Kapitel Neunundzwanzig
1
Sarah arbeitete im Gewächshaus. Sie stellte Salben aus Beinwell und Ringelblumen her. Um sie herum hingen Pflanzen, standen kleine Bäume, wuchsen Schlingpflanzen und buschige Kräuter in Tontöpfen. Die Luft roch nach frischer Erde und Kompost; darunter mischten sich die zarten Düfte von Rosmarin, Zitronenstrauch und der würzige Geruch von geschmolzenem Bienenwachs. Als Joanna vor einem halben Jahr nach Westaustralien aufgebrochen war, hatte Sarah versprochen, die Heilkräuter zu pflegen und die Heilmittelvorräte ständig zu ergänzen. Sie arbeitete täglich hier, machte Ableger, schnitt die größeren Pflanzen zurück, topfte um, pflückte Blätter, Blüten, Stengel und beschnitt die Wurzeln. In der Ecke stand eine kleine Kohlenpfanne mit glühender Holzkohle, um die winterliche Kälte zu vertreiben. Wenn es regnete, lauschte Sarah mit besonderem Vergnügen dem Geräusch der Tropfen auf dem Glasdach.
Sie dachte oft an Joanna und Lisa. Hatte Joanna mittlerweile aufgegeben und rechnete nicht mehr damit, daß Hugh kam? Befand sie sich bereits auf der Heimreise? Seit einiger Zeit machte Sarah sich Sorgen. Sie hatten lange nichts mehr von Joanna gehört. Und Hugh hätte schon vor vielen Wochen nach Kalagandra zurückkehren müssen. Aber er war immer noch hier und kämpfte gegen den tückischen Fliegenbefall, der inzwischen fast das Ausmaß einer Epidemie angenommen hatte.
Sarah rührte gerade das schmelzende Bienenwachs um, als ihre Hände innehielten. Sie hob den Kopf und blickte durch das Gras auf das silbrige ruhige Wasser im Fluß unter den Bäumen: Philip kommt!
Sie löschte schnell die Flamme unter dem Topf mit dem Wachs, zog die Schürze aus, hängte sie an den Nagel und eilte durch das Haus zu ihrem Zimmer. Dort richtete sie schnell ihre Haare, klopfte Blätter und winzige Blüten von dem dunkelbraunen Wollrock und vertauschte dann hastig die Arbeitsbluse mit einer blaßblauen aus Seide. Sie stellte fest, daß ihre Hände dabei zitterten.
Sie freute sich bei der Vorstellung, Philip zu sehen, hatte aber auch Angst davor. Seit seiner Rückkehr nach Australien trafen sie sich nur sehr selten. Sarah wußte, aus Rücksicht auf Philips Erfolg als Architekt mußten sie im Distrikt vorsichtig sein. Die Dienstboten redeten und die Farmarbeiter ebenfalls. Und jedermann wußte, Philip war verheiratet. Seit dem ersten Mal hatten sie nicht mehr miteinander geschlafen.
Glücklicherweise hatte Philip viel zu tun, denn die Camerons und die McClouds hatten ihn beauftragt, große Häuser für sie zu bauen. Deshalb fuhr er öfter nach Melbourne, um Lieferungen zu besprechen, und verbrachte viele Tage auf den Baustellen. Freie Zeit gab es kaum für ihn, und es boten sich nur wenige Gelegenheiten, mit Sarah allein zu sein. Hugh hatte ihn mehrmals zum Essen eingeladen, und zu dritt besuchten sie Konzerte im Park von Cameron Town. Aber Sarah und Philip sehnten sich beide nach der Freiheit, nur füreinander da zu sein und miteinander zu schlafen, doch das war ihnen nicht vergönnt.
Nun erschien er allein und unangemeldet auf Merinda. Sarah spürte seine Anwesenheit bereits auf der Zufahrt. Sie konnte beinahe sehen, was er anhatte.
Sie eilte durch den Gang und öffnete die Haustür, noch bevor Philip klopfte.
Sie sahen sich beide an.
»Guten Tag, Sarah«, Philip lächelte.
»Guten Tag, Philip«, sagte sie, »komm herein. Wie schön, dich zu sehen.«
Er nahm den Hut ab und sah sich vorsichtig in der Empfangshalle um. Dann küßte er sie sehnsüchtig auf die Wange und betrachtete sie lange. »Du siehst schön aus, Sarah. Wie geht es dir?«
Sie nahm seinen Anblick in sich auf, seine Größe, die leicht gebogene Nase, den geliebten Mund, und sie sehnte sich nach seiner Berührung. »Mir geht es gut«, erwiderte sie und lachte leise. »Ich muß ständig an dich denken.«
Er seufzte. »Es fällt mir so schwer, nicht ständig hierher zu kommen. Ich kann mich nicht mehr auf meine Arbeit konzentrieren. Ich muß immer an dich denken. Glaube mir, ich möchte nur bei dir sein.«
»Mir geht es auch so, Philip«, sie berührte seinen Arm.
»Ich bin gekommen, weil Alice mir geschrieben hat. Sie will sich noch immer nicht scheiden lassen. Sie verlangt nicht, daß ich zu ihr zurückkehre, aber sie fürchtet, daß eine gesetzliche Scheidung Daniel schaden wird. Wenn er älter ist, sagt sie, ist sie einverstanden.«
Sarah nickte. Sie wußte, wie sehr das Stigma einer Scheidung auf einer Frau lastete, aber sie wußte auch, daß ihre eigene Lage das Stigma bedeutete, die Geliebte eines verheirateten Mannes zu sein.
»Wie geht es Hugh?« fragte Philip, der viel lieber über andere Dinge mit Sarah gesprochen hätte.
»Hugh ist im Camp an der Nordgrenze«, antwortete sie. »Er ist schon seit drei Tagen nicht mehr hier gewesen.«
»Sieht es immer noch so schlimm aus?«
»Ja, leider …«
»Auf meinem Weg bin ich bei Mr. Ormsby vorbeigegangen. Er fürchtet, er wird bei Strathfield verlieren, wenn die Fliegenplage noch länger anhält.«
»Ich habe es auch schon gehört.«
Sie schwiegen wieder. Im Wohnzimmer schlug eine Uhr die volle Stunde.
»Wenn du möchtest, kannst du zu Hugh ins Camp hinausreiten«, sagte Sarah. »Er würde sich bestimmt sehr freuen, dich zu sehen.«
»Das werde ich wohl müssen«, Philip griff in die Jackentasche. Er zog einen Umschlag heraus. »Als ich heute morgen auf der Post war, hat man mich gefragt, ob ich nach Merinda komme, denn für Hugh ist dieser offenbar wichtige Brief eingetroffen.« Er zeigte ihn Sarah.
Sie las die Absenderadresse. Der Brief kam von einem Kommissar Fox aus Westaustralien. »Kommissar Fox schreibt aus Kalagandra. Philip, wir haben schon sehr lange nichts mehr von Joanna gehört. Irgend etwas stimmt nicht, ich spüre es. Ich spüre es schon seit Wochen. Wir müssen Hugh den Brief sofort bringen.«
2
Hugh legte den Federhalter beiseite und blickte aus dem Zelt. Er sah, wie seine Leute nacheinander im Lager eintrafen und sich Tee aus der Kanne eingossen, die ständig über dem Feuer stand. Für Hugh war es inzwischen ein Militärlager, und seine Leute waren Soldaten. Sie ritten jeden Tag über die Weiden und inspizierten die Schafe. Kranke Tiere wurden auf der Stelle erschossen und begraben. Die Gesunden wurden geschoren und, um sie vielleicht zu retten, durch äußerst widerliche Desinfektionsbäder getrieben. Die Männer kamen erschöpft, verdreckt und niedergeschlagen ins Lager zurück. Sie tranken den starken Tee und aßen Ping Lis belegte Brote. Dann schwangen sie sich wieder in den Sattel und machten sich auf zur nächsten Runde in diesem qualvollen Krieg, der kein Ende nahm. Auch Hugh war niedergeschlagen. Er hätte sich gerne eine Pause gegönnt, aber es wartete zuviel Arbeit auf ihn. Der Befall der Schafe hatte alarmierende Dimensionen angenommen, und die Tage vergingen wie im Flug, ohne daß er die Hoffnung hatte, ein wirkungsvolles Mittel gegen die Fliegen zu finden.
Wie er vor drei Monaten befürchtet hatte, schlüpften mit Beginn der warmen Jahreszeit Millionen Fliegen und fielen wie tödliche Wolken über die Schafe der Farmen im westlichen Distrikt her. Aber die Plage herrschte nicht nur in dieser Gegend. Überall in Südostaustralien starben Schafe zu Tausenden, während die Schafzüchter von Adelaide bis Queensland alles taten, um ein Gegenmittel zu finden, das der Fliegenpest Einhalt gebot.
Hugh griff wieder nach dem Federhalter, um weiterzuschreiben, aber zuerst blickte er seufzend auf Joannas Foto, das auf dem Arbeitstisch neben ihm stand. Sie fehlten ihm so sehr! Immer wieder wünschte Hugh, sie wäre mit ihm zurückgefahren, oder er hätte bei ihr in Westaustralien bleiben können. Er schrieb ihr regelmäßig und informierte sie ausführlich über seinen endlosen Kampf gegen die Fliegen, aber von ihr hatte er bisher nichts gehört. Man hatte von schweren Stürmen in der Großen Australischen Bucht berichtet. Schiffe waren gesunken, von denen einige Post an Bord hatten. Außerdem brach durch einen Streik der Seeleute der gesamte Schiffsverkehr an der Südküste völlig zusammen. Hugh wußte auch, daß Telegrafieren unzuverlässig war. Buschfeuer zerstörten die Leitungen und aufsässige Aborigines warfen gelegentlich mutwillig die Masten um.
Bald, mein Liebling, dachte Hugh, bald werde ich kommen. Er stellte sich vor, mit welcher Ungeduld Joanna auf ihn im Golden Age Hotel wartete.
Er konzentrierte sich wieder auf seine Notizen. Er führte gewissenhaft über die Entwicklung der Fliegenplage Tagebuch. Inzwischen waren seine Aufzeichnungen eine Chronik der Fehlschläge und Mißerfolge vom ersten Eintrag an: ›Die Wolle von zwei Schafen in einer Mischung aus Tabak und Schwefel getränkt, aber die Fliegeneier reagieren nicht darauf.‹
›Dritte Woche – eine Herde Widder ist nach einem Desinfektionsbad aus Kalk und Schwefel schwer erkrankt. John Reed vermutet, die Tiere haben die giftigen Dämpfe eingeatmet. Ich setze deshalb das Mittel ab.‹
›Fünfte Woche – wir experimentieren mit höherer Wassertemperatur. Dadurch verliert die Wolle den Fettschweiß und wird beschädigt. Wir werden die Wassertemperatur wieder senken, obwohl Ian Hamilton das bereits erfolglos versucht hat.‹
›Achte Woche – Angus McCloud berichtet von einem Experiment mit sechs Monate alten Lämmern. Die Wolle wurde danach fleckig, und der Fliegenbefall ließ nicht nach.‹
›Zehnte Woche – Frank Downs hat auf Lismore erschreckende Verluste.‹
›Elfte Woche – Die Widderherde ist befallen. Ich muß alle Tiere töten.‹
Hugh schrieb langsam: ›Zwölfte Woche – ich bin jetzt der Meinung, daß die grüne Schmeißfliege ihre Eier beinahe ausschließlich auf lebenden Schafen absetzt. Deshalb gelingt es nicht, die Brut zu vernichten und die Fliegenplage erfolgreich einzudämmen. Man muß eine Methode finden, den Lebenszyklus der Schmeißfliege zu unterbrechen.‹
Er blickte auf die Gläser, die aufgereiht auf dem Arbeitstisch standen. Er hatte darin Wollproben von Merinda-Schafen gesammelt, die er mit den üblichen Desinfektionsmitteln behandelt hatte. Auf den Etiketten stand: ›Schmeißfliegeneier, ein Tag alt.‹ ›Schmeißfliegen im Puppenstadium‹ und ›Maden nach dem Scheren‹. Er hatte damit den Beweis, daß traditionelle Desinfektionsbäder, mit denen man üblicherweise die Schafe vor dem Befall schützte, bei dieser besonderen Fliegenart ohne die erwünschte Wirkung blieben.
Hugh schrieb weiter: ›Ich werde jetzt die Ergebnisse meines Experiments mit Arsenbädern überprüfen.‹
Als er mit anderen Züchtern über seinen Plan gesprochen hatte, zu diesem gefährlichen Gift zu greifen, hatten sie ihn gewarnt. »Ich weiß nicht«, sagte Ian Hamilton, »Arsen ist zu gefährlich. Davon können die Herden noch schneller sterben als durch Fliegen. Außerdem sollten Sie an die Scherer denken, Hugh. Die Männer werden die Schafe nicht anfassen, wenn sie glauben, daß das Gift in der Wolle hängt.«
Aber Hugh hatte beschlossen, alles auf eine Karte zu setzen. Er hatte in den vergangenen drei Monaten einige bemerkenswerte Entdeckungen gemacht. So wußte er jetzt zum Beispiel, daß eine einzige grüne Schmeißfliege zweitausend Eier legte. Eine mathematische Berechnung für mehrere Brutkreisläufe und die Annahme, daß mindestens die Hälfte der ausgeschlüpften Fliegen wiederum zweitausend Eier legte, führte Hugh zu einem alptraumartigen Ergebnis. In der nächsten warmen Jahreszeit würde es eine neue Plage der Schmeißfliegen von so unfaßlichem Ausmaß geben, daß ein völliger Verlust der Herden nicht auszuschließen war.
Hugh warf einen Blick auf die Wollsäcke in seinem Zelt. Auf den Etiketten stand: ›Zuchtwidder, Tabak & Schwefel, 10. Juni 1886‹, und ›Jungwidder, verdünntes Ätzmittel, 30. Juni 1886‹. Nichts hatte geholfen. Deshalb hatte er vor zwei Wochen beschlossen, die Merzschafe mit dem sehr umstrittenen Arsen zu desinfizieren. Jack hatte ihm an diesem Morgen die ersten Wollproben gebracht. Hugh wollte sie sich jetzt unter dem Mikroskop ansehen.
Er griff nach dem Sack mit dem Etikett: ›Merzschafe, nördliche Kleeweide, Arsenmischung 12‹. Die Merzschafe waren zu alt, um noch mit ihnen zu züchten. Man hielt sie aber als Muttertiere für verwaiste Lämmer.
Hugh öffnete den Sack, entnahm die ersten Proben und ging damit zum Arbeitstisch. Er legte ein paar Wollfasern auf einen Objektträger, richtete den Spiegel des Mikroskops aus, senkte den Kopf und blickte durch die Augenmuschel.
Er runzelte die Stirn, justierte den Spiegel so, daß mehr Licht darauf fiel und regulierte die Scharfstellung. Er sah eine stark vergrößerte Wollfaser. Er bewegte den Objektträger und wechselte zu einer Linse, die noch mehr vergrößerte. Er betrachtete die Fasern mit größter Aufmerksamkeit.
Vom Schmeißfliegenbefall war nichts zu sehen.
Er ging noch einmal an den Sack und entnahm eine zweite Probe. Sie stammte von einem anderen Schaf derselben Herde.
Wieder betrachtete er die Wollfasern unter dem Mikroskop. Auch diese Wolle war sauber. Er sah nicht ein einziges Fliegenei.
Er wiederholte die Prozedur bei fast allen zwanzig Proben, und sie waren alle sauber.
Das Arsen hatte die ersehnte Wirkung!
Er eilte aus dem Zelt und sah sich um, denn er wollte Jack die gute Nachricht sofort mitteilen. Zu seiner Überraschung rollte in diesem Augenblick der Einspänner in das Lager.
»Das ist heute für dich gekommen, Hugh«, sagte Sarah, als sie mit Philip im Zelt stand. »Philip hat den Brief gebracht. Wir dachten, er sei möglicherweise wichtig.«
Hugh öffnete den Umschlag, entfaltete den Briefbogen und las: ›Sehr geehrter Mr. Westbrook, wir haben gerade die Nachricht erhalten, daß alle Telegrafenleitungen in der Nähe der südaustralischen Grenze zerstört worden sind. Ich habe Ihnen Telegramme geschickt, aber ich weiß jetzt, daß Sie meine Nachrichten nicht erhalten haben. Deshalb schreibe ich diesen Brief. Mr. Westbrook, es ist meine traurige Pflicht, Ihnen mitzuteilen, daß Ihre Frau auf eigenen Wunsch, begleitet von Ihrer Tochter, Mr. Eric Graham, Kapitän Fielding und einem schwarzen Führer, am 6. Mai in die Wüste aufgebrochen ist. Offenbar wurde die Expedition von einer Flutwelle überrascht. Es gibt nur einen Überlebenden, Mr. Eric Graham, und sein Zustand ist kritisch. Mrs. Westbrook und alle anderen wurden nicht gefunden.‹
Hugh starrte auf den Brief. Er las ihn noch einmal. »Mein Gott …«, stöhnte er, »mein Gott, Sarah …«
»Was ist geschehen?« Sie nahm Hugh den Brief aus der Hand und las. »O nein …«
Sarah legte eine Hand auf Hughs Arm. »Hugh«, sagte sie, »Joanna lebt. Ich weiß es. Wenn sie tot wäre, würde ich es wissen. Aber sie ist in großer Gefahr. Wir müssen sie finden.«
3
Judd MacGregor saß im Arbeitszimmer seines Vaters am Schreibtisch. Er fürchtete diesen Raum nicht mehr, denn die Gespenster hatten ihn mit seinem Vater verlassen. Es klopfte, und Pauline kam herein.
»Hallo Mutter«, sagte Judd, »mein Kompliment. Du siehst hinreißend aus.«
Sie lächelte und zog ihre Handschuhe an. »Danke, Judd. Ich fahre nach Lismore, um Frank zu besuchen. Es gibt noch einiges zu klären, bis ich endgültig Besitzerin von Kilmarnock bin. Woran arbeitest du mit soviel Hingabe?«
»Nun ja, ich denke über unsere Lage nach. Wir können die restlichen Schafherden nicht mehr retten. Es gibt kein Mittel gegen die grüne Schmeißfliege. Wir können die Tiere deshalb zu Talg verarbeiten lassen und haben damit alles Weideland zur Verfügung. Ich habe eine neue Idee für Kilmarnock – Weizenanbau! Das bringt zur Zeit große Gewinne, Mutter. Du weißt doch, Onkel Frank hat mir im letzten Jahr zu meinem einundzwanzigsten Geburtstag diese Anteile an der Broken-Hill-Silbermine geschenkt. Glaubst du, er hat etwas dagegen, wenn ich sie jetzt verkaufe?«
»Ich glaube nicht. Schließlich gehören sie dir. Also du möchtest Weizen anbauen? Ich glaube, die Idee gefällt mir.«
»Die Anfangsinvestitionen sind geringer, man braucht weniger Arbeitskräfte und macht sehr viel größere Gewinne. Außerdem habe ich mit einer neuen Weizenart gearbeitet, die auch in Trockengebieten gedeiht.«
Pauline sah, wie er beim Sprechen die Hände bewegte und die Augenbraue etwas hob, wie immer, wenn er sich für etwas begeisterte. Er erinnert mich sehr an Colin, dachte sie, an Colin, bevor ihn die Jahre der Bitterkeit und der Enttäuschungen altern ließen. Pauline erkannte, daß Judd seinem Vater in vieler Hinsicht ähnlich war. Er war eigensinnig, er lebte und starb für seinen Traum. Aber Judd besaß auch etwas vom sanfteren Wesen seiner Mutter Christina, die vor vierzehn Jahren gestorben war.
»Ich werde zum Abendessen wieder zurück sein«, versprach Pauline und gab ihm einen Kuß auf die Wange. »Ich habe Jenny gebeten, für heute abend deinen Lieblingsauflauf zu machen.«
Als sie an der Tür stand, sagte Judd: »Weißt du, er hat dich nie anerkannt.«
Sie lächelte traurig. »Vielleicht doch … auf seine Weise.«
»Glaubst du, er wird je zu uns zurückkommen?«
»Das weiß ich nicht, Judd.«
»Wenn er kommen sollte, dann gehört Kilmarnock aber dir. Wirst du ihm die Rückkehr erlauben?«
»Auch das weiß ich nicht.«
Pauline versuchte, nicht daran zu denken, was sein könnte oder was die Zukunft bringen mochte. Sie war entschlossen, das Leben auf ihre Weise zu führen; trotz allem, was ihre Freundinnen dachten. Sie hatte oft genug erlebt, daß die Gesellschaft die Schuld stets der verlassenen Frau zuschob, als sei es irgendwie ihr Fehler, wenn der Mann sie im Stich ließ. Aber in Paulines Augen hatte Colin sie nicht verlassen. Er war aus Scham davongelaufen. Er konnte vor sich selbst nicht mehr bestehen und hoffte, auf der alten Burg in Schottland einen Rest seiner Selbstachtung zu erhalten. Sie machte ihm keinen Vorwurf, weil er dem finanziellen Ruin und einer Ehe entfliehen wollte, die er nicht hätte schließen dürfen. Pauline trat nach wie vor im Distrikt in Erscheinung; sie besuchte gesellschaftliche Ereignisse und trug den Kopf hoch, auch wenn einige Leute sie schief ansahen und hinter ihrem Rücken über sie tuschelten. Außerdem hatte sie um Kilmarnock gekämpft. Mit ihrem Erbe und mit Franks finanzieller Unterstützung hatte sie Colins Schulden bezahlt. Kilmarnock war nun ihr Zuhause, und sie wollte es nie wieder verlassen.
»Von jetzt ab wird alles gutgehen, Mutter«, sagte Judd, »du wirst es sehen.«
Als Pauline die Tür öffnete, dachte sie an das Wunder, das sich ereignet hatte, als sie im Verlauf der tragischen Ereignisse plötzlich aufhörte, in Judd das Kind einer anderen Frau zu sehen.
»Ah, da bist du ja!« hörte sie plötzlich eine Stimme.
Sie drehte sich überrascht um und sah Frank vor sich stehen. »Ich wollte dich gerade auf Lismore besuchen«, sagte sie.
»Ja, ich weiß«, erwiderte er, »aber es ist etwas dazwischengekommen. Ich muß sofort nach Merinda fahren. Ich wollte dir nur schnell sagen, daß wir unsere geschäftlichen Dinge vertagen müssen.«
»Was ist auf Merinda geschehen?«
»Joanna scheint in Westaustralien in ernste Schwierigkeiten geraten zu sein. Hugh hat mich um Hilfe gebeten.«
»Was für Schwierigkeiten?«
»In seiner Nachricht hat er nichts Genaueres geschrieben. Aber es ist dringend, was immer es auch sein mag.«
»Ich begleite dich«, sagte Pauline erschrocken.
Judd griff nach seiner Jacke. »Ich möchte auch mitkommen.«
4
Als sie in Merinda vorfuhren, sagte Frank: »Das ist ja Reeds Pferd.«
»Und ist das nicht die Kutsche der Hamiltons?« sagte Pauline. »Hugh scheint alle um Hilfe gebeten zu haben.«
»Dann muß es sehr ernst sein«, Frank half seiner Schwester beim Aussteigen.
Zu ihrer Überraschung standen im Wohnzimmer viele Menschen. Sogar Ezekial war da. Als die drei eintraten, meinte der alte Mann gerade: »Meine Augen sind gut. Nehmen Sie mich mit. Ich werde die Missus finden.«
»Vielen Dank, Ezekial«, sagte Hugh, »ich weiß diese Hilfe zu schätzen.«
Pauline staunte über Hughs Aussehen. Er war ungekämmt, und er hatte sich nicht wie üblich umgezogen, wenn er Gäste empfing. Außerdem lag in seiner Stimme und seinen Augen etwas, das sie an ihm noch nie erlebt hatte.
»Hugh«, sie ging zu ihm, »was ist geschehen?«
Er erzählte ihr, was Kommissar Fox geschrieben hatte und von seinem Versuch, ein Telegramm nach Westaustralien zu schicken. Aber auf dem Telegrafenamt in Cameron Town hatte man ihm erklärt, die Leitungen seien noch nicht repariert. Hugh hatte sich deshalb zu einer Expedition entschlossen, um Joanna in Westaustralien zu suchen.
»Das ist etwas für mich«, erklärte Frank sofort. »Ich habe weiß Gott Erfahrungen im Zusammenstellen einer Expedition. Und diesmal schicke ich keinen Reporter. Ich werde selbst mitkommen. Wenn Eric Graham stirbt, werde ich mir das nie verzeihen.«
Judd sagte zu Hugh: »Und was ist mit Ihrer Tochter? Lisa ist doch mit ihrer Mutter gefahren?«
Hugh konnte kaum sprechen und erwiderte leise: »Sie ist auch vermißt.«
»Wenn ich darf«, sagte Judd erschüttert, »dann möchte ich auch mitkommen.«
Aber Hugh schüttelte den Kopf. »Es ist für uns alle besser, wenn Sie hierbleiben, Judd. Mit meiner Arsen-Desinfektion kann man die Schmeißfliege erfolgreich bekämpfen. Jetzt müssen alle Züchter informiert werden. Vielleicht gelingt es einigen, ihre Herden noch zu retten. Sie sind der beste Mann für diese Aufgabe, Judd. Ich werde Ihnen das genaue Mischungsverhältnis erklären. Die anderen hören auf Sie und werden Ihnen vertrauen.«
Später, als alle Pläne durchgesprochen waren, die Teilnehmer der Expedition feststanden und Mrs. Jackson die Kaffeekanne oft gefüllt hatte – nachdem alle gegangen waren und sich eine bedrohliche, abwartende Stille über das Haus senkte –, ging Sarah zu Hugh. »Ich werde dich nach Westaustralien begleiten. Ich werde dir helfen, Joanna und Lisa zu finden.«