschnittlich fünfundzwanzig Meilen pro Tag zurückgelegt. Nach vier Wochen waren sie ungefähr hier, wo er die zackige Hügelkette eingezeichnet hat. Die haben wir vor drei Tagen gesehen. Wir müssen demnach ganz in der Nähe der Stelle sein, wo die Flutwelle sie überrascht hat.«

Frank blickte ebenfalls auf die Karte, die hier endete. »Und wohin ziehen wir jetzt?« fragte er.

»Jetzt müssen wir uns auf Ezekial und die beiden schwarzen Fährtensucher verlassen«, erwiderte Hugh, rollte die Karte zusammen und steckte sie in seine Satteltasche. »Morgen suchen wir die Gegend nach Hinweisen auf das letzte Lager ab. Wenn Joanna oder Lisa oder sonst jemand überlebt hat, dann konnten sie nach der Flut vielleicht einiges an Vorräten wiederfinden, hier irgendwo ein neues Lager aufschlagen und auf Rettung warten. Ich glaube, sie waren klug genug, nicht weiterzuziehen.«

»Aber was ist, wenn sie zum Weiterziehen gezwungen waren?« fragte Frank. »Ich meine, wir haben hier in dieser Gegend kein Wasser gefunden. Sie mußten sich vielleicht auf die Suche nach einem Wasserloch machen.«

»Wie auch immer, zu Fuß wären sie nicht weit gekommen. Sie wären bestimmt an der ersten Wasserstelle geblieben. Es hätte keinen Grund gegeben, weiter in die Wüste zu wandern.«

Hugh musterte seinen Freund nachdenklich. »Was ist, Frank? Was beschäftigt dich?«

»Ich denke nur, Hugh, wie ich Joanna kenne, hat sie sich vielleicht entschlossen, die Suche nach Karra Karra fortzusetzen. Da sie bereits soweit gekommen war, wollte sie möglicherweise nicht einfach die Hände in den Schoß legen und darauf warten, gerettet zu werden.«

Hugh trank einen Schluck Wasser aus dem Krug. »Ja«, sagte er, »daran habe ich auch schon gedacht.«

Er blickte zu Sarah. Sie starrte schweigend mit ihren rotbraunen Augen ins Feuer. Sie behauptete noch immer, Joanna und Lisa seien am Leben. Ihre Gewißheit wuchs, je weiter sie nach Osten kamen.

»Also gut«, Frank verstaute seinen Kompaß, »wenigstens sehen wir die Sonne und die Sterne und können uns nicht verlaufen. Gott sei Dank sind keine Wolken am Himmel.«

Die Rettungsexpedition bestand aus zehn Mitgliedern: Hugh und Frank, drei Arbeiter von Merinda, Sarah und der alte Ezekial. Sie waren zusammen von Melbourne mit dem Schiff nach Perth gefahren und von dort mit dem Zug nach Kalagandra. Wachtmeister Ralph Carruthers hatte sich ihnen freiwillig in Kalagandra angeschlossen, ebenso die beiden schwarzen Fährtensucher Jacky-Jacky und Tom. Sie hatten fünfzehn Kamele bei sich, Proviant und Wasser für mehrere Monate, Verbandszeug und Medikamente, Kompasse, Zelte, Werkzeuge, Gewehre und Munition.

»In welche Richtung reiten wir morgen, Mr. Westbrook?« fragte Wachtmeister Carruthers. Bis jetzt fand er die Expedition langweilig; Tag für Tag saßen sie in der glühend heißen Sonne auf den Kamelen und nachts um ein Lagerfeuer. Carruthers war jung und nicht verheiratet. Ihn lockte das Abenteuer, und deshalb hatte er sich zur Grenzpolizei gemeldet. Als Kommissar Fox von der Rettungsexpedition sprach, hatte Carruthers endlich eine Möglichkeit gesehen, etwas wirklich Aufregendes zu erleben, und sich freiwillig gemeldet.

»Wir reiten weiter nach Osten, Mr. Carruthers«, Hugh blickte in die schwarze Nacht, die sie umgab. Ist Joanna wirklich hier entlang gezogen, fragte er sich. Ist sie womöglich ganz in der Nähe? Er blickte zu dem weißen, runden Mond hinauf und hoffte, Joanna werde in diesem Augenblick wie er den Mond betrachten und vielleicht sogar an ihn denken. Er fühlte sich ihr so nah. Er dachte an die vielen gemeinsamen Nächte, an die Stunden der Liebe und Leidenschaft. Er dachte an das gemeinsame Lachen und an alles, was sie teilten, was sie zusammen geschaffen hatten. Er betete, daß Joanna und Lisa am Leben waren und weigerte sich, etwas anderes zu glauben. Er war entschlossen, sie zu finden. Er würde die Wüste ohne sie nicht verlassen.

»Wohin Ezekial wohl gegangen ist?« fragte Frank.

Hugh sah seinen alten Freund an und rechnete nach, wie viele Jahre sie sich schon kannten. Er erinnerte sich noch gut an den eher aufgeblasenen jungen Besitzer von Lismore und der Melbourne Times. Frank hatte sich mit ihm angefreundet, als alle anderen Schafzüchter den jungen Queensländer keines Blickes würdigten und ihn allein auf seiner Farm mit allen Widrigkeiten kämpfen ließen. Plötzlich tauchten in Hugh Ereignisse und Gespräche aus der längst vergessenen Vergangenheit wieder auf – eine Landwirtschaftsausstellung, bei der Ian Hamilton zum ersten Mal das Wort an ihn gerichtet hatte; ein Nachbarschaftsfest und Frank, der zu ihm sagte: »Paß auf, Hugh, ich glaube, meine Schwester Pauline hat ein Auge auf dich geworfen.« Seltsam, dachte Hugh, wie die Sterne und die Stille der Wüste Erinnerungen wecken …

»Er wollte sich in der Gegend umsehen und nach Spuren eines Lagers suchen. Ezekial kann im Dunkeln so gut sehen wie eine Katze.«

»Also dann«, Frank stand seufzend auf und rieb sich den Rücken, »ich lege mich schlafen.« Er hatte zwar auf dieser Expedition abgenommen, besaß aber trotzdem noch nicht die richtige Kondition für ein solches Abenteuer. Jetzt bedauerte er sein seßhaftes, bequemes Leben und wünschte, Ivys Rat befolgt zu haben. Sie ermahnte ihn ständig, aktiver zu sein und nicht nur ›seinen Kopf zu bewegen‹. Frank war jetzt beinahe fünfzig, und an diesem Abend spürte er sein Alter mehr denn je. Auf dem Weg zum Zelt, das er mit Hugh teilte, gelobte er stumm, nach seiner Rückkehr wieder regelmäßig zu reiten, auf die Jagd zu gehen, zu segeln und es vielleicht sogar mit diesem neuen Sport zu versuchen, von dem alle redeten – ja warum nicht, dachte er, ich könnte auch Tennis spielen, um in Form zu bleiben.

Auch Carruthers beschloß, sich hinzulegen. Er wollte ausschlafen, um für alles gewappnet zu sein, was der morgige Tag außer einem langen Ritt bringen würde. Die Fährtensucher und die drei Männer von Merinda lagen schon unter ihren Decken neben den wiederkäuenden Kamelen. Nur Hugh und Sarah blieben am glühenden Feuer sitzen.

Sie schwiegen eine Weile und blickten auf den dampfenden Tee im Kessel. Hin und wieder hoben sie den Kopf und blickten zu den Sternen auf, als wollten sie sich davon überzeugen, daß es sie noch gab.

Hugh hatte in den vergangenen Wochen eine Veränderung an Sarah gespürt. In der Wüstensonne war ihre Haut noch dunkler geworden, und ein gewisses Strahlen ging von ihr aus. Aber es ist nicht nur das, dachte er. Sie war sehr still geworden und sehr in sich gekehrt. Er wußte, daß sie jede Nacht, wenn sie glaubte, alle anderen würden schlafen, das Lager verließ und in die Wüste wanderte. Meistens kam sie nach ungefähr einer Stunde wieder zurück, manchmal aber auch erst kurz vor Anbruch des Tages.

»Ich glaube, wir sollten uns auch schlafen legen«, sagte Hugh. »Morgen haben wir keine Karte, an der wir uns orientieren können, und auch die Kompasse funktionieren nicht mehr.«

»Ich bleibe noch eine Weile hier sitzen. Gute Nacht, Hugh.«

Sarah stocherte in der Glut und dachte an Philip. Sie dachte daran, wie er sie im Hafen zum Abschied geküßt hatte, ohne sich darum zu kümmern, daß alle Leute zusahen. Die vier Wochen in der Wüste hatten ihr die Zeit und die Stille gebracht, um nachzudenken und um sich zu prüfen. Sarah dachte auch an Joanna. Sie hatte ihr Schicksal selbst in die Hand genommen. Sie hatte nicht die Hände in den Schoß gelegt und darauf gewartet, daß das Leben sich einfach ereignete. Sie hatte ihr Ziel ins Auge gefaßt und sich auf den Weg gemacht. Joanna hatte ihre eigene Geschichte geschaffen und sie nicht für sich erschaffen lassen.

So muß ich es auch tun, dachte Sarah. Ich kann mir Joanna zum Vorbild nehmen. Ich muß selbst entscheiden, was ich will, und dann meinem Traumpfad bis zum Ende folgen. Aber wie soll das geschehen? Ich möchte Philip – nichts anderes. Aber uns stehen so viele Gesetze und Tabus im Weg.

Als Sarah glaubte, daß alle schliefen, wanderte sie so weit in die Wüste hinaus, wie sie es wagen konnte. Sie achtete darauf, daß sie das Lager immer noch sah, aber mit Sicherheit von niemandem gesehen wurde. Sie erreichte eine Stelle, wo sie unwillkürlich stehenblieb und zu den Sternen hinaufblickte. Sie fühlte die Anwesenheit aller Ahnen. Sie spürte das Wesen der Geister, die vor ihr auf diesem Weg gezogen waren, sei es als Schöpfer-Wesen oder als Menschen: John und Naomi Makepeace auf der Suche nach dem zweiten Garten Eden; Emily, Joannas Mutter, mit der jungen Reena auf der Flucht vor einer tödlichen Gefahr. Sarah wußte, daß die Leidenschaften, Gefühle, Gedanken und Träume all jener, die hier durchgezogen waren, noch immer lebendig waren. Sie drängten sich flüsternd um Sarah wie die winzigen Fische eines Schwarms um einen größeren Fisch. Sarah spürte ihren Atem an ihrem Körper. Sie hörte Gemurmel und das Schlagen von Herzen. Und sie dachte: Ich werde auch meine Liebe diesem Ort überlassen.

Sarah schloß die Augen und versuchte, ihren Geist durch die Nacht zu schicken. Sie stellte sich vor, daß Philip über die große Entfernung hinweg darauf wartete, ihn zu empfangen. Sarah spürte, wie er sich nach ihr sehnte und sie umarmte. Sie fühlte seinen harten, leidenschaftlichen Körper, den Druck seiner Lippen auf ihrem Mund. Sie sehnte sich danach, ihn zu umarmen und sich ganz seiner Liebe zu überlassen.

Dann schoß ihr ein anderes Bild durch den Kopf: die Blicke der Leute im Hafen. Ein Weißer, der in aller Öffentlichkeit eine Schwarze küßte, und einige wußten, daß dieser Mann auch noch verheiratet war.

Philip, dachte sie, was sollen wir nur tun?

Plötzlich hörte sie Schritte in der Dunkelheit. Sie drehte sich um und sah Ezekial durch den Sand auf sich zukommen. Er setzte sich neben sie und blickte zu den Sternen hinauf. »Dorthin gehören wir«, sagte er leise, »das ist die Heimat der Schwarzen. Du und ich, wir beide sind Aborigines.«

Sarah wartete. Nach kurzem Schweigen streckte Ezekial die geöffnete Hand aus. Sarah sah einen blauen Ohrring.

»Das ist Joannas Ohrring!« rief sie. »Wo hast du ihn gefunden?«

»An einem Baum nicht weit von hier. Sie hat ein Zeichen hinterlassen. Sie geht in diese Richtung«, er deutete nach Osten. »Dort ist die Missus.«

»Du meinst, sie hat einen Wegweiser hinterlassen?«

»Sie erschafft einen Traumpfad.«

»Ezekial, das ist ja wunderbar! Wir müssen es sofort Hugh sagen!«

Aber er bedeutete ihr mit einer Geste, sitzenzubleiben. »Ich gehe nicht mit. Ihr werdet sie jetzt auch ohne mich finden.«

»Was bedeutet das, Ezekial?«

»Ich heiße Geerydjine«, erwiderte er. »Die Weißen haben mir vor langer Zeit meinen Namen genommen. Sie nennen mich Ezekial. Aber ich bin Geerydjine. Heute sind wir am Träumen des Emu-Ahnen vorbeigekommen. Ich werde dorthin zurückkehren, und dort will ich bleiben. Ich gehe zurück zu meinen Ahnen.« Er schwieg, und Sarah sah, wie seine Augen leuchteten. Er erhob sich, sie stand ebenfalls auf. Sie verneigte sich vor ihm, er umarmte sie. Sarah spürte seinen rauhen Bart an ihrem Gesicht. Erstaunt spürte sie seine zerbrechlichen Knochen und den schmächtigen Körper. Sie hatte Ezekial immer für stark und kräftig gehalten. Aber jetzt war er ein alter Mann, der seine Aufgabe im Leben erfüllt hatte.

Sarah sah ihm nach, als er langsam davonging und schließlich in der Nacht verschwand. Sie versuchte nicht, ihn aufzuhalten. Sie wußte, er handelte, wie es bei den Aborigines Sitte war. Er starb allein, in Würde, und nur er wußte, wann seine Zeit gekommen war.

Sie betrachtete den Ohrring, den er ihr gegeben hatte und dachte an den Traumpfad, den Joanna erschuf. Sie hörte die Worte des alten Ezekial in sich: »Wir beide sind Aborigines«, und sie lösten in ihr ein gewaltiges Echo aus.

Plötzlich sah Sarah ihren Weg so klar und deutlich vor sich, als führe er, vom Mond beschienen, durch die Wüste. Er führte sie durch das Land der Aborigines, durch das Land der Weißen und geradewegs zu Philip. Am Ziel angekommen sah Sarah, wie sie in die Arme des Mannes lief, den sie liebte. Sie küßte ihn, denn es gab nichts, dessen sie sich schämen mußten. Sie brachen keine Gesetze, denn sie war eine Aborigine. Geerydjine hatte sie daran erinnert, hatte ihr die Identität wiedergegeben. Und es war für Sarah wie ein befreiendes Geschenk, denn die Gesetze ihres Volks gaben ihr das Recht, einen Mann zu ihrem Ehemann zu erklären, und er konnte mehr als eine Frau haben.

Jetzt wollte sie die Suche nach Joanna und Lisa so schnell wie möglich wieder aufnehmen, damit sie bald nach Merinda zurückkehren konnten. Sarah verharrte noch eine Weile in dankbarem Schweigen und verabschiedete sich stumm von Geerydjine. Dann eilte sie zurück zum Lager. Sie wollte Hugh wecken und ihm sagen, daß sie Joanna finden würden.

2

Joanna trat aus dem Sonnenlicht in die Dunkelheit der Höhle. Sie blieb stehen und vergewisserte sich noch einmal, daß der Lederbeutel sicher an ihrem Rockgürtel hing. Dann hob sie die Fackel. Um sie herum summte der Berg. Sie spürte seine Kraft. Joanna hatte fast den Eindruck, sich einem lebenden Wesen anzuvertrauen. Vom Eingang der Höhle führte ein ausgetretener Pfad in die tiefe Dunkelheit. Vermutlich hatten die Füße zahlloser Generationen von Müttern mit ihren Töchtern den roten Stein geglättet. Als das Tageslicht allmählich hinter ihr zurückblieb, überließ sich Joanna ganz dem mächtigen, pulsierenden Berg. Was würde sie am Ende des Pfads erwarten?

Lisa wartete besorgt am Eingang der Höhle und lauschte auf die verhallenden Schritte ihrer Mutter. Sie blickte auf die zahllosen Aborigines unten in der Ebene, roch den Rauch der vielen Lagerfeuer und hörte das Singen und Trommeln. Als die Schritte ihrer Mutter nicht mehr zu hören waren, stellte Lisa fest, daß sie Angst bekam. Sie war nun allein unter vielen hundert Aborigines. Sie stand auf und ging unruhig auf und ab. Sie blickte zur Sonne hinauf, die langsam den Zenit erreichte, und fragte sich, wie lange ihre Mutter wohl im Berg bleiben werde.

Ihre Unruhe wuchs. An einem der Lagerfeuer tanzten die Männer die Geschichte einer Känguruh-Jagd. Sie hatten ihre nackten Leiber bemalt. Sie trugen Speere und Bumerangs, stießen durchdringende Schreie aus und verzerrten die Gesichter zu erschreckenden Grimassen. Die Männer sahen wild, gefährlich und grausam aus.

Lisa blickte auf den Eingang der Höhle. Das Sonnenlicht fiel auf den Pfad, der in die Dunkelheit führte. Sie warf noch einmal einen Blick auf die lärmenden Menschen hinunter, und ohne weiter zu überlegen lief sie in die Höhle und in den Berg.

*

Joanna verlor jedes Zeitgefühl, während sie dem dunklen, gewundenen Pfad folgte. Die Flamme der Fackel warf gespenstisch tanzende Schatten an die Wände. Sie bemerkte verschiedenfarbige Gesteinsschichten. Leuchtendgrüne Bänder zogen sich durch Rot, Orange und Braun. Sie spürte, wie sich die Haare in ihrem Nacken sträubten, aber nicht weil sie Angst hatte, sondern von der Kraft des Berges. Vielleicht lag es an dem Magnetismus, wie Lisa gesagt hatte. Aber vielleicht war es auch etwas anderes. Joanna fragte sich: Kann ein Berg einen Pulsschlag haben, eine Kraft wie ein Mensch?

Der Pfad wurde schmaler. Die Wände rückten so nahe zusammen, daß der Stein ihre Schultern berührte. Die Decke war jetzt so niedrig, daß sie sich bücken mußte. Tiefer und tiefer führte sie dieser Pfad, tief in das Herz der Erde. Manchmal wurde der Gang so schmal, daß sie kaum wagte, weiterzugehen.

Die Zeit verging, die Dunkelheit nahm zu. Bei jedem Schritt spürte sie das Gewicht und die Masse des Bergs. Joanna hörte ihren eigenen Atem, und er klang viel zu laut. Sie glaubte, wenn sie stehenblieb, dann würde sie ihren Herzschlag so laut wie Donner hören, dessen Echo sich an den unterirdischen Felswänden brach.

Sie drang immer weiter in die Tiefe vor. Das Blut pochte ihr in den Ohren. Die Luft veränderte sich und wurde schwerer. Die Fackel qualmte, die Flamme zuckte. Joanna fürchtete, sie werde ausgehen. Sie wußte, ohne Fackel befand sie sich wie eine Blinde in undurchdringlicher Dunkelheit.

Plötzlich hörte sie ein Geräusch. Sie blieb stehen und lauschte. Es war ein leises rhythmisches Klopfen.

Ihre Pupillen weiteten sich in der Dunkelheit. Das Licht der Fackel war so schwach, daß sie nur wenige Schritte weit sehen konnte. Bei jedem Schritt hatte sie das Gefühl, durch festen, schwarzen Fels zu gehen. Aber der Pfad führte immer tiefer hinab.

Hin und wieder blieb Joanna stehen und lauschte. Das Klopfgeräusch setzte nicht mehr aus. Manchmal schien es lauter, dann wieder leiser.

An den Felswänden entdeckte sie plötzlich seltsame Zeichnungen. Im Schein der zuckenden Flamme schienen die Gestalten auf den Wänden zu tanzen und sich zu bewegen. Sie blickte staunend auf Männer und Frauen, Tiere und mystische Wesen, die vielleicht vor Tausenden von Jahren hier gelebt hatten. Je weiter sie kam, desto mehr Bilder sah sie. Die Zeichnungen wurden größer und aufwendiger. Sie schienen eine Geschichte zu erzählen, aber Joanna verstand ihre Bedeutung nicht. Sie spürte nur die Lebendigkeit des Berges und seiner Wesen, die in diesen Bildern zum Ausdruck kamen.

Plötzlich erreichte Joanna eine große Höhle. Sie hielt den Atem an. Riesige Stalaktiten hingen von der Decke und ebenso mächtige Stalagmiten wuchsen aus dem Boden. Joanna fragte sich, ob man ihre Großmutter hierher gebracht hatte. War dies der Ort, an dem die Mütter mit ihren Töchtern die geheimen Rituale vollzogen? Das Klopfen war nun sehr laut, und Joanna stellte fest, daß es von Wassertropfen hervorgerufen wurde. Sie sah einen großen Teich mit schwarzem, tintenartigem Wasser, das sich in einer seltsamen Strömung bewegte. Die Höhle war so groß wie die Kathedrale, die sie einmal in London gesehen hatte. Auch dort fand jedes Geräusch einen lauten Widerhall, und die gotischen Pfeiler, Rippen und Gewölbe hatten der majestätischen Grotte im Bauch dieses märchenhaften Berges geglichen.

Als sie den Boden musterte, sah sie etwas dort liegen. Sie bückte sich und fand überall verstreut die Knochen kleiner Tiere, getrocknete Früchte und die Schalen von Nüssen. Sie richtete sich auf und lauschte mit angehaltenem Atem auf das Tropfen. War hier der Ort der Kraft, die im Urgrund des Seins alles bewirkt?

Joanna ging langsam weiter und fragte sich, ob die Kraft dieses heiligen Orts sie beobachtete. Vorsichtig ging sie am Rand des schwarzen Sees entlang und überlegte, ob in seinem Wasser möglicherweise ein unheimliches Wesen lebte. Der Rand wurde schmaler. Sie tastete sich langsam an der Felswand entlang. Aber die Wände und der Boden waren glitschig. Sie suchte einen Halt, rutschte aus, fing sich wieder, aber die Fackel fiel ihr aus der Hand und klatschte in das schwarze Wasser.

Voller Entsetzen sah Joanna, wie die Flamme erlosch. Im nächsten Augenblick hielt sie den Atem an – ein blaßgrünes Leuchten erfüllte plötzlich die Höhle. Es kam von den Felswänden, von den Kalksteinformationen, von der gewölbten Decke über ihr – es war ein überirdisches Leuchten, das diesen Ort noch geheimnisvoller machte. Aber es ermöglichte Joanna auch, etwas zu sehen.

Sie ging vorsichtig weiter. Sie lief am schmalen Rand des Sees entlang und erreichte schließlich das andere Ende. In der Felswand vor ihr entdeckte sie eine Öffnung. Hier ging der Pfad weiter.

Joanna zögerte. Hinter der Öffnung gähnte eine noch tiefere Schwärze. Und der Weg führte noch steiler in die Tiefe. Sie dachte daran, daß sie keine Fackel mehr hatte. Sie dachte an das Tageslicht weit, weit oben, wo Lisa auf sie wartete. Aber dann spürte sie den magischen Ruf des Berges.

Sie ging weiter.

*

Lisa lief zögernd durch den dunklen Gang. Sie tastete sich an der Felswand entlang und setzte ängstlich einen Fuß vor den anderen. Sie hätte sich eine so absolute Dunkelheit niemals vorstellen können. Auch in mondlosen Nächten auf Merinda, wenn die Sterne hinter Wolken verschwanden, war das Dunkel nie so schwarz gewesen. Sie wußte, ihre Mutter war ihr nur wenige Minuten voraus, aber da sie nur langsam vorwärtskam, würde sie Joanna möglicherweise nicht einholen.

Lisa blickte auf ihrem Weg durch die Dunkelheit angestrengt geradeaus, als könne sie dadurch vielleicht doch etwas sehen. Sie hoffte inständig, daß bald der Schimmer der Fackel vor ihr aufleuchten würde.

Irgendwann blieb sie stehen und drehte sich um. Der Höhleneingang war von der tintenschwarzen Dunkelheit verschluckt, die sie umgab. Vom Sonnenlicht draußen war nichts mehr zu sehen.

Sie kaute auf ihrer Unterlippe. Ihr Mund war trocken. Dann ging sie zögernd weiter, tastete sich Schritt für Schritt vorwärts. Sie fürchtete, plötzlich mit der Hand ins Leere zu greifen und in bodenlose Tiefen zu stürzen. Wenn solche Vorstellungen sie zu überwältigen drohten, sagte sie sich mutig, auch ihre Mutter habe sich nicht gefürchtet, in das Innere des Berges zu gehen. Lisa erinnerte sich ebenfalls daran, daß ihre Großmutter hier gewesen war und den Berg wieder verlassen hatte. Sie klammerte sich an den Gedanken, daß Generationen von Frauen diesem Pfad gefolgt waren und es überlebt hatten. Sie wußte, er konnte nicht ewig weitergehen. Er mußte ein Ende haben.

»Mutter!« rief sie. »Mutter, wo bist du?«

Aber die einzige Antwort waren die Echos ihrer eigenen Stimme, die von überall zu kommen schienen.

»Mutter!« rief sie noch einmal und unterdrückte ihre Angst.

*

Nachdem Joanna die Öffnung am anderen Ende des Teichs durchschritten hatte, stellte sie zu ihrer Erleichterung fest, daß das grüne Leuchten auch weiterhin ihren Weg erhellte. Sie befand sich in einem breiten Gang mit Ritzzeichnungen und Malereien an den Wänden. Aber sie sah, daß diese Bilder sich von denen unterschieden, die sie bis jetzt gesehen hatte – Bilder von kämpfenden Männern und Jägern. Die Darstellungen hier wirkten sehr viel älter und sie zeigten nur Frauen. Die grob gezeichneten Figuren von Schwangeren und Gebärenden zeigten Stationen des Lebens. Es roch merkwürdig. Joanna versuchte, die Gerüche zu identifizieren, aber sie konnte dabei nur an Blut und Staub denken. Sie ging an immer neuen Szenen vorüber: Frauen mit großen Brüsten und ungeborenen Kindern im Mutterleib, Frauen unterwegs, die einem langen gewundenen Pfad folgten. Dieser Pfad bestand aus den vertrauten geschwungenen Linien, Punkten und Kreisen, die, wie Joanna inzwischen wußte, typisch für die Kunst der Aborigines waren. Ihr wurde klar, daß sie die Darstellungen alter Traumpfade vor sich hatte. Frauen hatten sie aufgezeichnet, an die sich niemand mehr erinnerte. Und sie fragte sich, ob sie in einer fernen, vergessenen matriarchalischen Zeit entstanden waren.

Joanna ging immer tiefer in den Berg hinein. Andere Gerüche schlugen ihr entgegen.

Ja, es roch nach Lehm und Schimmel, auch fast wie nach Pilzen und etwas Klebrigsüßem. Das grüne Leuchten gab ihr das Gefühl, in einem tropischen Meer zu schwimmen. Sie glaubte sogar, Salzwasser zu riechen und die See.

Plötzlich endete der Gang, und Joanna befand sich am Eingang einer großen, grottenähnliche Höhle. Sie war feucht und schimmerte grünlich.

Sie blieb wie angewurzelt stehen. Dort oben sah sie es! Das also hatte sie nach so vielen Jahren und über so viele Meilen hinweg hierher geholt. Ja, sie war endlich am Ziel.

*

»Mutter!« rief Lisa ängstlich. »Wo bist du?«

Sie kämpfte gegen die aufsteigende Panik an. Sie versuchte, ruhig zu bleiben. Aber die undurchdringliche Schwärze machte ihr Angst. Sie nahm kein Ende. Vielleicht war sie in einen falschen Gang geraten? Vielleicht kam sie nie wieder zum Ausgang zurück? Was sollte sie tun, wenn sie hier unten in diesem schrecklichen Berg ihre Mutter nicht fand? War das die Strafe dafür, daß sie nicht die Geduld oder den Mut gehabt hatte, am Eingang der Höhle zu warten …

Ihre Hände tasteten über die feuchte Felswand. Immer wieder rutschte sie auf dem glitschigen Boden aus und konnte sich nur mühsam auf den Beinen halten. Sie kämpfte gegen die Tränen und versprach Gott, wenn er ihr das Leben schenken würde, werde sie nie wieder ungehorsam sein.

Und plötzlich, wie als Antwort auf ihre Verzweiflung, sah sie vor sich Licht. Es war kein richtiges Licht, denn der lange schmale Gang endete schlagartig, und sie stand in einer riesigen domartigen Höhle mit einem schwarzen See. Die Höhle wurde von einem seltsamen grünen Licht erhellt. Wie gebannt blickte Lisa sich um und vergaß für einen Augenblick ihre Angst.

Sie sah einen schmalen flachen Felsvorsprung, der sich um das Wasser zog, und auf der anderen Seite des Sees eine andere Öffnung im Gestein. Offensichtlich ging der Weg dort weiter.

Lisa faßte wieder Hoffnung, denn endlich konnte sie wieder etwas sehen. Sehr wahrscheinlich war ihre Mutter vor ihr hier gewesen. Vielleicht war sie sogar ganz in der Nähe. Mit größerer Zuversicht ging Lisa um den geheimnisvollen schwarzen See herum.

*

Joanna überkam im ersten Augenblick Angst, als sie die Schlange sah. Aber als sie mit großen Augen auf den gewaltigen regenbogenfarbigen Körper blickte, als sie die märchenhaften Einzelheiten sah, aus denen sie bestand, die geheimnisvollen Symbole und Bilder um sie herum, als sie die Brüste der Schlange betrachtete und erkannte, daß sie als ein weibliches Wesen dargestellt war, erfaßte sie große Ehrfurcht und eine wunderbare inner Ruhe.

Joanna ahnte, daß diese Schlange vor vielen, vielen Jahren, vielleicht Jahrhunderten oder sogar Jahrtausenden an die Felswand gezeichnet worden war. Wie viele Hände hatten dieses einzigartige Kunstwerk erschaffen? Während sie sich langsam der Schlange näherte, die viele Meter groß und so lang war, daß Joanna ihr Ende nicht sah, staunte sie über die künstlerische Vollkommenheit dieser Felszeichnung – jede einzelne Schuppe auf dem Schlangenleib war mit großer Sorgfalt gezeichnet und koloriert. Die Schlange wand sich bunt schimmernd in Ehrfurcht gebietender Entfaltung ihrer ganzen Kraft von einem Ende der Höhle zum anderen. Zahllose Generationen mußten an diesem Werk beteiligt gewesen sein.

Während Joanna noch immer wie gebannt die riesige Regenbogenschlange betrachtete, entdeckte sie unter der Farbe bunte Gesteinsschichten im Fels. Geschwungene rote, orangene, braune und grüne Streifen zogen sich über die Wand. Je länger sie darauf blickte, desto deutlicher wurde ihr bewußt, daß die Schlange bereits im Stein vorhanden gewesen war, lange bevor die Farbe auf die Felswand aufgetragen wurde.

Sie sah sich in der Grotte um. Die hohe gewölbte Decke, die säulenartigen Stalaktiten, die primitiven Felszeichnungen an den Kalksteinwänden und das geisterhafte grüne Schimmern schufen die Atmosphäre eines überirdischen Heiligtums.

Ein kleiner Fluß wand sich durch die Grotte. Joanna entdeckte überall auf dem Felsboden verstreut Trinkgefäße – Kürbisflaschen, Kokosnußschalen, Becher aus Rinde und Ton, ausgehöhlte Steine. Sie alle waren mit denselben mystischen Symbolen versehen, die die Regenbogenschlange umgaben – Symbole für Leben und Sterben, dachte Joanna, Symbole der Weiblichkeit. Hier hatten jahrtausendelang die geheimen Rituale der Frauen stattgefunden. Denn hier kam das Wasser aus dem Bauch der Erde, hier begann das Leben.

Joanna griff nach einem Tonbecher und tauchte ihn in das kristallklare Wasser. Sie hob den Becher an die Lippen und trank.

*

Plötzlich glaubte Lisa unheimliche Gestalten im grünen Licht des Gangs zu sehen. Sie erschrak, aber dann erkannte sie, daß ihre Augen sie getäuscht hatten. Die gespenstischen Wesen waren Bilder an den Felswänden. Sie hätte schwören können, daß sie sich bewegten. Beklommen ging sie schneller. Sie wagte nicht mehr, um sich zu blicken, denn sie fürchtete, beim Anblick der tanzenden Wesen, die von allen Seiten auf sie einstürmten, ohnmächtig zu werden.

Als sie das Ende des Gangs sah, der in eine grüne Grotte mündete, begann sie zu rennen. Atemlos erreichte sie den Eingang und blieb wie gebannt stehen. Überirdisches grünes Licht traf ihre Augen. Die Luft um sie herum schien zu knistern, als befinde sie sich im Zentrum eines Gewitters. Ihre Sinne nahmen plötzlich alles überdeutlich wahr, sie war überwach. Dann sah sie die Regenbogenschlange – und dann ihre Mutter.

Joanna stand am Wasser.

»Mutter?« rief Lisa.

Joanna drehte sich um. »Lisa! Wie kommst du hierher?«

»Ich hatte Angst. Ich konnte nicht länger dort oben auf dich warten.« Lisa lief zu ihr, und Joanna ergriff ihre Hand. Sie ging mit ihrer Tochter zum Wasser. Sie tauchte die Schale in das glasklare Wasser und reichte sie ihr. Lisa trank und fand, daß das Wasser so schmeckte, wie es aussah: klar und rein.

»Was ist das für ein Ort, Mutter?« fragte sie.

»Hier haben Generationen um Generationen von Frauen die Schöpfung gefeiert und die Wiedergeburt des Lebens.«

»Was für ein Ritual haben sie hier vollzogen?«

»Ich weiß es nicht«, erwiderte Joanna. »Vielleicht haben sie ihren Töchtern ein geheimes Wissen weitergegeben. Deine Großmutter war hier … vor vielen Jahren. Vielleicht hat sie erlebt, wie die Traumpfade von den Müttern auf die Töchter übertragen wurden.«

Lisa sah sie verwirrt an. »Aber ich dachte immer, ein Traumpfad sei eine Art Weg.«

»Wir sind der Traumpfad, Lisa – Mütter und Töchter. Und ich frage mich, ob dies das ›andere Erbe‹ ist, von dem meine Mutter gesprochen hat. Vielleicht hat man ihr erzählt, daß sie eines Tages mit ihrer Tochter hierher zurückkommen werde, um die Schönheit dieses Heiligtums zu erleben. Aber das war ihr nicht vergönnt. Sie ist gestorben, ohne das Geheimnis zu lüften, ohne das Rätsel zu lösen.«

Lisa spürte die Kraft des Berges, die sie umgab. »Was haben wohl die Mütter hier zu ihren Töchtern gesagt?«

Joanna sah Lisa an und dachte: Du bist die Tochter, die ich mir gewünscht habe. Du bist meine Freude. Du bist du. Du bist vollkommen du selbst, und doch bist du auch ein Teil von mir. Ich werde dir unseren Traumpfad zeigen. Ich werde dich lehren, auf die Musik in deinem Innern zu hören, auf die Klänge deiner Intuition. Und dann dachte sie: Vielleicht haben das die Frauen in all den vielen tausend Jahren hier in dieser Grotte zu ihren Töchtern gesagt. Vielleicht war es einfach das.

Lisa blickte zu der Regenbogenschlange hinauf. »Hat meine Großmutter diese Schlange in ihren Träumen gesehen?«

»Ja, ich glaube, das ist sie. Sieh sie dir gut an. Lisa. Unter den Farben befinden sich die natürlichen Gesteinsschichten. Kannst du sehen, daß auch sie den Leib einer riesigen Schlange bilden? Ich glaube, vor sehr langer Zeit, als Menschen diesen geheimen Ort entdeckt haben, sahen sie eine im Stein eingeschlossene Schlange, und sie begannen, sie zu verehren. Im Laufe der Jahrhunderte haben sie die Schlange verziert und bemalt, um sie schöner zu machen.«

»Mutter!« Lisa deutete auf den Kopf der Schlange. »Sieh mal, das Auge der Schlange!«

Joanna blickte zu dem aufgerichteten Kopf der Regenbogenschlange hinauf. Man sah ihn im Profil, und deshalb hatte er nur ein Auge. Aber das Auge war eine Höhlung im Gestein. Es schien mit einem Messer ausgehöhlt worden zu sein.

»Der Opal«, sagte Lisa, »von dort muß der Opal herkommen!«

Joanna öffnete den Lederbeutel und holte den Feueropal heraus. Er fühlte sich warm an in ihrer Hand und funkelte rot und grün. Sie blickte zu dem Bild an der Felswand. Die Höhlung für das Auge hatte die Größe und die Form des Opals. »Lisa«, sagte sie, »das muß das Verbrechen sein, das mein Großvater beging! Er hat sich unbemerkt in die Höhle geschlichen und das Auge der Regenbogenschlange gestohlen.«

Sie blickte wieder auf die Schlange und sah noch etwas, das ihr bis jetzt entgangen war: am unteren Rand der Felswand waren in scharfen Konturen Hunde eingeritzt – viele Hunde!

»Mein Gott«, murmelte sie, »Naliandrah hatte recht. Erinnerst du dich, Lisa? Sie hat mir am letzten Corroboree gesagt, daß die Antworten auf meine Fragen in mir selbst liegen? Natürlich! Jetzt verstehe ich es. Ich kenne die Antworten schon lange, aber ich mußte sie erst zusammenfügen.«

»Wie meinst du das?«

»Diese Hunde«, Joanna deutete auf die Zeichnungen an der Wand, »galten als die Wächter der Regenbogenschlange. Das heißt, wenn jemand ein Verbrechen gegen die Schlange beging, wie es mein Großvater getan hat, dann haben die Hunde ihn bestraft. Erinnerst du dich an die Geschichte, die Naliandrah uns über Makpeej erzählt hat? Sie sagte, die Regenbogenschlange hat ihn mit Haut und Haaren verschlungen. Lisa, nicht die Schlange hat das getan, sondern die Hunde …« Joanna schloß kurz die Augen. Ihr wurde plötzlich bewußt, was sie gesagt hatte. Die Sippe mußte John Makepeace bestraft haben. Sie hatten die wilden Hunde auf ihn gehetzt, als er mit dem Opal aus der Höhle zurückkehrte. Und die dreieinhalbjährige Emily mußte mit angesehen haben, wie die Hunde ihn zerfleischten.

»Jetzt verstehe ich alles«, flüsterte Joanna und dachte an das, was sich vor mehr als fünfzig Jahren hier in der Nähe ereignet haben mußte – der junge Engländer konnte der Versuchung nicht widerstehen, den Opal an sich zu nehmen. Die Frauen des Stammes entdeckten den Diebstahl, und das Urteil wurde von den Hunden vollstreckt … Und was war aus Naomi geworden? Wurde sie auch auf diese schreckliche Weise bestraft, weil sie ihrem Mann das Geheimnis verraten hatte?

»Der Opal gehört hierher«, sagte Joanna schließlich. »Wir müssen ihn der Schlange zurückgeben.« Und wenn wir das tun, dachte sie, ist das Verbrechen meiner Familie gesühnt.

Joanna reichte Lisa den Beutel, dann ging sie an einer schmalen Stelle über das Wasser und schob den Opal in die Augenhöhlung. Während sie den kostbaren Edelstein drehte, bis er richtig saß, öffnete Lisa erregt den Lederbeutel, denn ihr war etwas eingefallen. Sie sah die gerollte Urkunde und nahm sie heraus. Neugierig entfernte sie das Band und hielt staunend das alte Dokument in den Händen. In dem grünen Licht konnte sie erstaunlich gut lesen, was auf der Urkunde stand. Als sie die Stelle erreichte, wo der Text unleserlich wurde: ›Zwei Tagesritte von … und zwanzig Kilometer von Bo … Creek‹, erinnerte sie sich plötzlich an den Wegweiser in der Nähe von Schwester Veronikas Krankenstation. Bustard Creek, 20 km nach Süden und Durrakai.

»Mutter!« rief Lisa aufgeregt. »Ich glaube, ich weiß, wo das Land liegt! Ich meine das Land, auf das sich die Urkunde bezieht. Es ist dort, wo die Nonnen leben. Du weißt doch, das Krankenhaus in der Nähe von Kalagandra!«

»Wenn es das Land ist, das mit dieser Urkunde gekauft wurde, dann müssen meine Großeltern geplant haben, sich dort niederzulassen. Stell dir vor, Lisa, wir hatten es gefunden, ohne etwas davon zu ahnen.«

»Was willst du mit dem Land tun, Mutter?«

Joanna dachte an Schwester Veronika. Sie hatte die kleine Emily Makepeace in ihre Obhut genommen, als das Kind aus der Wüste gekommen war. Wenn die Urkunde noch Gültigkeit besaß und sie das Land als ihr Eigentum beanspruchen konnte, dann wußte Joanna, was sie damit tun würde. »Die lebenslange Arbeit der Nonnen ist bedroht, da die Regierung ihnen das Land wegnehmen will. Ich glaube, das könnte ich verhindern«, erwiderte sie und Lisa nickte.

Als der Feueropal wieder an seinem Platz saß und das Auge der Regenbogenschlange grün und rot funkelte, sagte Lisa: »Glaubst du, Mutter, die Frauen werden wieder in den Berg kommen, jetzt, wo die Schlange ihr Auge zurückhat? Ich meine, werden sie ihre Rituale abhalten wie früher?«

»Ich weiß nicht, Lisa. Vielleicht nicht. Der Kreislauf ist unterbrochen. Es sind viele Jahre vergangen, und es ist so viel geschehen, seit die letzten Mütter mit ihren Töchtern hier waren. Nicht einmal Naliandrah weiß genau, was für ein Ritual im Berg stattfand. Vielleicht ist das Wissen für immer verloren. Vielleicht sind wir beide, du und ich, die letzten, die vor der Regenbogenschlange stehen.«

Lisa dachte einen Augenblick nach. Dann sagte sie: »Glaubst du, daß wirklich ein Fluch auf unserer Familie lag?«

»In bestimmtem Sinne, ja. Meine Mutter hat daran geglaubt. Und damit wurde er real, wenn auch nur in ihrem Bewußtsein. Aber das ist jetzt vorbei. Wir sind davon befreit.«

Joanna dachte an Hugh und wie sehr sie sich nach ihm sehnte. »Komm, wir gehen nach Hause.«

Nach einem letzten Blick auf die majestätische Regenbogenschlange machten sie sich auf den Weg und begannen den langen Aufstieg zurück zum Licht.