Kapitel 24

Am folgenden Morgen klopfte die Zimmerwirtin um sieben Uhr an die Tür. Kate hatte zwar darum gebeten, geweckt zu werden, fühlte sich vor Müdigkeit aber wie zerschlagen. Trotzdem schaffte sie es, der Versuchung zu widerstehen, sich umzudrehen und noch einmal einzudösen. Sie setzte sich auf und rieb sich den Schlaf aus den Augen.

Interessiert blickte sie sich in ihrem Zimmerchen um. Es wirkte völlig normal. Doch dann kehrten Bilder von einer schattenhaften Gestalt mit Flüsterstimme zurück. War das alles wirklich geschehen? Kate machte Rodge keinen Vorwurf für sein Verhalten, doch bei Tageslicht besehen erschien es ihr doch etwas übertrieben.

Im Frühstücksraum war sie allein.

»Ist Aisling noch nicht heruntergekommen?«, erkundigte sich Kate bei der Wirtin.

»Ich habe sie im Badezimmer herumplanschen hören. Wahrscheinlich nimmt sie ein Bad. Dabei ist doch erst Samstagmorgen.«

Kate griff nach einem Toast.

»Möchten Sie keine Marmelade? Sie ist selbstgemacht.«

»Danke sehr.«

»Ich hole Ihnen frischen Kaffee. Noch nie habe ich erlebt, dass jemand morgens so viel Kaffee trinkt.«

Kate hatte gerade ihren zweiten Toast mit Marmelade bestrichen, als Aisling auftauchte.

»Guten Morgen.«

»Guten Morgen, Kate.« Aisling betrachtete sie aufmerksam. »Sie sehen heute ein wenig blass aus. Fühlen Sie sich wohl?«

»Bestens. Ich habe nur nicht besonders gut geschlafen.«

»Wieso?«

»Ich denke, es liegt am allgemeinen Stress und meinen Sorgen.«

»Hat irgendetwas Sie aufgeweckt?«

»Das habe ich mich auch schon gefragt«, erwiderte Kate. »Mitten in der Nacht hatte ich plötzlich den Eindruck, dass jemand herumlief, aber ich glaube, es war nur ein Traum. Warum? Haben Sie auch etwas gehört?« Kate hatte sich bewusst sehr allgemein ausgedrückt.

»Ihnen ist sicher schon aufgefallen, dass ich einen sehr leichten Schlaf habe. Ich bin aufgewacht, weil ich glaubte, etwas gehört zu haben, aber als ich lauschte, war da gar nichts. Danach habe ich vorsichtig bei Ihnen geklopft, weil ich wissen wollte, ob Sie es ebenfalls gehört hatten.«

»Ich kann mich an nichts erinnern. Wahrscheinlich habe ich geschlafen. Vielleicht ist auch nur der Sohn unserer Vermieterin nach Hause gekommen und hat mit seiner Mutter geredet.«

»Das könnte allerdings sein.« Aisling nickte. »Ist noch Kaffee da?«

»Ich bestelle noch welchen. Die Wirtin hält uns ohnehin schon für verrückt, weil wir ständig baden und so viel Kaffee trinken. Bestätigen wir also ruhig ihre Vorurteile über uns Kreative.«

»Wie sehen Ihre Pläne für heute aus?«

»Gleich nach dem Frühstück gehe ich nach oben und packe. Je eher ich in Oxford bin, desto besser.«

»Macht es Ihnen nichts aus, in Ihr Haus zurückzukehren? Es könnte Sie – ich weiß nicht – vielleicht ein wenig aus der Bahn werfen.«

»Ziemlich sicher sogar. Aber irgendwann muss ich es ja tun. Und je länger ich den Augenblick hinausschiebe, desto schlimmer wird es. Ich muss es hinter mich bringen.«

Der Gedanke bewegte sie, als sie nach oben ging, um zu packen. Sie würde die Haustür aufschließen müssen und die Stelle sehen, wo Andrew gelegen hatte. Ob man die Umrisszeichnung noch erkennen konnte? Würde der Blutfleck auf dem Teppich noch sichtbar sein? Bei der Vorstellung lief es ihr kalt den Rücken hinunter. Aber sie musste sich den Tatsachen stellen. Was sie zu Aisling gesagt hatte, traf den Nagel auf den Kopf: Sie musste es hinter sich bringen.

Sie packte, brachte ihre Taschen nach unten und lud sie in den Kofferraum ihres Autos. Dann ging sie zur Zimmerwirtin.

»Wenn mein Bekannter aus Oxford anruft, sagen Sie ihm bitte, dass ich bereits unterwegs bin und dass er mich spätestens im Lauf des Vormittags zu Hause erreichen kann.«

Aisling kam, um sich zu verabschieden.

»Wir treffen uns morgen Abend in der Buchhandlung«, sagte Kate. »Ich werde sicher keine Zeit haben, das Krankenhaus anzurufen, aber Sie können mich ja morgen über Devlins Zustand informieren.«

Aisling verzog das Gesicht. »Am liebsten hätte ich ihn nach Swindon zurückbringen lassen. Eigentlich wollte ich heute Morgen nach Hause fahren, denn meine Brüder haben mich zu meiner ersten Gleitschirmstunde angemeldet. Doch bei der Vorstellung, was Devlin alles anrichten könnte, wenn ich nicht auf ihn aufpasse, habe ich es vorgezogen, die Stunde zu verschieben. Wenn Sie gleich nach Oxford aufbrechen, fahre ich nach Sussex.«

Kate lachte. »Sie führen wirklich ein aufregendes Leben!«

»Keineswegs. Ich glaube, dass meine Brüder mir nur lieber dabei zusehen, wenn ich solche Sachen ausprobiere, als es selbst zu machen.«

»Ich bin weg!«, sagte Kate.

»Fahren Sie vorsichtig«, mahnte Aisling. Als Kate sich gerade anschnallte, kam ein junger Mann auf einem Motorroller durch das Tor. Sie streckte den Kopf aus dem Fenster.

»Dannie?«, fragte sie. »Kommen Sie von der Arbeit?«

»Ja«, antwortete er überrascht. »Was ist?«

»Ach nichts. Ich bin einfach nur neugierig.«

Im Krankenhaus von Sussex hatte sich Devlin inzwischen sehr unbeliebt gemacht.

Man hatte ihm eine Packung Tabletten gegeben, die er während der nächsten Tage einnehmen sollte. Er war über die Folgen dauernden Alkoholmissbrauchs aufgeklärt worden. Als er im Fernsehzimmer mit einer Zigarette erwischt wurde, hielt man ihm eine weitere Standpauke über die Schädlichkeit des Rauchens. Dann wurde er entlassen. Genau zu diesem Zeitpunkt tauchte Aisling auf.

»Ich bin gekommen, um Sie nach Swindon zurückzubringen«, sagte sie. »Von jetzt an wird Jacko sich um Sie kümmern.«

»Wenn ich in Flammen aufgehen würde, ließe sich Jacko nicht einmal dazu herab, auf mich zu pinkeln, um das Feuer zu löschen«, schimpfte Devlin. »Sie würde mir höchstens vorhalten, dass alles allein meine Schuld ist und dass sie meinetwegen keinen Finger rühren würde.«

»Quatsch. Sie wird sich freuen, dass Sie endlich wieder bei ihr sind, und würde nie zulassen, dass jemand anders sich um Sie kümmert. Immerhin ist sie Ihre Frau.«

»Nicht wirklich. Wir haben es irgendwie nie geschafft, unsere Beziehung zu legalisieren.«

»Noch nicht einmal nach fünf Kindern?«

»Jacko legt großen Wert auf ihre Unabhängigkeit. In einer Situation wie dieser wird sie wahrscheinlich behaupten, dass es nichts mit ihr zu tun hat und dass ich mich von einer meiner anderen Frauen pflegen lassen soll.«

»Trotzdem sind Sie jetzt zu Hause am besten aufgehoben«, sagte Aisling.

»Nein!«, brüllte Devlin. »Ich will nicht mehr von irgendwelchen Frauen gegängelt werden. In den letzten paar Tagen haben sie mir Thermometer in den Mund gesteckt und Spritzen in den Hintern gegeben. Auf keinen Fall lasse ich mich jetzt von Jacko tyrannisieren. Ich habe die Nase voll von dieser Nörgelei! Ich will arbeiten. Morgen sind wir in Birmingham, nicht wahr?«

»In einem kleinen Dorf ganz in der Nähe«, bestätigte Aisling, die einsah, dass sie an Boden verlor. Sie konnte sich nicht vorstellen, einen protestierenden Devlin die ganze Strecke bis Swindon zu transportieren. Zwar gefiel ihr die Vorstellung, einen entgegenkommenden Devlin nach Birmingham zu fahren, ebenfalls nicht, doch zumindest wäre sie in der Lage, dafür zu sorgen, dass er vor dem Abend nicht allzu viel Whisky in sich hineinschüttete.

»Na schön«, gab sie nach, als sie keine andere Möglichkeit mehr sah. »Dann sollten wir jetzt einen Blick auf die Karte werfen. Sollen wir lieber in Sussex übernachten oder gleich nach Birmingham fahren?«

»Solange ich die Nacht nicht mit Ihnen verbringen muss, ist es mir gleich«, erwiderte er unfreundlich.

»Ausgezeichnet«, erwiderte Aisling, »dann fahren wir also nach Birmingham. Und nachdem ich gehört habe, welch ausgezeichneter Lotse Sie sind, übernehmen Sie die Verantwortung dafür, uns hinzubringen. Sie sagen mir die Richtung an, ich fahre.«

Mit ein bisschen Glück würde Devlin sie so in die Irre leiten, dass sie vielleicht in North Wales oder East Anglia landeten, dachte sie. Jedenfalls weit weg von der ahnungslosen Buchhandlung, die auf ihrem Plan stand.

»Was ist mit meinem Gepäck?«, fragte Devlin, als sie ins Auto stiegen.

»Viel habe ich nicht gefunden«, sagte Aisling. »Im Kofferraum sind eine Plastiktüte mit schmutziger Wäsche und Ihre Reißverschlusstasche. Sie sollten bei Gelegenheit einen Waschsalon aufsuchen und Ihre Wäsche waschen, denn sonst kann ich verstehen, wenn Jacko bei Ihrer Rückkehr nicht gerade begeistert sein wird.«

»Das ist Frauensache«, knurrte Devlin. »Wenn Sie der Meinung sind, dass meine Unterhosen und Socken gewaschen werden sollten, dann müssen Sie sich schon selbst darum kümmern.«

»Netter Versuch – aber nein danke.« Aisling grinste. »Ich bringe Sie gern zum Waschsalon und zeige Ihnen, wie es geht, aber tun müssen Sie es selbst.«

Devlin warf ihr einen bewundernden Blick zu. »Ich liebe es, wenn Frauen sich durchsetzen können.« Er streckte seine große Pranke aus und drückte ihr Knie. »Warum fahren wir nicht einen kleinen Umweg und suchen uns ein nettes Plätzchen, wo wir ungestört zu Abend essen können?«

»Nein danke«, sagte Aisling. Sie schob die behaarte Hand beiseite und legte den ersten Gang ein. »Ich hoffe, Sie haben sich angeschnallt«, fügte sie hinzu.

»Hallo? Hier ist das Wettbüro Joe Latch.«

»Sind Sie das, Chef?«

»Joe Latch am Apparat. Wer spricht?«

»Hier ist Evan, Chef.«

»Wo hast du dich mit Stith in den letzten vierundzwanzig Stunden herumgetrieben?«

»Wir waren hinter Hayle her, wie Sie gesagt haben.«

»Und? Habt ihr ihn gefunden?«

»Wir waren bei dem Krankenhaus, in das man ihn gebracht hat.«

»Aber ihr seid doch nicht schuld daran, oder?«

»Nein, Chef. Wir wissen nicht, wer es war.«

»Und jetzt? Habt ihr den Scheißkerl wenigstens gesehen? Ihm gesagt, dass ich mein Geld will?«

»Wir wollten ihn im Krankenhaus besuchen. Also ich persönlich habe was gegen Krankenhäuser, aber wir dachten, dass er nicht weglaufen könnte, wenn er da im Bett liegt. Stith hat am Blumenstand ein paar Blumen gekauft. Aber als wir oben auf der Station ankamen, war er weg.«

»Wie weg?«

»Eben weg. Jemand ist gekommen und hat ihn mitgenommen. Sie sind losgefahren, als wir gerade im Krankenhaus waren. Wir haben sie noch gesehen, als sie um die Ecke bogen.«

»Und wer war es? Wer hat ihn abgeholt?«

»Irgendeine Tante in einem roten BMW und einem orangen Mantel.«

»Na, die dürfte doch leicht zu finden sein. Warum seid ihr ihr nicht gefolgt?«

»Haben wir ja versucht, aber die ist so verdammt schnell gefahren, dass wir sie schon am Ende der Straße aus den Augen verloren haben.«

»Eine Frau also. Wahrscheinlich vom Verlag. Da arbeiten viele Frauen. Warte, ich sehe eben mal in der Liste nach, die der Typ im Büro mir gegeben hat. Ein ausgesprochen hilfreicher Kerl. Sie haben morgen einen Termin in der Nähe von Birmingham. Warum setzt ihr euch nicht einfach ins Auto und fahrt hin?«

»Haben Sie vielleicht die Adresse, falls wir sie nicht einholen können? Ich fürchte nämlich, man braucht einen Hubschrauber, wenn man der Tante folgen will.«

»Klar. Hast du was zu schreiben?«

»Sekunde, Chef.«

»Und dieses Mal verliert ihr ihn nicht mehr! Ich will das Geld, das er mir schuldet, verstanden?«