12

Erschöpft von der Anstrengung des weiten Weges, das lahme Bein mühsam nachziehend, stieg Kiri unbeholfen durch die schmale Öffnung in Mischas Höhle, wo sie mit Erleichterung willkommen geheißen wurde. Ihre innere Unruhe, die mit dem Zweck ihres Besuches zusammenhing, war so groß, daß sie kaum Erschrecken über Chris' Zustand zeigen konnte. Sie hatte ihn nicht so sehen wollen und nicht wirklich gedacht, daß sie ihn jemals wiedersehen würde. »Mischa, es tut mir sehr leid ...« Ihre Stimme stockte, sie rang nach Atem wie nach Worten. »Du .... du mußt fort von hier.«

»Noch nicht.«

»Alle sind hinter dir her. Die Nachricht verbreitet sich schneller, als ich laufen kann; als ich fortging, hatte sich im Kreis bereits eine Menschenmenge versammelt.«

»Sie wissen nicht, wo ich zu finden bin.«

»Es sind Leute vom Schiff dabei. Sie haben Methoden, von denen wir keine Ahnung haben.«

»Sie hat recht«, sagte Jan.

Mischa kehrte den beiden den Rücken und beugte sich über Chris. Der schwarze Überzug hatte sich weiter ausgebreitet und lag nun wie ein Helm über Chris' Haar. Kiri war drauf und dran, die Geduld zu verlieren; ihre Sorge um Mischas Wohlergehen lag im Kampf mit ihrem Zorn über Mischas Eigensinn.

»Sie sind auch hinter Ihnen her«, sagte Kiri zu Jan.

»Das dachte ich mir.«

»Es scheint Sie nicht sehr zu beunruhigen.«

Er zuckte die Achseln.

»Haben Sie schon einmal erlebt, daß auf Ihren Kopf ein Preis ausgesetzt war?«

Ungeachtet der Situation und seiner trüben Stimmung mußte er lachen. »Ein Preis? Nein.«

»Meinen Sie, die Leute jagten Sie aus Liebe zu den Fremden? Sie sind ein gutes Stück Geld wert, also nehmen Sie sich in acht. Niemand wird Ihren schönen Augen zuliebe auf die Belohnung verzichten.«

»Ich werde den Rat beherzigen.«

Mischa trat vom Bett zurück. Chris' Züge waren wächsern und unbeweglich; im matten Schein der Lichtzellen schien Mischas Gesicht so blaß wie das ihres Bruders.

»Mischa!« sagte Kiri.

Sie antwortete nicht. Ihr Gesichtsausdruck war starr, die Augen blicklos.

»Schaffen Sie Mischa fort von hier«, sagte Kiri, zu Jan gewandt. »Gehen Sie mit ihr, so weit Sie können, bleiben Sie weg, so lange Sie können. Wenn Sie zurückkehren müssen, kommen Sie bei Nacht, und ich werde versuchen, Ihnen zu helfen; zumindest werde ich wissen, ob Sie noch immer gejagt werden.«

Sein Ausdruck veränderte sich. Kiri hatte das Gefühl, daß er erst jetzt den Ernst seiner Lage wirklich begriff. Er nickte, faßte Mischas Arm und zog sie zum Ausgang. Mischa folgte ihm mechanisch.

»Warten Sie«, sagte Kiri. »Haben Sie ein Licht?«

Er wandte sich zu ihr um. »Nein.«

»Hier.« Sie streckte ihm ihre Lampe hin. Wie er in der Dunkelheit des Untergrundes überleben sollte, blieb eine offene Frage, aber einstweilen war es die einzige Option.

»Kiri ...?« Mischas Stimme klang verloren und kindlich. »Es ist schon gut, Mischa, geh nur.«

Mischa schien sie nicht zu hören. »Nicht viel länger ....« »Schnell jetzt!« zischte Kiri. »Schaffen Sie Mischa fort von hier!«

Jan nickte ihr hastigen Dank zu, nahm die Lampe an sich und zog Mischa hinaus in den Stollen.

 

Im bläulichen Schein der Lichtzellen, allein mit Chris, begann Kiri bald ihre Lampe zu vermissen. Wie zahlreiche andere Bewohner der unterirdischen Stadt hatte sie es sich zur Gewohnheit gemacht, eine Karbidlampe bei sich zu tragen, seit es in den letzten Jahren mit zunehmender Häufigkeit zu Ausfällen der Stromversorgung gekommen war. Die Schüssel mit den Lichtzellen schien ihr ein höchst unzureichender Ersatz für die strahlende Helligkeit der vertrauten Lampe.

Nur Chris' Gesicht war noch frei von dem schwarzen Überzug. Kiri hinkte zu ihm, bückte sich und berührte mit zarten Fingerspitzen seine glatte, kalte Wange. In all den Jahren ihrer Bekanntschaft war seine Lebenskraft stark und sein Leben ein Fest gewesen. Jetzt, ausgezehrt und fahl, ein vom Leben fast verlassener Körper, war er ihr sowenig kenntlich wie sie sich selbst; in ihren Gedanken war sie kein jämmerliches Geschöpf, das humpelte, statt zu laufen, das ihr von reflektierenden Oberflächen, die sie nicht vermeiden konnte, abstoßend entgegenstarrte. Sie legte die Fingerspitzen an seine Schläfe und fühlte nach seinem Puls. Die einzige Wahrnehmung war die von Kälte, als der Überzug seinem Körper den letzten Rest Energie entzog. Der unaufhaltsam sich ausbreitende schwarze Belag schob ihre Finger langsam, beinahe unmerklich, über seine Stirn. Kiri vermochte nicht zu sagen, ob Chris tot war, oder ob tief in seinem Inneren noch ein Funke von Leben glomm. Schließlich war es gleich; wichtig war, daß Mischa unversehrt hatte entkommen können.

Kiri erhob sich vom Lager und schaute Chris nicht mehr an, Vor Jahren hatte sie eine solche Umschließung beobachtet, und jeder Augenblick des Prozesses hatte in ihren Träumen vielfache Wiederholung erfahren. Und nun mußte sie es noch einmal sehen, als gelte es, ihre Erinnerungen aufzufrischen. Obgleich sie mit dem schmatzenden Geräusch gerechnet und es erwartet hatte, schrak sie zusammen, als es kam. Die Umhüllung schieb sich über Chris' Augen. Die Echos des Endes verhallten; Kiris Pflicht war erfüllt. Chris lag eingehüllt im Halbdunkel der Höhle, und sie konnte nichts mehr tun.

Sie verließ die Nische, ohne sich umzusehen. Als sie müde durch den Radialstollen zum Zentrum zurückhumpelte, begegnete ihr der erste Suchtrupp. Die meisten seiner Mitglieder hatten sich mit Lampen ausgerüstet, ein paar waren bewaffnet, aber niemand schien daran gedacht zu haben, sich mit Proviant zu versehen. Angetrieben nur von ihrem Verlangen, die ausgeschriebene Belohnung zu gewinnen, würden sie sich nicht weit in den Untergrund wagen. Kiri meinte nicht, daß Mischa und ihr Begleiter viel von ihnen zu fürchten hatten; und sie bezweifelte, daß die Fremden vom Schiff Lust verspürten, sich in den dunklen Labyrinthen der Tiefe zu verlieren. Erst wenn ihre Anführer kämen, um selbst die Suche zu leiten, würde die Gefahr real sein.

 

Die letzten Lampen der Stollenbeleuchtung blieben zurück; die natürlichen Höhlengänge führten weiter abwärts, verzweigten und verengten sich, da und dort notdürftig verbreitert, um einen Durchlaß zu schaffen.

Jan ging mit der Lampe voran, bestrebt, einen möglichst geraden Kurs zu halten. Wenn sie abschüssige und schlüpfrige Stellen passierten oder sich auf schmalen Leisten an den Rändern tiefer Auswaschungen entlangtasten mußten, gab er Mischa die Hand, um ihr weiterzuhelfen. Sie sprach und reagierte nicht, schien kaum zu sehen, wohin er sie führte. Zuweilen waren sie von fernen Echos umgeben, die aus den natürlichen Gängen der weitverzweigten Kalkhöhlen zu ihnen drangen: verzerrte Geräusche von plätscherndem Wasser, säuselnden Luftströmungen, fernen Stimmen und Tritten ihrer Verfolger.

Schließlich mußten sie ausruhen.

Mischa wurde unruhig, schlug die Augen auf und blinzelte ins grelle Licht der Karbidlampe. Sie wandte den Kopf und blickte in seine schwarzen Augen auf, die in einem so eigenartigen Kontrast zu seinem blonden Haar standen. Sein Gesicht war staubig, und die offene Jacke zeigte dunkle Schweißflecken unter den Achseln.

»Fühlst du dich etwas besser?«

Sie fühlte die Schwere in den Gliedern, sah sich um und erkannte den Ort, wo sie lagerten. Sie waren weit in den tiefen Untergrund vorgedrungen, doch machte Mischa sich nichts daraus. Sie befand sich in einem Zustand tiefer Gleichgültigkeit. Als er seine Frage wiederholte, murmelte sie etwas, was nicht einmal sie verstand.

»Macht nichts«, sagte Jan. »Schlaf noch ein wenig.«

 

Mischa fuhr bolzengerade auf, schreiend, gefangen inmitten der Zertrümmerung. Sie sah die Höhle und Jan im Lampenschein, und seine ruhige, vollständige Gegenwart brachte sie zur Besinnung.

»Staub«, flüsterte sie.

»Was?«

»Staub. Es war, als verwandle er sich in Staub. Er konnte nirgendwo hin. Es ist nichts von ihm übrig ...« Unvertraute Spannungen bauten sich in ihr auf, verschlossen ihr die Kehle, trübten die Sicht, und sie hatte keine Kraft, ihnen zu widerstehen. Ihr Gesicht war naß.

»Es tut noch lange weh«, sagte Jan schließlich, »aber der Schmerz läßt allmählich nach.«

Mit festem Griff seinen Arm umklammernd, schlief sie wieder ein.

 

Mischa fühlte sich aus tiefem und traumlosem Schlaf gerüttelt. Sie fühlte sich nicht mehr müde, aber lethargisch, verloren und stumpfsinnig.

»Ich glaube, es ist Zeit.«

Sie rieb sich die Augen und blickte zu ihm auf. Seine Wange war gerötet und zeigte den Abdruck seines Armes, den er als Kissen benutzt hatte. Das Licht warf Schatten um ihn und glänzte auf dem feinen goldenen Flaum seiner Handrücken. Sie zwinkerte, doch die Bedeutung seiner Worte entging ihr. Er nahm sie bei der Hand und half ihr auf. Sie widerstand nicht.

Sie setzten ihre scheinbar endlose Wanderung ins Innere des Kalkmassivs fort.

 

Er folgte dem Lichtkegel der Karbidlampe, die willenlos hinter ihm einherstolpernde Mischa an der Hand. Immer mehr wurde ihm bewußt, welchen Dank er Kiri schuldete; ohne ihr Licht wäre er vollständig hilflos gewesen, verloren im unwegsamen Höhlenlabyrinth. Mischa schenkte weder ihm noch ihrer Umgebung irgendwelche Beachtung. Hatte er sich zuerst gefreut, daß sie den Tod ihres Bruders überlebt hatte, so sorgte er sich jetzt, ob sie ihn in geistiger Gesundheit überlebt hatte.

Die Höhlen waren schön in der Vielfalt ihrer Formen, Größen und Gliederungen, doch zogen im Verlauf der Stunden so viele Variationen des gleichen Themas an ihnen vorüber, aus der Dunkelheit für Sekunden im schwankenden Lichtkegel auftauchend, um gleich darauf wieder in Schwärze zu versinken, daß seine Sinne immer mehr abstumpften. Er mußte sich zwingen, nach etwaigen Geräuschen von Verfolgern zu lauschen; dann, wenn er sich konzentrierte, begann seine Wahrnehmung ihm mit den Echos ihrer eigenen Schritte und ihrem Atem Streiche zu spielen, bis er sich von lauernden Spähern aus der unterirdischen Stadt umringt wähnte. Da seine Uhr stehengeblieben war, hatte er keine Möglichkeit, die Stunden zu zählen. Er grübelte lang über die Frage nach, was er hätte tun können, um zu verhindern, was geschehen war, kam jedoch zu keinem Ergebnis als dem, daß er sich auf die unmittelbare Vergangenheit und die Erinnerung an sie zurückgeworfen sah, die er zu meiden suchte.

Die religiösen Rituale, die im Haus seines Vaters beobachtet worden waren, hatten den Zweck gehabt, die Selbsttäuschung des alten Mannes aufrechtzuerhalten. Sie hatten Jan niemals etwas bedeutet, noch hatte er je einen Glauben gefunden, der ihm paßte. Und obgleich er keine bewußte Entscheidung getroffen hatte, an nichts mehr zu glauben, war jetzt mit dem Unglauben leichter zu leben. Die Worte, die Mischa nach dem Erwachen aus ihrem Alptraum gemurmelt hatte, wollten ihm nicht aus dem Kopf. Ganze Philosophien waren auf weniger errichtet worden. Er mußte sich ermahnen, nicht allzu ernst zu nehmen, was sie inmitten von Erschöpfung, Alptraum und Kummer gesagt hatte, konnte aber nicht umhin, über ihre mögliche Bedeutung nachzusinnen. Er konnte nirgendwo hin ... Aber vielleicht war sie nicht in der Lage gewesen, Chris weit genug zu folgen, um zu wissen, was nach seinem Tode geschehen war.

Vielleicht waren diese Grübeleien nur ein Versuch, sich angesichts der Ewigkeit und Unendlichkeit zu trösten. Es war nicht, was er wollte: Zerfall und Zerstörung anstelle von Rechtfertigung oder Bestätigung. Doch wenn er nicht anfangen wollte, unangenehme Informationen zu unterdrücken, mußte er die Möglichkeit gelten lassen, daß alle Religionen und Philosophien falsch waren: daß es kein Leben nach dem Tode gab, keine Bestrafung im schrecklichen Höllenfeuer, keine ewige Seligkeit im Himmel, nicht einmal das losgelöste Bewußtsein im Nirwana. Einfach und endgültig nichts. Er blickte zu Mischa, die sich ausdruckslos und ohne Verstehen dahinbewegte, und fragte sich, ob man verstehen könne, was sie gesehen hatte, ohne in geistige Zerrüttung zu versinken.

Der Höhlengang endete in einer steilen und engen Röhre. Über ihr phosphoreszierte ein auf den Stein gemaltes Spinnensymbol silbriggrün im Lampenschirm. Die sorgfältig ausgeführte Zeichnung war das einzige Anzeichen von Menschen, das Jan hier unten bemerkt hatte. Er leuchtete in die Röhre, konnte aber das untere Ende nicht ausmachen. Windungen, Felsvorsprünge und ihre Schlagschatten verhinderten tieferen Einblick. Er faßte Mischa bei den Schultern. »Hör zu, Mischa. Du mußt jetzt versuchen zu verstehen. Weißt du, wo wir sind? Weißt du, was dort unten ist?« Er leuchtete das Zeichen an, dann die Mündung der ausgewaschenen Felsröhre.

Mischa blickte mit verständnislosem Ausdruck hin und schüttelte den Kopf. Jan wußte nicht, ob sie antwortete oder sich weigerte zu antworten.

»Wir sollten lieber einen anderen Weg suchen.«

Plötzlich vergrub sie die Hände in ihrem wirren Haar und ballte sie zu Fäusten. »Nein ...«

Allein der Umstand, daß sie gesprochen hatte, war ihm eine große Erleichterung. »Fühlst du dich besser? Ist alles in Ordnung? Kann ich etwas tun?«

»Einfach – ruhig sein.« Sie sprach langsam und mit sorgfältiger Artikulation. »Seien Sie ruhig, so wie Sie waren«, und er begriff, daß sie nicht Schweigen meinte.

»Ich werde mich bemühen.«

Er bückte sich und kroch in den engen Gang. Dieser war kaum breit genug für seine Schultern, und er mochte nicht darüber nachdenken, wie er wieder herauskommen sollte, falls die Röhre sich noch mehr verengte. Er hörte Mischa nachkriechen und konnte nur hoffen, daß sie ihm weiter folgen würde; an ein Umdrehen war nicht zu denken, er konnte nicht einmal den Kopf wenden. Wenigstens hatte er die Lampe, um zu sehen, wohin die Reise ging.

Stellenweise weitete sich die Röhre ein wenig, und er konnte Mischa sehen. Sie sprach nicht wieder, schien sich aber aus der Teilnahmslosigkeit zurückzuziehen. Mehrere Male galt es Engstellen zu überwinden, die Jan, der sich kaum noch durchzwängen konnte, an den Rand nackter Panik brachten. Der Höhlengang mußte früher einmal vom Wasser ausgespült worden sein, denn bei allen Windungen behielt er einen abwärtsgerichteten Verlauf. Streckenweise bestand er aus trockenem und festem Fels, dann zeigte er sich wieder feucht, lehmig und erschreckend schlüpfrig. Das mühsame Vorwärtskriechen durch die abschüssige Röhre wollte kein Ende nehmen, und es schien Jan, als ob er seit Stunden in dieser höllischen Röhre stecke, die – eine geologische Monstrosität – für immer abwärts führte. Seine Knie und Ellbogen waren abgeschürft, die Hände waren lehmverschmiert und bluteten aus zahlreichen kleinen Schnitten und Rissen. Das ständige Kriechen auf abschüssiger Bahn überanstrengte seine schmerzenden Schultermuskeln. Vor ihm erstreckte sich die Röhre in bedrückender Enge oder schien blind zu enden, wenn eine scharfe Biegung voraus lag. Es war schwierig, die Lampe zu halten und zu kriechen.

Dann glaubte er leichten Luftzug im Gesicht zu fühlen; wenige Meter weiter schien jenseits der beengenden Wände ein größerer offener Raum in Sicht zu kommen. In seiner Ungeduld ließ er alle Vorsicht fahren und schob sich weiter, so schnell er konnte. Nässe glitzerte in blendenden Reflexen an Decke und Boden des Höhlenganges, doch nun konnte er die hohlen Echos einer Höhle hören. Er krabbelte weiter.

Seine Hände griffen in scharfkantige, splittrige Gesteinsbildungen. Er keuchte und zog sich im Reflex zurück. Über ihm zerrissen messerscharfe Grate seine Jacke und schnitten in sein Fleisch, um unter den heftigen Bewegungen seines Körpers mit glasig-sprödem Klang zu zerspringen. Mit einem Aufschrei fiel er wieder vorwärts, verlor den Halt am Rand des abschüssigen Höhlengangs und stürzte in den leeren Raum dahinter. Er verlor die Lampe, die mit metallischem Klappern über steiles Gestein davonrollte. Seine Schulter prallte auf glatten Fels, und er glitt über schlüpfrig-glatte Platten und Wülste, bis er in feuchtem Sand landete. Warmes Blut überrann seine Hände und Unterarme, durchnäßte den Stoff auf seinem Rücken und sickerte ihm über die Rippen. Er fühlte sich wie in Brand gesetzt. Seine Hand streifte den zerfetzten Jackenstoff des Ärmels, und die Nerven kreischten auf.

»Mischa .«

Er konnte nichts sehen; die Angst, daß die Lampe zerbrochen oder daß er erblindet sein könnte, war beinahe gleich. Er begriff, daß er Mischa in dieselbe Falle gerufen hatte, und versuchte sie zu warnen, hörte aber nur sein rauhes, entkörperlichtes Stöhnen. Er versuchte auf die Beine zu kommen, kauerte zitternd auf allen vieren, unfähig, den Kopf zu heben. Als er versuchte, sich zu bewegen, rieben sich Scherben zersplitterter Kristalle aneinander und schnitten tiefer in sein Fleisch. Das Gehör schien neben dem Gefühl rasenden Schmerzes der einzige ihm verbliebene Sinn zu sein, und jedes Geräusch war wie Donner. Wieder versuchte er Mischa zu warnen, doch nun trübte sich auch sein Gehör, und er verlor das Bewußtsein.

 

Mischa hörte die splitternde kristalline Musik und Jans warnenden Schmerzensschrei. Sie wußte, daß sie verstehen sollte, was geschehen war, aber die Anstrengung war zuviel. Seiner Ruhe und seiner wortlosen Ermutigung beraubt, verhielt sie im Vorwärtskriechen, verwirrt und apathisch. Der Stein unter ihren Händen war kühl und glatt; sie legte sich nieder und ließ die Stirn am kühlen Fels ruhen. Sie fühlte sich zerschlagen und betäubt. Während sie Zeit zum Ausruhen und zur Besinnung brauchte, hatte sie sich vorwärtstreiben lassen und sich gleichzeitig in den Kern ihres Bewußtseins zurückgezogen, bis nur noch ein isolierter Rest wachen Verstandes übriggeblieben war, der gerade ausreichte, ihr Vorwärtskriechen zu steuern.

Von Chris blieb kein Echo. Bisher hatte immer eine Resonanz zwischen ihnen existiert, gleichgültig, wie weit voneinander getrennt sie waren. Diese Verbindung hatte aufgehört und verstreute Stückchen einer Leere zurückgelassen, taube Stellen im Bewußtsein. Mischa glaubte, daß nichts den Verlust ersetzen könnte: Sie mochte den Raum um die tauben Stellen ausfüllen und sie abschließen, aber die Stellen selbst würden dennoch bleiben, wie sie waren. In ihrer Benommenheit suchte sie immer wieder den Kontakt zu ihrem Bruder und stolperte jedesmal in seine Nichtexistenz. Sie konnte seinen Tod noch nicht akzeptieren, obwohl sie ihn vom Halbschlaf zur Bewußtlosigkeit des Komas begleitet hatte. Sie war in die Auflösung seiner Persönlichkeit hineingezogen worden und hatte den Kontakt erst im letzten kritischen Augenblick unterbrochen, als sie erkannt hatte, wie tief eingetaucht er war, wie nahe ihre eigenen Gedankenprozesse seinen in Auflösung begriffenen parallel liefen, wie nahe ihr Verstand dem Zerfall war.

Nach dieser Selbstbefreiung hatte sie dennoch zusehen und fühlen müssen, wie Chris starb.

Sie hatte nie eingehend über den Tod nachgedacht, war vielleicht durch Gemmis Entsetzen davor an solchen Überlegungen gehindert worden. Das zumindest verstand sie jetzt. Ohne Glauben an ein Leben nach dem Tode noch an irgendeine Philosophie der Seele, hatte sie gleichwohl gefühlt, daß jeder Mensch unter den Kompliziertheiten der Persönlichkeit einen grundlegenden und unveränderlichen Kern besitzen müsse. Doch nun hatte sie gesehen, daß von Chris nichts übriggeblieben war. Jede Facette seines Wesens war zersprungen, und die Scherben waren in Uniformität zerschmolzen: Aus der Vielfalt der Verflochtenheit war die Einheitlichkeit des Nichts geworden.

Das schien jetzt sehr willkommen. Sie war so müde, und all ihre Chancen hatten sich zerschlagen: Sie war am Ende ihrer Möglichkeiten. Sie hatte sich bemüht, so lange sie konnte, länger.

Dennoch hörte sie wieder das Splittern der kristallinen Dolch-klingen ... mit einiger Befriedigung, daß sie nichts mit ihnen zu tun haben mußte. Dann fühlte sie eine zögernde Berührung an der Schulter ... und versuchte sie zu ignorieren, aber die Gegenwart eines lebenden Wesens zog sie ins Bewußtsein zurück.

»Laß mich in Ruhe ...«

Ein leise tickendes Geräusch drang durch die Enge des Höhlenganges an ihr Ohr, und das Geschöpf, das es erzeugt hatte, rührte sie mit seinen Gedanken an, vertrauten Obertönen von scharfer, aber nichtverbaler Klarheit. Menschlich, doch um neunzig Grad gegen jedes menschliche Bewußtsein verschoben, das sie je kennengelernt hatte, die Quadratwurzel von minus eins. Es war kein Kind, es war nicht unintelligent, aber es hatte keine Worte. Es begegnete ihr und zog sie mit der Freude seiner Begrüßung zurück zum Leben. Seine Verwandtschaft war unverkennbar. Es machte sich an ihr fest, drängte sie, zog sie, zwang sie zur Rückkehr.

Seufzend und unwillig schlug Mischa die Augen auf und drehte den Kopf so, daß ihre Wange am glatten Fels lag. Das Geschöpf ließ nicht von ihr ab, blubberte und bewegte sich, und die kristallinen Strukturen sangen wieder.

Mischa entsann sich Jan Hikarus.

Adrenalin pumpte Energie in ihren müden Körper. Sie erhob sich auf die Knie. Das Geschöpf kauerte vor ihr zwischen den scharfkantigen Kristallen, scheinbar unempfindlich gegen sie. Es war kaum als menschlich erkennbar, mit einem breiten und flachen Körper, der vornübergebeugt auf kurzen, krummen Beinen saß, einem Kopf, der sich unmittelbar aus den Schultern zu entwickeln schien und sie aus großen, vorquellenden Augen betrachtete. Es hob die klauenartigen Hände und bewegte hornige Finger mit tickenden Geräuschen gegeneinander. Nur die Daumen waren als gegengestellte, selbständige Gliedmaßen kenntlich; die vier übrigen Finger einer jeden Hand waren zu einem einzigen verschmolzen. Seine Haut war dick und schuppig.

»Ich muß zu Jan«, sagte Mischa, projizierte das Vorstellungsbild und hoffte, das Unterweltgeschöpf werde verstehen. Es zog sich zur Mündung des Höhlengangs zurück und kam außer Sicht.

Mit beiden Händen den Boden vor sich abtastend, kroch Mischa weiter. Der Röhrenausgang war warm genug, daß sie undeutliche Konturen wahrnehmen konnte und die kristallinen Auswüchse oben und unten waren kühler, dunkler, zersplitterte schwarze Klingen. Als ihre Finger scharfe Kanten streiften und das helle, spröde Klingen abbrechender Splitter auslösten, machte sie halt, zog die Beine an und sprang durch die Öffnung.

Sie kam frei von dem gefährlichen Kristallbewuchs der Einmündung, versuchte sich im Fallen herumzuwerfen und landete im lehmigen Sand. Der Bewohner des Untergrunds kauerte neben Jan.