9
Sie hatte sich verirrt.
Tagelang war sie gewandert, hatte sich an die Karte gehalten und versucht, sich an Einzelheiten zu erinnern, die die Mutter seinerzeit erwähnt hatte – es gab so viele kleine Flüsse, die in ihrem Verlauf Halbmonden ähnelten! –, und jetzt war sie tief in den Wäldern östlich des Rheins gelandet, ohne zu wissen, wo genau sie sich befand.
Sie hatte, als sie den Rhein erreichte, einen Schiffer bestechen können, sie auf die andere Seite des Flusses überzusetzen. Während der Überfahrt hatte sie sich nach Vatinius und seinen Legionen erkundigt. Aber der Bootsführer hatte so schnell gesprochen, noch dazu in einem für Ulrika schwer verständlichen Dialekt, dass sie nur Bruchstücke aufgeschnappt hatte.
Eins jedoch begriff sie: Eine große Schlacht stand bevor. Nur wo?
Sie spähte durch den von Sonnenlicht durchdrungenen Wald, in dem Tannen und Eichen dunkle Schatten warfen, wo hoch droben in den Ästen die Lockrufe von Vögeln zu hören waren und im Gestrüpp ein gelegentliches Rascheln, für Ulrika ein Zeichen, dass sie beobachtet wurde. Hungrige Raubtiere?
Wo war sie? Als sie vom Fluss aus den Weg nach Osten eingeschlagen hatte, waren ihr zusehends weniger Menschen begegnet, bis sie schließlich mutterseelenallein in den Wäldern gelandet war, lediglich bewaffnet mit einem Dolch und Entschlossenheit. Dass sie sich nach Nordosten bewegte, wusste sie, aber nicht mehr genau, wohin. Anders als in Rom gab es in dieser Wildnis keine Wegweiser.
Es graute ihr davor, eine weitere Nacht in diesem unwirtlichen Gelände zu verbringen. Obwohl bereits in zwei Wochen Sommersonnenwende sein würde und sich die Luft tagsüber zusehends erwärmte, waren die Nächte kalt. In ihre Palla gewickelt, hatte Ulrika in laubbedeckten Erdmulden geschlafen, an Baumstämme gelehnt oder im Schutz von Felsbrocken und sie hatte gebetet, dass sie doch am nächsten Tage endlich ihren Vater finden würde. Ihr Proviant war zur Neige gegangen, ihr Gewand zerrissen, ihre Sandalen lösten sich auf. Sie war am Ende. Erschöpft und ängstlich schleppte sie sich durch einen Wald, der genauso aussah wie der Wald, durch den sie gestern und auch schon vorgestern gezogen war.
Bei jeder knorrigen Wurzel, über die sie stolperte, bei jedem dornigen Busch, in dem sich ihr Rock verfing, bei jedem Eulenschrei und jedem bedrohlich wirkenden Schatten meinte Ulrika in Tränen ausbrechen zu müssen. Dabei hatte sie anfangs geglaubt, dass sie sich im Land ihrer Vorfahren wie zu Hause fühlen würde. Nach all den Jahren, in denen sie nicht gewusst hatte, wohin sie gehörte, in denen sie sich als Außenseiterin vorgekommen war, selbst in dem Haus, in dem sie mit ihrer Mutter in Rom gelebt hatte, war Ulrika überzeugt gewesen, dass sie sich in Germanien sicher und geborgen fühlen würde. Stattdessen jagte ihr dieser nicht endenwollende Wald Angst ein.
Wie naiv sie doch gewesen war! Sich einzubilden, es sei ein Leichtes, ihren Vater ausfindig zu machen, wenn all die erfahrenen Späher und Kundschafter, über die Cäsar verfügte, dies nicht vermochten!
Eine Verschnaufpause lang lehnte sie sich an einen Baum. Die Sonne stand direkt über ihr. Wie lange würde es noch hell sein, ehe sie sich einen sicheren Platz für die Nacht suchen musste? Sollte sie umkehren? Würde sie überhaupt zurückfinden?
Die Landkarte, bei einem Kartographen in Lugdunum erstanden, der an einem Marktstand seine Waren verhökert und »die neuesten geographischen Details« garantiert hatte, war ihr keine Hilfe gewesen. Da waren Flüsse und Wasserläufe eingezeichnet, die es gar nicht gab, während andere, aus denen Ulrika getrunken hatte, nicht ausgewiesen waren. Gut möglich, dass sie bereits das Tal zwischen den zwei halbmondförmig verlaufenden Flüssen durchquert hatte, ohne es zu merken.
Vergeblich wünschte sie sich, sie hätte sich nicht heimlich aus dem Lager des Handelszuges geschlichen. Wenn sie wenigstens Timonides Bescheid gesagt hätte! Stattdessen hatte sie ihre Sachen zusammengepackt und war dann unbemerkt hinunter zum Fluss gegangen. Ob sich Sebastianus Gallus und der griechische Astrologe Sorgen um sie machten? Ahnte Sebastianus Gallus, dass sie sich auf die Suche nach ihrer Familie begeben hatte? War er mittlerweile in Colonia und traf Vorbereitungen für die Rückreise nach Rom?
Denkt er überhaupt an mich?
Dass ihre Gedanken hier, in dieser Waldeinsamkeit, zu dem Galicier abschweiften, war nicht weiter verwunderlich – seit sie das Lager verlassen hatte, träumte sie fast jede Nacht von ihm. Ein schwacher, flüchtiger Trost, der schnell zerstob, wenn sie angstvoll aus dem Schlaf fuhr, frierend und hungrig.
Sie besann sich auf ihre Mission. Ihr blieb nicht mehr viel Zeit, das Volk ihres Vaters zu warnen – zu Tausenden waren ihrer Vorstellung nach Truppen dabei, Kriegsgerät in Stellung zu bringen, brüllten Offiziere hoch zu Ross Befehle, wurden Soldaten zu Fuß und zu Pferde in Kolonnen und Kampflinien gegliedert. Bestimmt bereiteten sie schon die Wurfgeschosse vor, die, wie Ulrika wusste, zu Beginn einer Schlacht eingesetzt wurden – Wurfspieße, Pfeile und Speere.
Ulrika nahm ihre Wanderung wieder auf. Ein kühler Wind fuhr durch den Wald. Als der bereits lose Riemen an einer Sandale riss, half alles Knoten und Reparieren nichts mehr: Ulrika musste halb barfüßig weiterlaufen. Bald schmerzte ihre rechte Fußsohle so sehr, dass jeder Schritt zur Qual wurde. Die Bündel auf ihrem Rücken schienen schwerer denn je, ihre Schritte wurden zusehends schleppender. Das Hungergefühl, an das sie sich gewöhnt zu haben glaubte, schnitt ihr wie ein Messer durch den Leib. Eine Stimme aus der Vergangenheit, die von Tante Paulina, raunte: »Eine junge Dame isst niemals alles auf. Es schickt sich, einen Rest auf dem Teller zu lassen.«
Tante Paulina, die Ulrika wie eine zweite Mutter war, weil ihre richtige Mutter, Selene, mit ihren Heilbehandlungen und den vielen Patienten vollauf ausgelastet war. »Ein gut erzogenes junges römisches Mädchen«, pflegte Paulina zu sagen, »enthüllt niemals ihr Haar in der Öffentlichkeit. Es zappelt nicht herum, mischt sich nicht unaufgefordert in Gespräche ein, sitzt jeden Nachmittag sittsam an ihrem Webstuhl, ist immer höflich und freundlich und bereitet sich darauf vor, zu heiraten und Kinder zu bekommen.«
Während Ulrika über den unebenen Waldboden stolperte und harte Zweige und spitze Steine ihrem nackten Fuß zusetzten, ging ihr durch den Kopf: Ist dies die Strafe dafür, dass ich gegen die Verhaltensregeln verstoßen habe?
Der Wind wehte ihr nun direkt ins Gesicht, ließ das Laub an den Bäumen rascheln, trug aber auch den Geruch von Rauch in den Wald. Ulrika hob den Kopf. Bildete sie sich das nur ein? Nein, ihre Nase trog sie nicht. Ganz in der Nähe mussten Lagerfeuer sein! Vielleicht war da auch eine Kochstelle, auf der ein Topf mit Essen stand, Fleisch, das sich auf einem Spieß drehte. Vor allem aber – Menschen …
Neuer Mut durchströmte sie. Aufmerksam suchte sie sich einen Weg durch das Unterholz, ließ den Wald hinter sich und stand plötzlich auf einer großen grünen Wiese. Sie hielt Ausschau nach Hütten, nach Menschen – als sie im hohen Gras einen Mann liegen sah. Schlief er? Ihr fiel die unnatürliche Position auf, in der er da lag. Vorsichtig ging sie auf ihn zu, beugte sich zu ihm hinunter, berührte ihn.
Er war steif und kalt.
Ulrika schreckte zurück. Sie blickte sich erneut um.
Und dann sah sie –
Eine weitere Leiche. Und noch eine …
Sie schaute zum gegenüberliegenden Rand der Wiese, meinte, ihren Augen nicht zu trauen: Dort breitete sich eine geisterhafte Landschaft aus, auf aschedunklem Erdreich standen Baumstümpfe, von denen viele noch dünne Rauchfäden absonderten. Das Waldgebiet war in Flammen aufgegangen, das typische Zeichen siegreicher Römer, die am Ende einer Schlacht nur verbrannte Erde hinterließen.
Wie benommen ging Ulrika Schritt für Schritt über die Wiese, auf der überall verstreut weitere Leichen lagen, bis sie in ein Tal gelangte, das mit Hunderten, vielleicht sogar Tausenden Toten übersät war.
Taumelnd kämpfte sie sich voran, durch den Gestank, durch die Fliegenschwärme, vorbei an verstümmelten Leibern, einem grotesken Durcheinander von Gliedmaßen und Eingeweiden. Hervorquellende Augen stierten sie an, so als wären sie wütend, sich in einem derartigen Zustand zu präsentieren. Raben hackten auf tote Gesichter ein, flatterten, mit aufgedunsenen Zungen in den Krallen, erschreckt auf, um sich kurz darauf erneut niederzulassen und kreischend um Augen und freigelegte Hoden zu zanken, die Beute zu zerkleinern und sich das zarte Fleisch schmecken zu lassen.
Entsetzen überkam sie angesichts der Berge von Toten. Sie schluchzte auf, als sie Männern ansichtig wurde, die auf Bäume aufgespießt worden waren. Die Arme hatte man ihnen abgehackt, das viele Blut, das sie vergossen hatten, war schwarz geronnen.
Ulrika fuhr zusammen. Irgendwo stöhnte jemand. Gab es hier noch Überlebende?
Sie folgte dem schwachen Wehklagen und fand einen germanischen Krieger. Er lag schrecklich verrenkt da; die obere Hälfte seines Körpers in Rückenlage, die Beine so verdreht wie vom Rumpf weggeknickt. Seine Augen standen offen. Vor Schreck blieb Ulrika wie angewurzelt stehen, um sich dann mit angehaltenem Atem über den sterbenden Krieger zu beugen.
Sein Mund öffnete sich leicht, sein bärtiges Kinn bewegte sich. Er flüsterte etwas. Er wollte, dass sie ihn tötete, ihn von seinen Qualen erlöste.
Was verlangte er da von ihr? Von ihr, einer jungen Frau, die sich in dieses Reich des Grauens verirrt hatte? Seine Augen flehten sie an, es zu Ende zu bringen.
Ulrika zog ihren Dolch aus der Scheide, umfasste ihn mit dem Mut der Verzweiflung, hob die Waffe bis über den Kopf und stieß ihm mit einem erstickten Schrei die Klinge in die Brust. Der Glanz in seinen noch immer geöffneten Augen erlosch, er hörte auf zu atmen.
Ulrika taumelte zurück. Schluchzend und tränenblind schaute sie über das Schlachtfeld. Auf die Hunderte von Toten. Befand sich ihr Vater unter ihnen?
Wie sollte sie den Krieger, dessen Name Wulf war, finden? Alles, was sie sah, waren an Bäumen aufgespießte verwesende Leichname. Nun stieß sie auch auf die Überreste von Frauen, die vergewaltigt worden waren – von Frauen, die ihren Ehemännern und Söhnen in die Schlacht gefolgt waren – und in den Tod.
Ulrika stand regungslos, fassungslos da. Sie hatte den Bootsführer, der sie über den Rhein gebracht hatte, missverstanden. Nicht von einer bevorstehenden Schlacht hatte er gesprochen, sondern vor einer, die stattgefunden hatte. Vatinius war nicht eben erst mit seinen Legionen in Colonia eingetroffen – er war bereits in die Schlacht gezogen. Und er hatte gesiegt.
Ich bin zu spät gekommen! Ich habe sie nicht retten können.
Tränen liefen ihr über die Wangen, als sie durch die Reihen gefallener Krieger schritt. »Es tut mir leid«, flüsterte sie ihnen zu. »Es tut mir unendlich leid. Bitte verzeiht mir.«
Die Sonne versank hinter die hohen Föhren, warf düstere Schatten über das Schlachtfeld. Unheimliche Stille breitete sich mit einem Mal aus. Als Ulrika den Blick erneut über die vielen Leichen schweifen ließ, fuhr ihr ein merkwürdiges Frösteln durch Mark und Bein. Das ist der Tod, schoss es ihr durch den Kopf. Er kommt, um meine Seele zu rauben.
Plötzlich wurde die Stille von einem lauten Knacken durchbrochen. Ulrika wirbelte herum, riss die Augen auf, als sie merkte, dass sich im Wald etwas bewegte – Gestalten, die sich unter den Bäumen abzeichneten. Kalter Schweiß brach ihr aus. Die Geister der Toten!
Jetzt traten Gestalten in Weiß lautlos aus dem Wald – hochgewachsen, mit langem, wehendem Haar. Ulrika klopfte das Herz bis zum Halse. Panik erfasste sie. Was sollte sie tun? Als die Gestalten hinaus auf die Lichtung traten, stockte ihr der Atem. Das waren keine Geister. Es waren Frauen. Wortlos bewegten sie sich zwischen den Toten, beugten sich über sie, richteten sich wieder auf, deuteten zum Himmel. Was hatte das zu bedeuten?
Zwei der Gestalten hielten jetzt in ihrem Tun inne, schauten zu Ulrika und kamen dann auf sie zu – zwei eindrucksvoll anzusehende Frauen mit langen Gliedmaßen, gekleidet in lange Röcke und bunte Kittel, die hellen, blonden Haare zu Zöpfen gebändigt. Ulrika erschienen ihre Gesichter von ebenmäßiger Schönheit. Sie ahnte, wer sie waren: Schlacht- oder Schildjungfrauen, in der ihnen eigenen Sprache Walküren genannt, die im Gefolge des Göttervaters Odin die auf dem Schlachtfeld ehrenvoll Gefallenen auswählten, auf dass sie in Walhall eingingen, um dort auf ewig zu leben.
Während sich die beiden Frauen näherten, schritten sie immer wieder über gefallene Krieger, beugten sich über leblose Augen oder eine kalte Stirn, um sie zu streicheln, murmelnd, leise singend, flüsternd – was nur? –, und im Näherkommen veränderte sich ihr Erscheinungsbild. Ulrika sah, dass es sich keineswegs um junge und kräftige, sondern um alte Frauen handelte, mit zu einer Krone geschlungenen weißen Zöpfen, die greisenhaften Körper in gegürtete Tuniken und lange Röcke gehüllt, grobe Schals um die Schultern. Trotz ihres fortgeschrittenen Alters schritten sie aufrecht daher. Mochten auch die Jahre ihre Spuren an ihnen hinterlassen haben, ihr Stolz war ungebrochen.
Als die Erste der beiden bei Ulrika anlangte, war um ihren Kopf ein wunderschöner silberner Reif zu erkennen, um den sich silberne Blätter und Stängel rankten. Auf der Stirn umschlossen zwei Eichenblätter eine kleine silberne Eule, die auf einem eiförmigen fahlen Mondstein hockte, als brüte sie ihn gerade aus.
Die beiden alten Frauen musterten Ulrika eingehend. Als die zweite das Odinskreuz auf dem Busen der jungen Fremden bemerkte, deutete sie darauf und murmelte etwas, während die andere die Lippen schürzte. Milchige blaue Augen unter weißen Brauen richteten sich auf Ulrika. »Hast du dich verirrt, Tochter?«
Diesen Dialekt verstand Ulrika. »Ich bin auf der Suche nach …« Sie bekam kaum Luft.
»Du solltest dich nicht hier aufhalten«, sagte die Alte leise, »hier, zwischen all den Toten.«
»Ich suche verzweifelt …«
Die alte Frau, an der die markanten Backenknochen auffielen, das ausgeprägte Kinn sowie die schmale, wie der Schnabel eines Adlers geformte Nase, musste in ihrer Blütezeit sehr beeindruckend gewesen sein. Jetzt war das einstmals junge Fleisch welk geworden, sie wirkte ausgezehrt; dennoch gingen von ihr Kraft und Stärke aus. Sie fasste nach Ulrikas Arm. »Du bist müde. Komm mit, Tochter. Weg von all diesen Toten.«
Endlich fand Ulrika den Atem, um zu sprechen. »Ich bin auf der Suche nach Wulf, dem Sohn von Arminius. Er ist mein Vater.«
Die Alte schüttelte bedauernd den Kopf. »Wulf ist tot«, sagte sie. »Seine ganze Familie. Komm jetzt, du musst etwas essen und dich ausruhen.«
Die beiden betagten Frauen bedeuteten Ulrika, ihnen zu folgen. Als sie auf ihrem Weg über Leichen steigen mussten, schürzten sie die Röcke, und dann konnte Ulrika, die schweigend, ihr Bündel auf dem Rücken und nur einen Fuß durch eine Sandale geschützt, hinter ihnen über den blutgetränkten Boden herging, einen Blick auf pelzgefütterte Lederstiefel erhaschen.
Am Rand der Lichtung erstreckte sich verkohlte Erde. Hier hatten die Römer, als sie mit Gefangenen und erbeuteten Waffen den Rückzug antraten, Feuer gelegt. Ihre eigenen Gefallenen, mutmaßte Ulrika, hatten sie dagegen unweit von hier in Massengräbern würdig bestattet, mit Gebeten und Opfergaben für die Götter.
Die drei Frauen gingen auf dem bis auf den letzten Grashalm versengten Erdreich weiter, bis sie die Ruinen eines niedergebrannten Dorfs erreichten. Von einst festgefügten Holzbauten waren nur noch verkohlte Fundamente zu erkennen. Der beißende Rauch von noch glimmender Kohle, von qualmendem Stroh und Holz setzte Ulrikas Augen zu. Einstmals prächtige Föhren und Eichen standen jetzt schwarz und verkrüppelt, krumm und schief. Dazu dieser unerträgliche Gestank.
Die Alte mit dem Silberreif blieb vor etwas stehen, das wie eine Anhäufung von Gras und Zweigen aussah, sich aber als notdürftig errichtete Unterkunft erwies. »Da drinnen findest du zu essen und zu trinken.«
Tief geduckt betrat Ulrika die Hütte. Dunkel war es hier. Erst als sich ihre Augen darauf eingestellt hatten, machte sie einen nackten, gestampften Fußboden aus sowie Felle, lederne Wassersäcke, geflochtene Körbe mit Waldfrüchten und Gemüse.
Obwohl der Hunger sie peinigte, beherrschte sie sich und aß nur so viel wie unbedingt nötig von dem, was vermutlich die letzten Vorräte der alten Frauen waren.
»Wer seid ihr?«, fragte sie die beiden, die sich neben sie gehockt hatten.
»Wir sind Hüterinnen eines heiligen Hains, seit unzähligen Generationen schon, seit die Göttin Freia ihre rotgoldenen Tränen unter den uralten Eichen vergoss. Jetzt aber musst du schlafen. Wir dagegen werden weiter unserer Pflicht nachkommen und unsere Söhne und Männer bestatten.«
»Ja«, sagte Ulrika erschöpft und streckte sich auf einer Decke aus Bärenfell aus. »Ich bin furchtbar müde …«
Wie lange sie geschlafen hatte, wusste sie nicht, sie merkte beim Erwachen nur, dass inzwischen die Nacht hereingebrochen war. Die beiden Hüterinnen des heiligen Hains hatten Fackeln entzündet und rührten abwechselnd in einem Kochtopf herum. Als Ulrika sich mühsam aufsetzte – jeder Knochen, jeder Muskel schmerzte –, trat die Alte mit dem silbernen Reif zu ihr. »Hier«, sagte sie lächelnd, »eine Pilzsuppe. Sie wird dich stärken.«
Ulrika rieb sich verwundert die Augen, denn die beiden alten Frauen schienen wieder jung zu werden. Im flackernden Licht der Fackeln glättete sich ihre runzlige Haut, in die trüben Augen trat Glanz, ihr weißes Haar leuchtete auf wundersame Weise blond auf.
»Warum bist du hergekommen?«, begehrte die Frau mit dem Mondstein zu wissen, während sich ihre Gefährtin bislang in Schweigen gehüllt hatte.
Ulrika blinzelte. Jetzt waren die beiden wieder alt. »Ich wollte das Volk meines Vaters vor dem bevorstehenden römischen Angriff warnen. Aber ich bin zu spät gekommen.«
Weise, alte Augen waren forschend auf Ulrika gerichtet. Draußen hörte man Nachtvögel rufen und den Wind rauschen. Schließlich sagte die eine Hüterin des Hains: »Nicht deswegen bist du hergekommen. Das ist nicht der wahre Grund. Dir ist anderes bestimmt, Tochter.« Sie deutete auf das Holzkreuz um Ulrikas Hals. »Du trägst das heilige Symbol Odins. Du bist eine Dienerin der Götter, du kommst ihren Weisungen nach.«
»Warum sollten sie mich zu ihrer Dienerin bestimmen?«
»Weil dir eine besondere Gabe eigen ist, Tochter.« Sie schwieg einen Moment. »Du verfügst doch über eine besondere Gabe, nicht wahr?«
Die Wortführerin und auch ihre Gefährtin warteten gespannt ab.
Ulrika ließ die Schale mit der Suppe, die sie bereits an die Lippen gesetzt hatte, sinken. »Was für eine besondere Gabe?«
Ein knochiger Arm berührte Ulrikas Stirn. Für einen Moment erkannte Ulrika jedoch glatte Haut und starke Muskeln. »Es ist die Schicksalsgabe«, flüsterte die Alte.
Der Rauch der niederbrennenden Fackel schien intensiver zu werden. In Ulrikas Kopf drehte sich alles, bis sie schließlich fragte: »Meinst du damit meine Visionen? Aber das ist doch eine Krankheit.«
Die Greisin schüttelte den Kopf, in ihrem weißen Haar schienen Funken zu sprühen. »Eine besondere Gabe ist das, Tochter. Die Visionen erschrecken dich, aber du brauchst keine Angst vor ihnen haben. Du solltest sie bereitwillig annehmen, denn sie sind von den Göttern gesandt und deshalb heilig.«
»Woher weißt du das?«
»Du sagst, du bist die Tochter von Wulf. Und die Schicksalsgabe zu sein wird in seiner Blutlinie vererbt.«
»Aber meine Visionen ergeben keinen Sinn. Ich kann sie auch nicht beherrschen. Sie sind wie zufällige Träume, die kommen und gehen und die ich nicht deuten kann. Was also ist unter dieser Gabe zu verstehen?«
»Du wirst lernen, sie zu steuern und zu deuten. Dann wirst du deine Gabe begreifen.«
»Wozu? Ich will gar nicht wissen, was die Zukunft bringt.«
»Das ist auch nicht der Sinn deiner Visionen.«
»Was dann?« Ulrika stellte die Schale neben sich. »Was bringen mir solch sinnlose Visionen denn dann ein?«
»Sie sind nicht für dich bestimmt, Tochter. Du muss deine Gabe dazu verwenden, anderen zu helfen.«
Ulrika rieb sich die Schläfen. »Ich verstehe noch immer nicht.«
»Diese dir eigene Gabe ist dir von einer langen Ahnenreihe weitervererbt worden. Weil sie aber noch jung und deshalb unkontrolliert ist, ergeben deine Visionen keinen Sinn. Du musst lernen, sie zu zähmen, sie unter Kontrolle zu bringen. Lerne sie einzusetzen, um anderen zu helfen.«
»Was versteht man eigentlich unter einer Schicksalsgabe?«
»Das wirst du erfahren, wenn du dich in Disziplin übst.«
»Wer wird mich diese Disziplin lehren?«
Die silberne Eule an der Stirn der Alten schien im Feuerschein zu glitzern. »Sie muss aus dir selbst kommen. Es wird aber auch Lehrmeister geben. Nur wirst du sie nicht erkennen. Erst wenn du ihnen den Rücken gekehrt hast, wird dir das bewusst werden. Deshalb musst du allen, denen du auf deinem Weg begegnest, dein Herz und deine Sinne öffnen.« Die Frau schwieg eine Weile und fuhr dann fort: »Jetzt aber schlaf weiter, mein Kind. Ruh dich aus. Morgen musst du wieder dorthin zurückkehren, wohin du gehörst. Morgen beginnt für dich eine ganz neue Reise.«
Ulrika ließ sich auf das Lager sinken und schloss die Augen. Im Schutz der Hütte und geborgen unter wohlig warmen Fellen glitt sie hinüber in tiefen Schlaf.
Sie erwachte, als sich die Sonne bereits einen Weg durch die Zweige und Äste über ihr bahnte. Die Ereignisse der letzten Nacht fielen ihr wieder ein. Während sie sich in einem nahe gelegenen Bach wusch und dann mit einem einfachen Frühstück aus Pilzen und Eicheln stärkte, dachte sie über die geheimnisvollen Worte der alten Frau nach.
Kurz bevor sie aufbrach, brachte ihr die ältere Hüterin des Hains Nüsse und Beeren, einen Wasserschlauch und ein Paar Stiefel. »Nimm nicht wieder den Weg über das Schlachtfeld«, warnte sie. »Genau südlich von hier gelangst du zu einem weiteren Wasserlauf. Folge ihm, dann kommst du zu dem breiten Strom, den dein Volk den Rhein nennt. Entlang dieses Weges wird dir nichts geschehen, meine Tochter, denn die Geister dieses Flusses werden dich beschützen.«
Als zusätzliche Vorsichtsmaßnahme holte die Hüterin des Hains aus einem ledernen Beutel an ihrem Gürtel eine Handvoll flacher, wiewohl unterschiedlich geformter Steine, die jeweils mit einem Symbol verziert waren. Diese Steine warf sie auf den Boden, und während Vogelgezwitscher die Luft erfüllte, studierte sie die Symbole eine geraume Weile und mit so gerunzelter Stirn, dass sich die weißen Brauen zusammenzogen. Endlich richtete sie sich wieder auf und verkündete: »Die Runen sagen, dass du von deinem dir bestimmten Pfad abgekommen bist. Du musst zu seinem Anfang zurück und ihn dann erneut beschreiten. Diesmal wirst du ihn getreu deinem Schicksal gehen.«
Ulrika blickte auf die flachen Steine. »Wo beginnt dieser Weg?«
»An dem Ort, wo du gezeugt wurdest, denn dort hat dein Leben begonnen.«
»Aber das war in Persien, einem riesigen Land! Wie soll ich dort den Ort meiner Zeugung ausfindig machen?«
»Du musst es tun. Dort wirst du erkennen, was dir bestimmt ist.«
So verwirrt Ulrika auch war, dankte sie dennoch den beiden Alten und brach in südlicher Richtung auf.
Die Hüterinnen des Grals sahen sie ziehen, dann legte die, die sich bisher in Schweigen gehüllt hatte, ihre Hand auf den Arm der anderen und sagte: »Schwester, wie gelingt es dir nur, derart ruhig zu bleiben?«
»Das bin ich durchaus nicht, Hilda. Ich hätte sie schrecklich gern in die Arme geschlossen, aber ihretwegen musste ich mich zurückhalten.«
»Wusste Wulf, dass sie kommt?«
»Wulf weiß nicht einmal, dass es sie gibt.«
Sie beobachteten, wie Ulrika zwischen den verkohlten Bäumen verschwand. »Warum hast du sie belogen?«, forschte die bislang Schweigsame weiter. »Warum hast du ihr nicht die Wahrheit gesagt?«
Aber diese Wahrheit war ein großes Geheimnis: Arminius hatte sich zwar nach dem Tod seiner Frau Thusnelda und dem gemeinsamen einzigen Sohn nie wieder verehelicht. Aber als er in seinem Kummer um deren Verlust den heiligen Hain der Göttin der rotgoldenen Tränen aufsuchte, hatte er Trost in den Armen der schönen Priesterin gefunden. Dieser Vereinigung war Wulf entsprungen.
»Hättest du ihr nicht wenigstens sagen können, dass ihr Vater lebt?«, fragte Hilda leise.
Blassblaue Augen füllten sich mit Tränen. »Meiner Enkelin ist ein großes und eigenartiges Schicksal beschieden. Wenn sie erfahren hätte, dass ihr Vater noch lebt, wäre sie geblieben, um ihn zu suchen. Und dann könnte sie niemals den ihr bestimmten Weg gehen. Im Glauben daran, dass er tot ist, wird sie dem richtigen Pfad folgen.«
»Wird sie zu uns zurückkommen?«
»Eines Tages vielleicht. Wenn es die Götter so wollen«, sagte die ehrwürdige Seherin vom Stamm der Cherusker, die Ulrika hieß und nach der ihre Enkelin benannt war.