12

Als sich Sebastianus mit seinem Tross nach Tagen, in denen immer wieder Berichte von Aufruhr und chaotischen Zuständen in der Stadt zu ihnen durchgedrungen waren, Rom näherte, war die allgemeine Stimmung mehr als gedämpft. Was, so fragten sich alle, erwartete sie dort?

Sie waren durch eine friedliche Landschaft gezogen, die dem Anschein nach von den politischen Veränderungen verschont geblieben war: Die Bauernhäuser, die zwischen Weideflächen und Weingärten an grüne Hänge geschmiegt lagen, und die Villen der Wohlhabenden wirkten so verschlafen wie seit Hunderten von Jahren. Dennoch war Sebastianus nicht wie üblich abends in die Städte oder Dörfer entlang des Weges gegangen; er hatte den Handelszug keinen Augenblick lang verlassen, auch keine Gäste eingeladen, sondern war bei seinen Reisenden und Sklaven geblieben, hatte beschwichtigend auf sie eingeredet und ihnen versichert, alles sei unter Kontrolle. Zusätzlich zu seinen Horoskopen morgens und abends ließ er sich aber jetzt auch mittags und nachmittags die Zukunft deuten, weshalb Timonides unentwegt mit Aufzeichnungen, Kalkulationen und Instrumenten beschäftigt war. Was Ulrika anbelangte, so machte sie sich Sorgen um ihre Mutter und den Kreis der Freunde – allesamt Verbündete des ermordeten Claudius.

Gleich würden sie am Ziel sein. Sebastianus ritt auf seiner Stute voran, dahinter folgte Ulrika in einem überdachten Wagen. Wenngleich Rom gegenwärtig ein gefährliches Pflaster war, kam es für beide nicht in Frage, die Stadt zu meiden. Ulrika wollte so schnell wie möglich zu ihrer Mutter, um sicherzustellen, dass Selene und den Freunden nichts zugestoßen war; Sebastianus hingegen musste sich überzeugen, wie es um seine Villa in Rom und die Dienerschaft stand.

Was ihn jedoch vorrangig beschäftigte, war, wie es sich mit dem Diplom für China verhielt. Würde sich der neue Kaiser überhaupt dafür interessieren?

Unterwegs hatte Sebastianus das eine oder andere über Claudius’ Nachfolger in Erfahrung bringen können: Es handelte sich um einen sechzehnjährigen jungen Mann namens Domitius Ahenobarbus, der sich, wie es hieß, mit seiner Ernennung zum Kaiser den pompösen Namen Nero Claudius Caesar Augustus Germanicus zugelegt habe. Und dass der junge Nero den Anbruch einer neuen Ära für Rom verkündet habe und bestrebt sei, diplomatische Beziehungen und Handel auszuweiten. Ein Hoffnungsschimmer für Sebastianus, sofern ihm nicht seine mehr als lockere Verbindung zu Claudius (er war mit dem verstorbenen Kaiser nur ein einziges Mal – und das nur ganz kurz – zusammengetroffen) zum Stolperstein wurde. Was ihm unbedingt gelingen musste, war, Zugang zum Kaiser zu bekommen, der zweifellos von einer Armee Leibwächter, Ratgeber und Tutoren umgeben war, ganz zu schweigen von seiner Mutter, der mächtigen Agrippina und Witwe von Claudius. Es galt, dem ehrgeizigen jungen Mann vorzutragen, was er, Sebastianus, vorhatte – eine neue Handelsroute nach China einzurichten, auf dem Weg dorthin mit ausländischen Nationen diplomatische Beziehungen aufzunehmen und dadurch das Römische Reich noch weiter auszudehnen, als es Nero vorschwebte.

Wie aber sollte er nahe genug an Nero herankommen, um ihm all das darzulegen?

Timonides, der auf einem Esel neben Sebastianus dahintrottete, plagten ebenfalls Sorgen. Er dachte an das Unheil, das sich in der Festung Bonna in den Sternen seines Herrn abgezeichnet hatte und weiterhin die täglichen Sterndeutungen überschattete. Stand das namenlose Unheil in Rom bevor? Und war er, Timonides, der einstmals durch und durch ehrliche Astrologe, wegen seiner verfälschten Horoskope der Verursacher dafür? Was, wenn der neue Kaiser Sebastianus hinrichten ließ? Was sollte dann aus Timonides und Nestor werden? Sie hatten kein Geld, Timonides war alt und Nestor von schlichtem Gemüt. Das Blut gefror ihm bei dem Gedanken, Vater und Sohn könnten als Bettler auf der Straße landen.

Alles ist meine Schuld!, lamentierte er stumm vor sich hin, voller Verachtung für die Menge, in die sie jetzt eintauchten, voller Hass auf die Stadtmauern, wütend darüber, dass Kaiser Claudius ermordet worden war, wütend auf sich selbst, Sebastianus dazu gebracht zu haben, Ulrika mitzunehmen. Bei den Göttern!, flehte Timonides der Astrologe. Ich schwöre bei allem, was heilig ist, auch bei der Seele meiner geliebten Damaris, dass ich nie wieder ein Horoskop verfälschen oder im Namen der Sterne Lasterhaftes äußern werde! Bitte helft mir und meinem Sohn nur durch diese dunkle Stunde, und ich werde den Göttern und dem Himmel ehrenvoll und mit größtem Respekt dienen und nie wieder lügen, solange ich lebe!

Am großen Sammelplatz, der Endstation ihrer Reise, angelangt, machten sich Sebastianus und Ulrika, Timonides und Nestor sowie ein paar Sklaven und Bewacher zu Fuß in die Stadt auf. Wegen seiner beeindruckenden Passierscheine und dem Dokument, das ihn als Kaufmann und Händler auswies, wurde Sebastianus durch das kleinere Tor für Fußgänger gewinkt, während die anderen aus seiner Gruppe erst einmal eingehend überprüft und befragt und ihre Reisebündel durchsucht wurden. Dann ließ man sie ein, unter der Ermahnung, unverzüglich nach Hause und nirgendwo anders hinzugehen, da während des Ausnahmezustands die Sperrstunde unbedingt einzuhalten sei.

Zu ihrer Überraschung waren in der Stadt weder Chaos noch ein Aufstand der Bürger zu bemerken, vielmehr herrschte um diese Zeit, da der Tag sich neigte und die abendliche Sperrstunde durch Trompetenstöße verkündet worden waren, eine geradezu unheimliche Ruhe. Mit den ersten Sternen, die sich am Himmel zeigten, erreichten sie den Esquilin, und als sie die gepflasterte Straße bergan schritten, an Residenzen vorbei, die sich hinter hohe Mauern duckten, war die Stille an diesem milden Abend noch größer als gewöhnlich. Umso erleichterter fühlte sich Ulrika, als sie vor sich auf der linken Seite Tante Paulinas Haus mit Fackeln und Lampen erhellt sah und lautes Lachen und Musik zum dämmrigen Himmel stieg. Sie warf einen Blick zu dem hinter der Villa gelegenen Haus, das sie mit ihrer Mutter bewohnte. Es lag in Dunkel gehüllt, was aber nicht ungewöhnlich war, da Selene häufig die Abende bei ihrer besten Freundin verbrachte und auch bei ihr übernachtete. In unsicheren Zeiten wie diesen, bis der neue Kaiser die Gemüter beschwichtigt und den Bürgern zugesichert hätte, dass das Leben weitergehe wie bisher, erschien es Ulrika durchaus vernünftig, dass ihre Mutter Zuflucht in Paulinas Haus suchte.

Sie dankte Sebastianus und wollte ihm Lebewohl sagen, aber er bestand darauf, sie ins Haus zu begleiten. Sie lehnte ab, sagte, er müsse doch in seinem eigenen Anwesen nach dem Rechten sehen und dürfe keine Zeit vergeuden. Du und ich können nicht zusammen weitergehen, raunte ihr Herz ihm zu. Noch einmal nahm sie seine Erscheinung in sich auf, das vom Schein der Fackeln erhellte bronzefarbene Haar, seine hochgewachsene Statur. Sechs gemeinsame Monate hatten sie verbracht, hatten sich Essen und Feuer geteilt, gemeinsam in einer wundersamen Höhle geschlafen. Aber ihm war bestimmt, ins ferne China zu ziehen, während Ulrike einem anderen Pfad folgen musste.

Obwohl er sich vorgenommen hatte, sich kurz und schmerzlos zu verabschieden und zu gehen, legte Sebastianus seine Hände auf Ulrikas Arme, trat dann näher an sie heran und schaute ihr in die Augen. Nur noch einmal wollte er in diesem einladenden Blau schwimmen – wer wollte ihm das missgönnen?

Spontan neigte er sich zu ihr hinunter, seine Lippen streiften ihre Wange. Er merkte, dass Ulrika den Atem anhielt, spürte ihr Herz pochen. Ihr Mund hob sich ihm entgegen; doch dann sah er, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten, ihr über das Gesicht strömten. Seine Lippen wurden feucht davon, als er ihre Wange berührte – gehauchte Küsse, dem Schlag von Schmetterlingsflügeln ähnlich. Ihre Haut schien zu glühen, als er sie an den Schultern fasste.

»Mögen dir die Götter wohlgesonnen sein, Ulrika«, flüsterte er an ihrem Ohr, konnte sich nicht dazu bringen, sie loszulassen, »und mögen dich die Sterne ins Glück führen. Solltest du mich jemals brauchen, lass es mich wissen.« Dann trat er abrupt einen Schritt zurück.

Nachdem sie sich auch von Timonides verabschiedet hatte und desgleichen von Nestor – der bitterlich weinte –, wandte sich Ulrika dem Tor in der hohen Mauer zu. Da es verschlossen war, zog sie das Glockenseil und sagte, als ein ihr völlig fremder Sklave erschien: »Bitte richte Paulina, der Herrin des Hauses, aus, dass Ulrika hier ist.«

Er rümpfte die Nase. »Paulina – wer soll das sein?«

»Deine Herrin natürlich.« Sie blickte an ihm vorbei in Paulinas Atrium, in dem gescherzt und getrunken wurde – nicht ein einziges ihr bekanntes Gesicht. »Wessen Haus ist dies?«

»Es gehört jetzt Senator Publius.« Damit knallte er ihr das Tor vor der Nase zu.

Ulrika blieb fassungslos stehen. War Tante Paulinas Villa konfisziert worden? Wo waren Paulina und ihre Hausangestellten abgeblieben? Ulrikas Blick schweifte zu ihrem eigenen Haus, das im Dunkel lag und verlassen wirkte.

Wo war ihre Muter?

Sie rannte auf die kleine Villa zu. Starr vor Entsetzen las sie den am Tor angebrachten Hinweis, dass das Grundstück von der kaiserlichen Regierung beschlagnahmt worden sei und das Betreten eine strafbare Handlung. Dennoch brach Ulrika das Siegel auf und schlüpfte durchs Tor.

Der Garten sah verwildert aus, von Unkraut überwuchert, die ausgetrockneten Springbrunnen sowie die Marmorbänke voller Laub. Keine Menschenseele weit und breit, weder im Atrium noch im Empfangszimmer, weder in den Korridoren noch in den Schlafzimmern. Auch der hinten gelegene Küchentrakt, die Wäschekammer und die Räume der Sklaven waren verwaist und dunkel.

Bestürzt kehrte Ulrika ins Atrium zurück. Hatten kaiserliche Garden ihre Mutter abgeführt? Saß sie jetzt im Gefängnis – oder schlimmer noch: War sie bereits hingerichtet worden?

Ulrika sah sich nach einer Lampe um, fand eine, die sogar noch mit Öl gefüllt war. Unter Zuhilfenahme eines Feuersteins entzündete sie sie und nahm sie mit ins Atrium. Sollte sie hierbleiben, falls ihre Mutter doch zurückkam?, überlegte sie. Wenn aber erneut Soldaten auftauchten? Allein schon durch das Aufbrechen des Siegels am Tor hatte sie sich strafbar gemacht. Und jetzt hatte sie auch noch gegen die kaiserliche Anordnung verstoßen und widerrechtlich das Haus betreten …

Als sie ein Scharren vernahm, sprang sie auf. Zu ihrer grenzenlosen Überraschung erblickte sie Erasmus, den alten Majordomus, der mit seinen Reisebündeln über einen von Säulen umstandenen Korridor schlurfte. »Erasmus!«, rief sie.

Er fuhr zusammen. »Huch? Ist da ein Geist?« Und dann, als sich seine Augen an das Halbdunkel gewöhnt hatten: »Ah, die junge Herrin! Den Göttern sei Lob und Dank, dass du am Leben bist. Aber du kannst hier nicht bleiben. Man hat mir befohlen, das Haus für die neuen Besitzer herzurichten, und jetzt muss auch ich gehen.«

»Wo ist meine Mutter?«

»Fort«, kam es mit belegter Stimme traurig zurück. »Sie und alle anderen haben Rom vor Tagen verlassen. Hals über Kopf. Sie waren in der Stadt nicht mehr sicher.«

»Wohin sind sie gegangen?«, bestürmte Ulrika den Alten.

Magere Schultern hoben und senkten sich. »Die Herrin hat mir aber einen Brief für dich gegeben, für den Fall, dass du dich hier blicken lässt.« Er griff in eine der vielen verborgenen Taschen seiner farbenprächtigen Robe und zog eine mit einem roten Band umwickelte Schriftrolle hervor. Er machte Anstalten, sich zu entfernen, hielt aber nochmals inne, kramte erneut in den Taschen seines Gewandes, bis er eine zweite Schriftrolle gefunden hatte. »Hier ist noch eine. Leb wohl. Und gib auf dich Acht, Herrin, denn für die Freunde von Claudius – möge er im Jenseits Frieden finden – sind gefahrvolle Zeiten angebrochen.«

An der einen Rolle erkannte Ulrika das Wachssiegel der Mutter, die andere gab ihr zu denken. Wer sonst noch mochte ihr einen Brief geschrieben haben? Als sie nach einem Siegel auf der Rolle forschte, entdeckte sie einen getrockneten Fleck darauf. So als hätte jemand geweint und eine Träne wäre auf den Papyrus getropft und hätte einen sternförmigen Fleck hinterlassen …

Sie erschrak. Der Brief stammte von ihr selbst, war vor Monaten verfasst worden! »Warte!«, rief sie und eilte dem alten Mann nach. »Warum hast du mir meinen Brief zurückgegeben?« Aber der Alte war bereits entschwunden.

Sie besah sich nochmals ihr Schreiben, stellte fest, dass es nicht geöffnet worden war. Und dass der alte Mann es aus derselben Tasche gezogen hatte, in der er es an dem Tag, da sie Rom verließ, verstaut hatte.

Meine Mutter hat diesen Brief nie zu Gesicht bekommen.

Im Schein der Lampe nahm sie sich den Brief der Mutter vor.

»Liebste Tochter, ich schreibe dies in Eile nieder, weil wir fliehen müssen. Wohin ich gehe, steht noch nicht fest. Die gesamte Familie ist bei mir. Da ich nicht weiß, ob meine politischen Feinde sich auch gegen dich wenden, dürftest du in Rom nicht mehr sicher sein. Durch die Gnade der Göttin werden wir uns vielleicht eines Tages wiedersehen. Ich bete, liebste Tochter, die du mir in der Stunde höchster Not in Liebe geschenkt wurdest, dass du findest, was du suchst. Es tut mir leid, dass du meintest, Rom verlassen zu müssen, ohne mir Lebewohl zu sagen oder mir ein paar Zeilen zu schreiben. Aber ich habe Verständnis dafür. Bitte vergiss nicht, dass du zur Hälfte eine Römerin bist, verachte nicht dein römisches Blut, denn wie dein Vater Wulf bin auch ich ein Teil von dir.«

Eine Bö stob auf, Mondlicht fiel auf trockenes Laub, das auf Pflastersteinen raschelte. Während ich mich auf die Suche nach meinem Vater begeben habe, habe ich meine Mutter verloren, sinnierte Ulrika.

Sie dachte an das letzte Zusammentreffen mit ihrer Mutter, an den Streit zwischen ihnen und wie sie auf dem Absatz kehrtgemacht hatte und aus dem Zimmer gestürmt war, ohne die Mutter ausreden zu lassen. Das ist die letzte Erinnerung meiner Mutter an mich!, sagte sie sich, die Mutter hat mein Schreiben, in dem ich mich entschuldige und sie meiner Liebe versichere, nie erhalten.

Ein Schluchzen stieg in ihr auf, Tränen tropften auf den Brief der Mutter, benetzten schwarze Tinte, verwischten Worte wie »Verachte nicht dein römisches Blut …«

Gedankenverloren betrachtete sie das tanzende Laub, das von der kühlen Nachtluft über den Boden des Atriums gewirbelt wurde, und versuchte darüber nachzudenken, was sie als Nächstes tun sollte. Ihre Mutter suchen? Ihre früheren Freunde? Sie überlegte kurz, Sebastianus um Hilfe zu bitten, sah dann aber ein, dass sie ihn wegen ihrer Beziehung zu Paulina und wegen dieses von der Regierung konfiszierten Hauses nur in Gefahr bringen würde.

Eins jedenfalls stand fest: Hierbleiben konnte sie nicht.

Als sie von der Bank aufstand, auf der sie Platz genommen hatte, hörte sie Schritte. Sie wirbelte herum und sah gegen das Mondlicht die Silhouette eines Mannes.

Sebastianus.

Er betrat das Atrium. »Der Gedanke, dass ich dich alleingelassen habe, machte mich unruhig. Ich musste mich überzeugen, dass alles in Ordnung mit dir ist. Als der Sklave an Paulinas Tor sagte, eine fremde Frau habe versucht, sich Zutritt zum Haus von Senator Publius zu verschaffen, wusste ich, dass etwas faul war.«

»Sie sind fort, Sebastianus«, sagte sie mit erstickter Stimme. »Meine Mutter, meine Familie, alle. Ich bin ganz allein.«

Er zog sie in die Arme und drückte sie fest an sich, strich ihr übers Haar, spürte ihren warmen Atem an seinem Hals.

»Du bist nicht allein, Ulrika«, sagte er, »du kommst mit mir nach Hause.«

 

»Man wird uns alle im Schlaf ermorden!«

Primo packte die hysterische Wäscherin am Arm. »Halt den Mund, Weib«, knurrte er, »damit machst du alles noch schlimmer.« Seine eiserne Faust kniff sie zur Warnung kurz, aber schmerzhaft, ehe er die Frau ihres Weges schickte.

Heiliges Blut des Mithras, fluchte Primo in sich hinein und spuckte auf den Boden. Warum war es den Weibern nicht gegeben, in brenzligen Situationen einen kühlen Kopf zu bewahren?

Gerade heute Abend war die Situation so brenzlig wie nie. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Nachricht, dass Soldaten des neuen Kaisers systematisch jedem nachstellten, der irgendwie Kontakt zu Claudius Caesar gehabt hatte, und dies bezog auch den Händler und Karawanenführer Sebastianus Gallus mit ein, der Claudius zwar nur einmal kurz begegnet war, dessen Name aber auf der Liste derer vermerkt war, denen man Zutritt zum Kaiserlichen Palast gewährt hatte.

Mechanisch machte sich Primo wieder daran, das in den Räumen der Gallus-Villa herrschende Treiben zu überwachen, das stets die bevorstehende Rückkehr seines Herrn kennzeichnete.

Trotz seiner imponierenden Größe wirkte Primo alles andere als gewinnend. Seine Nase war so oft gebrochen, dass sie kaum noch als solche zu bezeichnen war. Er wäre dazu verdammt gewesen, ein Leben als Bettler zu fristen, wäre da nicht Sebastianus Gallus gewesen, dessen Haus am Rande der Stadt er jetzt mit der Härte und Entschiedenheit des treu ergebenen Soldaten führte, der er einst gewesen war, und das ohne seine ständige Gegenwart längst verlottert wäre. Da so viele Sklaven im Schutze der Nacht weggelaufen waren, gab es bereits jetzt kaum noch genug Dienstboten für die Küche, die Gärten, die Wäsche, die Versorgung der Tiere. Eine gespannte Stimmung beherrschte die erhellten Räume, in denen alles für die Rückkehr des Eigentümers in Ordnung gebracht wurde – unter dem wachsamen Auge des großen und hässlichen Primo, Teilnehmer an so vielen Feldzügen in ferne Länder und Überlebender so vieler Schlachten, dass ihn kaum noch etwas aus dem Gleichgewicht bringen konnte.

Was ihn allerdings wütend machte, war das durchdringende Geschrei einer hysterischen Wäscherin!

Als er jetzt von Zimmer zu Zimmer ging und allein schon durch sein bloßes Auftauchen die Sklaven einschüchterte – er trug weiterhin den ledernen Brustharnisch, die kurze Tunika und die soliden Sandalen aus seiner Soldatenzeit –, hätte er kaum sagen können, weshalb er auf Frauen nicht gut zu sprechen war. Gut möglich, dass er sie als »einfältige und nutzlose Kreaturen« bezeichnet hätte.

Es sei denn, er hätte sich eingestanden, dass der Grund für diese Verachtung seine eigene Mutter war, die Seefahrern ihre Liebesdienste angeboten hatte, derweil ihr Sohn zusammengerollt in einer Ecke lag und so tat, als höre er nicht die Schreie aus ihrem Bett. Als Primo zwölf war, wurde sie von einem Kunden erschlagen; dem Jungen gelang es danach mehr schlecht als recht, in den Straßen Roms zu überleben, bis er alt genug war, sich als Soldat anwerben zu lassen.

Möglicherweise rührte seine Abneigung gegen Frauen auch daher, dass er seiner gedankenlosen Mutter nicht verzeihen konnte, ihrem einzigen Kind den Namen Fidus – was »treu« hieß – verpasst zu haben, ohne darüber nachzudenken, dass sie mit diesem Namen ihren Sohn sein Leben lang Spott und Hohn aussetzte, schon weil Fidus in der Umgangssprache zu Fido abgekürzt und vornehmlich als Hundename verwendet wurde. So demütigend war für ihn dieser Name – seine Kumpel pflegten zu bellen, wenn er sich zeigte –, dass er, als er sich als Legionär verdingte, seinen Namen mit Primo angab, weil das eindrucksvoll klang, und dabei war es geblieben.

In Wahrheit jedoch – sollte Primo je sein verschlossenes Herz ergründen – hasste er weder seine Mutter noch Frauen im Allgemeinen. Der selbsternannte Frauenverächter liebte und verehrte sie sogar.

Wenn sie seine Verehrung nur erwidern würden …

Dabei hatte es vor langer Zeit eine gegeben, die nicht nur freundlich zu ihm gewesen war, sondern ihm das Leben gerettet hatte …

»Primo! Primo!« Ein junger Sklave kam ins Atrium gelaufen, in dem ein Dutzend Fackeln die Nacht erhellten. »Der Tross ist eingetroffen! Der Herr ist in der Stadt!«

Primo eilte durch das Atrium, durch den Vorgarten, durch das Tor und auf die schmale, von den hohen Mauern der Privathäuser gesäumte Straße. In die Dunkelheit spähend – in diesem Teil der Stadt gab es nur vereinzelt Straßenlampen – erinnerte er sich daran, wie er als ausgemusterter Legionär vor acht Jahren hier auf dieser Straße an jedem Tor angeklopft und um Arbeit nachgefragt hatte, um seine magere Pension aufzubessern.

Er hatte seinem Kaiser und dem Reich bis zum Ablauf der fünfundzwanzig Dienstjahre ehrenvoll gedient, und anders als die meisten Veteranen, die fortan in Tavernen Kriegserlebnisse gegen Bier zum Besten gaben, hatte er sich nach einem zusätzlichen Broterwerb umgeschaut.

Aber was hatte er schon zu bieten gehabt? Viele Legionäre durchliefen neben der normalen Ausbildung zum Soldaten eine Schulung zu »Spezialisten«, wurden nebenbei Handwerker und Zimmerleute, wussten mit Verwundeten umzugehen oder unterwiesen andere in der Handhabung von Waffen. Für solche Männer gab es nach Beendigung ihrer Dienstzeit Angebote in Hülle und Fülle.

Primo hingegen war ein einfacher Fußsoldat gewesen. Alles, was er zu bieten hatte, waren Kraft und Muskeln, die ihm das harte Soldatenleben im Übermaß hatten angedeihen lassen. Auf dem Marsch durch unwirtliches Gelände war ein Fußsoldat ausgerüstet mit einem Schild, einem Helm, zwei Wurfspeeren, einem kurzen Schwert, einem Dolch, einem Ersatzpaar schwerer Sandalen, Marschgepäck mit Proviant für vierzehn Tage, einem Wasserschlauch, Kochgeschirr, Pfählen zum Errichten von Palisaden sowie einer Schaufel oder einem Weidenkorb. Es gab nichts, was Primo der Veteran nicht mit Leichtigkeit zu bewegen oder zu heben imstande war.

Dennoch waren ihm auf der Suche nach einer ehrbaren Anstellung die Tore vor der Nase zugeknallt worden – bis er zum Haus des Kaufmanns und Händlers Sebastianus Gallus gelangte. Der Sklave am Tor gab sich mürrisch und schroff, der Verwalter zeigte sich in einer verdreckten Tunika. Essensreste lagen auf dem Boden herum, ungesittetes Gelächter drang aus Küche und Wäschekammer, überall im Haus tobten Hunde und Katzen herum. Als Primo den Namen des Hausbesitzers erfuhr, der mit einer Karawane unterwegs war, hatte er ein Pferd gemietet und war dem Tross entgegengeritten. Kaum hatte der junge Sebastianus Gallus vernommen, welches Chaos bei ihm zu Hause herrschte, ritt er mit Primo los und überrumpelte durch sein vorzeitiges Erscheinen seinen Verwalter und die Dienerschaft. Dabei stellte sich heraus, dass das Anwesen reichlich verwahrlost war. Und da Primo beteuerte, er werde auch während der Abwesenheit von Sebastianus für Ordnung und Sauberkeit sorgen, wurde er auf der Stelle als Oberster Verwalter eingesetzt. Im Laufe der Jahre war zu diesem Amt auch das des Leibwächters hinzugekommen, des Kutschers sowie des Administrators für sämtliche Belange des Haushalts.

Als er jetzt die kleine Gruppe die Straße heraufkommen sah und hörte, wie Timonides sich lauthals über irgendetwas beschwerte, kratzte sich Primo am Hintern und spuckte auf den Boden. Timonides und diesen Tölpel von einem Sohn mochte er nicht. Den griechischen Astrologen mit seinen Aufzeichnungen und Instrumenten fand er überheblich. Wie die meisten Soldaten konnte Primo weder lesen noch mehrere Summen zusammenzählen, weshalb er für Männer mit höherer Bildung nur Verachtung übrig hatte. Außerdem erboste ihn, dass Timonides behauptete, im Universum herrsche Ordnung, alles geschehe aus einem bestimmten Grund, und man könne sein Schicksal steuern, wenn man sich danach richte, was einem die Sterne sagten. Primo wusste es besser. Nichts geschah aus einem bestimmten Grund, das Universum war ein Chaos, und sein Schicksal zu steuern war ein Ding der Unmöglichkeit. Für ihn war alles im Leben zufällig und ungeplant. Und das Leben nach dem Tod, von dem Timonides faselte, hatte nichts mit diesem Leben zu tun, warum sich also den Kopf darüber zerbrechen?

Als er in ihrer Begleitung eine Frau ausmachte, runzelte er die Stirn.

Er wusste, was Frauen dachten, wenn sie ihn ansahen – ein hässliches Ungeheuer mit zu vielen Narben im Gesicht, um irgendwie einnehmend zu wirken. Nur gegen Geld gestattete ihm eine Frau etwas körperliche Nähe. Gelegentlich fragte er sich, ob ein Enthaltsamkeitsschwur, vor allem im Namen eines Gottes geschworen, der Eitelkeit des Mannes nicht dienlicher sei als die wiederholte Zurückweisung von Frauen – und auf alle Fälle besser für seine Geldbörse!

Primo wollte gerade auf seinen Herrn zueilen, als unerwartet am anderen Ende der Straße Soldaten auftauchten, Rüstungen klirrten, Stiefeltritte auf das Pflaster stampften. Primo riss die Augen auf. Anhand der Skorpion-Insignien auf ihren metallnen Kürassen erkannte er in ihnen Prätorianer, eine Eliteeinheit, die unmittelbar dem Kaiser unterstellt war. Noch entsetzter war er, dass sie entgegen der althergebrachten Tradition, sich innerhalb der Stadtmauern unbewaffnet zu zeigen, herausfordernd ihre Speere zur Schau stellten.

Das war kein gutes Zeichen.

Der Hauptmann der Kohorte, ein gedrungener, drahtiger Mann mit schmalem Gesicht und federbuschverziertem Offiziershelm, trat vor. »Bist du Sebastianus Gallus?«, fragte er.

»Der bin ich«, gab Sebastianus ungerührt zurück.

»Du hast mitzukommen, auf Befehl des Kaisers.«

Sebastianus nickte und wandte sich an Primo, um ihm den Auftrag zu erteilen, sich um die anderen der Gruppe zu kümmern. Aber die Prätorianer bildeten bereits einen Kreis um sie, nahmen zur Durchsetzung ihres Vorhabens ihre Speere zu Hilfe.

Sebastianus erhob Einspruch. »Lasst sie gehen. Sie haben sich nichts zuschulden kommen lassen.«

Niemand achtete auf seine Worte. Alle wurden in Gewahrsam genommen: Sebastianus und Ulrika, Timonides und Nestor und auch Primo, der als altgedienter Legionär den Worten »auf Befehl des Kaisers« sofort Gehorsam zollte.

Sie wurden in einem Wagen auf den Palatin-Hügel gebracht, dem Ort, an dem der Legende nach eine Wölfin die Zwillinge Romulus und Remus, die Begründer Roms, gesäugt hatte, weshalb ihm große mystische Kraft innewohnte. Hier, mit Blick auf das Forum und den Circus Maximus, erhob sich der kaiserliche Palast; die weißen Marmorwände, Terrassen, Säulen und Springbrunnen zeichneten sich, von unzähligen Lampen und Fackeln erhellt, so deutlich gegen den dunklen Himmel ab, als trachtete der neue Kaiser danach, selbst der Nacht den Rückzug zu befehlen.

Während der Wagen unter massiven Bögen und vorbei an übergroßen Statuen dahinrumpelte, haderte Timonides mit sich selbst ob des grausamen Schicksals, das durch seine Schuld ihrer harrte. All diese verfälschten Horoskope! Hatte er wirklich geglaubt, damit durchzukommen?

Primo, der in dem schwankenden Wagen stand, als wollte er einem Sturm auf hoher See trotzen, machte der Gedanke zu schaffen, so viele Schlachten überlebt zu haben, um jetzt als Feigling sterben zu müssen.

Sebastianus stand neben Ulrika und grübelte darüber nach, was er vorbringen oder wen er bestechen könnte, um seine Gefährten freizubekommen; wenn Nero die Freunde von Claudius bestrafen wollte, dann sollte eigentlich nur er, Sebastianus Gallus, zur Rechenschaft gezogen werden. Ulrika, ein alter Astrologe und dessen einfältiger Sohn sowie der Oberste Verwalter seines Haushalts hatten jedenfalls nichts damit zu schaffen.

Andererseits war bekannt, was Kaiser sich einfallen ließen, um sich der uneingeschränkten Loyalität ihrer Untertanen zu versichern: Sie ließen nicht einen einzigen Freund ihrer Vorgänger am Leben. Würde sich Nero von Tiberius oder Caligula oder Claudius unterscheiden?

Am Ende eines schmalen, von Fackeln erhellten Weges hielt der Wagen an; man hieß die Gefangenen aussteigen. Von der elitären Kohorte abgeschirmt, wurden Sebastianus und seine Begleiter durch eine unauffällige und nicht bewachte Tür gescheucht. Weiter ging es einen spärlich erhellten Gang entlang, dann steile Stufen hinauf und durch noch schmalere Gänge. Ihre Schritte hallten von den marmornen Wänden wider, ihre Schatten streckten oder duckten sich in dem flackernden Licht.

Sie gelangten in einen breiteren Korridor, in dem sich Diener mit Platten und Krügen an ihnen vorbeischlängelten und gedämpftes Stimmengewirr zu ihnen drang. Als der Hauptmann der Kohorte dann einen schweren Wandteppich zu einem hell erleuchteten Audienzsaal beiseite zog, blinzelten sie geblendet und gleichzeitig verblüfft.

Der kaiserliche Audienzsaal war weitläufig. Ein Säulenwald durchzog ihn, in Abständen sah man hoch aufragende Statuen, die mit Gold beschlagen und kostbaren Steinen geschmückt waren, dazu ein wie Glas spiegelnder Marmorfußboden. Eine schier unübersehbare Menge drängte sich hier, teils in römischen Togen, teils in Uniformen oder fremdländischen Gewändern: Staatsmänner und Senatoren, Beamte und ausländische Würdenträger, Botschafter und Prinzen. Man sah Kuriere, erkenntlich an ihren geflügelten Botenstäben, hin und her eilen, Sekretäre, die auf Wachstafeln und Papyrus kritzelten, Höflinge, die sich in Verbeugungen und Demutsgesten ergingen, Sklaven und Diener – der Lärm, den sie veranstalteten, stieg zu der hohen Decke empor, wo glitzernde Mosaiken in Gold und Silber vom Prunk und der Majestät der Cäsaren kündeten.

Als Sebastianus erkannte, dass sie in dem Thronsaal gelandet waren, in dem Claudius Besucher und Würdenträger aus anderen Ländern empfangen hatte – obwohl die Sicht auf den Thron und den neuen Cäsar durch die vielen Menschen versperrt war –, wandte er sich an den Hauptmann der Prätorianer: »Warum habt ihr uns zum Kaiser gebracht?«, fragte er, weil seines Wissens nach Feinde von Claudius verhaftet und sofort ins Gefängnis geworfen oder exekutiert worden waren. Eine Audienz beim neuen Cäsar war noch keinem gewährt worden.

Der Hauptmann gab keine Antwort, sondern sah starr geradeaus, so als wartete er auf ein Zeichen.

Timonides, der neben seinem Herrn stand, vergaß vorübergehend seine Angst, als er die Speisen sah, die auf Platten an ihnen vorbeigetragen wurden. Für wen war dies alles bestimmt und warum wurde so manche Platte unberührt wieder zurück in die Küche getragen? Nestor wiederum grinste und kicherte beim Anblick der bunten Menge.

Primo der Kriegsveteran beobachtete das Geschehen eher gelassen. Er wusste, dass Botschafter und Gesandte vorstellig wurden, wenn es darum ging, Abkommen zu schließen oder aufzukündigen, und dass viele der hier Anwesenden gekommen waren, um eine Gunst zu erbitten, dem Kaiser zu schmeicheln, ihn mit Lob zu überschütten oder ihm den kaiserlichen Hintern zu küssen, und dass nichts, was heute vereinbart wurde, in hundert Jahren auch nur einen Pfifferling wert sein würde. Hier konnte er nichts ausrichten, was seinem Herrn helfen würde.

Mit einem unguten Gefühl sah sich Ulrika um. Auch sie fragte sich bang, warum man sie zum Kaiser gebracht hatte.

Auf einmal, zwischen zwei Würdenträgern in dem charakteristischen Gewand und Kopfschmuck der Parther, entdeckte sie eine Frau, die ihr bekannt vorkam. Doch ihr Mund war zu einem stummen Schrei geöffnet, ihre Arme und Hände waren blutbefleckt. Es war dieselbe Frau, die Ulrika damals, mit zwölf, bei einem Ausflug aufs Land erschienen war! Warum bist du hier?, bedeutete sie stumm der Geistererscheinung. Warum spukst du ausgerechnet hier herum?

Als sie merkte, wie ihr Herz raste und ihr Atem schneller ging, presste sie die Hand auf die Brust und versuchte, sich zu beruhigen. Wenn sie ihre Visionen nicht länger als etwas Beklemmendes ansehen, sondern versuchen wollte, sie auf irgendeine Art zu steuern, musste sie als Erstes ihre Angst überwinden …

Ihr Atem stockte.

Deine Lungen atmen hastig …

Minervas seltsame Botschaft! Besagte sie also doch etwas? Während ihre Begleiter ungeduldig von einem Fuß auf den anderen traten, konzentrierte sich Ulrika auf ihren Atem und zwang ihn und damit sich selbst zur Ruhe. Alsbald vernahm sie ein Flüstern – ein leises Raunen, kaum zu hören im Lärm des Marmorsaals. Sie schaute sich um – waren da weitere Erscheinungen? Was versuchten sie ihr zu sagen? Und dann erstarb das Geflüster, und die verängstigte Frau löste sich langsam vor ihren Augen auf.

Eine freudige Erregung erfüllte Ulrika. Sie hatte ein wenig Kontrolle über ihre Gabe gewonnen. Das war es, was die Göttin ihr gesagt hatte: Es galt, sich ihrer Atmung bewusst zu werden, bevor sie ihre Gabe als Mittlerin richtig einsetzen konnte. Minerva war ihre erste Lehrmeisterin gewesen!

In diesem Augenblick erwachte der prätorianische Hauptmann aus seiner Starre, grunzte seinen Wachen einen Befehl zu, und die Neuankömmlinge wurden vorwärtsgeschubst.

Da niemand den Weg freimachte, mussten sie sich durch Gruppen von Männern, vereinzelt aber auch an Frauen vorbeidrängeln, die allesamt gelangweilt, ungeduldig oder hoffnungsvoll darauf warteten, zum neuen Kaiser vorgelassen zu werden.

Aber auch beim Näherkommen konnten Sebastianus und seine Freunde noch keinen Blick auf den jungen Nero erhaschen – Berater in purpurgesäumten Togen oder Militärkleidung umringten ihn, neigten sich, eifrigen Hühnern gleich, dem Thron zu, gackerten Empfehlungen in das kaiserliche Ohr.

Wer nicht zu übersehen war und hoch aufgerichtet und machtvoll neben dem weißen Marmorthron stand, war Kaiserin Agrippina, eine attraktive Mittvierzigerin, die den Ruf genoss, skrupellos, ehrgeizig, leidenschaftlich und herrschsüchtig zu sein. Weiterhin hieß es von ihr, sie habe einen doppelten Eckzahn in ihrem rechten Oberkiefer, was als Glückszeichen gewertet wurde.

Agrippina trug ein purpurnes Gewand unter einer safrangelben Palla mit goldener Borte; Hunderte winziger Locken ringelten sich um ihren Kopf. Man sagte ihr nach, stundenlang in Ziegenmilch zu baden und täglich eine Mischung aus Eiweiß und Milch auf ihr Gesicht aufzutragen, um ihre elegante Blässe zu unterstreichen. Als Urenkelin von Kaiser Augustus, Großnichte und Adoptivenkelin von Kaiser Tiberius, außerdem Schwester von Kaiser Caligula, Nichte und vierte Ehefrau von Kaiser Claudius und außerdem Mutter des neuen Kaisers Nero hatte Agrippina ihrem Sohn eine wahrlich illustre Blutlinie vererbt.

Dass sie ihren Gatten Claudius vergiftet hatte, damit Nero Anspruch auf den Thron erheben konnte, wurde keinen Augenblick lang bezweifelt. Wie aber ließ sich das beweisen? Kaiserliche Bedienstete berichteten von dem heroischen Bemühen der Kaiserin, ihren bei Tisch zusammengesackten Gatten zu retten; sie habe sich neben ihn gekniet und ihm gewaltsam den Mund geöffnet, um dann mit Hilfe eines Federkiels einen Brechreiz auszulösen. Claudius hatte sich tatsächlich erbrochen, wodurch er den Magen von dem vergifteten Gericht (aus Pilzen, wie geraunt wurde) befreite, aber dann starb er doch. Niemand konnte der Kaiserin die Schuld zuschieben, sie hatte ja versucht, sein Leben zu retten; andererseits ging das Gerücht um, der Federkiel sei in ein Toxin getaucht gewesen, das von einem seltenen Fisch stammte, und dass es dieses Gift gewesen sei, das den Kaiser umgebracht hatte.

Jetzt beugte sich die Kaiserin vor, ihre langen Finger legten sich dem Sohn auf die Schulter. Sie flüsterte etwas, worauf die Berater zurücktraten und die kleine Gruppe um Sebastianus einen Jüngling erblickte, der in einer weißen Tunika unter einer purpurn gesäumten weißen Toga und einem Lorbeerkranz um die Stirn auf dem weißen Marmorthron saß. Der Sechzehnjährige wies gleichmäßige Gesichtszüge auf, hatte einen eher flaumigen Bartwuchs und überraschend blaue Augen. Der für sein Alter ungewöhnlich feiste Nacken verlieh ihm eine athletische Note, an der es ihm ansonsten mangelte. »Der Ruf der Gallus-Familie ist sehr wohl bekannt, Sebastianus«, sagte der junge Cäsar ohne Einleitung. »Du, dein Vater und Großvater haben Rom und seinem Volk treu gedient. Und jetzt sagt man uns, du willst eine diplomatische Route nach China einrichten?«

»Genau so verhält es sich, Cäsar«, sagte Sebastianus verdutzt. Das hatte er nicht erwartet. »Ich möchte den Menschen in China die Macht und Größe Roms nahebringen. Darüber hinaus möchte ich den Kreis von Cäsars Freunden und Verbündeten erweitern.«

»Andere Männer beabsichtigen das Gleiche. Warum sollte ich dir den Vorzug geben?«

Sebastianus dachte an die Nacht, die er mit Ulrika in der Höhle verbracht hatte, und daran, dass ihm damals auf eine Bemerkung von ihr hin eingefallen war, mit welch entscheidendem Argument er sich von seinen Mitbewerbern abheben würde. »Weil einzig und allein ich, Cäsar, dafür bürgen kann, den fernen Orient zu erreichen«, sagte er selbstbewusst. »Wo andere mit Sicherheit versagen, werde ich erfolgreich sein. Und ich verspreche, dass ich nicht nur mit neuen Freunden Roms und ihren Verträgen heimkehren werde, sondern auch mit unermesslichen Schätzen.«

Nero legte den Kopf zurück und sah seine Nase entlang auf den Bittsteller, eine Pose, die der Jüngling, wie Sebastianus mutmaßte, vor dem Spiegel eingeübt haben musste. »Dann verrate mir doch, Gallus, wieso du dich dafür verbürgen kannst, andere Händler aber nicht?«

»Ich bin vor kurzem aus Germania Inferior zurückgekommen, wo ich regelmäßig in Colonia Handel treibe. Dort habe ich ein außergewöhnliches Geheimnis erfahren.«

»Und das wäre?«, fragte Nero. Agrippina, die kaiserlichen Berater und die, die sich unweit von ihnen aufhielten, lauschten aufmerksam.

Sebastianus klopfte das Herz bis zum Halse. Dies war der Moment, von dem er zeitlebens geträumt hatte. »Es heißt, hoher Herr, dass Befehlshaber Gaius Vatinius Maßnahmen ergriffen hat, um den Gegner zu täuschen und seinen Soldaten taktisch einen Vorteil zu verschaffen. Dass er nach der klugen Strategie vorging, derzufolge Dinge nicht immer so sind, wie es den Anschein hat. Als ich das hörte, erkannte ich, dass man sich solcher Taktiken auch entlang einer Handelsroute bedienen kann. Briganten zum Beispiel, die es auf Karawanen abgesehen haben, sind blind vor Gier und geneigt, nur das zu sehen, was sie sehen wollen. Sie wissen, dass Kaufleute und Händler mehr Zeit mit Essen verbringen als mit körperlicher Ertüchtigung, weshalb Diebe, die auf der Lauer nach einer Karawane liegen, annehmen, dass sie es mit verweichlichten Männern zu tun bekommen. Und genau das lässt derartige Unternehmungen scheitern. Wenn ich mich jedoch an die Strategie von General Vatinius halte, wird das bei meinem Tross anders sein. Die Räuber werden nicht ahnen, dass unsere Gewänder, unsere Turbane und Bärte nur eine Verkleidung für in Wirklichkeit durchtrainierte und kampferprobte Männer ist. Was die Briganten nicht erwarten, ist, überrascht zu werden.«

Nero schürzte die Lippen und hörte sich an, was einer seiner militärischen Berater ihm ins Ohr flüsterte.

»Sprich weiter, Sebastianus Gallus«, gebot der junge Kaiser gleich darauf.

»Es wäre noch hinzuzufügen, Herr, dass die Räuber, wenn sie meine Karawane angreifen, nicht nur unversehens kampfbereiten Soldaten gegenüberstehen, sondern zusätzlich von hinten attackiert werden. Auch diese Taktik geht auf General Vatinius zurück.«

Wieder raunte der militärische Berater Nero etwas zu, worauf der Kaiser meinte: »Eine kluge Strategie, Sebastianus Gallus. Nur wie willst du es anstellen, dir eine solche Kampftruppe zuzulegen?«

»Darf ich meinen Verwalter heranrufen, Herr? Er ist kein Sklave, sondern ein freier Mann und ein Veteran der Elitelegionen Roms.«

Als Primo, trotz seines entstellten Gesichts erkennbar scheu und verwirrt, vortrat, fuhr Sebastianus fort: »Mein treuer Verwalter hat mich gelehrt, dass eine siegreiche Kriegsführung auf drei entscheidenden Regeln beruht: Greif an, ehe du angegriffen wirst; verleg den Kampf ins Territorium des Feindes, damit seine Verluste umso größer sind; mach dir das Element der Überraschung zu eigen, denn dies ist die tödlichste Waffe. Diese Regeln sichern den Sieg, großer Cäsar, und Primo beherrscht sie alle drei.«

»Du erwartest von einem einzigen Mann, dies alles umzusetzen?«, fragte Nero mit einem Anflug von Spott.

Sebastianus nahm es hin. »Obwohl Primo ausgemustert ist, hat er weiterhin Verbindung zu den Truppen, zu Freunden, die in diesem Moment dem Reich dienen. Als Veteran hat er Zutritt zu allen Garnisonen, Festungen, Kasernen. Außerdem kennt er viele ehemalige Legionäre, die mehr als bereit sind, wieder für Rom zu kämpfen. Aber das ist noch nicht alles«, fügte er hinzu und kam jetzt, da es um sein eigenes Vorhaben ging, richtig in Fahrt. »Wenn ich die östliche Route bereise, werde ich Späher vorausschicken, als Einheimische verkleidete Männer, die sich unter das Volk mischen, in Tavernen und am Wegesrand das Gespräch suchen, um so viel wie möglich über geplante Überfälle in Erfahrung zu bringen. Außerdem werde ich Soldaten vorschicken, die sich verstecken und dann etwaige Räuber in Lauerstellung von hinten überrumpeln.«

»Verrate mir doch eins, Gallus«, sagte Nero und spähte wieder seine Nase entlang, »wie hast du von General Vatinius’ geheimer Strategie erfahren? Nach seinem Sieg in Germanien wurde Befehlshaber Vatinius bei seinem Einzug in Rom mit einem Triumphzug geehrt, und als Belohnung übertrug man ihm das Kommando der Legionen in Britannien, wo er gegenwärtig erneut seine Strategien anwendet. Wie aber bist du hinter sein Geheimnis gekommen?«

Sebastianus merkte, wie er von allen Seiten angestarrt wurde, auch von Ulrika. »Ganz Colonia spricht davon, Cäsar«, sagte er, »denn damit wurde die Schlacht gewonnen. Sie sind also nicht länger ein Geheimnis.«

Agrippina flüsterte ihrem Sohn etwas zu. Gleich darauf bildeten die Berater einen engen Kreis um ihn, und unter viel Nicken und grau- und weißhaarigem Kopfschütteln wurde eine Konferenz abgehalten.

Als sie beendet war, zogen sich die alten Männer von dem Sechzehnjährigen zurück, der mit seiner noch immer brüchigen Stimme verkündete: »Wohlan denn, Sebastianus Gallus, es ist unser Wunsch, dass du unser Kaiserliches Diplom nach China trägst und in dieser Mission zu dem dortigen Herrscher Beziehungen aufnimmst. Entlang des Weges wirst du Monarchen und Stammeshäupter zu Verbündeten machen, indem du ihnen gegen kleine Gefälligkeiten unseren Schutz anbietest. Zum Zeichen römischer Großzügigkeit werden wir dich mit Geschenken für diese Herrscher ausstatten, und im Gegenzug wirst du uns Beweise ihrer Reichtümer mitbringen. Weiterhin werden wir eigens geschulte Männer entsenden, die entlang des Weges diplomatische Verbindungen aufbauen sollen. Es ist unser Wunsch, dass eines Tages die ganze Welt unter dem Schutz der römischen Adler steht.«

Nero gähnte, worauf der Hauptmann der Prätorianer eilends vortrat. Mit einer Handbewegung in Richtung seiner Wachen führte er die fünf Gefährten aus dem Bereich des Throns, dann zog er sich mit seinen Männern zurück, verschwand hinter einem Vorhang durch eine Tür und ließ Sebastianus und seine Begleiter sprachlos in dem überfüllten Empfangssaal zurück.

Sebastianus fing sich als Erster. Obwohl er es selbst noch nicht so recht glauben konnte, sagte er: »Es sieht ganz so aus, als hätte ich die Chinaroute für mich entschieden! Timonides, wir werden genaueste Aufzeichnungen über die Position der Sterne benötigen. Wichtig ist mir vor allem, welches der günstigste Tag für den Aufbruch ist.«

»Sofort, Meister«, kam es zurück. »In meinen alten Knochen spüre ich bereits, dass die Deutung sehr günstig für dich ausfallen wird. Wie könnte es nach dem Sieg heute Abend auch anders sein?« Timonides vermochte seine Freude kaum zu verbergen. Die erwartete Katastrophe war nicht eingetreten, stattdessen war sein Herr mit einem wunderbaren Auftrag bedacht worden!

China! Timonides hatte von dem vorzüglichen Essen dort gehört, von Delikatessen und seltenen, überaus schmackhaften Bissen. Eine Spezialität nannte sich Reis, der locker und leicht war und als Beigabe zu gebratenem oder gedünstetem Fleisch oder Gemüse gereicht wurde, das man je nach persönlichem Geschmack selbst würzen konnte. Lag denn nicht auch Babylon auf dem Weg? Dort sollte man in Sesamöl getauchte und in Brot gewickelte knusprige Fischflossen zu essen bekommen. In Timonides’ Bauch rumorte es. Der Astrologe konnte den Aufbruch kaum erwarten.

Sebastianus besprach sich bereits mit seinem Verwalter. »Primo«, wies er ihn an, »du wirst sofort damit beginnen, Männer zu rekrutieren. Wir segeln so bald wie möglich nach Antiochia.«

»Sehr wohl, Meister«, erwiderte der alte Veteran ungewöhnlich beschwingt. Eine soldatische Mission! Eine, die Strategie und Kriegsführung einschloss. Er strahlte übers ganze Gesicht und stand in militärisch strammer Haltung da. Sein Soldatengeist erwachte und schon begann er damit, sich Namen ins Gedächtnis zu rufen, Pläne und Strategien zu überdenken, Proviantlisten zusammenzustellen. Er machte auf dem Absatz kehrt und verließ den Saal.

Jetzt wandte sich Sebastianus an Ulrika. »Ich stehe tief in deiner Schuld«, sagte er und sah sie ungeachtet der vielen Leute, die sich um sie drängten, an. »Nie wäre ich ohne deine Bemerkung auf die Idee gekommen, die mir jetzt die Mission nach China eingetragen hat. Nun kann ich mich der Aufgabe widmen, die ich schon so lange angestrebt habe. Wie kann ich dir danken?«

Mit angehaltenem Atem schaute Ulrika zu ihm auf. So dicht stand er vor ihr, sein Blick hielt ihren fest, seine Stimme ließ den Lärm um sie herum vergessen, sie hörte nur ihn, nahm nichts anderes als ihn wahr, die Welt war verstummt und weit weg. Am liebsten hätte sie sich an ihn gelehnt, um seine Wärme und beruhigende Kraft zu spüren.

»Du brauchst mir nicht zu danken«, flüsterte sie. Jetzt bot sich ihr die Chance, die sie sich insgeheim gewünscht hatte, die aber bisher immer unmöglich erschienen war. »Nur um eins bitte ich dich. Eben sagtest du zu deinem Verwalter, dass du nach Antiochia aufbrichst. Meine Mutter lebte dort, bis zu ihrem sechzehnten Lebensjahr wuchs sie im Haus von Mera der Heilerin auf. Gut möglich, dass sie und meine Familie dort Zuflucht gesucht haben, als sie aus Rom fliehen mussten. Dass sie anderswo hingegangen sein könnten, kann ich mir nicht vorstellen. Ich muss wissen, dass meine Mutter in Sicherheit ist. Außerdem kann nur sie mir sagen, wo ich die Kristallenen Teiche von Shalamandar finde.«

Sebastianus’ Miene zeigte keine Bewegung. Ruhig sagte er zu ihr: »Ich nehme dich natürlich gern nach Antiochia mit.«

Schweigend sah sie ihn an und dachte an die vor ihnen liegenden Wochen und Monate, die sie gemeinsam reisen würden. Bis nach Antiochia war der Weg lang. Was würde das für sie bedeuten? Sie spürte, wie Sebastianus dem neuen Abenteuer und dem sagenumwobenen Reich am Ende eines unbekannten Weges entgegenfieberte. Bestimmt schenkte er ihr ab jetzt weniger Aufmerksamkeit als bisher. Und sicher wäre es klug, wenn sie sich auf ihr Reiseziel Antiochia konzentrierte, die drittgrößte Stadt der Welt und Heimstätte so vieler Götter, Tempel und heiligen Haine, in denen Antworten zu finden waren.

Keiner von beiden bemerkte, dass Kaiserin Agrippina einem Sklaven etwas zuraunte, worauf dieser zur Tür eilte, dort Primo abfing und ihn erst zurück zum Thron und von dort aus durch eine von einem Wandteppich verborgene Öffnung begleitete.

In einem Privatraum, in dem in goldenen Lampen Flammen flackerten, vernahm Primo Befehle, die sein Gesicht aschgrau werden und ihn sich wünschen ließen, er wäre nie geboren. Zum ersten Mal in einem Leben voller Hingabe und bedingungsloser Pflichterfüllung zog Primo der Veteran in Betracht, wegzulaufen und dafür zu sorgen, dass ihn niemand je wieder fand.

»Du hast deine Befehle verstanden?«, fragte Kaiserin Agrippina scharf.

»Gewiss, Herrin«, antwortete er schweren Herzens, schon weil er wusste, dass sein geliebter Meister Sebastianus Gallus in diesem Augenblick einen tönernen Sieg feierte, während Primo der loyale Freund, erkannt hatte, dass der neue Kaiser keineswegs ein großmütiger Wohltäter war, sondern ein höchst gefährlicher, wenn nicht gar tödlicher Feind.