Kapitel 14

Es war schön, einmal nicht mehrere Hundert Kilometer mit einem gehässigen Hayle auf dem Beifahrersitz zurücklegen zu müssen. Kate freute sich auf etwas Zeit zur Erkundung der Umgebung. Zwar hatte sie ihre Wanderschuhe zu Hause gelassen, aber sie hatte ihre Doc Martens dabei. Ehe sie die Pension verließ, beschloss sie, kurz in Oxford anzurufen und zu hören, ob alles in Ordnung war. Zwar war sie sicher, dass alle wunderbar ohne sie zurechtkamen, aber vielleicht lag ja eine wichtige Nachricht für sie vor.

Sie kramte das Notizbuch hervor, in dem die notwendigen Nummern standen, und ging zum Telefon. Zumindest würde das Haus zum jetzigen Zeitpunkt leer sein; sie brauchte sich also keine Sorgen zu machen, dass Andrew ihre Nachrichten löschte, ehe sie sie abrufen konnte.

»Hallo, Kate. Ich bin es – Ihr treuer Freund und Bewunderer …«

Wer um alles in der Welt war das? Die Stimme klang neutral und wies keine Besonderheiten auf, die sie unverkennbar machten. Dann brach sie plötzlich mitten im Satz ab. Vielleicht hatte der Anrufer bemerkt, dass er eine Nachricht auf dem falschen Anrufbeantworter hinterließ. Es gab eine Menge Frauen namens Kate, und in ihrer Ansage nannte sie weder ihren Namen noch ihre Telefonnummer. Weitere Nachrichten lagen nicht vor, und sie beschloss, die Sache zu vergessen und stattdessen lieber einen strammen Spaziergang zu machen.

Als sie am Abend zur Signierstunde in der Buchhandlung aufbrachen, fühlte Kate sich frisch und entspannt. Devlin hingegen wirkte launig und gab sich geheimnisvoll in zinnfarbenem Samt mit dunkelblauem Hemd und blassgrauer Krawatte.

»Heute Abend sehen Sie ein bisschen aus wie ein Gangsterboss in den dreißiger Jahren«, bemerkte Kate, als sie das Haus verließen.

»Auf dieses gewisse laszive je ne sais quoi wollte ich genau hinaus«, antwortete er. »Dieses seidige Ding, das Sie da tragen, sieht wirklich toll aus. Ich mag die gedeckten Farben mit einem Tick lebhaftem Orange. Klasse!«

Ehe sie die Buchhandlung betraten, widmeten sie sich ihrer inzwischen alltäglichen Routine, die am Straßenrand geparkten Autos zu überprüfen.

»Vielleicht haben er oder sie ja auf dem Parkplatz geparkt«, gab Kate zu bedenken.

»Glaube ich nicht. Sie würden wahrscheinlich schnell wegkommen wollen. Was ist mit diesem blauen Rover? Haben wir den nicht schon einmal gesehen?«

»Ich habe zwar früher schon einen blauen Rover gesehen, weiß aber nicht, ob es derselbe ist. Diese Autos gibt es häufig.«

Devlin spähte durch das Schaufenster der Buchhandlung. »Ich kann keinen schwarzen Trainingsanzug erkennen.« Kate unterließ die Bemerkung, dass die beiden Schläger inzwischen durchaus Zeit gehabt hätten, ihre Kleidung zu wechseln. Devlins Paranoia war ohnehin schon schwer zu ertragen – sie wollte es nicht noch schlimmer machen.

»Die Kunden sehen harmlos aus, mit denen werden wir schon fertig. Kommen Sie, Devlin, wir gehen rein und begrüßen die Leute.«

Devlin hielt Kate die Tür auf, und sie betraten die Buchhandlung.

Kurze Zeit später, als sie Bücher signierten, die Kunden anlächelten und mit ihnen redeten, raunte Kate plötzlich Devlin zu: »Warum starrt uns der Mann da drüben so an?«

»Welcher Mann? Wo steht er?«

»Graue Hose, blauer Anorak, kräftig gebaut, rötliches Haar. Irgendwie kommt er mir bekannt vor. Ist er uns schon einmal begegnet?«

»Oh, mein Gott!«

Kate signierte ein weiteres Buch. »Ich hoffe, es gefällt Ihnen«, säuselte sie. Dann wandte sie sich wieder an Devlin. »Wer ist das?«

»Rodge.«

»Helfen Sie mir auf die Sprünge. Ich kann Ihre Opfer nicht mehr alle auseinanderhalten.«

»Rodge ist Jackos Bruder.«

»Rote Haare, genau wie Jacko.« Kate nickte. »Ich verstehe. Er ist der Mann, der meint, dass Sie seine Schwester längst hätten heiraten sollen.«

»Es ist nicht meine Schuld«, verteidigte sich Devlin.

»Das ist es nie!«

»Es wird ihm nicht gefallen, uns hier zusammen zu sehen.«

»Wir arbeiten zusammen, sonst nichts. Weiß er das nicht?«, fragte Kate.

»Er will es nicht wahrhaben. Wenn es um seine Schwester geht, ist er unglaublich eifersüchtig. Er hat immer schon etwas gegen mich gehabt und bringt sie gegen mich auf.«

»Nach einigen der Geschichten, die Sie mir gestern erzählt haben, scheint er auch allen Grund dazu zu haben.«

»Was sollen wir jetzt tun?«

»Im Laden laufen ein paar Wachmänner herum und passen auf. Hier kann uns also nichts passieren. Aber wenn wir unser Pensum hier erledigt haben, sollten wir schnellstens abhauen.«

»Er ist ganz schön durchtrainiert. Er wird uns sicher einholen.«

»Also muss einer von uns ihn ablenken, während der andere wegrennt. Vielleicht haben Sie bemerkt, dass ich heute vernünftigere Schuhe trage. Wenn wir es bis zum Auto schaffen, können wir ihn auf dem Weg aus der Stadt vielleicht abhängen.«

»In Ihrem Plan gibt es eine Menge Wenns

»Haben Sie einen besseren auf Lager?«

»Und wenn er eine Szene macht?«

»Nun beruhigen Sie sich erst einmal. Lächeln Sie. Keine Sorge, ich bringe Sie schon hier raus.«

Wie war es nur möglich, dass sie plötzlich die Verantwortung für seine Sicherheit übernahm? Der Mann schien wirklich immer seinen Willen zu bekommen.

Der Veranstaltungsleiter trat an ihren Tisch.

»Wie läuft es bei Ihnen?«

»Wunderbar«, antwortete Kate.

»Der Abend ist sehr erfolgreich. Wir haben eine Menge Bücher verkauft.«

»Darum geht es schließlich«, sagte Devlin.

»Natürlich nicht nur Ihre«, nahm ihm der Veranstaltungsleiter den Wind aus den Segeln. »Aus irgendeinem Grund gehen heute Gartenbücher besonders gut.«

»Schön, dass wir Ihnen nützlich sein können«, erwiderte Devlin. Als der junge Mann sich abwandte, sagte er zu Kate: »Scheiß Kuhkaff! Ich glaube es ja nicht! Gartenbücher!«

»Heul doch!« Kate grinste. Und ohne an Rodge zu denken, brachen sie beide in Lachen aus.

»So ist das also!«, ließ sich eine Stimme hinter ihnen vernehmen.

»Hallo Rodge!«, grüßte Devlin. Wenn er ein Hund wäre, würde er sich jetzt auf den Rücken rollen und alle vier Pfoten in die Luft strecken, dachte Kate. »Was führt dich her?«

»Ich war zufällig in der Gegend und dachte mir, ich sehe mal nach, ob du wirklich arbeitest, wie du es Jacko verkauft hast.«

»Nun, wie du siehst, arbeite ich tatsächlich.«

»Und wer ist die da?«

»Mein Name ist Kate Ivory. Ich schreibe ebenfalls historische Romane und vermarkte hier mein neuestes Buch«, erklärte Kate, während sie verstohlen ein paar Knöpfe an ihrem Ausschnitt schloss.

»Wie hast du das gedeichselt?«, fragte Rodge.

»Ich habe nichts damit zu tun. Miss Ivory ist eingesprungen, als mein ursprünglicher Partner verhindert war. Wir haben uns erst am Montag kennen gelernt.«

»Das stimmt«, bestätigte Kate.

»Auf mich wirkt ihr sehr vertraut miteinander«, sagte Rodge.

»Das bildest du dir ein, alter Junge«, widersprach Devlin. »Wir können uns nicht ausstehen. Ist es nicht so, Kate?«

»In der Tat«, antwortete Kate.

Rodge machte noch immer einen kämpferischen Eindruck.

»Miss Ivory?«, meldete sich eine schüchterne Stimme. Die dazugehörige Person war klein, dünn und in vergissmeinnichtblaue Wolle gehüllt. Auf ihren weißen Haaren saß ein Pelzhut, der wie eine freundliche Katze aussah. »Mein Name ist Jane Bell. Ich habe Ihnen geschrieben.«

Jane Bell? Wer war das noch?

»Ich glaube, wir interessieren uns beide für emaillierte Dosen«, flötete Miss Bell.

»Aber natürlich!« Kate wandte sich von Devlin und Rodge ab. »Setzen Sie sich zu mir, Miss Bell. Ich besorge Ihnen einen Stuhl.« Irgendwo fand Kate eine Sitzgelegenheit für die Frau und ließ sich neben ihr nieder. Sicher würde sie niemand angreifen oder ihnen auch nur eine Szene machen, solange sie sich in der Gesellschaft einer so netten, zerbrechlichen alten Dame befanden.

»Vielen Dank, meine Liebe. Wissen Sie, seit ich zufällig eines Ihrer Bücher gelesen habe, bin ich fast so etwas wie ein Fan geworden. Ihre Romane sind so schön leicht verdaulich, fast wie Gin Tonic.«

»Dieser Vergleich ist mir zwar neu, aber ich freue mich, dass Ihnen meine Bücher gefallen.«

»Ich habe das neueste gerade gekauft. Würden Sie es für mich signieren?«

Kate zückte ihren Füllfederhalter. »Aber selbstverständlich.«

»Es wäre schön, wenn Sie etwas Nettes für mich hineinschreiben würden.« Ihre arthritische Hand legte sich auf Kates Arm. Die knotigen Finger waren mit goldenen Ringen in allen Formen und Größen geschmückt.

Kate schrieb ihre blumigste Widmung, signierte mit ein paar zusätzlichen Schnörkeln und unterstrich ihre Unterschrift.

»Und jetzt müssen Sie mir alles über Ihre Emaildosen erzählen.« Während der nächsten fünf Minuten unterhielt sie sich mit Miss Bell. Als Miss Bell schließlich ging, stellte Kate fest, dass sich Rodges Gesichtsfarbe wieder normalisiert und er seine Stimme um ein paar Dezibel gedrosselt hatte.

»Und? Seid ihr beiden miteinander ins Reine gekommen?«, fragte sie.

»Rodge und ich sind die besten Freunde«, erklärte Devlin.

»Pass bloß auf!«, warnte Rodge, klang jedoch weitaus friedlicher als zuvor.

»Keine Sorge, das tun wir.«

»Na, das war ja nicht allzu schwer«, sagte Kate, als Rodge wieder in die Sportabteilung verschwunden war. »Mein kleines Ablenkungsmanöver hat doch wunderbar funktioniert!«

»Hoffentlich behalten Sie Recht. Er ist Bodybuilder, und wenn er sich entschließt, uns zu verprügeln, dann dürfte er eine bessere Arbeit abliefern als der Mann gestern Abend auf dem Parkplatz.«

»Könnten Sie mir Edmund beschreiben?«

»Wie kommen Sie denn jetzt auf den?«

»Ich dachte, es wäre vielleicht sinnvoll, der Polizei eine Personenbeschreibung geben zu können, wenn man Ihre Leiche findet.«

»Wie kommen Sie nur auf so gruselige Ideen?«

»Das muss mit den in Ihrer Gesellschaft verbrachten Tagen zu tun haben, Devlin.«

Schweigend arbeiteten sie noch eine Weile weiter, bis die Menschenmenge in der Buchhandlung sich allmählich lichtete.

»Ich glaube, wir können bald Feierabend machen«, sagte Devlin.

»Gut. Wir sollten verschwinden, solange wir noch auf der Gewinnerseite sind.«

»Was machsten da?«

Andrew Grove stand in Kates Wohnzimmer in Oxford und starrte sich im goldgerahmten Spiegel über dem Kamin an.

»Ich untersuche meine Kontaktlinsen, Harley. Sie sind so gut wie unsichtbar, nicht wahr?«

»Je nachdem, wie das Licht ist, sieht man manchmal den Rand.«

»Aber sie schmeicheln meinem Aussehen mehr als* die Brille, findest du nicht?«

»Sie sind ganz okay, glaube ich.« Harley war offenkundig der Ansicht, dass ein alter Knacker wie Andrew sich nicht mehr um sein Erscheinungsbild kümmern müsse.

»Was machst du da eigentlich, Harley?«

»Meine Hausaufgaben habe ich fertig!«, verteidigte sich Harley automatisch.

»Freut mich zu hören. Aber damit hast du meine Frage nicht beantwortet.«

Harley blickte verschämt zu Boden. »Ich wollte herausbekommen, wie es funktioniert.«

»Wie was funktioniert?«

»Das hier.«

Er hielt Andrew Kates Knotenring hin, der wieder in vier Teile auseinandergefallen war.

»Du liebe Zeit!«

»Ihn auseinanderzunehmen geht kinderleicht«, sagte Harley. »Nur das Zusammensetzen ist ganz schön schwierig.«

»Das sehe ich. Aber für solche Dinge habe ich auch kein Händchen. Du musst es also entweder weiter versuchen oder auf Paul warten. Er zeigt dir sicher gern, wie es geht.«

Harley fummelte weiter, allerdings ohne wesentlichen Erfolg.

»Ich hoffe, Kate ist nicht allzu sauer darüber.«

»Ich glaube nicht, dass es ihr etwas ausmacht«, erwiderte Harley.

»Harley, es wird übrigens langsam Zeit für dich, nach Hause zu gehen«, sagte Andrew, nachdem er das Studium seines Spiegelbildes beendet hatte. »Ich genieße deine Gesellschaft zwar durchaus, aber du gehörst allmählich ins Bett.«

»Stimmt.« Harley nickte. Er war des Spiels mit dem Ring ohnehin müde geworden. »Ich verabschiede mich nur noch kurz von Dave.«

Nachdem der Junge gegangen war, verriegelte Andrew die Hintertür und kehrte zu seiner Arbeit in der Küche zurück. Er war dabei, Kates Kühltruhe mit allerlei nahrhaften Köstlichkeiten zu bestücken. Außerdem wollte er schon einmal Harleys Essen für den folgenden Tag vorbereiten, da er die Spätschicht übernommen hatte und ihm keine Zeit mehr zum Kochen blieb, wenn er heimkam. Merkwürdig, wie sehr er Kates Wohnung schon als Zuhause betrachtete!

Pom pom pom pom pom te pom, summte er. Es war ein Kirchenlied aus seiner Kindheit, das ihm wieder eingefallen war.

Als er gerade den Abwasch erledigt hatte, klingelte es.

Auf dem Weg zur Haustür fiel Andrew auf, dass ihm wieder einmal eine der Kontaktlinsen herausgefallen sein musste. Auf einer Seite sah er unscharf, und als er die Tür öffnete, konnte er die Gestalt draußen nicht erkennen – oder waren es gar zwei?

»Wohnt hier Kate Ivory?«

»Ja, aber sie ist nicht zu Hause.« Andrew streckte den Kopf weiter vor und versuchte, die unscharfen Umrisse genauer ins Auge zu fassen. »Hey! Was machen Sie da?«

»Ich komme rein!«

Nach einem vergleichsweise abstinenten Abend trafen sich Kate und Devlin relativ früh am nächsten Morgen in Kims Küche. Devlin verdrückte wie üblich ein englisches Frühstück mit allen Schikanen, während Kate bei Obst und Getreideprodukten blieb. Sie hatten ihr Frühstück gerade beendet und studierten die Karte auf der Suche nach dem schnellsten Weg nach Devon, als das Telefon klingelte. Kim nahm den Hörer ab.

»Für Sie, Kate«, verkündete sie wenige Sekunden später. »Was haben Sie denn ausgefressen? Klingt, als wäre es die Polizei!«