Kapitel Vierzehn

1

»Meine liebe Schwester«, begann der Brief, »nach fünf Monaten auf dem Meer sind wir schließlich in Sydney angekommen. Mit Worten kann man die Qualen unserer Reise nicht beschreiben. Miss Pratt und ich mußten uns mit zwei anderen Frauen eine Kabine teilen, die zwei mal drei Meter groß war. Wir schliefen auf so schmalen Pritschen, daß man nicht richtig darauf liegen konnte, und drei mußten den Raum verlassen, während sich die Vierte anzog. Auf dem Schiff gab es nur zwei Toiletten für über zweihundert Passagiere, und sie befanden sich neben unserer Kabine. Der Gestank war bestialisch und unerträglich. Viele der Einwanderer besaßen nicht einmal Kleidung zum Wechseln. Wir wurden von Läusen schier aufgefressen. Außerdem wimmelte es auf dem Schiff vor Ratten. Auf der Überfahrt kamen acht Kinder zur Welt, fünf starben.«

Joanna blickte auf den Regen, der sanft gegen die Fensterscheibe ihres Hotelzimmers trommelte. Sie sah gerade noch den Schein der Gaslampen auf der Straße und hörte das Quietschen und Rumpeln der Fuhrwerke und Kutschen, die langsam vorüberrollten, und das Klappern der Pferdehufe auf dem Pflaster. Draußen war es kalt, aber das Feuer in den beiden offenen Kaminen der Suite – ein Wohnzimmer und ein Schlafzimmer – im King George Hotel verbreitete eine wohlige Wärme. Sie saß im Wohnzimmer und blickte versonnen auf den Regen, während es draußen langsam dunkel wurde. Seit dem frühen Morgen war sie an der Arbeit und las die Papiere in den Kartons, die Frank Downs von der Times hatte bringen lassen. Es handelte sich um eine seltsame Mischung aus Dokumenten, Urkunden, Notizen, Briefen, Rechnungen und Quittungen, alten vergilbten Zeitungen – sogar Tagebücher und ein Schiffslogbuch befanden sich darunter –, und sie gingen bis zum Jahr 1790 zurück. Die Redakteure der Times hatten sie gesammelt und katalogisiert, denn Frank plante, ein besonderes Buch zu veröffentlichen, eine Art Album zur Hundertjahrfeier von Australien, die in vier Jahren stattfinden sollte. Er hatte Joanna die Unterlagen zur Verfügung gestellt, nachdem sie ihm von Patrick Lathrops Brief und der Erwähnung eines Schiffes mit einem mythologischen Tiernamen erzählte. »Die Aussies haben Sinn für Mythologie und Geheimnisse«, hatte Frank gesagt. »Die Geschichte Ihrer Familie, meine liebe Joanna, ist ganz bestimmt ein Geheimnis. Wenn Sie unter diesen Dingen etwas entdecken, das Sie auf die Spur von Karra Karra führt, und wenn Sie den Ort schließlich finden, dann wird es bestimmt eine gute Geschichte für die Times

Joanna dachte, es sei bestimmt mehr als ›eine gute Geschichte‹. Aber sie war für Franks Hilfe dankbar. Es gefiel ihr auch, daß Frank Downs soviel Begeisterung für sein junges Land aufbrachte. »Es ist nur wenigen bewußt, Joanna«, hatte er gesagt, »aber es gibt Australien nur, weil Amerika von England abgefallen ist. Bis 1776 hat England die unerwünschten Verbrecher in die amerikanischen Kolonien geschickt. Als diese Tür geschlossen war, mußte man für den Abschaum einen anderen Platz finden. Australien wurde dazu auserkoren, und jetzt sind wir hier.« Das Buch war Franks persönliches Projekt. Es sollte im Januar 1878 veröffentlicht werden, denn dann feierten die australischen Kolonien ihren hundertsten Geburtstag. Frank hatte erzählt, das Buch werde mit der Entdeckung Australiens durch Kapitän Cook beginnen. Als Joanna fragte, ob den Ureinwohnern wohl bewußt gewesen sei, daß man sie und ihr Land ›entdeckt‹ hatte, sagte Hugh: »Erobert ist wohl das richtigere Wort dafür.«

Joanna dachte an Sarah und überlegte, was sie im Augenblick wohl tun mochte. Vermutlich beobachtete sie Philip McNeal und seine Leute unten am Fluß bei der Arbeit. Joanna war Sarahs wachsende Beschäftigung mit dem Amerikaner nicht entgangen. Sie hielt sich möglichst immer in seiner Nähe auf.

Die Uhr auf dem Kamin schlug sechsmal und erinnerte Joanna an die Zeit. Hugh hatte sich am Vormittag auf den Weg gemacht, um den Transport seines neuen Widders, den er Zeus nennen wollte, zur Farm in die Wege zu leiten. Dann wollte er zu einer Miss Tallhill gehen, der er Joannas Urkunde und eine Textprobe von John Makepeaces Stenographie überlassen hatte. Außerdem wollte er bei einem Edelsteinexperten erfragen, welchen Wert der Feueropal besaß, den Joanna geerbt hatte. Sie rechnete jeden Augenblick mit Hughs Rückkehr, denn sie hatten sich mit Frank Downs im Hotel zum Abendessen verabredet.

Sie blickte noch einmal auf den Brief, den sie gerade gelesen hatte. Er stammte von einer Miss Margo Pelletier aus dem Jahr 1820. Wie war Frank wohl zu diesem Brief gekommen? überlegte Joanna. Was für eine Frau mochte Miss Pelletier gewesen sein? Weshalb hatte sie England verlassen und war nach Australien gekommen?

Joanna griff nach einem Blatt Papier, auf dem stand: ›An den Generalanwalt George Fletcher Moore, West Australien, 1834. Ein Bericht über die Lage der Aborigines in der Kolonie.‹ Sie las: ›Die Schwarzen sind eine ungewöhnliche Menschenrasse. Sie besitzen keine Spur von Zivilisation. Sie leben weder in Häusern noch sonstigen Behausungen und beten keinen Gott an. Sie fürchten keine Teufel, verherrlichen Blutbäder, besitzen keine Moral und haben kein Gewissen. Sie pflegen nicht das Land, wie es ein Weißer tun wird.‹

Bei ihrer stundenlangen Arbeit war Joanna noch nicht auf die Erwähnung eines Schiffs mit einem mythologischen Namen gestoßen, nicht einmal auf einen Hinweis, der ihr geholfen hätte, dem Rätsel der Vergangenheit ihrer Familie näherzukommen. Sie hatte gehofft, irgendwo in diesen Papieren werde der rote Berg erwähnt oder sogar ein weißes Ehepaar, das mit seinem Kind bei den Ureinwohnern lebte. Auch das Buch ›Mein Leben unter den Aborigines‹ aus der Buchhandlung in Cameron Town hatte keine brauchbaren Informationen geliefert.

Sie öffnete die letzte Schachtel und nahm eine handgeschriebene Notiz heraus, auf der stand: ›Wer am vergangenen Sonntag meine Pferde gestohlen hat, wird überführt werden! Und er wird bedauern, daß er es getan hat.‹ In dem Blatt war in der Mitte oben ein Loch. Offenbar war es an einen Baum genagelt worden.

Schließlich fand sie noch eine vergilbte Ausgabe von Sydney Gazette aus dem Jahr 1835.

»Bekanntmachung«, las sie, ›Die Nimrod mit Kapitän White lief am Samstag aus London, Plymoth, Teneriffa und dem Kap kommend im Hafen von Sydney ein. Das Schiff hat Kupfer, Werkzeuge, Stoff, Kutschen, Post und landwirtschaftliche Güter an Bord. Außerdem eine Reihe von Passagieren. Die Schiffseigner, Buchanan und Co., geben hiermit der verehrten Öffentlichkeit bekannt, daß die Nimrod in einer Woche wieder nach England zurückkehren wird und zwanzig Passagiere aufnehmen kann.‹

Gibt es irgendwo noch so eine Bekanntmachung, fragte sich Joanna, die 1830 die Ankunft des Schiffs Minotaurus oder Zyklop oder Pegasus mit Frachtgütern und Passagieren mitteilt? Befand sich unter diesen Reisenden ein Mann namens John Makepeace mit seiner jungen Frau Naomi?

Wo auf diesem großen, weiten Kontinent sind sie an Land gegangen? »Sie werden keine Unterlagen über Schiffe finden, die 1830 Melbourne angelaufen sind«, hatte Frank ihr erklärt. »Damals existierte Melbourne noch nicht. Es gab hier nichts als Ureinwohner, die Aborigines.« Das bedeutete, es kamen nur Sydney und Brisbane im Osten, Adelaide im Süden und Perth im Westen in Frage.

Joanna war fest entschlossen, die Hoffnung nicht aufzugeben. Sie dachte an die Briefe, die sie an die Schiffseigner richten wollte, deren Adressen Frank ihr versprochen hatte. Sie würde bei den Reedereien nach einem Schiff mit einem mythologischen Namen fragen und einem Ehepaar namens Makepeace. Wenn sie das herausfinden konnte, dann würde sie vielleicht feststellen können, wohin die Großeltern von ihrem Bestimmungshafen gegangen waren und wo ihre Mutter geboren wurde. Und dann konnte sie das Rätsel der Vergangenheit lösen und die Träume verstehen, die sie noch immer quälten. Nur dann würde sie die Angst überwinden, auch das ungeborene Kind werde die Last dieser Vergangenheit erben.

2

Miss Adele Tallhills leise Stimme klang wie das Flüstern des Regens hinter den Fensterscheiben. »Mr. Westbrook, die Beschäftigung mit der Urkunde hat mir unterhaltsame Stunden gebracht. Es glich eher der Lösung eines Puzzles. Und ich bin glücklich, Ihnen sagen zu können, daß es mir gelungen ist, einen Teil der Worte zu entziffern.«

Hugh und Miss Tallhill saßen in ihrem Wohnzimmer, das ein knisterndes Feuer wärmte. Auf einem Tisch vor ihnen stand ein Tablett mit Sherry und Gebäck. Überall im Zimmer gab es Nippsachen, und es duftete stark nach Lavendel.

Hugh hatte dieser an den Rollstuhl gefesselten Frau, die bei ihren Eltern lebte und sich mit Schreibarbeiten ein bescheidenes Einkommen verdiente, die Urkunde und eine Probe von John Makepeaces Stenographie gebracht. Miss Tallhill schrieb auf Bestellung private Briefe, Urkunden und Einladungen sowie phantasievolle Liebesbriefe. In Melbourne galt sie auch als Expertin für Handschriftenanalyse.

Hugh warf einen verstohlenen Blick auf die Uhr über dem Kamin. Er mußte so schnell wie möglich zum Hotel zurück und brannte darauf, Joanna seine Neuigkeiten zu berichten. Nachdem er den Transport seines Widders nach Merinda geregelt hatte, war er in dem Büro von Buchanan und Co., einer großen Reederei, gewesen und hatte erfahren, daß sie Schiffe mit dem Namen Pegasus und Minotaurus besaß. Man hatte Hugh versprochen, sich beim Hauptsitz der Reederei in London nach der Geschichte der beiden Schiffe zu erkundigen.

Außerdem war er mit dem Feueropal bei einem Juwelier gewesen. Er hatte den Mann um eine Schätzung gebeten und um einen möglichen Hinweis auf seine Herkunft. Der Juwelier konnte das Ursprungsland nicht feststellen, auch nicht den Marktwert, aber er hatte Hugh angeboten, den Stein zu einem beachtlichen Preis zu kaufen.

»Was haben Sie entziffern können, Miss Tallhill?« fragte er.

Sie sah ihren Gast prüfend an. Sie schätzte ihn auf Anfang dreißig. Er hatte rauchgraue Augen und eine attraktive Falte zwischen den Brauen. Ein angenehmer schwacher Duft umgab ihn, und nach einer Weile wurde ihr bewußt, er roch nach Lanolin. Sie hatte das bei Schafzüchtern schon öfter bemerkt. Das Lanolin schien ihnen unter die Haut zu gehen. Dieser Mann besaß die Robustheit der Leute aus dem Busch, aber in einer Hinsicht unterschied er sich von anderen Männern dieser Lebensweise: Er besaß Manieren und eine Kultiviertheit, wie man sie bei Männern, die nicht in der Stadt wohnten, selten erlebte.

Mrs. Tallhill legte die Urkunde vor ihn auf den Tisch und deutete mit ihrem langen, zarten Zeigefinger darauf. »Ich habe mich zuerst auf diese Stelle hier konzentriert«, sagte sie. »Zwei Tagesritte von etwas Unleserlichem, und 20 Kilometer von etwas, das wie Bo … Creek aussieht. Ich will Ihnen zeigen, wie ich es schließlich herausgefunden habe.« Sie nahm ein Blatt Papier. »Sehen Sie auf der Urkunde hier diese Rundung und hier diese Linie. Ich habe die Worte, so gut ich konnte abgeschrieben und mich dabei an die leserlichen Linien gehalten. Wie Sie auf diesem Blatt sehen, habe ich sie dann auf eine andere Weise geschrieben, das heißt, ich füllte die unleserlichen Stellen so lange mit immer wieder anderen Buchstaben, bis ein mögliches Wort daraus wurde. Hier, Mr. Westbrook, dieser Buchstabe ist ein ›t‹. Der hier sieht wie ein ›l‹ aus. Wenn man ein ›l‹ schreibt, ergibt das keinen Sinn. Aber wenn man den Buchstaben für ein langgezogenes ›e‹ hält, dann bekommen wir ein richtiges Wort.«

Hugh verglich die beiden Schriftproben mit den verblaßten Buchstaben auf der Urkunde. »Das erste Wort, Mr. Westbrook«, fuhr sie fort, »heißt Durrebar.«

»Ja«, sagte er und nickte zustimmend, »ich kann es jetzt sehen.«

»Das zweite Wort erwies sich als etwas schwieriger. Aber es ist mir gelungen, es zu entziffern. Bowman’s Creek. Und so habe ich es herausgefunden.« Sie nahm ein zweites Blatt Papier, auf dem verschiedene Worte in unterschiedlichen Schreibweisen standen.

»Ich zweifle nicht daran, Mr. Westbrook, daß das auf dieser Urkunde bezeichnete Land zwei Tagesritte von Durrebar entfernt liegt. Vermutlich ist das eine Bezeichnung der Aborigines für einen bestimmten Platz. Und er liegt zwanzig Kilometer von Bowman’s Creek entfernt.«

»Ja«, Hugh strahlte, »ja natürlich. Haben Sie herausfinden können, in welcher Kolonie die Urkunde ausgestellt wurde?«

»Leider nein. Offensichtlich war das Dokument irgendwann einmal Wasser ausgesetzt. Das offizielle Siegel und das Datum sind beinahe völlig unleserlich. Ich habe mich äußerst genau damit beschäftigt, Mr. Westbrook, aber ich kann nichts Leserliches erkennen. Und wie Sie sehen, ist auch die Unterschrift völlig verwischt.«

»Bowman’s Creek und Durrebar«, sagte Hugh. Er wollte so schnell wie möglich zurück zum Hotel und zu Joanna. »Ich kann Ihnen nicht genug danken, Miss Tallhill.«

Sie lächelte. »Jeder hätte das gekommt. Es ist nur eine Frage von Zeit und Geduld. Und wie Sie sehen, Mr. Westbrook«, sie legte die rechte Hand auf ein Rad ihres Rollstuhls, »Zeit habe ich im Überfluß.«

»Ist es Ihnen gelungen, die Schriftprobe von John Makepeace zu entziffern?«

»Ich habe mich damit beschäftigt, Mr. Westbrook. Und Sie irren nicht, wenn Sie es für eine Art Stenographie halten. Aber bis jetzt konnte ich das System nicht ergründen. Wenn Sie mir die Schriftprobe hier lassen, werde ich weiter daran arbeiten. Ich kann Ihnen meine Ergebnisse per Post zuschicken.«

Als er Miss Tallhill für ihre Mühe bezahlen wollte, lehnte sie ab und sagte: »Es war mir ein Vergnügen. Und wir haben das Rätsel noch nicht ganz gelöst, Mr. Westbrook. Ich werde mich sofort wieder mit der Kurzschrift beschäftigen.«

Er verabschiedete sich, und Miss Tallhill fuhr mit dem Rollstuhl ans Fenster. Sie teilte den Vorhang, blickte auf die regennasse Straße hinaus und sah, wie er eilig in eine Kutsche stieg. Miss Tallhill fand es verblüffend, wie sehr Hugh Westbrook sie an ihren geliebten Stephen erinnert hatte. Ihr Stephen war vor zwanzig Jahren zur Goldsuche aufgebrochen und nie zurückgekommen. Adele hatte die Hoffnung nicht aufgegeben, er werde eines Tages wiederkommen.

Sie rollte wieder zum Kamin. »Eine hysterische Lähmung«, hatten die Ärzte gesagt. »Ihren Beinen fehlt nichts, Miss Tallhill. Sie können gehen, wenn Sie wollen.«

Aber das war Unsinn. Was wußten Ärzte schon von Leiden, die ihre tödlichen Wurzeln im Herzen hatten?

Ja, dachte sie und seufzte. Mr. Westbrook erinnerte sie sehr an ihren geliebten Stephen. Deshalb hatte sie ihn auch nicht mit leeren Händen wegschicken können. Sie hätte es nicht ertragen, auf seinem Gesicht, das Stephens Gesicht so glich, die Enttäuschung zu sehen, wenn sie ihm die Wahrheit gesagt hätte. Es war ihr nicht gelungen, die Worte auf der Urkunde zu entziffern. Vermutlich würde das überhaupt nicht möglich sein, Bowman’s Creek klang überzeugend. Und was konnte es schließlich schon ausmachen, daß sie den Namen erfunden hatte, und daß Hugh Westbrook glaubte, es gebe einen solchen Platz? Was war schon dabei, daß sie auch Durrebar erfunden hatte? Als er lächelte, hatte er genau wie Stephen gelächelt …

3

Ein Geheimnis, dachte Frank Downs. Er stand am Fenster und blickte über Melbourne. Das ganze Land ist ein einziges Geheimnis. Er befand sich in seinem Turm hoch über der Stadt und blickte über Dächer, Brücken und Fabrikschornsteine. Frank dachte dabei an das endlose Hinterland an den Busch in der Ferne. Dort gibt es so viele Geschichten, dachte er, so viele Abenteuer und spannende Ereignisse. Deshalb hatte er sich dem Zeitungswesen verschrieben. Er wollte am Puls dieses geheimnisvollen Kontinents sein. Frank wußte, was die Leute lesen wollten. Sie alle hatten eine Ader für ›eine gute Geschichte‹. Ob am Lagerfeuer im Busch oder in den Wohnzimmern von Melbourne, nichts verschaffte einem Australier größeres Wohlbefinden als eine spannende Geschichte. Und die Times lieferte sie. Da in den Kolonien inzwischen Schulpflicht bestand, sah Frank in den beiden nächsten Jahrzehnten eine neue Generation Leser heranwachsen, junge, gebildete Menschen. Sie würden Unterhaltung suchen. Die Melbourne Times sollte sie ihnen durch den Einsatz und die kreativen Ideen von Frank Downs liefern.

Frank hatte die Zeitung vor vier Jahren für zweitausend Pfund gekauft. Er hatte sich viel einfallen lassen, um sie vor dem Untergang zu retten, und er hatte sie inzwischen in eine sehr beliebte Tageszeitung verwandelt. Frank liebte Neuerungen und Erfindungen. Als er die Times übernahm, stellte er fest, daß seine Zeitung als letzte mit den Nachrichten auf den Straßen erschien. Er wußte, um sich gegen die Konkurrenz durchzusetzen, mußte er Wege finden, die Neuigkeiten vor allen anderen zu veröffentlichen. Frank hatte die Idee, seine Reporter mit schnellen Booten den einlaufenden großen Schiffen entgegenzuschicken. Dort kauften sie von Reisenden und der Mannschaft englische Zeitungen, eilten damit in die Stadt zurück, und Frank druckte ›Extraausgaben‹, wobei er die Artikel der englischen Zeitungen Wort für Wort übernahm. Als seine Konkurrenten anfingen, es ihm gleichzutun, hatte Frank eine neue Idee. Er schickte seine Reporter nach Adelaide. Sie gingen auf die Schiffe, bevor sie nach Melbourne kamen. Seine Leute lasen dort die englischen Zeitungen und telegrafierten der Times die wichtigsten Nachrichten. Bald arbeiteten Reporter der anderen Zeitungen ebenfalls in Adelaide. Und als Frank die Times den Lesern auf dem Land mit der Post zustellen ließ, als seine Ausgaben per Bahn und mit den schnellen Postkutschen von Cobb & Co befördert wurden und damit die nachrichtenhungrige Landbevölkerung als zuverlässige Leser erschloß, folgten Age und Argus sehr schnell seinem Beispiel.

Franks Erfolg spiegelte sich im Times Tower wider, dem höchsten Gebäude von Melbourne. Es hatte unglaubliche fünf Stockwerke, ragte hoch über die ungepflasterten Straßen in den Himmel, und hinter jedem Fenster brannten Gaslampen. Sein Hochhaus wirkte an diesem nebligen Abend im April wie ein Leuchtturm. Franks Büro befand sich im obersten Stockwerk. Seine Kollegen hatten gelacht, als er dort ›oben bei den Kakadus‹ einzog. Man wußte doch, wie unbequem es war, die vielen Stufen hinaufzusteigen. Männer in führenden Positionen wie Franks Geschäftsfreunde, zum Beispiel die Bankiers, hatten ihre Büros immer im Erdgeschoß. Es war verrückt, in einem Haus nach oben zu müssen! Aber Frank begeisterte sich immer für das Neue. Er hatte das Haus mit einem großen Fest eröffnet und seine Freunde in einem dampfgetriebenen Aufzug hinauf in sein Büro gebracht!

Während er jetzt am Fenster stand und über das mit Gaslaternen beleuchtete Melbourne blickte, dachte Frank an die Maschinen seiner Zeitung, die unter seinen Füßen arbeiteten. Die dampfbetriebenen Druckmaschinen standen Tag und Nacht nicht still. Beinahe einhundert Setzer saßen an ihren Setzkästen und bereiteten die Artikel der morgigen Ausgabe Buchstabe für Buchstabe in lange Metallkolumnen auf. In den Redaktionsbüros herrschte große Geschäftigkeit. Boten erschienen mit Berichten vom Parlament, von der Polizei, vom Hafen, während die riesige Uhr hoch oben an der Wand das hektische Treiben wie ein Auge verfolgte und tickend die Minuten zählte. Darunter stand auf einer großen Tafel: DIE TIMES SCHLÄFT NIE!

Frank warf einen Blick auf die Uhr und stellte fest, es war Zeit, um ins King George Hotel zu gehen, wo er sich mit den Westbrooks zum Abendessen verabredet hatte.

Joanna Westbrook, dachte er, ja, das ist ein Geheimnis! Manchmal erfaßte ihn selbst die Lust herauszufinden, welch seltsame und furchterregende Dinge sich vor neununddreißig Jahren an diesem Ort namens Karra Karra ereignet haben mochten. Welches Unglück war über einen jungen Weißen, seine Frau und ihre kleine Tochter hereingebrochen? Was war das für ein Fluch oder Gift-Gesang oder was immer es auch sein mochte, der seitdem auf ihrem Leben und dem ihrer Nachkommen lag? Und dann diese seltsamen Träume von einer Regenbogenschlange … Wie war es dem jungen Paar gelungen, bei den Ureinwohnern zu leben, die vermutlich zum ersten Mal Weißen begegneten?

Man hörte immer wieder Berichte von ›Weißen in der Wildnis‹, von einem Mann oder einer Frau, die von Ureinwohnern in die Sippe aufgenommen worden waren. Australiens kurze Vergangenheit war voll von solchen Geschichten. Sogar jetzt gab es Gerüchte, nach denen man im westlichen Queensland wieder einen Weißen gefunden hatte, der bei einer Sippe lebte. Frank überlegte, ob es sich dabei um das vermißte Mitglied der gescheiterten Expedition von 1871 handeln konnte. Ein Polizeitrupp hatte den Weißen bei den Aborigines in der Nähe von Cooper’s Creek entdeckt. Der Mann hatte ausgesagt, er sei Mitglied der Expedition gewesen. Er behauptete auch, nicht die Ureinwohner hätten die Mitglieder der Expedition getötet, sondern unter den Männern sei es zum Kampf gekommen, als ein Teil die Expedition abbrechen und zurückkehren wollte. Die Polizei brachte den Mann nach Melbourne, und Frank wollte ihn persönlich befragen.

Als Frank gerade sein Büro verlassen wollte, kam sein Sekretär mit einem Briefumschlag. »Mr. Downs«, sagte er, »das ist eben für Sie abgegeben worden.«

Sein Anwalt schickte ihm den Vertrag, mit dem Colin MacGregor Besitzer der fünftausend Morgen Land wurde.

Frank freute sich, daß seine Schwester endlich heiratete, obwohl er wahrscheinlich einen anderen Mann als MacGregor für sie gewählt hätte. Aber da sie glücklich war, freute er sich auch. Und als sie ihn als Hochzeitsgeschenk darum gebeten hatte, Colin die fünftausend Morgen Land zu überlassen, wollte Frank ihr diese Bitte nicht abschlagen. Er konnte sich nicht vorstellen, was MacGregor mit diesem Land anfangen wollte – es war völlig nutzlos. Aber Pauline war zufrieden, und nur das zählte. Seit sie die Verlobung mit Westbrook gelöst hatte, fürchtete Frank, sie würde ihr Leben lang eine alte Jungfer bleiben. Aber schließlich hatten sich die Dinge für alle Beteiligten zum Besten gewendet.

Wenn ich doch nur etwas tun könnte, dachte er traurig, um meine Lage zu verbessern.

Seit der Typhusepidemie vor einem Jahr lebte Frank wieder in Melbourne. Er hatte verschiedene junge und akzeptable Frauen kennengelernt. Aber er sah sich außerstande, mehr als nur höflich und freundlich zu ihnen zu sein. Und nach zwei oder drei Begegnungen verzichtete er auf weitere Treffen. Diese Frauen vermochten ihn einfach nicht zu interessieren.

Frank dachte gelegentlich an Ivy Dearborn, und ihr geheimnisvolles Verschwinden wollte ihm noch immer nicht aus dem Kopf. Er hatte im westlichen Distrikt nach ihr gesucht und dann in der Times in einer Notiz um Informationen gebeten, so wie er seine Leser aufgefordert hatte, der Zeitung Hinweise auf Karra Karra zu geben. Aber niemand schien etwas über Ivy Dearborn zu wissen.

Vielleicht ist sie doch an Typhus gestorben, sagte er sich wieder einmal, als er den Fahrstuhl betrat, den zu benutzen alle außer ihm ablehnten. Vielleicht war sie auch nach England zurückgekehrt. Was auch geschehen sein mochte, Frank war entschlossen, sie zu vergessen. Er mußte jetzt an andere Dinge denken.