14
Es dauerte eine Weile, bis der entgeisterte Timonides wieder aufgestanden war. So schnell er konnte, eilte er auf das kleine Fenster zu, stieß die Fensterläden auf und streckte seinen Kopf gerade noch rechtzeitig ins Freie, um auf die Straße unter ihm zu kotzen. Die kalte Nachtluft tat ihm, der in kalten Schweiß ausgebrochen war, gut.
Der Kopf von Bessas …
Beim Jupiter, was war bloß in Nestor gefahren?
In seinem Kopf drehte sich alles, er schloss die Augen, versuchte nachzudenken. Während ihm der Schweiß übers Gesicht rann und seine Nase tropfte und ihn eine Welle der Übelkeit nach der anderen überkam, erinnerte er sich, dass er am frühen Abend in der Gaststube gesagt hatte: »Mein Meister sollte dem Kerl einfach den Schädel abreißen und dann die Information aus ihm rauskratzen!«
Und nun stand Nestor vor ihm mit seiner Neigung, Bemerkungen wortwörtlich zu nehmen und anderen gern eine Freude zu bereiten. Vor allem Ulrika.
»Bei den Sternen!«, entrang es sich Timonides, als er abermals spürte, wie der Lauch in seinem Bauch rumorte und wieder hochkam. Er übergab sich noch zweimal, ehe er den Kopf einzog, weil er befürchtete, man könnte seinen Aufschrei gehört haben. Aber die Lehmziegel der Gasthauswände waren solide. Wären die anderen erwacht, hätten sie sich bereits bemerkbar gemacht. Da jedoch alles still blieb, stand Timonides ganz allein vor einem monströsen Problem.
Schrecklich genug, dass Nestor einen Menschen getötet hatte. Aber Bessas! Einen Mann, der, wie Sebastianus berichtet hatte, in dem Ruf stand, den Leuten hier Glück zu bringen.
Und die Leute in dieser Gegend sahen es bestimmt nicht gern, wenn solch einem heiligen Mann der Kopf abgeschlagen wurde.
Als Timonides die ungeheure Tragweite von Nestors Vergehen begriff, war ihm, als würden ihm alle Muskeln den Dienst versagen und er die Besinnung verlieren. Aber er musste sich zusammenreißen, einen kühlen Kopf bewahren. Was also war zu tun?
Sie werden meinen Sohn abholen …
Bestimmt hatte Nestor, der noch immer grinsend vor ihm stand und sich seiner Untat gar nicht bewusst war, weder Vorsorge getroffen, bei seinem grausigen Tun unbeobachtet zu bleiben, noch seine Spuren verwischt. Gut möglich, dass er sein »Geschenk« sogar einem Vorbeikommenden gezeigt hatte! Zeter und Geschrei konnten jeden Moment losbrechen, die Nachtwache gleich die Straße entlangmarschiert kommen, um Nestor abzuführen und hinrichten zu lassen.
Timonides versagten die Beine, er sackte zu Boden. Man wird ihn ans Kreuz schlagen, meinen Sohn …
Nestor sah seinen Vater zusammenbrechen, was aber seiner Freude über das Geschenk, das er für die schöne junge Frau mit dem sonnenhellen Haar mitgebracht hatte, keinen Abbruch tat.
Er liebte Rika. Alles würde er tun für sie, die so einfühlsam auf ihn einredete, ihn beruhigte, ihm sagte, alles würde gut werden. Er liebte ihre Stimme. Sie streichelte seine Seele. Sie war für ihn wie die zärtliche Berührung einer Mutter.
Er musste kichern, als er auf den Sack sah. In seiner geistigen Beschränktheit hatte er so viel verstanden, dass Papa und Onkel Sebastianus einen Teich suchten, zu dem sie Rika bringen wollten. Nur schienen sich Papa und Onkel Sebastianus schwerzutun, diesen Teich zu finden. Allerdings gab es da einen Mann, der das wusste, es aber nicht verriet. Papa hatte gesagt, diese Information sollte man ihm aus dem Gehirn kratzen. Onkel Sebastianus zufolge lebte jener Mann in einer Hütte in der Nähe der großen Daphne-Statue, an die sich Nestor sehr wohl erinnerte, weil sie so komisch aussah: eine Frau, der Äste aus dem Haar wuchsen. Papa sollte den Teich aus dem Hirn des Mannes rauskratzen – und hier war es!
Ein Geschenk für Rika, das Mädchen mit dem sonnenhellen Haar.
Timonides hob seinen sorgenschweren Kopf, sah auf zu seinem Sohn, der noch immer grinsend an der Tür stand, und hatte das Gefühl, sein Herz würde in tausend Stücke zerspringen.
Urplötzlich kam sich der Astrologe, der die Botschaften der Sterne so präzise zu deuten verstand, dass er einem Freund sagen konnte, ob er sich für Bohnen oder Linsen zum Abendessen entscheiden sollte, dieser Mann, der, wenn er sein Gesicht zum dunklen Nachthimmel erhob, Venus ausmachen und genau sagen konnte, wo sie in einer Stunde oder einem Monat stehen würde, dieser Mann, der mit geschlossenen Augen auf den so weit entfernten Mars deuten konnte, während andere den Himmel absuchten und fragten: »Wo ist er?« – dieser Mann kam sich urplötzlich dumm und ungeschickt und völlig hilflos vor.
Bislang auf Präzision und Überprüfung bedacht, hatte sich sein Leben unvermittelt in die Myriaden von Fasern zerfranst, aus denen es zusammengefügt war.
Das ist sie, dachte er ergeben. Das ist die Katastrophe, die sich abgezeichnet hatte. Und alles ist meine Schuld. Ich habe sie heraufbeschworen. Ich habe die Sterne und meine heilige Berufung zu meinem Vorteil missbraucht. Ich wollte das Mädchen mit ihren heilenden Fähigkeiten in meiner Nähe wissen, und ich habe dadurch Unheil über mich und meinen Herrn gebracht.
Es bot sich nur eine Konsequenz: Timonides der Astrologe musste erneut betrügen.
Das ist die Strafe dafür, sagte er sich, dass ich mit dieser Lügerei überhaupt angefangen habe. Jetzt war er dazu verdammt, weiterhin zu lügen. Denn so lange er lebte, konnte er Sebastianus unmöglich sagen, was sich heute Nacht zugetragen hatte.
Er stemmte seinen massigen Körper vom Boden hoch, suchte in der kalten Nachtluft nach einem Plan. Sie mussten sofort die Stadt verlassen und längst außer Reichweite sein, wenn der Magistrat aufdeckte, wer der kaltblütige Mörder von Bessas dem heiligen Einsiedler war. Es dürfte ein Leichtes sein, überlegte Timonides, Sebastianus zu überzeugen, dass ihm ein rasches Vorankommen dienlich ist. Er hält sich immer an das, was die Sterne sagen …
Als er an Ulrika dachte, seufzte er tief auf. Sie durfte auf keinen Fall mitkommen, weil Nestor ihr mit Sicherheit weiterhin Geschenke machen wollte und sich noch wer weiß was einfallen lassen würde, um ihr eine Freude zu bereiten.
Ich werde ihr sagen, dass ich für sie die Sterne befragt und durch sie erfahren habe, dass sich ihre Mutter in Jerusalem aufhält.
Wenn sich Sebastianus nach Bessas erkundigt, werde ich ihm sagen, dass man dem Einsiedler nicht trauen kann.
Er wies Nestor an, zu Bett zu gehen – gewiss doch, versicherte er ihm noch, sein Geschenk sei schön und Papa freue sich darüber –, und holte dann aus seinem Reisebündel den Kasten mit den Aufzeichnungen und Instrumenten. Das Gewicht der ganzen Welt schien auf ihm zu lasten. Alles in ihm sträubte sich dagegen, schon wieder zu lügen, sich erneut der Verhöhnung und des Frevels schuldig zu machen, die Götter zu ergrimmen und sich ihren Zorn zuzuziehen. Aber es blieb ihm nichts anderes übrig. Er musste seinen Sohn retten, notfalls auf Kosten seiner eigenen unsterblichen Seele.
Als er Nestor als Säugling in den Armen gehalten hatte, hatte Timonides etwas ganz Wesentliches erkannt: dass es nicht die Eltern waren, die das Kind erschufen, sondern dass das Kind die Eltern erschuf. Und während andere in Nestor einen Tölpel sahen, sah Timonides, der an die Seelenwanderung glaubte, hinter die simplen Gesichtszüge seines Sohnes und dachte an die unstete Seele, die dahinter lauern mochte. Vielleicht besaß Nestor ja die wiedergeborene Seele des größten Philosophen, den es je gegeben hatte.
Ob teurer Sohn oder großer Philosoph – dass man ihn hinrichtete, konnte Timonides auf keinen Fall zulassen.
Er zündete eine Lampe an und machte sich daran, das Horoskop seines Meisters zu erstellen, in der Hoffnung, etwas Wahres mit Unwahrem vermischen zu können. Auf das übliche Ritual, vorher zu baden und zu beten und frische Kleider anzulegen, verzichtete er, würde ihn doch die Lüge nur aufs Neue besudeln.
Als er seine Berechnungen durchging, Zahlen und Grade und Winkel niederschrieb, Sonnenzeichen und Mondhäuser notierte, und während Antiochia schlief und die Sterne über ihm ihrer Bahn folgten, ohne dem Sterndeuter im Gasthaus zum blauen Pfau, der über seinen Gleichungen und Zahlenreihen schwitzte, Aufmerksamkeit zu schenken, stieß Timonides unerwartet auf einen neuen Hinweis.
Er erstarrte. Fluchte leise. Wischte sich über das schweißnasse Gesicht. Griff zur Feder und rechnete nochmals nach.
Völlig entgeistert lehnte er sich schließlich zurück. Kein Zweifel: Die Aspekte der Progression und der transitierenden Planeten auf dem Geburtsplaneten von Sebastianus wiesen eindeutig auf eine neue Richtung in seinem Leben hin! Durch die präzise Anordnung der Himmelskörper war die neue Botschaft der Götter unmöglich anders zu deuten: Sebastianus sollte von Antiochia aus einen südlichen Weg einschlagen – er und Ulrika sollten demnach gemeinsam nach Süden ziehen.
Timonides schloss die Augen und schluckte. Unheil über Unheil! Sein Schicksal war besiegelt, zumal er jetzt nicht nur ein Horoskop verfälschen, sondern obendrein die unmissverständliche göttliche Botschaft in den Sternen missachten würde.
Schweren Herzens, aber in dem Bewusstsein, dass er keine andere Wahl hatte und die Zeit drängte, eilte Timonides über den Flur und pochte an die Tür seines Herrn.
Ulrika schlief nicht, als es an ihrer Tür klopfte. Von einem Schrei geweckt, hatte sie in ihrem dunklen Zimmer gelegen und überlegt, ob da gerade tatsächlich jemand geschrien haben könnte oder ob sie das vielleicht nur geträumt hätte. Aber gleich darauf hatte sie gedämpfte Stimmen gehört, gefolgt von lähmender Stille, dann Schritte auf dem Flur, ein Hämmern an einer Tür und wiederum Stimmen, diesmal jedoch laute und hastige.
Sie war drauf und dran gewesen nachzusehen, was los war, als jemand an ihre Tür klopfte. Sie öffnete. Vor ihr stand Sebastianus, in einen hastig übergeworfenen Umhang gehüllt.
Er starrte Ulrika an, worauf sie sich bewusst wurde, dass sie nichts weiter anhatte als ein knielanges dünnes Nachthemd und dass ihr Haar offen auf den Busen fiel.
Sebastianus schluckte. »Ulrika«, begann er, »Timonides sagt, dass deine Mutter sich in Jerusalem aufhält.«
»Meine Mutter! Was …«
Der Astrologe kam hinzu, schwenkte einen Papyrus. »Ja doch, daran besteht kein Zweifel. Deine Mutter ist in Jerusalem, bei Freunden.«
Sie blinzelte, sah von Sebastianus zu Timonides. »Wieso liest du um diese Zeit aus den Sternen? Und warum sollte …«
»Ich bin aus einem Traum hochgeschreckt«, sprudelte der Astrologe hervor, »der mir bedeutete, aus dem Fenster zu schauen. Dort sah ich einen Stern über den Himmel ziehen. Für mich war das die Aufforderung, das Horoskop meines Meisters zu erstellen – und prompt ersah ich daraus eine neue Botschaft von den Göttern. Mein Meister soll Antiochia unverzüglich verlassen und Richtung Babylon ziehen, und du sollst nach Jerusalem aufbrechen.«
»Wir haben eine Zeitlang in Jerusalem gelebt«, sagte Ulrika. »Im Haus einer gewissen Elizabeth …«
»Gewiss doch, ja, ja.« Timonides eilte schon wieder davon, nicht ohne zu wiederholen: »Du musst unverzüglich die Reise beginnen, um deine Mutter noch dort anzutreffen. Im Haus von Elizabeth …«
Seine Stimme verhallte, und Ulrika war mit Sebastianus allein. Unausgesprochenes auf den Lippen, trafen sich im Halbdunkel ihre Blicke.
»Meine Mutter wird mir helfen«, hörte sich Ulrika sagen. Sebastianus’ nackter Oberkörper, der unter dem hastig übergeworfenen Umhang zu erkennen war, raubte ihr den Atem. Sie versuchte sich auf die Nachricht des Astrologen zu konzentrieren. »Sie wird mir sagen, wo ich Shalamandar und die Kristallenen Teiche finde.«
»Ich werde dich nach Jerusalem bringen …«, stieß Sebastianus hervor.
Ulrika legte ihm die Fingerspitzen auf die Lippen. »Nein, Sebastianus, du wirst nach Osten weiterziehen. Gemäß der Weisung der Sterne musst du bei Tagesanbruch aufbrechen.«
Schweigen trat ein, Ulrika zog ihre Finger zurück, die vor Verlangen geradezu vibrierten. Sehnsucht glänzte in ihren Augen auf. Aber sie durfte ihr jetzt nicht nachgeben, durfte Sebastianus nicht bitten, von seinem Weg abzuweichen und sie nach Jerusalem zu begleiten.
Sebastianus fand als Erster die Stimme wieder. »Ich werde veranlassen, dass Syphax und ein Trupp Männer dich begleiten. Zu deinem Schutz.«
»Danke.« Einmal mehr kam ihr dieser einflussreiche Mann zu Hilfe. Ulrika kannte Syphax, einen Numidier mit steinernen Gesichtszügen von der nördlichen Küste Afrikas, der sich als Leibwächter und Söldner verdingte. Seit sechs Jahren begleitete er Sebastianus’ Karawanen, und sie wusste, dass sie ihm vertrauen konnte.
»Er wird dafür sorgen«, fuhr Sebastianus fort, »dass du heil zu deiner Mutter in Jerusalem gelangst.« Er sah sie nochmals an, und dann, aus einem Impuls heraus, fasste er sie um die Schultern und zog sie an sich. »Ulrika«, sagte er heiser, »wenn es die Götter so wollen und alles gut verläuft, werde ich Babylon in sechs Wochen erreichen. Ich habe nicht vor, noch vor dem Fest der Sommersonnenwende in den Fernen Osten aufzubrechen, denn der Tag nach dem Fest ist der, der für eine lange Reise das meiste Glück verheißt. Sobald du deine Mutter gefunden hast und weißt, wo Shalamandar ist, komm zu mir nach Babylon. Ich werde dort bis zum letztmöglichen Augenblick auf dich warten.«
Die Kehle wurde ihr eng. Sie hatte nicht gewagt zu hoffen, dass er diese Bitte an sie richten würde.
»Ja«, flüsterte sie. »Ich werde zu dir nach Babylon kommen.« Sie berührte Sebastianus’ Kinn, und als sie die weichen, bronzefarbenen Stoppeln seines Bartes spürte, sah sie –
Sebastianus runzelte die Stirn. »Was ist?«
Ulrika öffnete den Mund, brachte aber keinen Ton heraus.
Er wartete ab. Hatte sie etwa eine Vision? Dergleichen hatte er bei ihr bereits beobachtet, hatte gesehen, wie dann ihre Nasenflügel bebten, ihre Pupillen sich weiteten, die Farbe aus ihrem Gesicht wich, sich die Haut an ihren Schläfen spannte.
Über dem schlafenden Antiochia schob sich eine Wolke vor den Mond und die hellen Sterne, tauchte die Räume des Gasthofs in Dunkelheit. Umso deutlicher merkten Sebastianus und Ulrika, wie sich ihrer beider Sinne schärften. Sebastianus, der noch immer Ulrikas Schultern umfasst hielt, nahm ihre Haut wahr. Weich wie Schwanenflaum und Nebel fühlte sie sich an. Ulrika hingegen roch den Regen, der noch an ihm haftete und sie an grüne Wälder und Wiesen denken ließ. Die Zeit schien langsamer zu werden.
Und dann segelte die Wolke gleich einer beeindruckenden Trireme über den Ozean der Nacht, und das Licht der Sterne erhellte wieder den kleinen Gastraum.
»Unter deinen Leuten ist ein Verräter«, sagte sie schließlich, »ein Mann, der dir nahesteht, wird dich hintergehen.«
»Wer? Wer ist es?«
»Das weiß ich nicht. Ich kann sein Gesicht nicht erkennen.«
In Wahrheit war da gar kein Gesicht, es war auch keine Vision, die sie eben erlebt hatte, sondern ein Gefühl. Als sie mit den Fingerspitzen sein Gesicht berührt hatte, überkam sie eine Welle von Enttäuschung und Ernüchterung, wie sie schlimmer nicht hätte sein können. Gemeinster, äußerster Verrat. Wie ein heftiger Schlag, der Sebastianus Gallus schwer zusetzen würde.
»Einer von Primos Rekruten vielleicht?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ein Freund.«
»Ich vertraue allen, die mir nahestehen, aber ich vertraue auch dir, Ulrika, dir und deinen Eingebungen. Deshalb werde ich vorsichtig und aufmerksam sein.« Er ließ ihre Schultern los, trat einen Schritt zurück. »Wir verabschieden uns morgen früh, wenn wir in der Karawanserei aufbrechen.«
Ulrika sah ihn über den Flur zurück in sein Zimmer gehen. Sie schloss ihre Tür, lehnte sich mit dem Rücken daran und flehte zu den Göttern: »Bitte beschützt diesen Mann. Wacht über ihn. Bringt ihn heil zu mir zurück.«
Sebastianus brauchte gar nicht erst anzuklopfen. Ulrika wusste, dass er es war, der auf der anderen Seite ihrer Tür stand. Sie öffnete ihm, und da war er, ohne seinen Umhang, Brust und Arme entblößt, ein Ausdruck von Begehren und Unsicherheit auf seinem Gesicht. Er streckte die Hand aus, und Ulrika sah die Muschel von dem alten Altar in Galicien, die er immer um den Hals getragen hatte. »Für dich«, sagte er, »sie birgt große Kraft.«
Sie nahm das Geschenk entgegen und versprach mit leiser Stimme, sie stets zu tragen.
»Ich möchte dich spüren«, raunte er.
Sie schaute ihm in die Augen, die sie zu umfassen, sie in seine Gedanken und in sein Herz zu ziehen schienen. »Ja«, erwiderte sie.
Gleichzeitig streckten sie die Arme aus, umfassten sich, schmiegten sich aneinander. Ihre Hände berührten die Haut des anderen, tasteten sich vor, erkundeten die Landkarte der Sehnsucht. Ulrika spürte seine Lippen auf den ihren, verlor sich in der sanften Glut seines Kusses. Dann kostete sie den Geschmack seiner Haut, erforschte den Puls an seiner Halsbeuge, während seine Hände über ihren Rücken glitten, sich um ihr Gesäß legten, sanft, forschend, unaufhaltsam. Zwischen Küssen waren atemlos gehauchte Worte zu hören: »Ich möchte …« »Ich will …« »Du bist …« »Wir sind …«
Ulrika presste sich an Sebastianus. Als sie seine Männlichkeit spürte, loderte Begehren in ihr auf, ihr heißer feuchter Körper drängte sich an den des Galiciers und sie spürte, wie Sebastianus sich danach sehnte, in sie einzudringen, seinen Körper und seine Lebenskraft mit ihrer zu verschmelzen, ein Teil von ihr zu werden, sie zu einem Teil von sich zu machen.
Unvermittelt hörten sie aus dem Nebenzimmer Gepolter und schwere Schritte und die mürrische Stimme von Timonides, der offenbar seine Sachen packte und laut vernehmbar zum Aufbruch drängte.
Widerstrebend gab Sebastianus Ulrika frei. »Es sieht ganz danach aus, als sei uns nicht vergönnt, auch nur einen Moment lang allein zu sein«, sagte er mit Blick auf die Wand, die angesichts der Betriebsamkeit des Astrologen schier zu erbeben schien. »Wenn Timonides sagt, die Sterne treiben uns zur Eile an, dann ist das auch so gemeint.«
Warum?, wollte sie fragen. Es schmerzte sie, dass er von ihr abgelassen hatte, dass kalte Luft zwischen sie fuhr und ihre Arme ins Leere griffen. Ihre Lippen brannten, ihre Haut kribbelte. Sie wollte nicht, dass es aufhörte.
»Ulrika«, sagte Sebastianus und zog sie ein letztes Mal an sich. »Ich möchte bei dir bleiben, mit dir zusammen sein. Aber Timonides hat recht. Ich muss aufbrechen. Dich lieben und von dir geliebt werden – ein solches Privileg, dieser Luxus steht mir nicht zu, nicht jetzt, da ich unter Cäsars Befehl stehe.«
Er küsste sie auf die Stirn.
»Ulrika, Ulrika.« Er konnte ihren Namen nicht oft genug wiederholen. »Es heißt, dass Eros, der Gott der Liebe und des Begehrens, ständig Menschen spaltet und wieder zusammensetzt. Und das ist wirklich so! Mein früheres Ich ist völlig zertrümmert und dann neu geformt worden. Der Mensch, der ich bis jetzt war, so zurückhaltend in seinen Gefühlen und mit so viel Kontrolle über sein Herz, der existiert nicht mehr. Warum Eros mich für diese besondere Freude ausgewählt hat, weiß ich nicht, aber ich bin sicher, dass mir das nicht zusteht.
Ich möchte dich nicht verlassen, Ulrika. Aber ich muss tun, was die Sterne mir vorschreiben, denn das ist der Wille der Götter. Kein Mensch kann sich seinen Sternen und damit seinem Schicksal widersetzen. Woran ich leidenschaftlich und aus ganzem Herzen glaube, ist, dass im Universum Ordnung herrscht. Und sollten die Götter es für richtig erachten, dass wir uns in Babylon nicht wiedersehen, dann bete ich dafür, dass du findest, was du suchst, auch die Antworten auf die Geheimnisse in dir selbst. Und wenn ich dann aus China zurückkomme, was ich bestimmt tue, schon weil es so in den Sternen steht, werde ich dich suchen. Und ich werde dich finden, Ulrika.«