Kapitel Einundzwanzig

1

›Am Morgen des elften August 1880, pünktlich um zehn Uhr, erlebte die Kolonie Victoria das Ende einer Ära. Seamus Langtree, der berüchtigte Buschräuber, der so lange anständige Bürger in Angst und Schrecken versetzt und sich immer wieder dem Zugriff der Polizei entzogen hatte, wurde im Pentridge-Gefängnis von Melbourne gehängt. Mit einer weißen Kapuze über dem Kopf zappelte und strampelte Langtree geschlagene vier Minuten am Seil, ehe der Tod eintrat. Das schaurige und schimpfliche Ende des Straßenräubers markiert das Ende der Gesetzlosigkeit in Australien.‹

So begann Frank Downs’ Augenzeugenbericht von der berühmtesten Hinrichtung in den australischen Kolonien. Er schrieb fieberhaft und wie besessen, notierte sich alle Einzelheiten und ergänzte sie durch ein paar eigene Ausschmückungen: »Fünftausend Menschen hatten sich vor dem Gefängnis eingefunden und warteten auf die Todesnachricht. Darunter befanden sich auch viele Frauen, die um den verurteilten Gesetzesbrecher weinten.« Age und Argus, die Konkurrenz der Times, hatten Reporter geschickt, um über das sensationelle und einmalige Ereignis zu berichten, aber Frank fand, die Hinrichtung sei einen Artikel des Verlegers persönlich wert.

»Das wär’s also«, sagte einer der Journalisten in der Gruppe von etwa dreißig Männern am Fuß des Galgens. »Ich bin jetzt für Steak und Nierenpastete bei Lucy. So eine Hinrichtung macht einem richtig Hunger und man braucht etwas Kräftiges!«

Frank blickte auf die Uhr. Er hatte eine Verabredung zum Mittagessen mit dem Präsidenten der First Melbourne Bank. Aber bis dahin war noch etwas Zeit, genug Zeit, um den Artikel in die Redaktion zu bringen, damit er für die Nachmittagsausgabe in Druck ging.

Es war eine gute Geschichte, und Frank glaubte, seine Zeitung werde sich besser verkaufen als die anderen, denn er hatte sich noch etwas ganz Besonderes einfallen lassen. Sein Bericht sollte durch Ivys anschauliche und phantasievolle Bilder der Langtree-Bande und der berüchtigten Schießerei in Glenrowan ergänzt werden.

Frank hatte Ivy seit zwei Wochen nicht mehr gesehen. Er wußte, sie würde ihn vermissen und sich einsam fühlen. Während er mit den anderen durch das Gefängnistor hinausging und dem Pförtner die Hand gab, beschloß Frank, Ivy an diesem Abend unter allen Umständen zu besuchen.

Seine Zeit wurde nicht nur von der Times in Anspruch genommen, sondern auch von anderen Dingen. Eines Morgens war ihm beim Aufwachen ganz plötzlich klar geworden, daß er dreiundvierzig Jahre alt war. Das wiederum führte zu dem Gedanken, es sei an der Zeit, ernsthaft an die Zukunft zu denken – an die Zukunft von Lismore, die Zukunft der Times und die Zukunft des Namens Downs. Kurz und bündig: Es war Zeit zu heiraten und eine Familie zu gründen. Doch dieser Aufgabe stellte Frank sich nicht gerade mit großer Freude. Er war mit Ivy so glücklich gewesen und war es noch. Wenn es doch nur so weitergehen, wenn er sie heiraten könnte. Aber das stand außer Frage. Für Frank lag der einzige Sinn einer Ehe darin, Erben zu zeugen, und Ivy konnte keine Kinder bekommen.

Seit Frank auf dezente Weise in seinen Kreisen hatte durchblicken lassen, daß er, nun ja, Ausschau nach einer geeigneten Kandidatin hielt, wurde er von Einladungen geradezu überschwemmt – ein Abendessen hier, ein Abendessen da, er ging zu diesem Ball und zu jenem, zum Gartenfest bei Soundso und Soundso. Er sah im Geist, wie sich die Neuigkeit gleich einem Buschfeuer in Melbourne verbreitete: Frank Downs sucht eine Frau! Anscheinend hatte jede Mutter mit einer heiratsfähigen Tochter inzwischen herausgefunden, daß ein geeigneter und erstrebenswerter Mann auf dem Heiratsmarkt aufgetaucht war. Das Werk der Buschtrommeln, sagte sich Frank und seufzte, wenn sein Diener wieder mit einem Stapel Einladungen auf dem Tablett erschien. Die Damen der besseren Gesellschaft flüsterten, tuschelten und konspierierten – alle Mütter in Melbourne, die mit ihrem scharfen Blick die teure Garderobe und das Bankkonto ihrer Ehemänner zu Recht verdienten, waren am Wirken.

Und so erschien Frank auf den Festen, den Bällen, den Abendessen und Mittagessen. Es war ein endloser Reigen des Lächelns und der konventionellen Höflichkeiten mit schlechtem Whisky, reizlosen Töchtern und überfürsorglichen Müttern mit übergroßem Busen, die sich darum bemühten, den Besitzer der Times zum Schwiegersohn zu machen. Frank fand das ermüdend, und es gab Augenblicke, in denen er sich sagte, es lohne sich alles nicht. Doch dann stand er wieder vor dem neuen zehnstöckigen Redaktionsgebäude, sah in Gedanken den schönen Park von Lismore und die leeren Räume dort, in denen niemand lebte, und er dachte: Doch, es lohnt sich! Außerdem war es seine Pflicht. Jeder Mann hatte die Pflicht, einen Sohn zu zeugen, dem er sein Erbe übergeben konnte.

Aber die Suche nach der richtigen Frau erwies sich als keine leichte Aufgabe. Frank fand seine Erwartungen nicht übertrieben und zu hochgeschraubt. Er wollte nur eine Frau, die elegant, nett und angenehm war, die ein großes Haus führen und die Dienstboten beaufsichtigen konnte, ohne bei jedem kleinen Problem zu ihrem Mann zu laufen. Aber bis jetzt fand er immer etwas an den jungen Frauen auszusetzen, die man ihm vorführte. So dachte er beim Essen etwa stirnrunzelnd: Sie redet zuviel, sie ist zu klein, sie ist zu belesen. Ivy ist viel netter. Frank mußte sich eingestehen, daß er zwar nicht genau wußte, was er suchte, aber er hatte klare Vorstellungen davon, was er nicht wollte. Und nur junge Damen dieser Kategorie waren ihm bisher in den Häusern von Melbourne begegnet.

Trotzdem mangelte es nicht an Kandidatinnen. Die Abend- und Wochenendeinladungen nahmen kein Ende. Man schmeichelte ihm damit unerheblich und förderte den Stolz auf seine Männlichkeit und natürlich auch die Eitelkeit. Frank gestand sich ein, daß er es durchaus genoß, wenn man so großes Aufheben um ihn machte und wenig gegen die mehr als höfliche Aufmerksamkeit einzuwenden hatte, die sein Erscheinen überall auslöste.

Aber Frank gab sich nicht der Illusion hin, daß das romantische Interesse, das ihm die vielen unverheirateten jungen Frauen in Melbourne entgegenbrachten, auf eine heftige Leidenschaft für ihn zurückzuführen sei. Er war dreiundvierzig und sah auch so aus. Er wirkte gesetzter und behäbiger denn je. Es ließ sich nicht leugnen, sein Bauch wurde größer, und seine Haare wurden weniger. Frank wußte also, worauf es diese Damen abgesehen hatten – auf Geld und Macht. Jede mit etwas Verstand im Kopf hatte es darauf abgesehen. Und Frank Downs besaß beides.

Während er zwischen zahllosen anderen Melbournern, die sich von der Augustkälte offenbar nicht schrecken ließen, durch die Collins Street ging, besserte sich seine Stimmung. Trotz des drohenden Regens aus den dicken schwarzen Wolken war der Eigentümer der Melbourne Times guter Laune. In der Zeitung und auf Lismore lief alles gut. Die Auflage der Times stieg, und mit der erfreulich erfolgreichen Lanolinproduktion und der Wolle hatte Lismore in diesem Jahr den bislang größten Gewinn erzielt. Und er hatte Ivy.

Frank wußte, das war auch der Grund, weshalb in seinen Augen anderen Frauen etwas zu fehlen schien. Ivy war eine ideale Frau – liebevoll und treu. Sie war immer für ihn da. Mit ihr konnte er gute Gespräche führen und über alles, was in der Welt vorging, reden. Sie war bereit, mit ihm zu lachen, und gelegentlich schimpfte sie auch mit ihm. Er liebte Ivy wegen ihres Hangs zur Unabhängigkeit und wegen der Direktheit, mit der sie sagte, was sie dachte. Sie hatte Spaß an Sex und wies Frank nur selten ab. Und noch etwas sprach für sie – blieb aber ein unausgesprochenes Geheimnis: Ivy wurde nicht schwanger.

Frank wartete am Bordstein darauf, die Straße überqueren zu können, als die Schlagzeile von Argus, dem Konkurrenzblatt, seine Aufmerksamkeit auf sich zog. ›Ein Weißer bei den Aborigines.‹

Frank kaufte eine Zeitung und überflog rasch den Artikel. Forschungsreisende hatten in der Großen Wüste im Westen des Kontinents einen Felsen entdeckt, in den die Buchstaben S. W. und das Datum 14. Jan. 1848 eingemeißelt waren. Weiter hieß es, sei bekannt, daß ein Mann namens Sam Wainwright zusammen mit vier anderen 1848 in die Große Wüste vorgedrungen war, um einen Landweg von Perth nach Sydney zu finden. Man hatte nie mehr etwas von ihnen gehört. Der Felsen mit der aufregenden Inschrift befand sich in unmittelbarer Nähe eines Lagers der Aborigines, und die Schwarzen hatten den Forschern von einem Weißen erzählt, der fünfzehn Jahre lang bis zu seinem Tod bei ihnen gelebt hatte.

Üblicherweise druckte die Times solche guten Geschichten, und Frank gefiel die Vorstellung nicht, Argus könne ihm voraus sein. Er nahm sich vor, Eric Graham, seinen besten Reporter, auf die Sache anzusetzen, um zu sehen, ob man an weitere Informationen herankam.

Während Frank über die Straße eilte und dabei mißmutig Kutschen und Pferdebahnen auswich, dachte er an Joanna Westbrook und an ihre Reise in das Missionsdorf Karra Karra in Neusüdwales, die sie vor kurzem unternommen hatte. Der Leiter der Missionsstation hatte versprochen, ihr den Schlüssel für die Kurzschrift ihres Großvaters zu beschaffen. Frank setzte große Hoffnungen auf die Entzifferung der Texte. Möglicherweise bot das Stoff für eine Sensationsgeschichte. Deshalb konnte Frank es kaum erwarten, zu erfahren, was diese rätselhaften Aufzeichnungen enthüllen würden. Er sah die Schlagzeile schon vor sich: ›Der Fluch der Ureinwohner bringt nach siebenunddreißig Jahren einer Weißen den Tod.‹

Eine Droschke fuhr in schnellem Tempo durch eine Pfütze, und das schmutzige Wasser spritzte nach allen Seiten. Frank wich geistesgegenwärtig zurück und verwünschte die Gefahren des Winters in Melbourne. Trotzdem, dachte er, während er seine Hose abklopfte, im Sommer war es noch schlimmer. Dann fielen Schwärme von Fliegen über die Stadt her, Krankheiten brachen aus und der puderfeine Staub der unbefestigten Straßen wurde ständig aufgewirbelt. Im Sommer konnte man die Neureichen von Melbourne unfehlbar daran erkennen, daß sie in ihren Wagen hustend in Fahrtrichtung saßen. Leute mit Erfahrung saßen dagegen immer mit dem Rücken zu den Pferden.

Als Frank das Redaktionsgebäude der Times betrat, stellte er zufrieden fest, daß seine Zeitung Argus im Rennen um die Leser doch überlegen war. Ivys Karikaturen ließen die Verkaufszahlen und damit auch die Auflagen immer noch steigen. Argus und Age brachten inzwischen zwar ebenfalls Illustrationen, aber die Bilder der Konkurrenz konnten es mit denen von Ivy in keiner Hinsicht aufnehmen. Von wem, so fragten sich alle, stammten diese großartigen Zeichnungen? Doch Frank enthüllte die Identität seines Illustrators nicht. Er war sich mit Ivy darin einig, daß dieses Rätsel den Verkauf der Zeitung förderte.

Ja, dachte er, während er in dem ruckenden hydraulischen Fahrstuhl zu seinem Büro im zehnten Stockwerk hinaufschwebte, ich muß Ivy heute abend unbedingt sehen. Nach sieben Jahren – er stellte zu seiner Verblüffung fest, daß es in einer Woche genau sieben Jahre sein würden – schien sie immer noch die einzige Frau zu sein, die Frank aus unerfindlichen Gründen um seiner selbst willen liebte. Sie hatte nie Interesse an seinem Geld gezeigt, und sie verlangte nie etwas von ihm.

Frank fand ihre sexuelle Beziehung wunderbar, denn seit ihm eines Morgens aufgegangen war, daß er beinahe zwölf Monate mit Ivy geschlafen hatte, ohne daß sie schwanger geworden war, machte er sich keine Sorgen mehr wegen einer unerwünschten Schwangerschaft. Er stellte Ivy deshalb keine Fragen – ein Gentleman sprach über ein solches Thema nicht, auch nicht mit seiner Geliebten –, doch er wußte es. Inzwischen war sie sechsundvierzig, und vermutlich bestand kaum noch die Möglichkeit, daß sie schwanger werden würde. Deshalb konnte er jetzt, wo er Erben haben wollte, auch nicht daran denken, Ivy zu heiraten.

»Mr. Downs«, begrüßte ihn eilfertig der junge Mann, der als sein Sekretär fungierte, als sich die Fahrstuhltür öffnete. Frank konnte ihn bei dem Geklapper der neuen Remington-Schreibmaschinen im großen Büro kaum hören. »Ein Herr möchte Sie sprechen. Er wartet bereits den ganzen Morgen.«

»Dann kann er auch noch etwas länger warten. Ich bin jetzt nicht zu sprechen«, erwiderte Frank bissig und wunderte sich insgeheim über die plötzliche Gereiztheit. »Hier«, sagte er etwas versöhnlicher und gab dem Sekretär das Notizbuch. »Langtrees Hinrichtung. Lassen Sie den Bericht transkribieren. Wir brauchen das schnell!«

Der Umfang der Times nahm wie der Bauch ihres Verlegers ständig zu. Frank hatte auch andere Vorschläge von Ivy aufgegriffen. Sie hatte ihm zum Beispiel geraten, doch auch über andere Themen als Politik und Politiker zu berichten. Vor einigen Jahren hatte der Daily Telegraph in London einen Reporter namens Stanley in das Innere von Afrika geschickt, um einen vermißten Arzt zu suchen. Dieses Ereignis zog die Aufmerksamkeit der ganzen Welt auf sich. Ivy hatte vorgeschlagen, die Melbourne Times sollte vielleicht eine Expedition in das unerforschte Neuguinea finanzieren. Frank betraute daraufhin einen Starreporter, einen tollkühnen Abenteurer namens Jameson, mit dieser Aufgabe. Der Mann wurde auf der Expedition von einem Speer in den Bauch getroffen und beinahe von. Kannibalen gefressen, aber er kam mit seiner Geschichte zurück, und die Auflage der Times verdoppelte sich.

Dann sagte Ivy: »Warum bringst du nicht regelmäßig die Ergebnisse von Fußball und Kricket? Warum läßt du dir vom Astronomischen Institut nicht die neuesten Wettervorhersagen geben und druckst sie in der Nachmittagsausgabe? Und du könntest Bildgeschichten bringen, damit die Leute morgens beim Tee etwas zu lachen haben, und einmal in der Woche einen Artikel über einen interessanten Einwohner von Melbourne. Außerdem solltest du jedes Jahr an Weihnachten irgendeinen Wettbewerb veranstalten und für die Sieger Preise aussetzen.« Frank hatte diese Ratschläge alle befolgt, und die Ergebnisse waren überwältigend. Die Times hatte inzwischen sechzehn Seiten und rühmte sich, das umfangreichste Tageblatt im ganzen Empire zu sein.

Natürlich vergaßen die Politiker und Kandidaten für einflußreiche Ämter nicht, daß jeder wahlberechtigte Mann von Melbourne bis Wagga Wagga die Times las.

Frank betrat sein Büro, setzte sich und stützte erschöpft den Kopf in die Hände. Er fühlte sich plötzlich sehr müde. Die Hinrichtung mußte ihm doch nahe gegangen sein – mehr als er gedacht hatte. Er wurde das Bild nicht los, wie Langtree mit den Beinen getreten und gestrampelt hatte … Frank blickte auf die Uhr. In einer Stunde sollte er den Bankpräsidenten treffen. Aber er wollte nicht zu diesem Essen. Er wollte Ivy sehen, sie in die Arme nehmen und sich daran erinnern, daß er noch lebte. Er wollte sich bei ihr vergewissern, daß er den Tod eines anderen Mannes und nicht den eigenen mit angesehen hatte.

Dann dachte Frank wieder an den Bankpräsidenten, an die unverheiratete Tochter, die ihm der Mann unbedingt vorstellen wollte, und er wußte, wohin ihn die Pflicht rief. Er mußte eine Frau finden, die ihm eine Familie schenken konnte.

2

Ivy hatte Angst.

Sie wußte, sie würde Frank verlieren. Es war nur eine Frage der Zeit.

Als sie vor dem Spiegel stand und den Hut richtete, bevor sie ausging, wurde sie wieder einmal daran erinnert, daß sie sechsundvierzig Jahre alt war – in diesem Alter freuten sich viele Frauen bereits über ihre Enkelkinder. Und was konnte sie als Ergebnis ihres Lebens vorweisen? Ein Zimmer voller Bilder, die niemand wollte.

Sechsundvierzig, dachte Ivy, und keinen Mann, keine Kinder, keine Familie. Sie ging durch die Straßen von Melbourne und sah überdeutlich die armen Frauen, die in dunklen Hauseingängen standen: ungewollte, verstoßene Frauen, die oft ohne eigenes Verschulden weder für sich selbst noch für die Gesellschaft von Nutzen waren. Sie bettelten, verkauften Obst, das sie gestohlen hatten, und boten den Männern ihre Körper als Bezahlung für eine Mahlzeit an. In Melbourne wimmelte es von ihnen, und obwohl Ivy seit sieben Jahren mit Frank zusammen war, steckte an ihrem Finger kein Ring, gab es keine Heiratsurkunde, die Frank an sie band. Ganz sicher würde er eines Tages beschließen, es sei Zeit, eine Familie zu gründen. Und ein reicher Mann wie Frank suchte sich bestimmt ein junges, ehrbares Mädchen als Ehefrau und Mutter für seine Erben.

Ivy sagte sich, der Zeitpunkt sei gekommen, an dem sie anfangen mußte, an ihre Zukunft zu denken und Pläne für das Überleben zu machen. Aber das Problem war – wie?

Wie, fragte sie sich, überlebt eine Frau ohne Einkommen und ohne einen Mann, der sie unterstützt, in einer so unmenschlichen Stadt wie Melbourne, wo zerlumpte Kinder in den Straßen betteln und feine Damen und Herren achtlos an ihnen vorübergehen? Wie kann sich eine alleinstehende Frau, deren Aussehen und Jugend dahinschwinden, eine Frau ohne besondere Bildung und ohne spezielle Kenntnisse ein sorgenfreies Alter sichern?

Als Ivy sich diese Frage vor einigen Monaten zum ersten Mal gestellt hatte, beschloß sie, sich in Melbourne genau umzusehen, um ihre Möglichkeiten und Zukunftsaussichten zu überprüfen. Was sie erlebte, entmutigte sie nicht nur, sondern machte ihr Angst.

Kein Mensch in der ganzen Stadt wollte sie einstellen.

Die Gasthäuser suchten als Bedienung junge Frauen, in reichen Häusern wollte man ehrbare Gouvernanten und Kindermädchen, und Ivy war weder eine gute Köchin, noch hatte sie Referenzen vorzuweisen. Alle anderen Berufe wurden von Männern beherrscht.

Wenn Ivy die Hoffnung verließ, dachte sie jedesmal an Frank, an den soliden, tröstlichen Frank, und sie sagte sich: Er wird nicht zulassen, daß mir dieses Schicksal droht. Doch an den langen Abenden, wenn die Stadt ruhig wurde und Ivy wach im Bett lag, lauschte sie auf das ängstliche Pochen ihres Herzens und spürte, wie die Panik sie erfaßte. Dann dachte sie: Ich kann nicht mit ihm rechnen. Er wird mich verlassen. Er muß mich früher oder später verlassen.

Aber auch wenn Ivy Dearborn nichts besaß, so hatte sie doch zumindest ein Talent: Sie konnte malen.

Solange Ivy denken konnte, hatte sie davon geträumt, eine Künstlerin zu sein. Selbst in der Kindheit, als ihre Familie sich noch in England mit dem Lohn des Vaters, der als Bergarbeiter wenig genug verdiente, mühsam über Wasser hielt, hatte Ivy in jeder freien Minute gezeichnet. Als sie sich auf die lange Reise in die australischen Kolonien machten, waren sie, ihre Mutter und die fünf Brüder und Schwestern voller Illusionen, die der Vater, Daniel Dearborn, mit seinen glühenden Reden in ihnen geweckt hatte. Er sprach überzeugend und mitreißend von einem märchenhaften Leben und den unbegrenzten Möglichkeiten, die sie in Australien erwarteten. Er werde Gold schürfen, hatte er gesagt, und sie würden reich sein. In Ivys kleinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Sie hatte kühne Träume und entwickelte großen Ehrgeiz. Ich werde auf die Kunstakademie gehen, dachte sie, ich werde eine berühmte Malerin werden. Aber aus Daniel Dearborns Plänen wurde nichts. Er scheiterte an der harten Wirklichkeit. Er und zwei seiner Söhne fielen in Ballarat dem Typhus zum Opfer. Eine Tochter starb ein Jahr darauf im Kindbett. Die zweite Tochter machte sich auf den Weg nach Tasmanien, und man hatte nie mehr etwas von ihr gehört. Ivy blieb mit ihrer Mutter und dem jüngeren Bruder allein zurück.

Sie kamen nach Melbourne, weil sie im Busch nicht überleben konnten. Mrs. Dearborn übernahm in einer kleinen Wohnung hinter der Collins Street Näharbeiten und starb, ehe sie fünfzig war. Der Bruder fuhr enttäuscht und verbittert allein nach Neuseeland und ließ Ivy zurück.

Ivy versuchte noch einmal, ihren Traum zu verwirklichen. Sie nahm jede Anstellung, die sie finden konnte, und arbeitete in Mittelklassehaushalten als Mädchen für alles. Der Lohn reichte kaum zum Leben, und die Arbeitszeit war so lang, daß sie nie einen Augenblick für Bleistift und Papier fand. Innerlich zermürbt und entmutigt wurde Ivy von Hoffnungslosigkeit gepackt. Und deshalb fiel sie wohl auch auf einen gutaussehenden jungen Goldgräber herein, der eines Tages erschien und ein Auge auf sie warf. Ivy glaubte voller Naivität, daß sie bei diesem Mann Sicherheit finden werde.

Aber als sie schwanger wurde, lief er davon. Ivy wachte eines Morgens auf und war mit ihrem kleinen Kind allein. Nur dem Glück hatte sie es zu verdanken, daß zwei freundliche Menschen ihren Weg kreuzten, ein Ehepaar, das keine eigenen Kinder bekommen konnte. Die beiden wollten Ivys Baby ein gutes Zuhause geben. Damit war Ivy wieder frei und konnte sich Arbeit suchen. Nach einigen Jahren in unbefriedigenden Stellungen – in vielen war ihr Verbleiben abhängig von besonderen Gunstbeweisen gegenüber dem Hausherrn – vertauschte Ivy die Stadt mit dem Land, wo niemand sie kannte. Finnegan, ein reicher Wirt, gab ihr in seinem Pub eine Chance, und bereits kurze Zeit später fiel sie Frank Downs auf.

Damals war ihr Traum, Malerin zu werden, wieder erwacht. Nachdem sie mit Frank zusammenlebte, stellte Ivy fest, daß sie endlich die Zeit und das Geld hatte, um diesen Traum zu verwirklichen. Die Wohnung bestand aus einer Küche, einem Wohnzimmer, einem Schlafzimmer und einem Eßzimmer, das Ivy in ein Atelier verwandelte. Dort fiel das strahlende Sonnenlicht durch ein gewölbtes Erkerfenster auf ihre Staffelei, auf die Farben und die Stapel aufgezogener Leinwände. Ivy hatte keine anderen Verpflichtungen, als Frank zu unterhalten. Sie nutzte die viele freie Zeit und die Möglichkeiten und machte sich mit Feuereifer ans Malen. In den Jahren, die seitdem vergangen waren, hatte sie ihr Talent entdeckt. Sie sah mit einem neu erwachten Selbstbewußtsein in ihren Arbeiten etwas Außergewöhnliches. Und sie stellte etwas Ernüchterndes fest: Niemand interessierte sich für Bilder, die von einer Frau gemalt waren.

Deshalb befand sich Ivy in einem Dilemma, als sie an diesem wolkigen Augusttag auf den überfüllten Gehwegen durch Melbourne lief. Sie fand keine Arbeit, die ihr einen festen Lohn einbringen würde, und sie hatte sehr wenig gespart. Sie überlegte, ob sie es ertragen würde, weiterhin für Frank zu arbeiten und Karikaturen für die Times zu zeichnen, wenn er sie verlassen hatte. Aber im Grund war diese Frage gegenstandslos, denn das erschien ihr unmöglich.

Um die Teezeit stand Ivy vor einem der vielen Fotoateliers, die überall in Melbourne aus dem Boden schossen. Das neue Trockenplatten-Verfahren und die kürzeren Belichtungszeiten bescherten den Fotografen einen Boom. Früher hatten die Leute für ein Porträt gesessen oder die Maler in ihre Häuser bestellt, um Ansichten malen zu lassen, jetzt stellten Männer mit Kästen und Stativen in kürzerer Zeit und für weniger Geld wirklichkeitsgetreue Fotografien her.

Ivy wußte, die meisten Maler lehnten die neue Technik, die Fotografie, kategorisch ab. Sie fürchteten, ihre Profession könnte dem Fortschritt zum Opfer fallen und aussterben. Deshalb behaupteten sie, eine Fotografie sei ›seelenlos‹, und kein Fotograf habe einen eigenen Stil. Das stimmte gewissermaßen. Aber Ivy gefielen Fotografien. Ihr gefielen der Realismus und die Präzision. Ganz gleich, wie gut ein Maler war, er konnte niemals die Einzelheiten ganz so genau einfangen, wie es eine Fotografie tat. Andererseits, so räumte sie ein, während sie vor dem Schaufenster des Ateliers stand und die ausgestellten Fotos betrachtete, hatten die Bilder etwas Flaches an sich. Zum einen wirkten sie statisch und leblos, und zum anderen fehlte ihnen die Farbe. Und das war schade. Denn in der Natur hatte alles Farbe. Selbst in den trostlosesten Dingen gab es Farbe, und das konnten – bei Stürmen, im tobenden Meer, bei den Schatten hinter Türen – die dramatischsten und eindrucksvollsten Farben sein. Und die Gesichter der Menschen, dachte Ivy beim Anblick einer Porträtaufnahme, sind ganz bestimmt nicht schwarz und weiß. Wo war das Fleisch dieses Mannes? Welche Farben hatten seine Augen? Waren seine Lippen weiß oder grau oder rosa? War er bei guter Gesundheit oder war er krank? Die Fotografie ließ vieles aus.

»Kann ich Sie für ein Porträt interessieren, Madam?«

Überrascht drehte Ivy sich um und sah einen Mann in einem großkarierten Jackett vor sich. Er trug keinen Hut, denn er kam geradewegs aus dem Geschäft.

»Mir ist aufgefallen, daß Sie schon lange hier stehen und meine Bilder betrachten«, sagte der Mann lächelnd. »Denken Sie daran, sich fotografieren zu lassen? Ich bin Al Gernsheim, und ich kann Ihnen versichern, meine Preise sind die günstigsten in ganz …«

»Sie sind ohne Leben.«

»Wie bitte?«

»Ihre Bilder sind ohne Leben.«

Er sah sie mit großen Augen an. »Wie können Sie so etwas sagen, Madam? Sie sind direkt dem Leben entnommen!«

»Ich meine, sie sind ohne Farbe. Und das Leben ist farbig oder?«

Er runzelte die Stirn. »Niemand kann Farbaufnahmen machen. Eines Tages wird es vielleicht möglich sein. Aber heute noch nicht.«

»Das ist schade«, sagte Ivy leise. »Dieses Foto dort, der Eukalyptusbaum in der Landschaft … gewiß, es ist ein hübsches Bild. In Farbe wäre es sehr viel eindrucksvoller. Aber … ein weißer Himmel, weißer Sand und ein schwarzer Baum?« Sie schüttelte den Kopf. »Das Bild braucht das Blau des Himmels über dem Busch, die Goldtöne der Landschaft und die dramatischen Schattierungen der Eukalyptusrinde. So könnte es überall aufgenommen sein oder etwa nicht?«

»Doch«, sagte der Fotograf mit einem Seufzer. »Das könnte es. Und dabei ist es eines meiner besten Bilder. Ich habe es in Tumbarumba aufgenommen.«

»Es ist schön«, sagte Ivy und dachte plötzlich an eine von Hugh Westbrooks Balladen. Diese Fotografie, dachte sie, hat etwas vom selben Geist.

Ihr kam eine Idee. »Wie lange steht das Bild schon im Fenster?«

»Seit ich es vor einem Jahr aufgenommen habe. Bis jetzt hat sich noch kein Mensch dafür interessiert.«

Ivy sah ihn an und spürte, daß sie ganz aufgeregt wurde. »Wenn ich darf, würde ich es gerne haben. Wieviel kostet es?«

Der Mann nannte ihr den Preis, und Ivy mußte ernsthaft überlegen. Es war ein Glücksspiel mit einem hohen Einsatz, und es gab keine Garantie für den Ausgang. Aber welche anderen Chancen hatte sie? Manchmal mußte man eben ein Risiko eingehen – Frank sagte das immer.

Sie kaufte die Landschaftsaufnahme und trug sie zurück in die Wohnung in der Elizabeth Street. Dort zog sie sich um, stellte das Bild auf die Staffelei im Atelier und machte sich daran, die Farben vorzubereiten. Dieses eine Mal würde sie nicht mit den teuren Ölfarben arbeiten, sondern mit Aquarellfarben. Noch ehe sie den ersten Pinselstrich getan hatte, wußte sie bereits, mit ihrer Idee würde sie Erfolg haben.

Drei Tage später starrte der verblüffte Al Gernsheim auf das verwandelte Bild. Mit seinen leuchtenden Farben wirkte es so lebendig, daß er das Gefühl hatte, den australischen Busch in den Händen zu halten.

»Das ist ein Wunder!« erklärte er. »Es ist zehnmal besser als vorher. Es ist sogar besser als ein Gemälde!«

»Glauben Sie, Sie können es verkaufen, Mr. Gernsheim?«

»Verkaufen?! Das Bild ist weg, noch ehe der Tag vorbei ist! Sehen Sie doch nur, was Sie getan haben! Sie haben die wirklichen Farben einer Landschaft im Busch eingefangen! Es hat Stimmung! Sie haben sehr viel mehr erreicht, als meine Kamera jemals vermag!«

Ivy war überglücklich, hielt sich jedoch zurück. »Ohne Ihre Fotografie hätte ich es nicht annähernd so gut machen können, Mr. Gernsheim. Vielleicht könnten wir bei anderen Aufnahmen zusammenarbeiten. Denken Sie darüber nach – Sie mit der Präzision und Genauigkeit Ihrer Kamera und ich mit meinem Auge für Farben …«

»Mein Gott, Sie bringen mich auf eine Idee!« Er hob nachdenklich den Kopf und sah Ivy lange an. Und dann wußte er es: Plötzlich war sein vollgestopfter kleiner Laden mit dem Staub und dem Geruch der Chemikalien zu klein für seinen Ehrgeiz. In ganz Melbourne gab es keinen Fotografen, der Bilder anbieten konnte, die genau die Farben der Vorlagen hatten. »Besser als ein Gemälde!« rief er im Geist, und seine Gedanken überschlugen sich. Er sah die Werbung in seinem Schaufenster und in Zeitschriftenanzeigen: ›Wirklichkeitsgetreu und lebensecht!‹ ›Der Fotografie bei weitem überlegen!‹

»Wären Sie bereit, mir das Bild wieder zu verkaufen?« fragte er. »Ich gebe Ihnen das Doppelte von dem, was Sie bezahlt haben. Und dabei mache ich immer noch Gewinn.«

Ivy lachte. »Natürlich können Sie es zurück haben!«

Er sah sie noch einmal lange und nachdenklich an. »Meine liebe Mrs. …?«

»Dearborn«, sagte Ivy, »Miss Ivy Dearborn.«

»Meine liebe Miss Dearborn. Würden Sie mir die Ehre erweisen und in meinem Atelier eine Tasse Tee mit mir trinken? Ich habe Ihnen einen Vorschlag zu machen.«

Plötzlich sah Ivy in dem breit lächelnden Al Gernsheim ihr Schicksal und ihre Rettung. Sie schob ihre Hand durch seinen Arm. »Mit dem größten Vergnügen, Mr. Gernsheim.«

3

Noch ein trostloses Mittagessen, noch eine eifrige Mutter, die ihm ihre Tochter andrehen wollte. Diesmal hieß das Mädchen Lucinda Carmichael.

Frank Downs wußte bereits genau, wie sie sein würde. Seit er eine Frau suchte, war er tausendmal demselben Typ begegnet. Üblicherweise waren diese Töchter der besseren Gesellschaft klein – die Mütter achteten sehr darauf, nicht den Fauxpas zu begehen, Frank allzu deutlich vor Augen zu führen, daß er nicht gerade der Größte war –, oder die gut vorbereitete Anwärterin zog die Schultern zusammen, um die Zentimeter, die sie ihn überragte, nicht so deutlich sichtbar werden zu lassen. Ihre Frisur war kokett, und sie trug ein sündhaft teures Kleid, das noch nach dem Modeatelier roch, von dem es stammte. Sie gab sich bescheiden und so zurückhaltend, daß sie Frank geradezu langweilte. Sie spielte amateurhaft Klavier und sang miserabel.

Wenn Franks Freunde oder seine Schwester wieder einmal mit mehr oder weniger großem Nachdruck darauf hinwiesen, er lasse sich Zeit, erwiderte Frank ungerührt, er sei wählerisch, und da es sich um einen wichtigen Schritt handle, werde er sich nicht einfach für irgendein Mädchen entscheiden.

»Guten Tag, Downs«, sagte Geoffrey Carmichael, als Frank das Wohnzimmer betrat. Das prächtige Haus der Carmichaels stand auf einem Hügel über dem Yarra River in einem Vorort von Melbourne, in dem nur die ganz Reichen lebten. Frank beabsichtigte, nach seiner Heirat ebenfalls ein solches Haus zu bauen, damit er und seine Frau sich die Zeit zwischen dem westlichen Distrikt und der Stadt teilen konnten.

»Tag, Carmichael«, sagte Frank und schüttelte die Hand seines Gastgebers.

Geoffrey Carmichael war ein robuster Mann in den Sechzigern. Er hatte sein erstes Vermögen als Goldgräber gemacht und sein zweites mit der Herstellung von Stiefeln und Sätteln. Nun war er dabei, ein drittes Vermögen zu machen – diesmal mit Silber. Das war auch der vorgeschobene Grund ihres Treffens. Er wollte sich bei Frank über Broken Hill, einen Ort in Neusüdwales, informieren. Frank war dorthin gefahren und hatte sich eine vielversprechende Silbermine angesehen. Er war gerade mit großen Plänen wieder zurückgekommen. Der eigentliche, unausgesprochene Grund für die Einladung war jedoch, daß Frank ›ungezwungen‹ die Möglichkeit haben sollte, Luanda, die einzige Tochter der Carmichaels, kennenzulernen.

Frank nahm dankend ein Glas Whiskey an und stellte sich damit vor den Kamin. Es war September, der Winter ging zu Ende, und es war ein kalter Tag in Melbourne. Frank freute sich, wieder zurück in der Zivilisation, unter kultivierten Menschen zu sein und vernünftigen Whiskey zu trinken. Er und Carmichael diskutierten die Vorzüge einer Investition in der neuen Silbermine von Broken Hill. Als Carmichael nach einiger Zeit das Glas abstellte, die Hand ausstreckte und sagte: »Ich vertraue Ihnen, Frank. Betrachten Sie mich als einen Ihrer Partner«, erschien plötzlich Mrs. Carmichael in der Tür, als habe sie draußen gelauscht und das Ende der Unterredung abgewartet. »Da sind Sie ja! Also, Mr. Carmichael, seien Sie nicht so besitzergreifend und nehmen Sie unseren Gast nicht ganz allein in Beschlag. Mr. Downs«, fuhr sie liebenswürdig fort und trat ins Zimmer, »ich möchte Ihnen meine Tochter Lucinda vorstellen.«

Frank stellte das Glas auf den Tisch und richtete sich auf. Als er sah, wer auf ihn zukam, wurde sein Blick starr.

Lucinda Carmichael war groß – sogar größer als Ivy. Und sie streckte ihm mit einem offenen, bezaubernden Lächeln die Hand entgegen. Sie duftete nach Rosen und fürchtete sich nicht, ihm in die Augen zu sehen. Frank Downs war angenehm überrascht und hörte sich sagen: »Ich freue mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, Miss Carmichael« – und diesmal war es tatsächlich nicht gelogen.

4

Anstatt auf der Stelle in den westlichen Distrikt zu fahren, um mit Hugh über die Silbermine zu sprechen, verschob Frank die Abreise aus Melbourne. Nach dem Mittagessen ging er am selben Abend mit Mr. und Mrs. Carmichael und Lucinda ins Theater. Am nächsten Tag erschien er wieder im Haus. Diesmal saß er mit Geoffrey auf dem Rasen und sprach über das Geschäft, während sie der schönen Lucinda zusahen, die auf dem neu angelegten Platz Tennis spielte. Er aß dort auch zu Abend und begleitete die Familie am folgenden Tag zu einem Ausflug ans Meer. Sie aßen in einem Restaurant in St. Kilda zu Mittag und unterhielten sich über die belebende Wirkung der Seeluft. Sechs Tage lang war Frank ständig in Gesellschaft von Miss Lucinda Carmichael – allerdings niemals allein mit ihr. Am Ende dieser Zeit traf er eine sehr praktische Entscheidung: Er konnte keine bessere Frau finden.

Durch den Reichtum und die Verbindung von Lucindas Vater würde Frank sogar mehr bekommen, als er zunächst erwartet hatte. Wichtiger fand er jedoch Lindas umgängliches Wesen. Sie war nicht geziert und verlogen wie so viele andere, die er kennengelernt hatte, und die mit Sicherheit ihr wahres Gesicht zeigen würden, sobald die Trauung vorüber war. Lucinda war geradeheraus, selbstsicher und auf eine Art ehrlich, die ihm tatsächlich ein Gefühl dafür gab, wie das Eheleben mit ihr sein würde. Und als Frank sich die langen Beine vorstellte, die unter den Röcken verborgen sein mußten, den üppig gerundeten Busen über der schmalen Taille, entschied der wählerische Junggeselle, seine Suche sei zu Ende.

Die Angelegenheit mußte weder mit den Eltern noch mit der Tochter lange besprochen werden. Die Carmichaels hatten deutlich gemacht, daß Frank ihnen ein willkommener Schwiegersohn wäre, und Lucinda war einundzwanzig, nach allgemeinen Maßstäben viel zu groß für eine Frau und heiratswillig. Es bestand auch kein Grund zu warten. Wenn Frank einmal einen Entschluß gefaßt hatte, verlor er niemals Zeit. Er mußte nur förmlich um Lucindas Hand anhalten, dann konnten sie sich auf eine angenehme Verlobungszeit von schicklicherweise sechs bis zwölf Monaten einrichten. Danach würde er seine Braut nach Lismore bringen und sie an das Leben auf dem Lande gewöhnen.

Wenn er an das Vermögen dachte, das ihm seine Anteile an der Silbermine einbringen sollten, und an die Dividende, die ihm das Haus Carmichael beschert hatte, fand Frank, er habe ein gutes Geschäft gemacht. Und während er nun darauf wartete, daß sein Diener ihm Kaffee, Brandy und heißes Wasser zum Rasieren brachte, staunte er über sein großes Glück.

Dann dachte er: Ich werde heute abend auf dem Weg zu den Carmichaels bei Ivy vorbeigehen.

Eine Stunde später stand Frank vor Ivys Tür. Er brachte Champagner, Blumen und ein sehr teures Diamantarmband mit.

»Du bist zurück!« rief Ivy, die ihn während seiner Reise nach Neusüdwales sehr vermißt hatte.

Als Frank nun Ivys immer noch leuchtendrote Haare sah und den leichten Lavendelduft roch, der sie stets umgab, wurde ihm unerwartet weh ums Herz, und er bekam Gewissensbisse. Er hätte sofort zu ihr gehen sollen, nachdem er von der Reise zurück war. Aber er hatte unbedingt Carmichaels Zusage bekommen wollen, und dann war Lucinda auf der Bildfläche erschienen und dann, nun ja, die Woche war einfach so dahingegangen. Aber nun war er hier in Ivys gemütlicher Wohnung, überließ ihr seinen Mantel und gab ihr die Geschenke.

»Habe ich dir gefehlt, Ivy?« fragte er.

Ivy hatte mit ihm schimpfen wollen. Sie hatte seit mehr als drei Wochen nichts von ihm gehört und gesehen. Aber bei seinem Anblick, beim Klang seiner Stimme siegte ihre Liebe. Sie schmiegte sich an ihn, und er küßte sie. Und als seine Arme sich fest um sie schlossen, als sie seine Leidenschaft spürte, fragte sie sich, wie sie jemals hatte fürchten können, er werde sie verlassen. Sie würde niemals etwas sagen oder tun, das ihn verletzte.

Deshalb wahrte sie auch ein Geheimnis, ihr großes Geheimnis.

Sie wußte, daß Frank glaubte, sie könne nicht schwanger werden. Er sprach nie darüber, aber sie hatte nach ihrem ersten gemeinsamen Jahr gespürt, wie erleichtert er sich in dieser Hinsicht fühlte. Ivy wußte, es war einer der Gründe für die wunderbare Freiheit, wenn sie sich liebten. Deshalb hatte sie beschlossen, Frank diese Illusion nicht zu nehmen. Sie wollte nicht über das uneheliche Kind sprechen, das sie vor Jahren zur Welt gebracht hatte und von dem sie nicht einmal wußte, wo und wie es lebte. Ivy ahnte auch den Grund für das erstaunliche Ausbleiben einer Schwangerschaft. Nicht sie konnte keine Kinder bekommen, sondern Frank konnte keine zeugen. Aber das kam niemals über ihre Lippen.

Ivy nahm Frank den Mantel ab, auf dem winterlicher Tau glänzte, und dankte ihm für den Champagner und das Bukett Orchideen aus dem Regenwald, deren Farben von Tiefblau bis Leuchtendrosa reichten. Ivy kannte diese seltenen Blüten – sie kamen den weiten Weg von der tropischen Nordküste von Queensland und waren sehr, sehr teuer.

»Das war vielleicht ein Tag!« sagte Frank und stellte sich mit dem Rücken zum Kamin, um sich die Beine zu wärmen. »Ich mußte heute nachmittag eine Sonderausgabe drucken. Ich hatte vom letzten eingelaufenen Dampfschiff die Nachricht bekommen, daß die Amerikaner daran denken, das australische Wahlsystem für ihre Bundeswahlen zu übernehmen. Kannst du dir das vorstellen? Dort drüben haben sie bis jetzt noch keine geheimen Wahlen? Ivy, ich sage dir, eines Tages wird Australien in jeder Hinsicht ganz vorne sein. Übrigens …«, er griff in die Tasche und brachte ein kleines Päckchen zum Vorschein, »… das ist auch noch für dich.«

»Was ist es?«

»Mach es auf, Ivy. Heute feiern wir.«

Während Frank den Champagner entkorkte und eingoß, beobachtete er gespannt, wie Ivy das Kästchen öffnete. Er freute sich schon im voraus auf ihre Reaktion. Das Armband war bei weitem das wertvollste Geschenk, das er ihr je gemacht hatte.

»Es ist schön«, sagte Ivy und sah ihn verwirrt an. »Aber was ist der Grund dafür?«

»Leg das Armband an und trink deinen Champagner. Ich habe dir gesagt, wir feiern.«

Während Ivy trank und die Diamanten an ihrem Handgelenk im zuckenden Flammenschein blitzende Funken an die Wände warfen, berichtete ihr Frank von der Silbermine in Broken Hill. »Wir werden unvorstellbar reich sein, Ivy!«

Sie ließ sich von seiner Stimmung anstecken und lachte glücklich.

»Du bekommst eine größere Wohnung, Ivy. Wie findest du das? Und einen Hermelinmantel. Wie wäre es mit einem wunderschönen Cape?«

»Ich brauche diese Dinge nicht, Frank«, sie lachte. »Ich habe dich. Das reicht mir.«

Frank schwieg, denn er dachte an die andere Neuigkeit. Das würde nicht so leicht sein. Er räusperte sich. »Also, äh, da ist noch etwas anderes, Ivy. Ich muß dir etwas sagen.«

Sie wartete.

»Ich habe beschlossen zu heiraten.«

Das Feuer im Kamin knisterte, und der Rauch verschwand im Schornstein. Draußen fuhr ein Einspänner vorbei, die Pferdehufe klapperten hohl auf dem Pflaster.

Ivy starrte Frank an und hatte das Gefühl, sich in ein Stück Holz zu verwandeln. Also war es schließlich doch so gekommen, wie sie es befürchtet hatte. Wie lange schon bereitete sie sich auf diesen Augenblick vor? Sie hatte versucht, sich vorzustellen, wie es sein würde, wie er es ihr sagen und wie sie reagieren werde. Aber nun war der Augenblick gekommen, Frank hatte die gefürchteten Worte ausgesprochen, und Ivy mußte plötzlich erleben, daß sie doch nicht darauf vorbereitet war.

»Heiraten?« hörte sie sich sagen.

Frank räusperte sich noch einmal und stellte fest, daß er Ivy nicht in die Augen blicken konnte. »Nun ja, Ivy, ich muß an Lismore denken. Ich brauche einen Erben. Das bin ich meinem Vater schuldig.«

»Wen?« fragte Ivy. »Wer ist es?«

»Lucinda Carmichael. Sie ist die Tochter des Mannes, der zusammen mit mir die Silbermine kaufen wird.«

Ivy saß wie erstarrt auf dem Sofa und hielt die Hände krampfhaft im Schoß gefaltet.

Frank sprach hastig weiter. »Ich möchte nicht, daß du glaubst, dadurch wird sich zwischen uns etwas ändern, Ivy. Ich werde wie immer hier in Melbourne leben.«

Ivy sah ihn an. »Wovon sprichst du?«

»Von uns, Ivy! Du hast doch nicht geglaubt, ich würde dich aufgeben oder?«

Sie starrte ihn an, und plötzlich weiteten sich ihre Augen vor Entsetzen. Sie hatte sich viele Versionen ausgemalt, aber diese gehörte nicht dazu. Er wollte sie aushalten! »Frank«, sagte sie, »du wirst verheiratet sein. Wenn du verheiratet bist, können wir uns nicht mehr sehen.«

»Weshalb nicht?«

Ivy sprang auf und begann zu zittern. Plötzlich war alles falsch. Die Szene schien verdreht und völlig verkehrt zu sein. Es spielte sich nicht so ab, wie es hätte sein sollen. Nicht Frank kündigte an, daß er sie verlassen werde, sondern Ivy sprach die seit langem gefürchteten Worte aus und machte den gemeinsamen Jahren ein Ende. »Weißt du nicht, was das aus dir, was es aus mir machen würde?«

»Ich sehe da keinen Unterschied.«

»Frank, es war etwas anderes, solange du nicht verheiratet warst. Aber nun wirst du eine Ehefrau haben! Du wärst ein Ehebrecher, und ich wäre eine …« Sie wandte sich ab. »Wir werden uns nicht mehr sehen, Frank«, sagte sie ruhig. »Nach heute abend werden wir uns nicht mehr sehen.«

Frank trat zu ihr und legte ihr die Hände auf die Schultern. »Ivy, glaub mir, Luanda Carmichael kann mir nie das bedeuten, was du mir bedeutest. Mein Gott, glaubst du, ich tu das gerne? Ich habe das beste Leben, das sich ein Mann nur wünschen kann. Ich habe dich …«

Ivy wich zurück. »Du hast mich nicht mehr, Frank. Ich werde nicht die Geliebte eines verheirateten Mannes sein.«

»Aber Ivy, bei dir und mir ist es doch etwas ganz anderes. Wir sind schon zu lange zusammen. Wir leben zusammen, und wir gehören zusammen …«

Ivy drehte sich um und sah ihn an, ruhig und ohne Zorn. »Frank, ich habe dich sieben Jahre lang geliebt, vielleicht sogar noch länger. Vermutlich habe ich dich schon geliebt, als ich bei Finnegan arbeitete. Und ich werde dich bis zu dem Tag lieben, an dem ich sterbe. Aber wir sind an dem Punkt angelangt, an dem sich unsere Wege trennen. Du hast von Pflicht gesprochen. Du hast recht. Du mußt heiraten. Das weiß ich schon seit einiger Zeit. Ich wußte, daß dieser Abend kommen würde. Aber von diesem Augenblick an gehen wir getrennte Wege.«

Er starrte sie an. »Das kannst du nicht im Ernst meinen, Ivy.«

»Das kann ich, und mir ist es ernst.«

»Aber wovon willst du leben? Du hast keine Einkommen. Du brauchst mich, Ivy!«

»Tatsache ist«, ihre Stimme wurde fest, »ich brauche dich nicht. Zumindest nicht, damit du mich finanziell unterstützt. Ich kann mich selbst ernähren, und genau das habe ich auch vor.«

Franks Beklemmung verwandelte sich in Zorn. »Und wie, möchte ich wissen, hast du vor, ohne meine Hilfe zu leben? Die Wohnung …«

»Ich brauche die Wohnung nicht mehr. Ich habe eine andere gefunden.«

»Und einen anderen Mann, der für dich sorgt, nehme ich an.«

Ivy wußte, sie hätte wütend über seine Worte sein sollen, aber sie fühlte sich nur traurig und enttäuscht. »Nein, Frank«, sagte sie, »es gibt keinen anderen Mann. Ich werde von jetzt an allein für mich sorgen.«

»Und wie soll das aussehen?«

Ivy blickte auf ihre Hände und stellte fest, daß sie Franks Diamantarmband nervös verdrehte.

Judasdiamanten, dachte sie, um ein schlechtes Gewissen zu beruhigen. »Ich werde in St. Kilda leben«, sagte sie. »Ich habe dort ein Häuschen am Strand gemietet.«

Frank sah sie an.

»Es ist wahr, Frank. Ich habe eine Kaution für ein kleines Haus am Meer hinterlegt. Ich hoffe, daß ich es irgendwann kaufen kann. Ich werde noch vor Monatsende dorthin ziehen. Und wir werden uns nie wieder sehen.«

Er starrte sie ungläubig an. »Aber wie kannst du das finanzieren, Ivy?«

Sie erzählte ihm von Al Gernsheim und der Arbeit, die sie in seinem Atelier aufgenommen hatte. Ihre geschickt kolorierten Fotografien wurden immer beliebter und deshalb für Gernsheim und für sie selbst lukrativ. Ivy rechnete damit, daß sie in Kürze so beschäftigt sein würde, daß sie Aufträge ablehnen mußte.

Als sie schwieg, starrte Frank sie immer noch an, als habe er kein Wort von dem verstanden. Deshalb verschwand Ivy in ihrem Atelier und kam mit einem gerahmten Bild zurück. Es war die Landschaftsaufnahme mit dem Eukalyptusbaum im Busch. Ivy behielt das Bild aus Sentimentalität, und nun zeigte sie es Frank zum ersten Mal. »Ich werde von dieser Arbeit leben können«, sagte sie. »Mr. Gernsheim prophezeit sogar, daß von I. Dearborn kolorierte Bilder bald sehr gefragt und hoch im Kurs sein werden.«

»Warum, Ivy?« flüsterte Frank. »Warum bist du nicht zu mir gekommen? Du weißt, du hättest bei der Times immer Arbeit gehabt.«

»Weil ich wußte, ich würde dich eines Tages verlieren. Und ich wußte, danach würde ich nicht mehr für dich arbeiten können.«

»Aber du verlierst mich nicht. Das habe ich dir doch gesagt. Dadurch, daß ich heirate, ändert sich überhaupt nichts!«

Ivy stiegen die Tränen in die Augen. »Frank, es ist so schrecklich. Ich habe die ganze Zeit gefürchtet, daß du mich einmal verläßt. Darauf war ich vorbereitet. Das konnte ich verstehen. Aber … zu sagen, daß du mich weiterhin haben willst, daß du aus unserer Liebe etwas Schmutziges und Unehrliches machen willst, das kann ich nicht ertragen.«

Frank spürte, wie etwas Dunkles, Fremdes in ihm aufwallte. Da stand Ivy, seine geliebte Ivy mit diesem kolorierten Foto vor ihm, als wolle sie ihn verspotten. Sie sagte ihm, daß sie ihn nicht länger brauchte, weil sie sich hinter seinem Rücken eine Stellung gesucht hatte und für einen anderen Mann arbeitete! Er, Frank, hatte für sie gesorgt, und nun besaß sie die Unverschämtheit, jawohl die Unverschämtheit, ihm zu sagen, daß sie ihn nicht mehr brauchte. Das machte ihn so zornig, daß er im ersten Augenblick sprachlos war.

Schließlich fand er Worte. »Das ist der Dank«, sagte er mit gepreßter Stimme, »nach allem, was ich für dich getan habe.«

»Nach allem, was du für mich getan hast?« rief sie. »Wie viele Stunden habe ich hier gesessen, die Uhr angestarrt und gehofft, daß du kommen würdest, und bin schließlich doch allein und enttäuscht schlafen gegangen? Selbst an Tagen, an denen es mir nicht gut ging, sind mir deine Bequemlichkeit und dein Vergnügen immer das Wichtigste gewesen. Was ist denn mit allem, was ich für dich getan habe?«

»Und was glaubst du wohl, was ich all die Jahre getan habe! Ich habe dir ein Leben im großen Stil ermöglicht! Dir hat es nie an etwas gefehlt, Ivy. Du hast an nichts Mangel gelitten! Wenn du einen Wunsch hattest, mußtest du mich nur bitten!«

»Ich wollte nie einen Mann, der mich aushält!« schleuderte sie ihm entgegen. »Ich wollte nur einen Mann, der mich liebt und dem etwas an mir liegt.«

»Mir hat mehr an dir gelegen als an irgend jemand sonst.«

»Hast du dich jemals wirklich für meine Malerei interessiert, Frank? Hast du mich je nach meinen Träumen gefragt, nach meinen Sorgen, nach meinen Unsicherheiten? Es ging immer nur um dich, niemals um mich.«

Er griff nach ihrem Arm und hob ihn an die Lampe. »Und wie bezeichnest du das? Ein Armband, das mich zweihundert Pfund gekostet hat! Wenn das nicht bedeutet, daß mir etwas an dir liegt, was dann?«

Ivy holte tief Luft, sah ihn gequält an und sagte: »Das ist der Lohn für geleistete Dienste.«

Schweigen breitete sich unheilvoll aus, ein Schweigen voller gefährlicher, schwarzer Untertöne. Frank ließ Ivys Handgelenk los, drehte sich um und nahm seinen Mantel. Er ging zur Tür und ließ sie mit einem lauten Knall hinter sich ins Schloß fallen.

5

Lohn für geleistete Dienste!

Wie konnte sie es wagen!

»Halten Sie hier an«, sagte Frank zum Kutscher. Der Wagen stand auf der Princes-Brücke, die sich über den schläfrigen, dunstverhangenen Yarra spannte. In seinem Rücken blinkten die Gaslaternen der nächtlichen Straßen von Melbourne. Vor ihm verschwand der Fluß hinter dichten Bäumen, und nur vereinzelt fiel Licht durch die Fenster abgeschiedener herrschaftlicher Häuser.

Frank war so zornig, daß er kaum atmen konnte. Er blickte auf das schwarze Wasser hinunter und hörte im Geist noch einmal ihre Stimme: »Der Lohn für geleistete Dienste.«

Wer war sie, daß sie sich erlaubte, so mit ihm zu sprechen! Eine Bardame, die glaubte, Talent zu haben. Eine Frau, die kein anderer Mann wollte. Eine Frau, die in der Collins Street gelandet wäre, wenn Frank nicht gekommen wäre und Mitleid mit ihr gehabt hätte. Und so behandelte diese Frau ihn nach all den Jahren!

Na ja, Gott sei Dank bin ich sie los, dachte er und versuchte, seine Wut unter Kontrolle zu halten. Er mußte bald bei den Carmichaels sein. Sie erwarteten ihn. Er wollte Lucinda einen förmlichen Heiratsantrag machen, und danach wollten sie zur Feier des Tages in ein teures Restaurant essen gehen. In diesem Zustand konnte er nicht bei ihnen erscheinen. Was wäre, wenn sie ihn fragten, was los war? »Wissen Sie, ich bin etwas durcheinander. Ich habe nämlich gerade mit meiner Geliebten Schluß gemacht.«

Großer Gott, warum konnten die Dinge nicht einfach sein? Und warum mußte er erleben, daß Ivy genauso war wie der Rest ihrer Geschlechtsgenossinnen, über die man sich nur ärgern konnte? Frank hatte ihr zugute gehalten, daß sie anders war als die Millionen Frauen auf der Welt. Aber an diesem Abend hatte er seinen Irrtum einsehen müssen.

Also gut, sagte er sich, als er mit großen Schritten etwas abseits von den Reitern und Pferdewagen auf der Brücke hin und her ging. Soll sie doch allein leben. Wir werden ja sehen, wie sie das findet. Frauen denken, es ist leicht, sich wie ein Mann durchzusetzen. Wir werden ja sehen, wie es ihr gefällt, ihren Lebensunterhalt selbst verdienen und beten zu müssen, daß Geld ins Haus kommt und nicht irgendein Unglück geschieht. Ich brauche sie jedenfalls nicht. Frank war sich sicher, er brauchte keine Frau. Es war ihm jetzt noch peinlich, daß er sie damals im Hafen gesucht hatte. Er mußte verrückt gewesen sein. Und doch war er sieben Jahre mit ihr zusammengeblieben – noch dazu mit einer Frau, die älter war als er! Es war weiß Gott gut, daß er Lucinda gefunden hatte. Sie war gerade zur rechten Zeit gekommen, damit ihm endlich einmal richtig die Augen aufgingen. Er brauchte Ivy nicht mehr. Er hatte sie nie wirklich gebraucht. Er war sein eigener Herr und fühlte sich bei seinen Freunden im Pub sehr viel glücklicher als in der langweiligen Gesellschaft einer Frau.

Der Lohn für geleistete Dienste!

Wie konnte sie es wagen, ihm so etwas zu sagen! Er hätte jede Frau in der Stadt haben können. Aber er war bei Ivy geblieben. Und das war eine bequeme Gewohnheit geworden, so bequem wie ausgetretene Hausschuhe.

Damit war jetzt Schluß. Seinetwegen konnte sie mit ihren albernen kolorierten Fotografien ruhig eigene Wege gehen und sich einbilden, etwas Besseres zu sein, als sie in Wirklichkeit war. Frank brauchte die Wohnung in der Elizabeth Street nicht. Es war Zeit, sie loszuwerden, und es war Zeit für eine andere Frau. Lucinda war jung und frisch. Er würde aus ihr die Frau machen, die er wollte. Und dann gehörte sein Leben wieder ihm.

Auf dem Rückweg zum Wagen blieb Frank stehen und betrachtete mit bösen Blicken die Lichter der Stadt.

Es gefiel ihm nicht, die Sache so auf sich beruhen zu lassen. Wenn er die Beziehung beendet hätte, wäre er leichten Herzens zu den Carmichaels gegangen. Aber so hatte Ivy ihm den Laufpaß gegeben und diese Beleidigung mit ihrer unverschämten Äußerung noch schlimmer gemacht. Sie hatte sein großzügiges Geschenk abschätzig als Bezahlung für geleistete Dienste bezeichnet.

Ivy hatte das letzte Wort gehabt, das letzte, beleidigende Wort. Das konnte Frank nicht auf sich sitzen lassen. Er war noch nicht fertig mit ihr, noch nicht! So, wie er sich jetzt fühlte, konnte er nicht zu den Carmichaels gehen. Er hatte ein Recht auf das letzte Wort.

Und genau das würde er haben. Er würde ein letztes Mal in die Elizabeth Street zurückgehen und Ivy sagen, was er dachte. Ivy würde nicht einfach davonkommen, indem sie hochmütig sagte: »Damit trennen sich unsere Wege.« Er würde es nicht schmerzlos für sie machen. Sie würde leiden. Jawohl leiden! Er würde zurückgehen und darauf bestehen, daß sie ihn einließ. Dann würde er ihr sagen, was er von ihr hielt, und ihr ankündigen, daß sie die Wohnung am nächsten Tag räumen mußte und daß es keinen Aufschub gab.

6

Frank hämmerte aufgebracht gegen die Tür, und als sie aufging, stand Ivy umrahmt vom flackernden Feuerschein vor ihm. Tränen liefen ihr über die Wangen, und die Augen waren rot vom Weinen. Frank hatte auf der Rückfahrt von der Brücke seinen Auftritt immer wieder geprobt. Jetzt zog er den Hut und hörte sich sagen: »Heirate mich, Ivy.«