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Ulrika fand keinen Schlaf.

Unruhig warf sie sich ihren wollenen Umhang über das Nachthemd und verließ das Schlafzimmer. Obwohl es im Haus dunkel und still war, wusste sie, dass ihre Mutter bestimmt noch nicht zu Bett gegangen war. Selene nutzte diese ruhige Zeit für Eintragungen in ihr Tagebuch und um medizinische Texte zu studieren, Medizinen zu brauen. Sie war keineswegs überrascht, als Ulrika bei ihr anklopfte. »Ich dachte mir schon, dass du kommst«, sagte sie und schloss die Tür, sobald ihre Tochter eingetreten war. Eine Kohlenpfanne verbreitete Wärme, unweit davon standen zwei Sessel mit Fußschemeln.

So bestürzt und verstört Ulrika Tante Paulinas Festmahl auch verlassen hatte, so fühlte sie sich jetzt in diesem kleinen Raum, in dem ihre Mutter heilbringende Tränke, Elixiere, Puder und Salben zusammenmischte, auf einmal besänftigt. Schriftrollen reihten sich neben alten Texten und Papyri – allesamt enthielten sie Zaubersprüche und Gebete und Beschwörungsformeln zum Heilen von Krankheiten. Denn genau das war es, wozu sich Ulrikas Mutter berufen fühlte – kranke Menschen gesund zu machen.

Sosehr es Ulrika auch drängte, ihrer Mutter endlich einmal von den Visionen und Träumen und Vorahnungen aus Kindertagen und auch von der Vision von dem Wolf beim Festmahl am heutigen Abend zu berichten und sie zu fragen, was das alles zu bedeuten habe und wie denn ihre Krankheit zu heilen sei, sagte sie stattdessen, nachdem sie Platz genommen hatte: »Mutter, heute Abend hast du kaum etwas gegessen. Du warst blass und ungewöhnlich schweigsam. Und wie du Befehlshaber Vatinius angestarrt hast – warum erschreckt er dich so?«

Selene setzte sich der Tochter gegenüber, griff zu einem langen Schüreisen und stocherte damit in der Kohlenpfanne herum. »Es war Gaius Vatinius, der vor vielen Jahren das Dorf deines Vaters niedergebrannt und deinen Vater in Ketten abgeführt hat. In den Jahren unseres Zusammenseins hat Wulf oft davon gesprochen, dass er nach Germanien zurückkehren und an Gaius Vatinius Rache nehmen wollte.«

Selene seufzte tief. Sie hatte gewusst, dass dieser Tag kommen würde, hatte sich davor gefürchtet. Und jetzt, da es so weit war, merkte sie, wie ihr der Mut schwand. Sie dachte zurück an den Tag, als die damals neunjährige Ulrika weinend ins Haus gestürmt war, weil ein Junge aus der Nachbarschaft sie einen Bastard genannt hatte. »Er sagt, ein Bastard ist ein Kind, das keinen Vater hat. Und weil ich keinen Vater habe, bin ich ein Bastard.« Selene hatte sie beschwichtigt. »Hör nicht auf das, was andere sagen. Sie wissen nichts. Natürlich hast du einen Vater. Aber er ist gestorben, und jetzt weilt er bei der Göttin.«

Natürlich hatte Ulrika die Mutter mit Fragen bestürmt, und Selene hatte ihr daraufhin alles berichtet, was sie über Wulfs Volk wusste. Sie hatte ihr von der Weltesche erzählt, vom Land der Eisriesen und von Mittelerde, wo Odin wohnte. Ulrika hatte erfahren, dass sie nach ihrer germanischen Großmutter genannt worden war, der Seherin des Stammes, deren Name, wie Wulf gesagt hatte, Ulrika lautete, was so viel wie »Wolfsmacht« bedeutete. Auch dass ihr Vater ein Fürstensohn seines Stammes war, ein Kind des als Held verehrten Arminius, hatte Selene Ulrika erzählt. Nur dass Wulf ein Kind der Liebe war, ein unehelicher Sohn von Arminius, hatte sie der Tochter verschwiegen. Dieses Geheimnis bewahrte Selene. Genug war genug.

Aus all dem hatte sich Ulrika einen imaginären Vater erschaffen. Bei ihren Spielen bildeten Holzlöffel einen Föhrenwald, und ein mit Wasser gefüllter Graben wurde zum Rhein erklärt. Sie hatte sich Geschichten vom Fürstensohn Wulf ausgedacht, in denen er nach vielen Abenteuern und Schlachten und Romanzen immer den Sieg davontrug. »Mama, erzähl mir doch noch mal«, pflegte Ulrika die Mutter zu drängeln, »wie mein Vater aussah«, und dann beschrieb Selene Wulf als Krieger mit langem blonden Haar und muskulösem Körperbau. Mit zwölf Jahren ließ Ulrika von Puppen und auch von Spielen, die sie sich ausdachte, ab und verlegte sich auf das Lesen von Schriften jeglicher Art, verschlang alles, was ihr über Germanien in die Hände fiel, um die Wahrheit und die Zusammenhänge über das Volk ihres Vaters und ihr Land zu erfahren.

Jetzt blickte sie forschend in das Gesicht der Mutter, das von der Kohlenglut bernsteinfarben beleuchtet wurde. »Da gibt es doch noch etwas, ist es nicht so, Mutter? Etwas, das du mir verschweigst?«

Selene sah ihre Tochter, dieses Kind, das seit dem Augenblick seiner Zeugung im fernen Persien von Magie und Geheimnis umgeben war, freimütig an. Sie dachte an die Gabe, die Ulrika möglicherweise von ihrer germanischen Blutlinie vererbt bekommen hatte – eine hellseherische Fähigkeit, die Selene bei ihrer Tochter bereits im Kindesalter beobachtet hatte. Die kleine Ulrika konnte damals sagen, wo verloren gegangene Sachen zu finden waren, und unerwartete Ereignisse nahm sie so gelassen hin, als wäre sie darauf vorbereitet. Sie erkannte, wenn jemand bekümmert war, noch ehe Selene selbst diese seelische Notlage bemerkt hatte. Die Mutter respektierte, dass Ulrika annahm, diese Fähigkeit für sich behalten zu haben, schon weil sie sich sicher war, dass ihre Tochter eines Tages kommen und eine Erklärung für diese absonderlichen Wahrnehmungen von ihr erbitten würde. Der Zeitpunkt für ein solches Gespräch schien vor sieben Jahren gekommen zu sein, anlässlich eines Ausflugs aufs Land, als Ulrika behauptet hatte, eine Frau gesehen zu haben, die in panischer Angst aus dem Wald auf sie zugerannt sei. Aber da war keine Frau gewesen. Selene hatte dies als eine weitere Vision gedeutet, die Ulrika erlebt hatte. Merkwürdig war jedoch, dass der Tochter diese Fähigkeit danach abhanden gekommen zu sein schien, so als ob der Eintritt ins Erwachsenenalter die zarte, einfühlsame Gabe der Wahrnehmung überlagert und vollständig abgeschottet hätte.

Die Mutter seufzte abermals tief auf. »Es gibt etwas, was ich dir längst hätte sagen sollen. Ich hatte es auch immer vor. Aber solange du klein warst, meinte ich, du würdest es nicht verstehen, deshalb sagte ich mir immer: später, wenn Ulrika älter ist. Aber der richtige Zeitpunkt stellte sich einfach nicht ein. Ulrika, ich habe dir erzählt, dass dein Vater noch vor deiner Geburt bei einem Jagdunfall umgekommen ist, damals, als wir in Persien lebten. Aber so verhielt es sich nicht. Wulf hatte Persien längst verlassen und war nach Germanien zurückgekehrt.«

Gedämpfte Geräusche hallten in der Ferne – von ächzenden Rädern auf der ansonsten verwaisten Straße hinter der hohen Mauer der Villa, das Klapperdiklapp von Pferdehufen auf dem Kopfsteinpflaster, der einsame Ruf eines Nachtvogels.

»Er verließ Persien, weil ich darauf bestand«, fuhr Selene leise fort. »Wir waren noch nicht lange dort, als wir hörten, dass Gaius Vatinius vor uns durchgezogen und inzwischen auf dem Weg ins Rheinland war. Ich beschwor deinen Vater, ihm unverzüglich zu folgen. Ich selbst wollte in Persien bleiben.«

»Und er ging fort? Obwohl er wusste, dass du schwanger warst?«

»Das wusste er nicht. Ich habe es ihm verschwiegen, weil er sonst bei mir geblieben wäre. Dein Vater war ein ehrenhafter Mann. Sobald das Kind da gewesen wäre, hätte er uns nie wieder verlassen. Ich hatte kein Recht, mich in sein Leben zu drängen, Ulrika.«

»Kein Recht! Du warst seine Frau!«

Selene schüttelte den Kopf. »Nein, war ich nicht. Wir waren nicht verheiratet.«

Ulrika starrte die Mutter fassungslos an. »Wulf hatte bereits eine Frau«, sagte Selene und vermied es, der Tochter in die Augen zu schauen. »Er hatte in Germanien eine Frau und einen Sohn. Deinem Vater und mir war kein gemeinsames Leben bestimmt. Sein Schicksal erwartete ihn im Rheinland, und ich wollte, wie du weißt, meiner eigenen Berufung folgen. Jeder von uns musste seinen eigenen Weg finden.«

»Er ging aus Persien fort, ohne von deiner Schwangerschaft zu wissen«, murmelte Ulrika. »Demnach hat er nichts von mir erfahren.«

»Nein.«

»Demnach weiß er auch bis heute nichts von mir!« Der Gedanke traf Ulrika wie ein Schlag. Sie konnte das alles kaum fassen. »Mein Vater hat keine Ahnung, dass es mich gibt!«

»Er ist nicht mehr am Leben, Ulrika.«

»Wie kannst du dir da so sicher sein?«

»Wenn dein Vater Germanien erreicht hätte, dann hätte er Gaius Vatinius aufgespürt und Rache genommen.«

»Und da Gaius Vatinius lebt, kann das deiner Meinung nach nur bedeuten, dass mein Vater tot ist«, sagte Ulrika leise.

Selene wollte nach der Hand der Tochter greifen, aber Ulrika entzog sich ihr. »Du hattest kein Recht, mir das zu verschweigen!«, rief sie. »Mein ganzes bisheriges Leben war eine Lüge!«

»Es geschah zu deinem eigenen Besten, Ulrika. Als Kind hättest du nicht verstanden, warum ich zuließ, dass dein Vater in sein Land zurückkehrte.«

»Ich bin schon lange kein Kind mehr, Mutter«, stieß Ulrika aus. »Du hättest mir schon vor Jahren die Wahrheit sagen können, anstatt sie mich auf diese Weise entdecken zu lassen.« Abrupt stand sie auf. »Du hast mir meinen Vater genommen. Und heute Abend hast du seelenruhig mit angesehen, wie ich mich mit diesem Ungeheuer unterhalten habe.«

»Ulrika …«

Aber Ulrika war schon zur Tür hinausgestürmt.