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Aus dem Tagebuch des Jan Hikaru:
Die menschlichen Beziehungen im Basar eines Raumfahrtstützpunktes sind naturgemäß flüchtig, ebenso rasch angeknüpft wie abgebrochen. Die meisten Leute sind Durchreisende, und auch ich würde abreisen, wenn ich könnte. Bisher brauchte ich mich nie um Geld zu sorgen, und die plötzliche Erkenntnis, daß es notwendig ist, verwirrt mich. Aber ich werde meinen Vater nicht um Unterstützung bitten, noch habe ich auf Auszahlung meines Erbanteils am Besitz meiner Mutter gedrungen. Ich habe mehr über mich selbst und meine zahlreichen Fehler nachgedacht, als über das Geld. Ich bin einsam gewesen. Dennoch bin ich heute zufriedener, als ich es in meiner Rolle als angesehener Universitätsdozent war, der alles wußte und nichts konnte. Ich beginne erst zu begreifen, wieviel Zeit ich vergeudet habe.
Ichiri hat darauf verzichtet, mich zu enterben. Er begnügte sich damit, meinen Brief nicht zu beantworten. Ich werde ihm nicht wieder schreiben – ich bin nicht einmal sicher, ob ich ihm eine Erklärung schuldig bin. Ich möchte nur, daß er versucht, mich zu verstehen. Er mag hoffen, daß ich aufgeben und heimkehren werde, damit er so tun kann, als habe er nie von meinem kurzen Flirt mit der Rebellion gewußt, die ihm im höchsten Grade unvernünftig erscheinen muß. Dann wäre die Angelegenheit für keinen von uns beiden mit einem Gesichtsverlust verbunden. Ich habe noch nicht entschieden, denke aber, daß ich stark genug bin, um mich von solchen Rücksichten freizuhalten.
Wenn ich nicht mehr heimkäme, könnte er allmählich vergessen, daß sein einziger Sohn blondes Haar hat, und er wäre imstande, sich ganz seinen Fantasien zu widmen. Ich kann mich ihnen nicht mehr beugen; sie sind im Laufe der Zeit stärker und zudringlicher und, was schlimmer ist, für andere Leue störender geworden. Gleichwohl kann ich ihn nicht vergessen. Der alte Mann ist mir noch immer lieb, und diese Empfindung geht tiefer als meine vorübergehende Abneigung.
Ich verbrachte den Abend im Wirtshaus und hielt mich unter Alkohol. Das hilft wenig, weil ich in mich gekehrt bin, wenn ich trinke. Wäre ich betrunkener gewesen, so hätte ich vielleicht den Fantasien meines Vaters glauben und mich als den Sohn eines illegitimen Abkömmlings des alten japanischen Herrscherhauses bezeichnen können. Darauf hätte ich die Heimreise antreten und bis an mein Lebensende fröhlich in einer Welt von Geschichten und Worten leben können, die ihre Bedeutung längst eingebüßt haben. Ich sehe an diesen Zeilen, daß ich noch immer ein wenig betrunken bin.
Im Wirtshaus lernte ich einen Navigator im Ruhestand kennen, eine Frau. Sie ist beinahe taub und fast blind, hat viele von den Schiffen überlebt, auf denen sie diente. Ihr Haar ist weiß, und der graue Star hat die einst schwarzen Augen entfärbt. Zu viele Flüge haben sie abgenutzt, und die Strahlung hat ihre Hornhäute zerstört. Sie ließen sich operieren, aber nicht die Sehnerven. Trotzdem ist sie von einer Würde, der ihr Zittern und ihre taube Vergeßlichkeit nichts anhaben können. Sie ist überall anzutreffen und doch einzigartig-. Hundert abgemusterte, überlebte Relikte früherer Zeiten suchen allein in diesem Basar ihr Auskommen, aber sie ist die erste, mit der ich länger gesprochen habe. Sie könnte in eines der Heime gehen, die man für Leute wie sie eingerichtet hat, doch müßte sie in diesem Fall an einem Ort bleiben und sich den Regeln des Hauses unterwerfen, und sie meint, das würde sie umbringen. Sie sagt, sie sei auf der alten Erde geboren; sie sagt es trotzig und mit einem zornigen Ausdruck in den trüben Augen, und sie bietet jedem die Stirn, der daran zweifeln möchte. Vielleicht ist es wahr, soweit es Geist und Haltung betrifft, vielleicht sogar im buchstäblichen Sinne, obwohl man mich gelehrt hat, daß die Erde tot und verlassen
sei.
Die alte Frau und andere wie sie verlassen sich auf die Hilfe jüngerer Mitglieder ihrer Gesellschaft, die wissen, daß man später einmal auch für sie sorgen wird. Heute abend sprachen sie und ich so lange miteinander, daß alle anderen längst schlafen gegangen waren, als wir endlich aufbrachen. Ich lasse sie in meinem billigen kleinen Zimmer auf der Couch schlafen, weil ich denke, daß sie mich nicht aus meinem Bett verdrängen will. Sie hat gegeben, nun nimmt sie an; aber sie nimmt nicht in Besitz.
Die violettschwarze Dunkelheit kühlte nach und nach zu Braun ab, als Mischa den ansteigenden Stollen zum Zentrum folgte. Sie war müde, durstig und hungrig. Sie hatte mehrere Tage im tiefen Untergrund zugebracht, hatte neue Wege begangen und erforscht, geleitet von der Intuition und der Erfahrung anderer, ähnlicher Ausflüge. Doch nun war es Zeit, zur Stadt zurückzukehren.
Sie wäre gern länger ausgeblieben und hätte die Grenzen ihres Bereichs weiter ausgedehnt. Die seltsamsten Erlebnisse und Anblicke boten sich im tiefsten Untergrund der Erde, wo natürliche Kräfte in Äonen eine vielgestaltige Höhlenwelt geschaffen hatten und wo man ganz selten auf Überreste menschlicher Bauwerke stoßen konnte, gewaltig in ihren Ausmaßen, aber von ihren Erbauern verlassen, als die in ihnen lagernden Kriegswaffen nicht mehr benötigt worden waren.
Mischa hörte ein Geräusch und blieb stehen. Das Geräusch wiederholte sich, ein leises Kratzen von Metall am Fels. Ein paar Gesteinssplitter lösten sich von der Stollenwand und fielen zu Boden. Ihr Blick suchte die Wand in Schulterhöhe ab, und sie lachte. Eine kleine Maschine verhielt in der Öffnung eines kleinen neuen Loches, wo sie die Luft zu schnuppern schien. Während Mischa zusah, schied die Antennenmaus ein Kabel aus und zog sich in die Dunkelheit zurück, einen neuen Anschluß für das Kommunikationsnetz hinter sich lassend. So weit vom Zentrum entfernt, gab es niemanden, der von dem Anschluß Gebrauch machte, aber die Mäuse arbeiteten unermüdlich weiter, angeleitet von irgendeinem uralten, längst in Vergessenheit geratenen Programm.
Mischa setzte ihren Aufstieg fort; der Stollen war ein natürlicher Höhlengang, der zu einem langen, gleichmäßigen Tunnel ausgehauen und begradigt war.
In der Ferne zeigte sich ein Lichtschein, der sich bei ihrer Annäherung verstärkte: Leuchtröhren, die ihr zeigten, daß sie die Außenbezirke des Zentrums erreicht hatte. Wenige andere Leute wagten sich über die Grenzen der öffentlichen Beleuchtung hinaus, denn der Untergrund galt als gefährlich. Einige der Ängste konnte Mischa verstehen. Vor einer Stunde hatte sie für Augenblicke einen Höhlenpanther gesehen: bernsteinfarbene Lichter, glattes, schwarzes Fell, lange Schnurrbarthaare. Ihre leise Annäherung hatte das Tier erschreckt, und es hatte die Flucht ergriffen. Gefürchteter aber waren die Geächteten, die ausgestoßenen Bewohner des tiefen Untergrunds. Leute, die an ihre Existenz glaubten, gebrauchten sie, um ungehorsamen Kindern Angst einzujagen. Mischa wußte, daß diese Untergrundleute existierten, wenn sie ihnen auch nie begegnet war. Sie hatte ihre aufgemalten Zeichen und Symbole an den Höhlenwänden gesehen und gelernt, ihre Warnungen zu befolgen, fand aber keinen Grund zur Furcht. Die Geächteten waren noch scheuer als die Panther.
Mischa erreichte den kleinen, runden Raum, von dem das Licht ausging: eine Brunnenzelle, die einzige Quelle guten Wassers in diesem Randbereich der Stadt. Kondensiertes Wasser glänzte auf dem Felsgestein, und die Luft roch nach dem kühlen, feuchten Kalkstein. In der Mitte der runden Kammer erhob sich der Brunnenrand einige Handbreit vom Boden. Auf diesem breiten Brunnenrand lag eine große, in Purpur und Schwarz gekleidete Gestalt. Ihr nahezu weißes Haar lag ausgebreitet über dem behauenen Stein. Mischa zögerte, bevor sie nähertrat. Sie setzte sich auf den Rand und streckte die Hand aus, hielt jedoch inne, bevor sie die Schulter berührte, als sie das grüne Aufblitzen der Augen sah. Ihr Bruder warf ihr einen kurzen, warnenden Blick zu, dann starrte er wieder zur Leuchtröhre auf, als hätte er sie bereits vergessen.
»He, Chris.« Sie verstand nicht, warum er nicht im Zentrum war. Zu Hause ließ er sich niemals blicken; seit zwei Jahren nicht mehr.
»Verschwinde.«
Seine Stimme war dünn und hatte einen winselnden Klang, der nie darin gewesen war. Er ließ eine Hand ins Wasser hängen, und das bis zur Schulter durchnäßte Hemd klebte an seinem mageren Arm. Er war viel dünner geworden, seit sie ihn zuletzt gesehen hatte.
»Was ist los?«
»Keine Träume«, sagte er, den Tränen nahe.
»Komm schon!«
»Laß mich in Ruhe!« Er riß die im Wasser hängende Hand hoch, daß funkelnde Tropfen über den hellen Sand und das schwarze Wasser spritzten, und bedeckte sein Gesicht mit dem Unterarm. Seine Hand war weiß wie Pergament, von bläulichen Adern durchzogen und wie durchscheinend. Durch das Gurgeln und Plätschern des Quells konnte Mischa sein langsames, stoßweises Atmen hören. Sie fragte sich, ob er krank sei, und in ihrem Magen ballte sich ein drückendes Unwohlsein zusammen: Sie wußte, warum sie Angst verspürte.