Kapitel 6

»Nein!« Devlin schüttelte den Kopf. »Das geht unmöglich. Dürfte ich mir Ihres ansehen, Kate? Bestimmt hat man Ihnen das beste Zimmer zugedacht.«

»Sie sind schlimmer als Harley«, schimpfte Kate.

»Als wer?«

»Ein dreizehnjähriger Freund von mir. Und Ihr geistiges Alter entspricht etwa dem von Iggy, würde ich sagen.«

»Wir können uns gern das andere Zimmer anschauen«, erklärte die Vermieterin. Sie hieß Mrs Woods. »Sie werden sehen, es ist diesem hier sehr ähnlich.«

»Warum nicht?« Kate zuckte die Schultern. Aisling hatte sich in den privaten Teil des Hauses zurückgezogen und die Tür hinter sich geschlossen. Kate hielt es daher für ihre Pflicht, die Autoren des Verlags Fergusson als ruhige, vernünftige Gäste zu repräsentieren.

Das Haus, in dem sie untergebracht waren, bestand aus solidem, grauen Stein. Die Heizung funktionierte einwandfrei, die Zimmer waren sehr sauber und verfügten jeweils über ein eigenes Bad. Soweit Kate erkennen konnte, gab es weder eine Disco noch Kneipen, die ihnen schlaflose Nächte beschert hätten. Mrs Woods hatte sie mit Tee und Gebäck empfangen und sich nach ihrer bevorzugten Morgenzeitung erkundigt. Was konnte man mehr von einem B & B erwarten? Devlin war einfach nur schwer zufrieden zu stellen. Devlin und Kate folgten der Vermieterin den Flur hinunter, wo sie die Tür zu einem weiteren Zimmer aufschloss.

»Ja«, sagte er sofort, »das hier ist in Ordnung. Sie können das andere nehmen, Kate.«

»Wo ist denn Ihrer Meinung nach der Unterschied?«, erkundigte sich Kate.

»Dieses hier liegt in Ost-West-Richtung, das andere nach Nord-Süd.«

»Und das soll wichtig sein?«

»Wenn Sie Einblick in die kreative Seele hätten, würden Sie es verstehen.«

»Nun, da ich keinerlei Unterschied zwischen den beiden Zimmern erkennen kann, dürfen Sie gern dieses hier nehmen«, sagte sie großzügig. Vielleicht würde es den Mann für ein oder zwei Stunden bei Laune halten. Und was hatte er da von ›kreativer Seele‹ gefaselt? Immerhin schrieb auch sie Bücher, oder etwa nicht?

Sie brachten das Gepäck nach oben. Mit einem Seufzer der Erleichterung ließ Kate sich schließlich auf ihr Bett plumpsen. Interessiert blickte sie sich in dem Raum um. Er war hübsch möbliert, sofern man ein Faible für Laura Ashley hatte. Sie stand auf und ging zum Fenster. Die Aussicht beschränkte sich auf matschige braune Felder und graue Steinmauern. Es war genau die gleiche Aussicht wie in dem Zimmer, das Devlin bevorzugt hatte. Ganz gleich, ob das Zimmer nun nach Ost-West oder Nord-Süd ausgerichtet war, das andere musste genau in die gleiche Richtung liegen. Der blöde Hammel hatte es wohl auf ein Machtspielchen abgesehen!

Nachdem sie die Kleider, die sie später tragen wollte, aus dem Koffer genommen und aufgehängt hatte, widmete sie sich den beiden Briefen, die Aisling ihr mitgebracht hatte. Ein moralischer Auftrieb! Sie öffnete den ersten Umschlag.

Liebe Miss Ivory,

üblicherweise pflege ich keine historischen Romane zu lesen. In der Genesungsphase nach einer Lungenentzündung jedoch war ich nicht in der Lage, mich auf meine übliche Bücherauswahl zu konzentrieren. Bei dem Lesestoff, den meine Nichte für mich besorgt hat, befand sich eines Ihrer Bücher (den Titel habe ich vergessen); ich las es, da ich gerade nichts Besseres zur Hand hatte.

Na, vielen Dank, dachte Kate. Warum machst du dir überhaupt die Mühe zu schreiben, wenn du mir nichts Netteres mitzuteilen hast?

Ich wende mich an Sie, weil Sie in diesem Buch eine emaillierte Dose in Form der Radcliffe Camera in Oxford beschreiben, die etwa aus dem Jahr 1830 stammt. Zufällig interessiere ich mich sehr für diese Art Emaildosen. Die meisten entstanden übrigens vor 1830. Eine Dose in Form der Radcliffe Camera ist mir jedoch noch nie begegnet. Ich würde mich freuen, wenn Sie mir einige Details geben und mir sagen könnten, wo ich diese Dose besichtigen kann. Meiner Ansicht nach muss es sich um eine ausgesprochene Rarität handeln, die ich gern genauer studieren würde.

Per Zufall sah ich heute Morgen einen Aushang in meiner Buchhandlung, dass Sie in diesen Tagen persönlich anwesend sein werden, um aus Ihren Werken zu lesen und Ihre Bücher zu signieren. Vielleicht können wir uns bei dieser Gelegenheit über emaillierte Dosen unterhalten, die Sie ebenso zu interessieren scheinen wie mich.

Mit freundlichen Grüßen,

Jane Bell (Mrs)

Herr, gib mir Kraft, dachte Kate. Kann oder will diese Frau nicht verstehen, dass Romane fiktiv sind? Ich habe mir das alles ausgedacht, Mrs Bell! Ich fürchte, das macht man so, wenn man Schriftstellerin ist. Andererseits war es angenehm zu wissen, dass wenigstens einer ihrer Fans anwesend sein würde, um ihrem Vortrag Beifall zu zollen. Sie griff nach dem zweiten Brief.

Liebe Kate Ivory,

ich freue mich sehr darauf, Sie in meiner Stammbuchhandlung persönlich kennen zu lernen.

Das klang doch schon viel besser! So etwas wollte man als Autor lesen. Aisling hatte ganze Arbeit geleistet, als sie Kates Fans für die Signierstunden mobilisiert hatte.

Ich interessiere mich für Sie, seit ich Ihr Foto auf dem Schutzumschlag von Flammen im Osten gesehen habe. Haben Sie mein kleines Geschenk erhalten? Ich hoffe, es gefällt Ihnen. Natürlich ist es ein Symbol, doch werden Sie dank Ihres Einfühlungsvermögens in Herzensdingen sicher verstehen, was ich damit gemeint habe. Ihr sehr ergebener J. Barnes

Vielleicht war diese Epistel doch nicht ganz die Art Brief, auf die Kate gehofft hatte. Mit dem kleinen Geschenk meinte J. Barnes wahrscheinlich den vierteiligen Ring; andere Geschenke hatte sie in letzter Zeit nicht erhalten. Hätte sie gewusst, dass ihr Bewunderer bei einer der Lesungen anwesend sein würde, hätte sie den Ring mitgenommen, anstatt ihn auf dem Wohnzimmertisch liegen zu lassen. Das war nicht schlau von dir, Kate. Welche mochte J. Barnes’ Stammbuchhandlung sein? Der Brief trug keine Anschrift. Kate warf einen Blick auf den Poststempel, doch da war nur der übliche, unleserliche Klecks. Wie sollte sie reagieren, wenn J. Barnes auftauchte? Der Brief klang schon ein wenig gespenstisch! Kate überlegte, ob sie bei Devlin anklopfen und ihn fragen sollte, wie man sich in einem solchen Fall am besten verhielt. Der ›Mann, der Frauenherzen versteht‹ würde möglicherweise eine Lösung wissen. Und wenn nicht, dann hatte der ›Mann mit der kreativen Seele‹ vielleicht eine Eingebung.

Kate ging zu Devlins Zimmer. Vor der Tür hielt sie einen Augenblick inne. Drinnen waren Stimmen zu hören. Schimpfende, murrende Stimmen. War er vielleicht nicht allein? Sollte sie sich besser zurückziehen, ohne ihn zu stören? Die Stimmen klangen allerdings nicht so, als wären ihre Besitzer mit intimen Aktivitäten beschäftigt. Sie klopfte.

»Scheiße!«, kam die Antwort von drinnen.

»Devlin?«

»Kommen Sie schon rein, verdammt noch mal. Lungern Sie nicht vor der Tür herum!«

Kate betrat das Zimmer.

Devlin stand in auberginefarbenen Samthosen und zinnfarbenem Seidenhemd mitten im Zimmer. Ein silbergrauer Schal lag auf seinem Bett.

»Ich kriege dieses verdammte Ding einfach nicht hin!«, knurrte er.

»Was wollen Sie denn machen?«

»Diesen Schal hier umbinden«, schimpfte er. »Wie zum Teufel sieht das bloß aus?«

»Sie müssen das rechte über das linke und das linke über das rechte Ende legen.« Kate versuchte zu helfen.

»Das lose Ende durch den zweiten Knoten ziehen«, sagte Devlin, ohne sie zu beachten, »es hinter dem festen Ende entlangführen und …«

Kate blickte sich im Zimmer um. Es war mit Devlins Habseligkeiten wie mit Girlanden geschmückt, doch sie konnte niemand anderen entdecken.

»Wo ist Ihr Freund?«, fragte sie.

»Was?« Devlin hielt ein Ende des inzwischen zerknitterten Schals hoch und blickte es an. »Welcher Freund?«

»Ach, nichts. Ich habe mich geirrt.« Kate wurde klar, dass die Stimmen beide zu Devlin gehörten. Er hatte offenbar mit widerspenstigen Kleidungsstücken gekämpft. Das blaue Hemd, das über der Nachttischlampe hing, sah aus, als hätte man es mit einigem Kraftaufwand weggeworfen. Neben der Tür des Kleiderschranks kauerte ein elendes Häufchen schwarze Hose.

»Warum machen Sie nicht einen einfachen Knoten? Ich mache es oft so und lasse die beiden Enden herunterhängen.«

»Das sieht Ihnen ähnlich!«, knurrte Devlin unhöflich. »Ich mag aber nun einmal diesen Knoten, bei dem die Enden ordentlich und genau nach unten hängen und nicht an den Seiten herausschauen.« Er schlang ein Ende um das andere und grunzte zufrieden. »Was wollten Sie von mir?«

»Ich habe überlegt, ob Sie viel Fanpost erhalten.«

»Ab und zu. Von Zeit zu Zeit. Ah, ich habe es geschafft.« Der Schal hatte sich geschlagen gegeben und ganz von selbst in die gewünschte Form geschlungen. Devlin streifte sich die Schlinge über den Kopf und bewunderte sein Werk im Spiegel. »Was halten Sie davon?«

»Klasse!«, lobte Kate. »Sieht richtig gut aus und steht Ihnen fantastisch.«

Devlin lächelte stolz. »Wo waren wir stehen geblieben?«

»Bei der Fanpost. Könnten Sie sich bitte diesen Brief einmal ansehen und mir sagen, ob Sie glauben …« Was denn eigentlich? Dass J. ein Spinner war? Kate unterbrach sich, reichte Devlin den Brief und beobachtete, wie er ihn durchlas.

»Der Typ hat nicht alle Tassen im Schrank!«, erklärte er überzeugt und gab ihr den Brief zurück.

»Sie glauben also, dass es sich um einen Mann handelt?«

»Könnte auch eine Frau sein. An der Handschrift kann man es nicht erkennen, am Briefpapier auch nicht.«

»Ich dachte vielleicht eher an eine Frau. Wegen der übermäßigen Verehrung.«

»Halten Sie das für eine typisch weibliche Eigenschaft?«

»Zumindest bringe ich es mit frustrierten Frauen mittleren Alters in Verbindung. Ich fürchte, das stempelt mich sowohl zur Sexistin ab als auch zu jemandem, der alte Menschen ablehnt.«

»Aber eine solche Frau würde wahrscheinlich eher an Tom Jones oder Barry Manilow schreiben als an Kate Ivory.«

»Ich bekomme häufig Post von Frauen. Wahrscheinlich, weil sie diejenigen sind, die meine Bücher lesen.«

»Ein durchaus logischer Schluss.«

»Kein Grund zu spotten. Was ist mit dem Geschenk, das er mir geschickt hat?«

»Das Symbol? Was war es?«

»Ich glaube, es war der goldene, wie ein Knoten geformte Ring, der unmittelbar vor meiner Abreise aus Oxford eintraf. Ohne Begleitbrief. Ohne Hinweis, von wem er stammen könnte.«

»Etwa eines dieser zusammengesetzten Dinger, die auseinanderfallen, wenn man sie zu scharf ansieht?«

»Genau.«

»Merkwürdig. Nun, wenn er behauptet, es wäre ein Symbol, dann hat er es vielleicht als Symbol für ein Geheimnis gemeint. Oder für ein Rätsel. Jedenfalls können Sie nichts anderes tun, als abwarten und sehen, was geschieht.«

»Aber es war ja nicht einfach nur ein Puzzle, sondern ein Ring. Ein goldener Ring. Was mag er damit ausdrücken wollen?«

»Na ja, da gibt es eine Menge Deutungen, nicht wahr? Angefangen bei Sexualität bis hin zu spirituellen Dingen. Sehr interessant!«

»Es gibt da noch etwas, was mich stutzig macht: Wenn er meine Privatadresse kennt – dort hat er den Ring hingeschickt –, warum lässt er mir den Brief dann über Fergusson zukommen?«

»Vielleicht handelt es sich ja doch nicht um die gleiche Person.« Devlin wandte sich wieder dem Spiegel zu und fuhr sich mit der Hand durch das dichte Haar, bis es wie vom Wind zerzaust aussah.

»Sollte ich vielleicht Gel benutzen? Was meinen Sie?«

»Eher nicht. Aber was soll ich damit anfangen?«

»Hm?« Devlin hatte die Oberlippe hochgezogen und prüfte die Lücke zwischen seinen Vorderzähnen.

»Der Brief! Wie soll ich reagieren?«

»Schreiben Sie ihm nach Ihrer Rückkehr nach Oxford einen freundlichen, aber unverbindlichen Brief. Das Geschenk würde ich überhaupt nicht erwähnen. Mehr können Sie nicht tun, oder?« Devlin hatte die Inspektion seiner Zähne beendet und widmete sich nun dem Sitz seines Hemdkragens. Er hatte das Interesse an ihrem Brief verloren, und Kate wusste, dass sie sein Zimmer hätte verlassen sollen. Aber sie brauchte immer noch beruhigenden Zuspruch.

»Er schreibt, dass er zu einer meiner Lesungen kommen will.«

»Vermutlich ist er völlig harmlos.«

»Und wenn nicht?«

»In einer Ansammlung von Menschen dürften Sie eigentlich sicher sein. Versuchen Sie, sich nicht von irgendeinem Verrückten in eine stille Ecke abdrängen zu lassen.«

»Und woher soll ich wissen, ob jemand verrückt ist?«

»Starre Augen, struppige Haare, Stroh in den Ohren. Das Übliche eben.«

»Vielen Dank, Devlin!« Immerhin konnte sie wieder lachen.

»Wir treffen uns unten«, sagte er, öffnete die Tür und wartete, dass sie ging. »Und machen Sie sich nicht zu viele Sorgen. Gibt es nicht seit einiger Zeit ein Gesetz, das junge attraktive Frauen vor den Nachstellungen bösartiger Stalker schützt? Sie brauchen nicht nervös zu werden, glauben Sie mir.«

»Meinen Sie wirklich, es könne sich um einen Stalker handeln?« Der Gedanke erschien ihr irgendwie schmeichelhaft.

»Ich war bisher davon ausgegangen, dass Stalker nur Fernsehstars und Schauspielerinnen verfolgen. Jedenfalls habe ich noch nie gehört, dass es auch Schriftstellerinnen treffen kann.«

Als Kate in ihr Zimmer zurückkehrte, war ihr erheblich heiterer zumute. Sie heftete die Briefe in einer Kladde ab; die Antwort würde warten müssen, bis sie nach Oxford zurückkehrte. Genau genommen musste sie sich wirklich keine Sorgen machen. Devlin war breit und kräftig genug, um ihr Vertrauen zu besitzen. So lange er in der Nähe war, würde sie sicher sein.