8

»Tretet beiseite, im Namen Roms!«

Der Fremde, der da Zutritt begehrte, war Ulrika unbekannt. »Wer seid ihr?«

»Kundschafter des Kaisers Claudius. Du versteckst jemanden da drin.«

»Ich verstecke niemanden. Wir sind eine Handelskarawane und bringen Getreide in die nördlichen Provinzen. Sprich mit Sebastianus Gallus, er ist der Anführer dieser Karawane. Du kannst ihn nicht verfehlen, er ist hochgewachsen, hat bronzefarbenes Haar und eine tiefe, gebieterische Stimme. Er wird dir sofort auffallen. Verheiratet ist er nicht, eigentlich unverständlich, denn er sieht sehr gut aus, sogar …«

Ulrika schlug die Augen auf. Sie stellte fest, dass sie in ihrem Feldbett lag und um sie herum Dunkelheit herrschte. Wo war sie? Mit wem hatte sie eben gesprochen?

Wieder war es ein Traum gewesen …

Mit angehaltenem Atem lauschte sie und hörte durch die Plane ihres kleinen Zelts Pferde durchs Lager galoppieren. Das Gebrüll von Männern, Aufschreie von Frauen.

Ulrika runzelte die Stirn. Der Beginn der Morgendämmerung war noch kaum auszumachen. Bis zum Aufbruch dauerte es bestimmt noch zwei Stunden.

Sie wickelte sich ihren Schal um den Hals, und ohne das lange Haar zu bändigen, trat sie ins Freie, spähte durch wabernden Nebel und Rauch. Furchterregende Gestalten marschierten durch das Lager, schwangen Schwerter und brüllten Befehle. Römische Legionäre, die die hier Rastenden aus dem Schlaf rissen, sie vom Frühstück abhielten, ihre Gebete unterbrachen.

Im fahlen Licht des jungen Morgens, der so turbulent begann, gewahrte sie Timonides, der auf sie zukam. »Was ist denn los?«, fragte der Astrologe mit vollem Mund. In der Hand hielt er ein fettes Lammkotelett, von dem er bereits einen Brocken herausgerissen hatte. Seine Tunika war vorn mit Honig bekleckert; der Grieche, dem das Essen wieder schmeckte, hatte demnach auch schon den Weizenfladen zugesprochen.

»Keine Ahnung«, flüsterte Ulrika.

Naserümpfend beobachtete Timonides, wie die Legionäre in ihrem roten Umhängen das überfüllte Lager durchkämmten, in Zelte und Planwagen eindrangen, Heuballen umwarfen, mit ihren Schwertern in Bottichen herumstocherten, in Warenbündel stießen. »Sie scheinen etwas zu suchen«, folgerte er und biss mit den ihm verbliebenen Zähnen in das würzige Fleisch.

Oder jemanden, überlegte Ulrika.

»Wo ist dein Meister?«, fragte sie, während die Legionäre rücksichtslos Leute aus Zelten schleiften, ihnen Fackeln dicht vors Gesicht hielten, um sie zu mustern, ehe sie sie wieder wegstießen.

»Sebastianus wird bald hier sein. Geh wieder ins Zelt, Mädchen. Mit deinem hellen Haar und diesem Symbol, das du da um den Hals hängen hast …«

Ulrika griff sich an den Busen, an dem sie das germanische Kreuz Odins trug, und schaute dann über den Rhein – einen breiten, flachen, silbernen Strom, der ihr im Dunst des frühen Tages unwirklich erschien. Die römische Flotte, große Schiffe, die unter Segeln oder dem rhythmischen Schlag von Rudern dahinglitten, patrouillierten das Gewässer und gemahnten ständig an Roms mächtige kaiserliche Präsenz in diesem nördlichen Land. Jenseits des Flusses und bis zum Horizont erstreckten sich geheimnisumwitterte tiefgrüne Wälder.

Ulrika wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Lager und den Eindringlingen zu. Der Handelszug von Sebastianus Gallus hatte zusammen mit mehreren kleineren Karawanen und Gruppen von Händlern und Kaufleuten in einer Garnison, der sogenannten Festung Bonna, haltgemacht. Es brauchte nur noch eine Tagesreise gen Norden, bis sie Colonia erreichten, den Geburtsort von Kaiserin Agrippina und die Gegend, in der die Aufstände wieder aufgeflammt waren. Seit sie das in Gallien gelegene Lugdunum verlassen hatten und in östlicher Richtung der Straße um die Ausläufer eines Gebirges herum gefolgt waren, hatten sich in der Karawane Nervosität und Verunsicherung breitgemacht. Lugdunum war ein bedeutender Handelsplatz der römischen Provinzen, eine Stadt mit marmornen Türmen, Festungswällen und Straßen, die sich wie die Speichen eines Rades in alle Richtungen erstreckten. Viel bereiste Straßen waren das, auf denen man auch von Kämpfen im Osten erfuhr, Gerüchte und höchst unterschiedliche Berichte aufschnappte, ohne dass jemand genau sagen konnte, was in Germania Inferior eigentlich los war – oder bevorstand oder sich bereits ereignet hatte.

Nach Tagen zunehmend düsterer Vorahnungen hatten sie fünfzehn Meilen von Ulrikas Ziel entfernt angehalten. Wo befanden sich Gaius Vatinius und seine Legionen? Es hieß, er führe seine Truppen über die Alpen, eine weit gefährlichere Route als die des Handelszuges, dafür wesentlich kürzer – viele tausend Mann wälzten sich da wie eine tödliche Flutwelle gen Norden, drangen mit Pferden und Waffen und Kriegsgerät in die unerforschten Wälder ein, in denen Ulrikas Vorfahren siedelten. Wie weit waren diese Legionen noch entfernt? Wie viel Zeit blieb Ulrika, ihren Vater ausfindig zu machen und ihn zu warnen?

Und wo, fragte sie sich, während sie die Garnisonssoldaten im Auge behielt, die sich in ihren Rüstungen Zutritt in die Unterkünfte verschafften und mit ihren grobgenagelten dicken Sandalen herumtrampelten, wo blieb Sebastianus? Sein Zelt lag dunkel und wie üblich verwaist da. Einmal mehr hatte er nicht in seinem eigenen Bett geschlafen.

Wohin geht er Nacht für Nacht?

Auf der belebten Handelsroute von Rom nach Massilia und von Lugdunum an den Rhein hatte Sebastianus Gallus mit Kaufleuten, Händlern und Reisenden Gespräche geführt, hatte sie an sein Feuer gebeten und zum Essen eingeladen. Bei jedem Halt wurde Handel getrieben, gute Geschäfte abgeschlossen. Dann wurde der Abakus herausgeholt, Münzen wurden gezählt, Körbe oder Bündel mit Waren wechselten den Besitzer, alles unter Gallus’ wachsamem Auge. War ein Geschäftsabschluss getätigt, nahm er ein Bad, zog saubere Kleidung an und verließ, meist mit Geschenken versehen, das Lager, um ins Dorf oder in die Stadt zu gehen und erst am nächsten Morgen zurückzukommen.

Die Frage, was er trieb, wenn er sich vom Lager entfernte, war nur eine von vielen, über die sich Ulrika den Kopf zerbrach. Nur über eins war sie sich im Klaren: dass ihm die Sterne sehr viel bedeuteten.

Wie sie in Erfahrung gebracht hatte, war Sebastianus Gallus nicht im herkömmlichen Sinn religiös. Wenn sie ein Lager aufschlugen, errichtete er nicht jedes Mal einen kleinen Altar, und Opfer in Form von Nahrung und Wein für die Götter brachte er auch nicht dar. Stattdessen befragte er mit Hilfe von Timonides die Sterne.

Auch der goldene Armreif an seinem Handgelenk weckte Ulrikas Neugier. Ein erlesenes Schmuckstück war das, kunstvoll verziert mit einem verschlungenen Muster. Auffallend daran war der eher schlichte Stein in der Mitte. Er war weder besonders schön, noch schien er irgendwie wertvoll zu sein – ein Stein, wie man ihn auf jeder Straße fand. Was er wohl zu bedeuten hatte?

Obwohl die Legionäre jetzt wieder näherkamen und Timonides sichtlich nervös wurde, dachte Ulrika an die Menschen, denen sie unterwegs begegnet waren. Freie Germanen waren das gewesen, keine Sklaven. Sie bewirtschafteten ihre eigenen Bauernhöfe oder übten ein Handwerk aus und hatten dem Handelszug ihre Erzeugnisse zum Kauf angeboten. Es war beeindruckend gewesen, diese Menschen in ihrer angestammten Umgebung zu erleben, in ihren Wäldern, inmitten sanft gewellter Hügel und dunstverschleierter grüner Täler. Frauen in langen Röcken und Blusen, das Haar zu Zöpfen geflochten; Männer in Beinkleidern und Tunika, mit langem Haar und fast ausnahmslos mit Bart, was Ulrika daran erinnerte, dass »barbarisch« ja eigentlich »bärtig« bedeutete und man erst in jüngster Zeit unter »barbarisch« einen ungehobelten, unzivilisierten Menschen verstand.

Ein Zittern überlief sie, wenn sie daran dachte, wie nah sie womöglich schon dem Landstrich war, in dem sich ihr Vater aufhielt. Vor fünfundvierzig Jahren waren nicht weit von hier drei Legionen unter dem Kommando des Quinctilius Varus von Arminius, ihrem Großvater, besiegt worden. Was wohl ihre Mutter davon hielt, dass sie sich so ganz ohne Begleitung in das Land ihrer Väter aufgemacht hatte? Dass sie ihr nicht Lebewohl gesagt hatte, bekümmerte Ulrika, ebenso wie der Gedanke, dass die Krankheit, unter der sie seit ihrer Kindheit litt, wieder machtvoll ausgebrochen war. Würde sie wohlmöglich für immer von Visionen heimgesucht, die zu wirklichkeitsnah, zu lebendig waren, um als Träume abgetan zu werden?

Als zwei Legionäre sich ihrem Zelt näherten, blickte sie ihnen wachsam entgegen.

Sie wusste um das politische Klima in dieser Gegend. Unter der kaiserlichen pax romana hatten zahlreiche germanische Stämme einträchtig mit Rom zusammengearbeitet und sich offenbar mit kaiserlichen Festungen und der Anwesenheit römischer Garnisonen auf ihrem angestammten Territorium abgefunden. Derart friedlich war es in dieser Region zugegangen, dass Claudius es als zweckmäßiger erachtet hatte, überflüssig gewordene Truppen vom Rhein abzuziehen und ihnen eine neue Aufgabe zuzuteilen: in Britannien einzufallen. Jetzt aber wiegelte ein unbekannter germanischer Krieger die Stämme auf und führte sie zusammen, um Rom die Stirn zu bieten.

Ulrika war sich sicher, dass es sich bei dem Aufrührer um ihren Vater handelte.

Sie zog den Schal fest um ihre Schultern und stellte sich in kerzengerader Haltung den Fremden. Sie würde sie nicht ihr Zelt durchsuchen lassen. Sie hatte zwar nichts zu verbergen, aber hier ging es ums Prinzip.

 

Auf der gegenüberliegenden Seite des Lagers, am Rande der Lichtung, wo der westliche Wald begann, kratzte sich ein ledergesichtiger Zenturio am Gemächt und stierte müden Blicks auf das Schauspiel, das sich vor seinen Augen abspielte. Fünfundzwanzig Jahre lang diente er schon bei Kriegszügen an allen Grenzen des Reiches. Jetzt sehnte sich der Soldat danach, sich mit seiner dicken Frau auf einen Weinberg in Süditalien zurückzuziehen, um fortan, wie er hoffte, ein ruhiges Leben zu führen und seinen Enkeln Geschichten vom Krieg zu erzählen. Diese Sucherei nach rebellischen Barbaren – in einem Handelszug! – führte doch zu nichts. Der ganze militärische Vorstoß nördlich der Alpen war seiner Meinung nach unsinnig. Germanien war zu weiträumig und seine Bewohner zu stolz, um sich jemals Rom zu unterwerfen. Aber der Zenturio stellte keine Befehle in Frage. Er tat, was von ihm verlangt wurde, und strich dafür den ihm monatlich zustehenden Sold ein.

Nun fuhr er hoch. Sein geschultes Auge verriet ihm, dass ein Problem aufgetaucht war.

»Was ist hier los?!«, vernahm er eine donnernde Stimme. Sebastianus Gallus preschte im Galopp aus dem Wald, sprang von seiner Stute und herrschte den Zenturio an: »Was haben diese Soldaten hier zu schaffen?«

»Wir sind auf der Suche nach Aufständischen, Herr«, sagte der Offizier, der in dem jungen Reiter mit dem bronzefarbenen Haar, der erlesenen weißen Tunika und dem kleidsamen blauen Umhang einen Mann von Rang und Bedeutung erkannte.

Mit finsterem Blick schaute Sebastianus auf das Durcheinander. Es dauerte bestimmt eine Stunde, bis wieder Ordnung hergestellt wäre, und bis zum Aufbruch eine weitere. Aber die Karawane musste unbedingt vor Einbruch der Dunkelheit Colonia erreichen. »Auf wessen Befehl?«, polterte er. »Und warum wurde ich nicht informiert?«

»Befehl von General Vatinius, Herr«, gab der Zenturio lustlos Auskunft und dachte an den Weinberg und warme Tage unter Italiens Sonne. »Er ordnete überraschend eine Suche an, um der Flüchtigen schneller habhaft zu werden. Ohne Vorwarnung haben sie auch keine Chance zu entwischen.«

»Wir verstecken hier niemanden«, knurrte Sebastianus und ließ den Zenturio stehen.

Dass er schlecht gelaunt war, lag nur zum Teil an diesem unerwarteten Zwischenfall im Lager. Er hatte die Nacht in einem nahen Bauernhof verbracht, als Gast eines römischen Landwirts, den er seit Jahren kannte, aber nicht gut geschlafen. Das lag an diesem Mädchen. Ulrika. Gestern hatte sie ihre Absicht kundgetan, den Zug zu verlassen, sobald sie in Colonia ankämen, um sich dann allein auf die Suche nach dem Volk ihres Vaters zu begeben. Darauf war Sebastianus nicht gefasst gewesen. Er hatte vorgehabt, ihr dabei zu helfen, eine Gruppe aus ortskundigen germanischen Führern, Leibwächtern und Sklaven zusammenzustellen – die sicherste Begleitung, die er für ihr Vorhaben würde auftreiben können.

Aber allein losziehen? Hatte sie den Verstand verloren? Begriff sie nicht, welches Risiko sie damit einging?

Wenn er sich nur nie darauf eingelassen hätte, sie mitzunehmen! Aber Timonides hatte steif und fest behauptet, den Sternen zufolge sei ihr Weg mit seinem verbunden. Und in den täglichen Horoskopen tauchte sie manchmal erneut auf, war weiterhin verflochten mit seinem Schicksal. »Wann werden sich unsere Wege trennen?«, hatte er im Lager außerhalb von Lugdunum gefragt. Timonides hatte lediglich mit den Schultern gezuckt und dann gemeint: »Das werden uns die Götter wissen lassen.«

Trotz seiner Bedenken, ein alleinreisendes junges Mädchen in einer Karawane könnte problematisch werden, hatte sich gezeigt, dass es mit Ulrika keinerlei Schwierigkeiten gab. Sie war für sich geblieben, hatte gelesen und war spazieren gegangen – stets sittsam in ihre Palla gehüllt, die ihr gewelltes Haar und die nackten Arme bedeckte. Ohne zu klagen saß sie in einem von zwei Pferden gezogenen Kastenwagen, eine rumpelnde Kutschfahrt, über die sich die anderen Passagiere, wenn sie am Ende des Tages wie gerädert ausstiegen, jedes Mal aufs Neue beklagten. Ulrika hingegen verlor kein Wort darüber, sondern suchte sich einen Platz am Lagerfeuer, derweil Sebastianus’ Sklaven ihr ein Zelt aufstellten, in das sie sich zurückziehen konnte.

In mancher Hinsicht war sie sogar ein Gewinn für den Zug gewesen – sie hatte mehrere Kranke geheilt. Ein junges Mädchen von besänftigender, ruhiger Präsenz, mit einem eigenartigen Kasten, der mit medizinischen Wundermitteln gefüllt war. Wenn jemand ein Problem hatte, hörte sie es sich an und sagte dann entweder »Das übersteigt meine Fähigkeiten« oder »Dagegen kann ich etwas unternehmen«.

Ihren Erzählungen nach hatte sie die Kunst des Heilens von ihrer Mutter erlernt. Sebastianus dagegen vermutete, dass ihre Fähigkeiten über die, die man sich durch Unterweisung erwirbt, hinausgingen, schon weil diejenigen, denen sie geholfen hatte, erklärten, sie habe genau gewusst, was ihnen gefehlt habe, ohne dass sie ihr Gebrechen ausführlich hätten beschreiben müssen.

Als er durch das aufgescheuchte Lager ging, ärgerliche Reisende beschwichtigte und ihnen versicherte, dass die Soldaten bald weg wären, entdeckte er durch Rauch und Nebel hindurch Ulrika, die sich vor ihrem eigenen kleinen Zelt aufhielt und mit Timonides plauderte. Das lange hellbraune Haar hing ihr offen über Schultern und Rücken. Sebastianus war verblüfft, pflegte sie es doch für gewöhnlich zu einem griechischen Knoten zu schlingen und unter ihrem Schleier zu verbergen.

Noch verblüffter war er, als ihn ein heftiges sinnliches Verlangen überkam.

Energisch verbannte er das junge Mädchen aus seinen Gedanken – schließlich würden sie sich morgen trennen – und kümmerte sich weiter um seine Sklaven und Arbeiter und all die, die unter seinem Schutz reisten; zwischendurch blieb er stehen, um Heuballen aufzurichten und die allgemeine Ordnung wiederherzustellen. Gleichzeitig dachte er intensiv nach. Normalerweise benötigte er für die Strecke bis zur Festung Bonna sechzig Tage; diesmal aber hatte er sie in fünfundvierzig bewältigt, weil er zur Eile angetrieben und sich nicht so ausgiebig wie sonst in den Dörfern und Städten auf ihrem Weg auf den Austausch von Waren eingelassen hatte. Wenn er in Colonia gleich wieder umkehrte, konnte er mit seiner Karawane vielleicht nach abermals fünfundvierzig Tagen wieder in Rom sein, was ihm eine hervorragende Chance einräumen würde, die anderen vier Mitbewerber vor dem Ziel – dem kaiserlichen Palast und einer Audienz bei Kaiser Claudius – abzufangen.

Nur: Als Erster dort anzukommen, reichte nicht aus. Sebastianus musste sich noch durch irgendetwas Besonderes in den Augen des Kaisers auszeichnen. Was konnte er mit nach Rom nehmen, das ihn von Badru, Sahir, Adon und Gaspar abhob, die garantiert mit prachtvollen Trophäen für Claudius aufwarteten?

Auf seinem Rundgang durchs Lager entging ihm nicht, dass sich jetzt zwei Legionäre Ulrika näherten, die in stolzer Haltung vor ihrem Zelt stand. Rasch machte er sich zu ihr auf, hörte sie beim Näherkommen gerade sagen: »In diesem Zelt ist niemand.«

»Tut uns leid, junge Frau, aber davon müssen wir uns schon persönlich überzeugen.«

Ulrika rührte sich nicht vom Fleck. »Ich verstecke keine Verbrecher.«

»Tritt beiseite.«

Sie reckte das Kinn. »Auf wessen Anordnung handelt ihr?«

»Auf die von General Vatinius. Zufrieden? Wenn du also jetzt …«

Sie ließ die Hände sinken. »Von wem? General Vatinius? Aber der ist doch meilenweit von hier entfernt …«

»Der Befehlshaber befindet sich mit seinen Legionen in Colonia.«

Ulrika schluckte. »Vatinius ist bereits hier

Alles Blut wich aus ihrem Gesicht. Zu Sebastianus’ Überraschung trat sie beiseite und sagte zu den Soldaten: »Dann seht nach. Ihr werdet nichts finden.«

Obwohl sie sich bemühte, gelassen zu bleiben, spürte Sebastianus, wie erregt sie war. »Du machst dir Sorgen um die Familie deines Vaters«, sagte er, derweil die Legionäre kurz einen Blick in das Innere des Zelts warfen. Wie wünschte er sich, ihr irgendwie beistehen zu können! Er hatte einiges über die Legionen in Erfahrung gebracht, die seit kurzem in Colonia stationiert waren. Von Gerüchten über Zusammenstöße war die Rede, wobei die Informationen eher auf Wunschdenken denn auf Tatsachen beruhten.

Der Blick, mit dem Ulrika ihn bedachte, verriet Panik. »Ich muss sie warnen«, flüsterte sie.

»Sie warnen?«

Kaum dass die Legionäre das Zelt wieder verlassen hatten, schlüpfte Ulrika ohne ein weiteres Wort hinein. Wie benommen blieb Sebastianus noch einen Augenblick lang stehen, dann machte er kehrt und rief nach Timonides.

 

Gleich nachdem sein Herr das Lager betreten hatte und es zu einem Wortwechsel mit dem Zenturio gekommen war, hatte Timonides sein Lammkotelett beiseitegelegt und war in das Zelt geeilt, das er sich mit seinem Sohn Nestor teilte, um sich auf die morgendliche Sterndeutung vorzubereiten. Auf dieser Sitzung bestand sein Herr als Erstes, wenn er ins Lager zurückkehrte, sogar noch vor dem Frühstück. Sobald Sebastianus nach ihm rief, würde Timonides ihm das fertige Horoskop vorlegen.

Als er sich über seine Karten beugte, um dann im Licht einer Lampe mit seinen Instrumenten zu hantieren und Gleichungen auf einen Schnipsel Papyrus zu kritzeln, geschah dies nicht ohne die Gewissensbisse, die ihn wegen der Schummeleien in den vergangenen Wochen plagten. Auch wenn er sie als eher harmlos einstufte, hatte er niemals vorher sein heiliges Amt als Astrologe eigennützig missbraucht. Aber es war ihm wichtig gewesen, dass das junge Mädchen bei ihnen blieb, für den Fall, dass seine Mundhöhle wieder anschwoll oder ihn eine andere Krankheit überkam. Um sein Gewissen zu beruhigen, redete er sich ein, dass er in all den Jahren im Dienste der Götter und Sterne sie niemals um eine Gegenleistung gebeten hatte. Bestimmt würden sie ihm diesen kleinen Gunstbeweis für treue Dienste nicht verwehren. Wenn da nur nicht diese Gewissensbisse wären …

Lähmendes Entsetzen. Irgendetwas stimmte nicht.

Er überprüfte seine Aufzeichnungen, legte nochmals den Übertragungswinkel an, vergewisserte sich der Grade und Häuser und Aszendenten. Und spürte, wie ihm das Blut stockte. Großer Zeus. Es bestand kein Zweifel. Gestern war das Horoskop seines Herrn klar und ruhig wie ein Sommertag gewesen. Und jetzt, völlig unerwartet …

Eine Katastrophe stand bevor. Etwas Großes und Furchterregendes, das vorher nicht abzusehen gewesen war. Timonides fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Warum jetzt? Was hatte sich verändert? Hing das mit den Soldaten zusammen, die das Lager durchsucht hatten?

Oder ist das die Strafe dafür, dass ich bei der Deutung der Sterne gemogelt habe?

Timonides brach der Schweiß aus. Wenn er diese neue Deutung verkündete, würde Sebastianus zweifellos eine Erklärung verlangen, warum sich sein Horoskop plötzlich derart verändert hatte. Und wenn Timonides ihm daraufhin gestand, dass er damals in Rom bei seiner Deutung, das Mädchen müsse mitkommen, gelogen hatte, wie würde Sebastianus ihn bestrafen? Um sich selbst machte sich Timonides keine Sorgen – als alter Mann, der ein schönes Leben hinter sich hatte, würde er so gut wie jede Strafe akzeptieren –, sondern vielmehr um Nestor. Seinem Sohn zuliebe musste ihm sein Meister gewogen bleiben. Der ungeschlachte Nestor mit seinem Pfannkuchengesicht, seiner engelsgleichen Friedfertigkeit und seiner kindlichen Arglosigkeit wäre hilflos ohne ihn.

Timonides rang mit seinem Gewissen, war sich unschlüssig.

Damals, als ihm die Hebamme mit sichtlicher Abscheu das Neugeborene in die Arme gelegt hatte und Schwestern und Cousinen übereinkamen, es sei wohl das Beste für das Kind, es gleich auszusetzen, hätte Timonides um ein Haar zugestimmt – bis er das zarte Fleisch gespürt hatte, die winzigen Knochen, die völlige Hilflosigkeit dieser kleinen Kreatur. Das Herz hatte sich ihm im Leibe umgedreht, und augenblicklich stand für ihn fest, dass er seinem Sohn nicht antun würde, was ihm selbst angetan worden war. Er hatte das Kind behalten, das ihm und seiner Frau geschenkt worden war, zugegeben überraschenderweise, denn Damaris hatte gemeint, das gebärfähige Alter bereits überschritten zu haben. Als sie starb, war Nestor erst zehn, und wieder schwor sich Timonides, für den Jungen zu sorgen, koste es, was es wolle.

Jetzt, zwanzig Jahre später, kam für Timonides die Bewährungsprobe. Wie sollte er seinem Meister die Wahrheit sagen? Eine riesige Katastrophe drohte, weil sein treuer Astrologe den Frevel begangen hatte, Horoskope zu verfälschen. Nestor zuliebe musste sich Timonides mit einer weiteren Lüge aus dem Sumpf ziehen.

Er strich sich über den Bauch – warum nur hatte er sein Lammkotelett so nachhaltig in Knoblauchsoße getunkt! – und machte sich auf, seinem Meister das Horoskop darzulegen.

Sebastianus saß an einem Tisch vor seinem Zelt, in dem er nicht zu nächtigen pflegte, vor sich eine ausgebreitete Schriftrolle, auf der Einnahmen und Ausgaben verzeichnet waren, in der Hand den unentbehrlichen Abakus. Der junge Galicier duftete nach Seife. Er hatte eine frische weiße Tunika übergestreift, den gestutzten Bart in Form gebracht, Hände und Füße geschrubbt. Timonides wusste, sobald Sebastianus seinen blauen Umhang zuhakte, war er zum Aufbruch bereit, zur letzten Etappe der Reise.

»Die Sterne haben heute eine neue Botschaft für dich, Meister. Ein großes Ereignis steht dir bevor.«

Bronzefarbene Brauen wölbten sich. »Groß? Was heißt das? In der Deutung gestern Abend zeichnete sich nichts dergleichen ab.«

»Veränderungen sind eingetreten.« Timonides mied den Blick seines Gegenübers.

»Veränderungen?« Sebastianus überlegte. »Die Soldaten«, sagte er und wandte den Blick in Richtung Ulrikas Zelt. Durch die Leinwand konnte er ihre Umrisse ausmachen, sie hin und her laufen sehen. Ein absonderlicher Gedanke zuckte in ihm auf.

Die Soldaten …

Es musste mit den Soldaten und dem Mädchen namens Ulrika zu tun haben. »Ich muss mein Volk warnen«, hatte sie gesagt.

Was hatte sie damit gemeint? Warnen wovor? Er hatte angenommen, sie fahre nach Hause. Mehr hatte sie ihm ja auch nicht erzählt.

Andererseits … in den vergangenen Wochen mal hier ein Wort, mal da eine Bemerkung. »Das Land meines Volkes erstreckt sich um ein verborgenes heiliges Tal, das halbmondförmig von zwei kleinen Flüssen umgeben ist. Im Herzen dieses Tals befindet sich ein Heiliger Eichenhain, in dem die Göttin Freia rotgoldene Tränen vergossen haben soll.« Und ein anderes Mal stolz: »Mein Stamm setzt sich aus Kriegern zusammen.«

Wenn sich Sebastianus jetzt ins Gedächtnis rief, wie sie auf die Nachricht, Befehlshaber Vatinius sei in Colonia, reagiert hatte, warf das die Frage auf, ob es etwa ihr Volk war, das für die jüngsten Aufstände verantwortlich zeichnete. Waren das die Rebellen, die Vatinius ein für alle Mal unterwerfen sollte?

Und diese Aufständischen – hielten sie sich im Augenblick in dem verborgenen Tal auf, von dem Ulrika gesprochen hatte?

Sebastianus erhob sich. Mit wohlbedachten Worten wandte er sich an Timonides. »Alter Freund«, sagte er, »dieses große Ereignis, das mir, wie du sagst, bevorsteht – könnte es sein, dass ich jemandem von hoher Bedeutung begegnen werde?«

Timonides zögerte. Wovon im Namen des Großen Zeus redete sein Meister da? Der alte Grieche hatte keine Ahnung, aber weil urplötzlich in den Augen seines Gegenübers Hoffnung, ja sogar freudige Erregung aufblitzte, beeilte er sich zu sagen: »Gewiss doch, so ist es«, und nachdrücklich zu nicken, auch wenn er sich für die Lüge und den Frevel schämte. Aber er hatte keine Wahl. Wenn die Götter ihn jetzt auf der Stelle tot niederstreckten, könnte er ihnen das nicht einmal verübeln. »Du wirst jemand ungemein Bedeutendem begegnen, der dein Leben verändern wird.«

Sebastianus spürte, wie es ihn vor Erregung heiß überlief. Das konnte nur Gaius Vatinius sein, Befehlshaber von sechs Legionen! Wer sonst war in dieser Region bedeutender? Und ich habe Nachrichten für ihn, die nicht mit Gold aufzuwiegen sind. Ich kenne den Standort der barbarischen Aufständischen!

Mit dieser Information wäre für General Vatinius der Sieg sichergestellt. Und Kaiser Claudius würde dem, der dies ermöglicht hatte, eine hübsche Belohnung zuteil werden lassen: das Kaiserliche Diplom für China.

Ich werde sofort nach Norden reiten und dem General von einem verborgenen Tal berichten, das von zwei halbmondförmigen Flüssen umgeben ist …

 

Rasch band sich Ulrika das Haar zusammen und griff nach ihrem Reisegepäck. Nein, bis Colonia wollte sie nicht warten. Sie musste sofort aufbrechen. Vatinius befand sich bereits hier, in dieser Gegend, und sie wusste von der Falle, in die er ihr Volk zu locken gedachte.

Sie wählte für die Reise ein praktisches Gewand aus schlichter Baumwolle und eine darauf abgestimmte Palla. Während sie sich ankleidete, dachte sie an die unzähligen kleinen Boote, die sie ebenfalls auf dem Rhein gesehen hatte, an die hier ansässigen Kaufleute, die mit ihren Waren unter den Augen der römischen Galeeren den Fluss hinauf und hinunter pendelten. Da Ulrika ihre Sprache beherrschte und genügend Geld bei sich hatte, würde sie bestimmt einen von ihnen überreden können, sie zum gegenüberliegenden Ufer überzusetzen.

Eigentlich sollte sie Sebastianus Gallus informieren, bevor sie heute in aller Frühe der Karawane den Rücken kehrte, überlegte sie, während sie Brot und Käse in Tücher wickelte. Nur lief sie dann Gefahr, dass er ihr die Erlaubnis verweigerte oder gar einem Bewacher den Auftrag erteilte, dafür zu sorgen, dass sie so lange unter dem Schutz von Sebastianus Gallus blieb, bis er sie, wie vereinbart, in Colonia absetzte.

In Gedanken verabschiedete sie sich von ihm – bestimmt sah sie ihn nie wieder –, verließ ihr Zelt und lenkte ihre Schritte hinunter zum Rhein.