10
Gemmi expandierte durch Mischas Bewußtsein, lachend vor Vergnügen, obschon gezwungen, sie aufzusuchen. Mischa krümmte sich. »Nein«, murmelte sie, »nicht jetzt. Geh fort!« Aber sie sprach mehr zu sich selbst, nicht zu Gemmi. Gemmi konnte nicht verstehen.
Mischa hielt still, zog sich in der Hoffnung, Gemmi werde sie verlieren, in sich selbst zurück und wartete. Es war möglich, daß Gemmi nur alte Erinnerungen durchlebte; bisweilen stellten sie sich ungebeten ein, und das Kind hatte keine Möglichkeit, sie zurückzuhalten. Aber dies war wirklich: Kreischend fand sie Mischa wieder und wimmerte, rief sie aus Angst, Schmerzen zu erleiden, zu sich.
Mischa hatte den Ruf erwartet und gewußt, daß mindestens ein Besuch beim Onkel unausweichlich wäre, ehe sie mit Subzwei das Zentrum verlassen könnte. Sie hatte sich nicht allzusehr darum gesorgt; solange sie ihre Pläne geheimhielt, sollte alles wie gewohnt seinen Fortgang nehmen. Aber der Ruf war zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt ergangen. »Ich kann jetzt nicht kommen!« schrie Mischa in die Stille des Raumes. »Ich werde später kommen. Morgen. Geh fort!« Gemmi weinte und schrie wieder, daß ihre Stimme in Mischas Kopf widerhallte. Mischa wußte, daß keine Versprechungen ihre Schwester beruhigen konnten, sondern nur ihr eigenes Erscheinen. Sie stand auf und zog ihre Beute aus dem Versteck, einer Felsspalte hinter dem Wandteppich. Den Lederbeutel mit Steinen steckte sie in die Hosentasche, den wertvolleren Augenschmuck in seinem flachen Lederetui verbarg sie in einer Innentasche der Jacke. So verließ sie ihr Zimmer.
Im Korridor begegnete sie Jan, der sie lächelnd grüßte, sich aber sogleich ernüchterte, als er ihre düstere Miene bemerkte. »Was ist geschehen?«
»Ich muß fort.«
»Wirst du bis morgen früh zurück sein?«
»Ich werde es versuchen«, sagte sie. Sie hatte den Vorsatz, wußte jedoch, daß es nicht einfach sein würde, bis zu ihrem vereinbarten Besuch bei Subzwei zum Rand der Stadt und zurück zu gelangen. »Ich kann nichts daran ändern, es ist etwas, was ich erledigen muß.« Gemmi spürte, daß sie haltgemacht hatte, und begann wieder zu kreischen. Mischa schloß die Augen und konzentrierte sich darauf, sie zu beruhigen. »Ich komme«, flüsterte sie.
Jan nahm sie beim Arm, beugte den Kopf und spähte ihr ins Gesicht. »Fehlt dir was?«
Sie blickte zu ihm auf. Seine hellen Augenbrauen waren zusammengezogen, die Augen darunter waren forschend und voll Mitgefühl; durch das Kreischen in ihrem Kopf war ihr dumpf bewußt, daß sie ihn um Hilfe bitten wollte. »Nein«, sagte sie mit einem resignierten Ausstoßen des Atems. Sie konnte ihn um nichts bitten. Sie machte sich los und ging weiter.
»Mischa?«
Sie wandte sich rasch um, plötzlich ungeduldig.
»Wenn ich helfen kann ....«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Danke, aber das ist nicht möglich.«
Jenseits der regulären Tunnels und Stollen des Zentrums begannen die Höhlengänge abwärts zu führen. Mischas Familie, als sie noch eine Familie gewesen war, hatte in den Wurzeln des Systems gelebt, beinahe im tiefen Untergrund. Gemmi ließ Mischa keine Ruhe, jammerte und drängte sie zu schnellerem Gehen. Mischa ließ sich nicht antreiben, versuchte aber auch nicht, ihre Schwester wegzustoßen. Gemmi wurde nicht geschlagen. Ihr Onkel hatte seit der Zeit, als er sie krank gemacht hatte, damit aufgehört.
Manchmal hoffte Mischa, er werde sie töten.
Beim Gedanken an den Tod schrie Gemmi laut auf. Ihre Furcht überschwemmte Mischa mit einem Geschmack wie von geschmolzenem Kupfer. Die Intensität des Gefühls erschütterte sie, und es kostete sie Zeit und Anstrengung, bis sie ihre Schwester soweit besänftigt hatte, daß Gemmi nur noch wimmerte. Mischa blieb stehen und lehnte sich an die Stollenwand. Gemmi wußte nicht, was der Tod war, aber er ängstigte sie; sie spürte es jedesmal, wenn jemand in ihrem Wahrnehmungsbereich starb. Ihre Wahrnehmung vom Sterben war so unscharf und von Furcht gefärbt, daß Mischa nicht zu sagen wußte, was ihrer Schwester solche Angst einjagte.
Als sie ruhiger geworden war, setzte sie ihre Wanderung fort. Sie passierte den Brunnenraum mit dem kühlen Geräusch plätschernden Wassers und kam in den vertrauten Verbindungstunnel, in dem jedesmal, wenn Mischa hierher zurückkehrte, weniger Lampen brannten. Sie fielen aus, und niemand machte sich die Mühe, sie zu ersetzen. Nun, bei Nacht, verbreiteten sie ein trübes Glimmen.
Mischa kannte jeden, der hier unten lebte; es waren ebenso viele verschiedene Typen wie Individuen. Ein paar von ihnen hatten ein gutes Leben gekannt und es verloren, andere hatten niemals eine Chance gehabt, und viele waren zur Gleichgültigkeit abgestumpft. Sie sprach mit denen, die von ihr Notiz nahmen. Die Leute wurden zornig, wenn sie das Mitleid anderer spürten, also zeigte sie es nicht. Auch konnte sie sich ihnen nicht überlegen fühlen; sie standen ihr viel zu nahe.
Sowie es Mischa gelungen war, ihre Gedanken vom Tod abzuwenden, hatte Gemmi ihre Furcht vergessen. Das Kind gurgelte vor Vergnügen und Aufregung, als Mischa näher kam, bis die Stimme ihres Geistes sich mit hörbaren, entstellten Worten vermischte. Mischa durchstieß den klebrigen, säuerlichen Dunstkreis, der Gemmi anhaftete, aber das Kind sprang zurück und lachte. Ihr Onkel wußte die Zeichen von Mischas Annäherung zu lesen.
»Beeil dich!«
Die Tür stand angelehnt, um sie einzulassen; sie stieß den neuen Samtvorhang zurück, der dahinter angebracht war. In einer Höhle, die bisher immer trübe erhellt gewesen war, herrschte strahlendes Licht. Ihre Eltern hatten auf Beleuchtung keinen sonderlichen Wert gelegt, denn sie waren in ihren eigenen, separaten Geisteswelten zufrieden gewesen, hatten sich im Laufe der Jahre mehr und mehr voneinander und von den Kindern entfernt, bis Gemmi eines Tages zu weinen angefangen hatte, so laut und verzweifelt, daß es Mischa und Chris zu ihr gezogen hatte, um sie zu trösten und zu beruhigen, damit sie aufhörte, direkt in ihre Gehirne zu schreien. Sie hatte Grund genug gehabt: Ihre Eltern waren tot, und das mußte sie entsetzt haben, obwohl die beiden toten Gesichter einen Ausdruck von Frieden trugen. Mischa dachte manchmal, daß sie nicht sosehr gestorben waren, als vielmehr ihre Existenz zum logischen Extrem getrieben hatten. Mischa hatte sie selten gesehen und wußte nicht, was ihre Abwendung von der Realität verursacht hatte. Es konnte Geisteskrankheit gewesen sein, Apathie, meditative Absonderung oder eine Fähigkeit, in die Gedankenwelt anderer einzubrechen, wie Gemmi sie hatte. Sie waren unstet umhergewandert, selten gesprächig, nach außen hin beschränkt auf die Befriedigung ihrer biologischen Notwendigkeiten. Sie und ihre Kinder wurden mehr schlecht als recht vom verkrüppelten Onkel der Kinder versorgt, der als Gegenleistung dafür zuerst von Chris und dann, als sie ins erwerbsfähige Alter kam, von Mischa Unterstützung empfangen hatte.
Mischas Onkel: Sohn von ihres Vaters Vater und ihrer Mutter
Mutter, Halbbruder zu beiden Eltern Mischas, ein doppelter Halbonkel. Er war nie froh gewesen, nie zufrieden mit den Rationen zur Bestreitung des Lebensunterhalts. Seit er von Gemmis telepathischer Kraft erfahren hatte, waren seine Forderungen gewachsen und hatten in jüngster Zeit beschleunigt zugenommen. Jetzt wußte Mischa, wofür er das zusätzliche Geld wollte.
Ausgestattet im Stil des Steinpalastes, enthielt die alte Höhle weiche Polster, Teppiche, Gobelins und viele Lampen. Delikatessen, in der Außenwelt gezogene und importierte Früchte füllten eine Schale auf einem niedrigen Tisch. Eine Gefährtin räkelte sich im Hintergrund des Höhlenraumes, blickte Mischa wie im Halbschlaf unter schwer herabsinkenden Lidern an: eine von den samtig-schönen, knabenhaften Gestalten, die ihr Onkel bevorzugte, nur war diese um Klassen besser als alles, was Mischa hier unten zu sehen gewohnt war. Um Klassen besser, und um Klassen kostspieliger. Mischa kannte den Wert dessen, was sie zusammengestohlen hatte; soviel war es nicht.
Ihr Onkel lag auf einem breiten Ruhebett, angetan mit einem langen, weiten Umhang, der seine verkrüppelten Beine verbarg. In bizarrer Parodie glücklicher Vaterschaft hielt er Gemmi in seinem Schoß umfangen. Sie kuschelte sich an ihn, zufrieden mit jedem Brocken menschlicher Zuwendung. Sie war jünger als Mischa, aber größer, und begann zu reifen. Sie trug nur ein Hemd; niemand schätzte die Arbeit, sie sauberzuhalten. Das Hemd hatte alle Knöpfe verloren und enthüllte, weit aufklaffend, ihre knospenden Brüste. Die schwere Kette an ihrem Fußgelenk hielt sie noch immer an die Wand gefesselt.
Mischa stand stirnrunzelnd, überwältigt vom Gefühl der Unrichtigkeit. Nur Gemmi brach die Stille mit ihrem Gegurgel. Die anderen Kinder, die jüngeren, waren fort.
»Sag Mischa guten Tag, Gemmi.« Er lächelte und zeigte die langen Vorderzähne, so daß es aussah, als spottete er ihrer.
Gemmi brach wie ein Sandfall über sie herein, aber Mischa nahm den Ansturm ohne ein Wimpernzucken hin. »Wo sind die Kinder?«
»Fort.«
»Wo?«
»Wo meinst du?«
Das Blut wich ihr aus den Wangen. Sie hatte erwartet, daß er sie zum Stehlen schicken würde, wenn sie alt genug wären, aber sie hatte nie geglaubt, nie auch nur erwogen, daß er sie schlimmer ausnutzen würde. Mit zornbebender Stimme sagte sie: »Du hast sie verkauft.«
»Sie sind mein.«
»Das sind sie nicht. Du hattest kein Recht.«
Er lachte rauh auf. »Wolltest du sie?« Gemmi schmiegte sich wieder gegen seine Wärme, ohne zu begreifen, daß er derjenige war, den sie fürchtete.
»Aber warum?«
Er machte eine ausgreifende Handbewegung in die Runde, und sie sah den angestauten Neid und Haß in seinen Augen. »Dafür. Um dies zu haben, statt schreiender Bälger und Überdruß und Gestank und Schmerz.«
»Du hättest ...«
»Mich auf ihre Dankbarkeit verlassen sollen?« Er lachte bitter. »Sie hatten nicht dein Talent.« Er genoß seine Macht über sie. »Gemmi konnte sie nicht erreichen. Ich hätte nie etwas bekommen.«
Tränen des Zorns und der Schuld brannten in Mischas Augen. »Wohin hast du sie geschickt?«
»Wo du auch hingehen wirst.«
»Du kannst ja versuchen, mich zu zwingen.«
»Du hast dich erwischen lassen.«
»Und?« Ihre Stimme schnappte über, hoch und schrill vor Zorn.
»Wenn du in Schwierigkeiten bist, kannst du nichts für mich tun.«
»Ich wurde nicht wegen Diebstahls ausgepeitscht.«
Er lachte wieder. »Natürlich nicht«, sagte er sarkastisch. »Das sind viele Narben für nichts und wieder nichts.« Er drückte Gemmi fester an sich, streichelte sie abwesend. »Zieh deine Jacke aus!«
»Nein.«
Er lief rot an, dann entspannte er sich und lächelte. Zufriedenheit war ein Zug, dem sein Gesicht sich nicht leicht fügte. »Du würdest nicht viel wert sein. Zum einen bist du aus dem besten Alter heraus, und zum andern ziehen sie Kandidaten vor, die unversehrt sind, wenn sie anfangen.«
Mischa stockte der Atem. Damit hatte er angedeutet, daß ihre zwei kleinen Brüder und ihre fünfjährige Schwester als Bettler verkauft worden waren, um nach Laune und Dafürhalten ihres Eigentümers verstümmelt und zu abgerichteten Tieren gemacht zu werden.
»Wann?« Sie wich zurück zum Eingang, bereit, davonzulaufen, etwas zu unternehmen, irgend etwas zu tun.
»Lang genug«, sagte er. »Sie würden dich nicht wiedererkennen. Sie wissen nur, daß sie betteln müssen.«
Mischa tastete nach ihrem Dolch.
»Ach, hör schon auf«, sagte er. »Sie bedeuteten dir nichts. Hör auf, so zu tun, als hätte dir an ihnen gelegen. Du hast dich nie um sie gekümmert.«
»Das ist gelogen!« Aber es traf zu, daß sie nie versucht hatte, die Kinder zu sich zu nehmen und aufzuziehen, wie Chris es mit ihr gemacht hatte. Keines der Kinder war ihr wirklich eine Person gewesen; obschon bewußter als Gemmi, waren sie alle von begrenzter Intelligenz. Mischa und Chris hatten durch ihre Einkünfte dazu beigetragen, daß sie ausreichend ernährt und gekleidet worden waren, aber das zählte nun nicht mehr. Mischa begriff, daß sie eine weitere Verantwortlichkeit gehabt hatte, von der sie niemals freigesprochen würde, weil es zu spät war. Die Kinder hatten eine Chance verdient, ihr eigenes Leben zu führen.
Ihr Onkel dachte an den Schmerz in seinen Beinen und genoß gleichzeitig ihre Demütigung. Gemmi strahlte seine Empfindungen aus. Mischa zwang die ungebetene Störung zurück, aber ihr Widerstand verletzte das Mädchen nur, und Gemmi weinte über den unverständlichen Kampf. »Laß sie in Ruhe«, sagte Mischa. »Ich werde es nicht tun.«
»Ich habe in dich investiert«, sagte er. »Und ich denke, ich sollte es wieder herausbekommen.«
Mischa zog den Lederbeutel und das kleine flache Etui hervor. Sie warf ihm den Beutel vor die Füße. »Das ist von Chris.« Das Etui folgte. »Und das ist von mir. Sieh selbst, ob du danach immer noch denkst, wir kämen besser zurecht, wenn wir im Lohn für einen Hehler arbeiteten oder als Bettler im Dreck kröchen.«
Er nahm zuerst den Beutel auf und wog ihn in der Hand. »Vielleicht brauche ich ihn doch nicht zurückzurufen«, meinte er. »Aber ich hörte, er sei krank.«
»Er ist ganz in Ordnung«, log Mischa.
Er warf den Beutel mit den Steinen auf einen Rauchtisch neben der Couch. »Er ist nicht so leicht zu rufen wie du, aber ich werde ihn rufen, wenn er es nächstesmal nicht besser macht.« Er beugte sich vor, langte an Gemmi vorbei und nahm das Etui auf. Seine Finger strichen über das schimmernde, feingenarbte Leder und lösten die Riegelhaken. Als er den Deckel öffnete, fing der Inhalt das Licht und warf es noch heller zurück zu den neuen Wandteppichen. Die Gefährtin setzte sich träge auf, doch selbst diese unbedeutende Reaktion war ein ernster Bruch der Pose, da sie ihre Habgier bloßstellte. Durch ihre Tränen sah Gemmi die blitzenden Widerspiegelungen und griff danach. Ihre ungeschickten Finger stießen dem Onkel das Etui aus der Hand, und die geschliffenen Augenlinsen wurden über den Boden hingestreut. Der Onkel stieß sie vom Schoß und ohrfeigte sie. Mischa spürte den brennenden Schmerz in Gemmis Gesicht, das Zusammenschlagen ihrer Kiefer, und schmeckte das salzige Blut. Sie suchte Halt an der Wand. Gemmi lag am Boden und wand sich schwächlich in halbausgeführten Kriechbewegungen. Neben ihr kroch in ähnlicher Weise der Onkel und scharrte die glänzenden Schmuckstücke zusammen, unterstützt von seiner Gefährtin. Mischa stolperte hinaus und fort von der Höhle. Sie war noch nicht weit gekommen, als Gemmi zu schreien begann. Ihr dummer und kranker Geist warf sich auf Mischa und erstickte sie. Mischa konnte fühlen, daß Gemmi wieder geschlagen wurde. »Mischa!« schrie sie. »Mischa !« Der einzige Name, den sie kannte. Mischa kehrte um. Ein letzter Schlag traf wuchtig Gernmis Schläfe, und Dunkelheit folgte dem Schmerz.
Auf einmal war alles ruhig, alles um sie und in ihrem Geist. Die Stollenwand kühlte ihre Wange. Nach einer Weile stieß sie sich von ihr ab und stand frei. Gemmi war fort.
Mischa wußte, daß sie zur Rückkehr gezwungen sein mochte, sobald ihre Schwester imstande wäre, sie zu rufen, aber sie konnte und wollte nicht bleiben und warten, daß sie wie eine Sklavin herbeizitiert würde. Für eine kurze Zeit zumindest, während ihre Schwester bewußtlos war, hatte niemand auf der Welt Macht über sie.
Aus dem Tagebuch des Jan Hikaru:
Es ist schwierig zu verstehen. Mischa kam und ist wieder gegangen, und ich weiß nicht wohin oder warum oder ob sie zurückkommen wird. Als sie zur vereinbarten Zeit nicht zu ihrem Unterricht erschien, rief Subzwei mich zu sich und fragte, wo sie sei, und ich murmelte etwas über einen dringenden Besuch in der Stadt. Ich sorge mich um sie, weiß aber nicht einmal, wo ich sie suchen sollte. Wie kann ich helfen, wenn ich nicht weiß, wo es fehlt? Ich dachte, wir hätten ein Vertrauensverhältnis aufgebaut ... Vielleicht sind ihre Schwierigkeiten mit Vertrauen allein nicht zu lösen.
Ich mußte den Steinpalast verlassen und die Arkadengänge durchstreifen, vorüber an den Schänken, den Bettlern. Nur auf den sogenannten Hügeln, wo die Wohlhabenden sich angesiedelt haben, gewinnt man einen Eindruck von Geräumigkeit; davon abgesehen, ist es überall im Zentrum wie in einer Zelle.
Am späten Vormittag erreichte Mischa den Boden des Zentrums und folgte dem Kreis. Gemmi hatte nicht wieder gerufen.
Die Rufe der Händler und Bettler, das Stimmengewirr der Zecher und Passanten schlugen über ihr zusammen, als sie unter den Arkaden dahinging. Es war wie das Durchwaten eines unsichtbaren Morastes. Ein verkrüppeltes Kind kroch auf sie zu und zupfte sie an der Jacke. Sie machte sich los und wollte weiter, doch das Kind fand neuen Halt an ihrem Hosenbein, klammerte sich fest und quäkte sie an. Sie konnte es nicht ansehen, nicht einmal mit der höhnischen Verachtung, mit der sie und ihresgleichen auf Bettler herabzusehen pflegten. Sie riß sich los und eilte weiter, außerstande, das Kind anzusehen, in panischer Furcht vor neuen Verstümmelungen an vertrauten Körpern, vor ausgelöschten Erinnerungen, vor stumpfer Not in den Augen.
Sie hatte sich immer gezwungen, dies und jenes zu tun, was sie zu fürchten glaubte, aber sie zwang sich nicht, die Bettler anzusehen. Sie rannte schneller, bis sie so außer Atem kam, daß sie glaubte, ihr Brustkorb müsse zerspringen. Sie stieß und rempelte Passanten an, die zornig wurden und sie geschlagen hätten, wären sie ihrer habhaft geworden. Tränen rannen ihr übers Gesicht und nahmen ihr die Sicht, Stiche durchbohrten ihre Seite, und der Atem war ein schmerzhaftes Röcheln in ihrer Kehle, doch sie lief weiter. Der tiefe Sand schien eigens herangekarrt und ausgebreitet zu sein, um sie zu behindern. Dann, vor dem Palast, versperrte ihr ein ganzer Schwarm von Bettlern den Weg. Sie kam strauchelnd zum Stillstand und blickte hilfesuchend umher, beinahe in Panik. Es gab keinen anderen Weg, sie mußte an den Bettlern vorbei. Eine verstümmelte Hand, der die vorderen zwei Glieder sämtlicher Finger fehlten, faßte ungeschickt nach ihr; sie scheute wie ein nervöses Pferd. »Laßt mich in Ruhe ... verschwindet ...!« Sie kamen dennoch näher, umringten sie und lächelten, wenn sie wegsah. In ihrem Gewerbe verfügten sie über zwei Waffen: das Schuldgefühl und die Furcht der anderen. Beide waren wirksam. Die buckligen, zu Greisen gewordenen Kinder rückten ihr auf den Leib. Sie kannten Mischa: die hochnäsige junge Diebin, die nie eine Münze oder ein mitleidiges Wort für sie hatte, nur Arroganz. Sie sahen sie ängstlich; sie lächelten, bleckten schadhafte Zähne. Einer lachte, schrill wie ein verstimmtes Saiteninstrument unter dem Bogen eines Anfängers. Mischa wich zurück, bis sie eine rauhe Wand im Rücken fühlte. Die Rampe darüber war um ein geringes außerhalb ihrer Reichweite. Sie preßte die Handflächen gegen den Stein. Der Bettlerschwarm drängte näher, eine eklige Brandung aus stinkenden, abstoßenden Leibern, die sie umwogte. Mischa war verängstigt, aber nicht vor der physischen Gefahr, die sie darstellten. Sie versuchte nicht, in die Gesichter zu sehen. Einer sprang vom Rand des Halbkreises gegen sie vor, um sie zu Boden zu reißen. Er bekam ihren linken Arm zu fassen, und sie schlug mit der Faust nach seinem Kinn, um ihn abzuwehren. Ihre Knöchel versanken in knorpeligem Fleisch. Sie stieß ihn und einen zweiten beiseite und sprang nach dem Rand der Rampe, wo sie ihn erreichen konnte. Ihre Finger fanden Halt, und mit einem verzweifelten Klimmzug und heftiger Fußarbeitbrachte sie sich in Sicherheit.
Mischa ließ die Tür hinter sich angelehnt. Der Vorhang von Chris' Nische war im oberen Drittel aufgerissen, und durch die Öffnung war kein Lichtschein zu sehen. Aber Chris war da, sie fühlte es: Sie stand bewegungslos und lauschte durch das Pochen des Pulses in ihren Schläfen und hörte endlich sein kurzes, leichtes Atmen. Sein Wesen war fast still, kaum auszumachen. Sie schob den Vorhang zurück und sah ihn in seinem Bett liegen. Als sie nähertrat, bewegte ihr Schatten sich zur Seite, und Licht vom Eingang fiel auf sein Haar. Seine halbgeschlossenen Augen glänzten unter den langen Wimpern.
»Chris ?«
Nach langer Pause antwortete er: »Ja?«
»Kann ich eine kleine Weile hierbleiben?«