11
Am gleichen Abend, nach langwieriger Suche, nach umständlichem Feilschen und sogar Betteln, kehrte Mischa mit einer Kapsel Schlaf in der Tasche zum Palast zurück. Der Gedanke, daß sie Chris den ganzen Tag allein gelassen hatte, ließ ihr keine Ruhe, und sie hatte es eilig. Wenige Leute verwendeten die Droge, und sie war schwierig zu finden. Die Lampen der öffentlichen Beleuchtung flackerten in der Vorbereitung auf die Nacht.
»Mischa!«
Hinter ihr trat Jan Hikaru aus einem Seitenweg in den Kreis. Er trug dieselben Sachen, die er immer anhatte, aber seine Stiefel und die dunkle Hose waren staubig, und seine Jacke sah viel älter aus, als sie war. Mit dem ungekämmten, fahlen Haar und seinem rotblonden Schnurrbart, der über die Mundwinkel herabhing, hatte er etwas von einem Briganten an sich. Mischa hielt ihn für einen der freundlichsten Menschen, die sie je kennengelernt hatte, doch wäre sie ihm in diesem Augenblick zum erstenmal über den Weg gelaufen, so hätte sie wahrscheinlich das Weite gesucht. Das Warten auf ihn, obwohl es nicht mehr als ein kurzes Verhalten war, vermehrte ihre Sorge um den Bruder.
Jan nickte ihr zu und blickte zu den Lampen auf, die sein Gesicht abwechselnd in Schatten und Helligkeit tauchten. »So was kann Epilepsie hervorrufen.«
»Wie lange waren Sie fort?«
»Seit gestern nachmittag. Warum?«
»Sie haben meine Botschaft nicht bekommen?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein. Bist du zurückgekommen und im Palast gewesen?«
»Ja.« Ihre Unruhe verstärkte sich, als ein bestimmteres Gefühl in ihr Gestalt annahm. »Wir müssen uns beeilen.«
»Was ist geschehen?«
Ein dünnes, aufgeregtes Signal erreichte sie, brachte eine dürftige Verbindung mit Chris. »Subzwei wollte sich nicht sagen lassen ...«
Jan erschrak. »Er hat dich nicht hinausgeworfen, oder?«
»Nein. Nichts dergleichen.« Die Lampen über ihnen schalteten auf Nachtbeleuchtung um und büßten den größten Teil ihrer Helligkeit ein; alles versank in trübem Halbdunkel. »Oh, verdammt. Verdammt.« Sie begann zu rennen.
Sie konnte Jan hinter sich hören, aber ihre Aufmerksamkeit war auf Chris konzentriert; als sie die Arkaden erreichte, begriff sie, daß er nicht im Palast war. Sie machte halt und stand mit gesenktem Kopf, die Augen geschlossen, lauschend, die Fühler ihrer Wahrnehmung durch den Lärm und das wirre Gemisch von Stimmen und Musik ausgestreckt.
Nicht weit voraus füllten Lichtvorhänge den offenen Eingang einer Schänke. Angelockt von Chris' schwacher Ausstrahlung, schlüpfte Mischa hindurch ins Innere. Zwischen purpurnen und grünen Lichtern sah sie ihn an der Wand stehen, Subeins gegenüber, der ihn mit so schnellen Bewegungen ohrfeigte, daß Chris die Schläge nicht abwehren konnte. Mischa knöpfte die Tasche zu, in der sie die Kapsel mit Schlaf verwahrte. Subeins wandte sich lachend zu Draco und sagte etwas, worauf dieser in sein Lachen einstimmte. Chris richtete sich auf, das blasse Gesicht wutverzerrt. Er löste sich von der Wand, zog sein Messer und ließ die Klinge herausspringen. Mischa zögerte, um ihn zu beobachten; sie verspürte Stolz auf die Person, die er gewesen war und wieder sein könnte.
Er sagte etwas zu Subeins; Mischa konnte es nicht verstehen. Aber sie sah und fühlte den Jähzorn des Fremden. Subeins' Arm schoß vor, um Chris bei der Gurgel zu packen. Chris stieß das Messer aufwärts und schlitzte den bloßen Unterarm des anderen auf. Die Klinge blitzte rubinrot, Subeins brüllte auf. Von ihrem Standort konnte Mischa sehen, daß die Wunde nicht gefährlich war.
Sie wußte, was geschehen würde, bevor Subeins in seine Jacke griff. Unter ausgeglichenen Bedingungen hätte Chris kämpfen können. Er war gut; er war gut gewesen.
Mischa schrie auf und sprang auf die beiden zu, aber sie hörten nicht auf sie. Subeins' Waffe war eine Laserlanze. Ihre Reflexe machten sich selbständig. Sie schleuderte ihren Dolch.
Feuer sengte sie von der Schulter zur Hüfte. Sie hörte Subeins schreien, als sie zusammenbrach.
Durch den verdunkelnden Dunst der tiefen Farben sah Jan das Aufblitzen der Waffe jenseits von Mischa, und als sie fiel, schrie er auf, da er meinte, sie sei getroffen. Er war sich undeutlich bewußt, daß auch Subeins am Boden lag, aber der Gestank verbrannten Fleisches überwältigte seine Sinne. Er warf sich neben Mischa auf die Knie, biß die Zähne zusammen und drehte sie auf den Rücken, voll Furcht vor dem Anblick, den er erwartete. Aber durch irgendeinen glücklichen Umstand war sie bis auf eine Abschürfung an der Wange, wo sie gefallen war, unverletzt geblieben. Ihre Augenlider zuckten; er fühlte die Spannung ihrer Muskeln, als sie zu sich kam. Sie schlug die Augen auf, starrte ihm verständnislos ins Gesicht, bis auf einmal die Erkenntnis in ihre grünen Augen kam. »Jan ...« Sie rappelte sich auf, blickte suchend umher. Im nächsten Augenblick erstarrte sie; ein schriller Verzweiflungslaut brach ihr von den Lippen. Jan folgte ihrem Blick. Er sah den jungen Mann ausgestreckt am Boden liegen, eingehüllt in ein Bahrtuch aus scharlachrot und purpurn fließendem Licht. Und er sah eine schreckliche Verbrennung, eingefaßt vom verkohlten Gewebe der Kleidung. Mischa stand schwankend, auf ihn gestützt. »Bist du verletzt?« fragte er sie.
»Nicht – verbrannt«, antwortete sie. »Gehen Sie, Jan, schnell. Ich weiß nicht, was passieren wird.«
Aber er folgte ihr zu Subeins, der blutend am Boden lag und vor Schmerz und Wut stöhnte. Draco kniete über ihm und drückte auf eine Wunde, hoch in Subeins' Brust. Mischa fiel neben dem jungen Mann auf die Knie. Als Subeins sie sah, griff er zur Waffe. Jan stieß sie ihm mit einem Fußtritt aus der Hand, hob sie auf, riß den Energiespeicher heraus und zerstampfte ihn mit dem Stiefelabsatz.
»Elender Dummkopf!« murmelte Subeins.
»Und Sie?« Jan unterdrückte eine zornige Aufwallung. »Sie gefährden Ihre Position.«
Jan sagte nichts.
»Er lebt, Jan«, flüsterte Mischa. »Mein Gott, er lebt.«
Jan ließ sich auf ein Knie nieder, nahm das Handgelenk des jungen Mannes und fühlte zwischen schmalen, zerbrechlich scheinenden Knochen nach dem Puls. Er war leicht, schnell, unregelmäßig. Ein dolchartiges Federmesser von der Art dessen, das Mischa bei sich zu tragen pflegte, glitt aus den schlaffen Fingern. Der Streit war nicht zwischen Mischa und Subeins gewesen, sondern zwischen dem letzteren und diesem Jungen. Der Gestank von verbranntem Fleisch und angesengtem Stoff hing wie eine Wolke über dem Unglücklichen. Jan sah, daß er nichts für den Verletzten tun konnte. Mischa streckte die Hand aus und nahm das Messer an sich.
»Ich werde Hilfe holen«, sagte Jan.
Mischa stieß ein hartes Lachen aus. »Subzwei wird Sie nicht lassen.«
»Darüber werde ich mir Sorgen machen, wenn es soweit ist.« Er fragte sich, ob die Bluttat die Entfremdung zwischen den beiden Pseudozygoten vollkommen machen würde.
Mischa stand auf. »Subzwei weiß es schon.« Sie blickte durch die farbigen Dunstschleier zum Eingang, und die Haltung ihrer Schultern und der Ausdruck ihrer Augen zeigten weder Kampfgeist noch Hoffnung, nur Niederlage.
Die Lichtvorhänge gerieten in wirbelnde Bewegung, und Subzwei zerriß hereinstürmend das Wallen der Farben. Er ignorierte alle, bis auf seinen Partner. »Was haben sie getan?« Er fiel auf die Knie, stieß Draco zur Seite und umfing Subeins mit den Armen. In seinen Augen glitzerten unvergossene Tränen des Mitgefühls oder echten Schmerzes. Subeins überließ sich mit leidender Miene der Fürsorge seines Partners, schlaff und geschwächt vom Blutverlust oder, wie Hikaru argwöhnte, in einer bewußten Schaustellung des Leidens.
»Ich sagte dir gleich, daß sie dir nichts als Scherereien eintragen würde«, sagte er zu seinem Partner.
Subzwei blickte wild zu Mischa auf. »Wir werden das alles in Ordnung bringen«, sagte er zu Subeins. Sobald er sich über seinen Partner beugte, wurde sein Gesicht eine Maske zartfühlender Sorge, der ungefühlten Reaktion eines Mannes mit unzureichender Erfahrung in den Tragödien menschlichen Lebens und Sterbens.
»Ich hatte Hoffnungen für dich«, sagte er nach einer Weile, wieder zu Mischa gewandt. »Du hättest alles erreichen können.«
»Dann ist es also aus«, sagte Mischa. »Weil er einen Mord beging und uns Unrecht tat – aber Sie können sich nicht von ihm abspalten.«
»Nein.«
Mischa blickte auf den Körper zu ihren Füßen. »Auch ich kann mich nicht von Chris abspalten. Lassen Sie mich ihn hinaustragen.«
Subeins wurde lebendig und tastete nach dem Arm seines Partners. »Laß sie nicht gehen.«
»Wieviel mehr wollen Sie ihn verletzen?« rief Mischa. »Er ist tot«, grollte Subeins. »Ich will dich.«
Die. Szene gefror wie ein Tagtraum, der unversehens zum Alptraum wird. Aber Träume konnten verändert werden; Jan war von den Rändern seiner Träume zu ihren Mittelpunkten vorgedrungen, aus der Rolle des Zuschauers in die des Regisseurs übergewechselt, der die Darsteller hierhin und dorthin befiehlt, selbst Darsteller wie Subeins, die nichts als reine Destillationen des egozentrischen Unbewußten waren. Doch in der Realität konnte er es nicht tun; und er begriff, daß es mit Träumen nicht getan war und daß die Realität sein Abenteuer werden mußte. Er konnte nur sich selbst befehlen, und das mußte er: Er mußte handeln, statt beobachten, die Entscheidungen seines Lebens treffen, statt sich vom Leben umspülen zu lassen.
Er faßte sich ein Herz und sagte zu Subzwei: »Er ist nicht mehr wie Sie. Sie brauchen es ihm nicht gleichzutun, und er verdient Ihre Loyalität nicht.«
Subzwei sagte nichts, doch die kleinen senkrechten Furchen zwischen seinen Brauen vertieften sich. Subeins wandte sich in gelangweilt klingendem Ton zu Draco und sagte: »Schaff ihn hinaus!«
Draco kam auf Jan zu und wollte ihn vor sich her zum Ausgang stoßen. Jan ließ sich einmal anrempeln, doch als Draco ermutigt zum nächsten Anlauf ansetzte, packte Jan ihn beim Arm, bückte sich mit einer Körperdrehung gegen ihn und warf ihn über die Schulter auf den Boden. Draco schlug hart auf den Rücken und lag betäubt. Jan hatte ihm die Landung nicht erleichtert, wie es bei einem Schulterwurf möglich ist. Nun wartete er ab, falls Draco zu sich käme und zur Waffe griffe.
Subzwei sah das Messer in Mischas Hand und beobachtete sie wachsam; sein erster Zorn schien verflogen. »Du verstehst, nicht wahr?« sagte er zu ihr, als wollte er um Vergebung bitten.
»Ich denke schon«, antwortete sie mit gleichem Bedauern. »Ich hätte ihn töten sollen.«
»Nein. Das hätte unsere Feindschaft besiegelt.« Er nickte zu Chris. »Nimm ihn und geh!« Darauf blickte er mit Bedauern zu Jan. »Sie stellen sich gegen mich. Ich kann nicht länger zu meiner Zusage stehen, diesem Mädchen zu helfen.«
Subzwei schien den Zwang, unter dem er sich offenbar sah, aufrichtig zu bedauern, aber Jan glaubte nicht, daß er so weit fortgeschritten war; er glaubte, daß dies lediglich ein weiteres Beispiel für Subzweis vorsichtiges Taktieren war. Vielleicht würden seine Gefühle eines Tages den Worten angemessen sein.
»Mischa versteht, was geschehen ist«, sagte er kühl, »aber Verstehen ist etwas anderes als Billigen.«
Mischa schien erschöpft, in prekärem Gleichgewicht zwischen Zorn und Verzweiflung. »Sie sind verrückt«, sagte sie. »Sie sind einfach verrückt.«
»Laß sie nicht gehen!« ächzte Subeins. »Töte sie jetzt!«
»Wir müssen fort von hier«, sagte Mischa. »Bevor er es sich anders überlegt.«
Subzwei sprach begütigend auf seinen Partner ein. Bis auf die Worte: »Ich bin nicht bewaffnet«, konnte Jan nicht verstehen, was er sagte.
»Warum solltest du nicht mit ihnen fertig werden?« begehrte Subeins auf. »Mit einem gefühlsduseligen Nichtstuer und einem Kind?«
Jan kniete neben Chris nieder, um ihn behutsam aufzuheben. Der Anblick der schrecklichen Verbrennungen bereitete ihm Übelkeit. Es war schlimmer, als er befürchtet hatte, und als er sich über den Verletzten beugte, griff das Elend dieses Sterbens auf ihn über und schloß die Umgebung aus, die Stimmen, die Welt. Altertümliche Worte über Tod, Vergänglichkeit und Auferstehung kreisten nutzlos durch seine Gedanken. Er versuchte sie festzuhalten, schloß die Augen und sprach sich die Sätze im Geist vor; die Übelkeit wich von ihm. Er legte die Fingerspitzen an Chris' Halsschlagader. »Ich kann keinen Puls fühlen.«
»Er lebt«, sagte Mischa.
»Gut.« Er schob die Arme vorsichtig unter den Jungen und hob ihn auf. Der farbig durchleuchtete Nebel floß vom Körper, von Jans Armen und zog in trägen Wirbeln um seine Füße.
»Willst du sie gehen lassen, nach dem, was sie mir angetan haben?« Subeins grub seine Finger in den Arm seines Partners, als könnte er ihm so seinen Haß mitteilen.
»Sobald du wiederhergestellt bist, werden wir Jagd auf sie machen«, antwortete Subzwei, sanft wie eine schnurrende Katze.
»Kommen Sie, Jan.« Die Dringlichkeit in Mischas Stimme riß ihn aus seiner Benommenheit, und er folgte ihr. Die Lichtvorhänge schoben sich voreinander und verschmolzen, als Jan sie mit seiner Last passierte, und die Stimmen hinter ihnen wurden unverständlich.
Mischa führte ihn zu ihrer Nische, so schnell wie Jan mit seiner Last gehen konnte. Sie befürchtete, Subzwei könnte dem Verlangen seines Partners nachgeben und gemeinsam mit Draco Jagd auf sie machen. Die Dunkelheit bot ihnen einen gewissen Schutz, ebenso wie die Verschwiegenheit der Stadtbewohner, aber Mischa zweifelte nicht daran, daß es in Subzweis Macht war, die Tagesbeleuchtung einschalten zu lassen, und daß er überdies in der Lage wäre, mit Einschüchterung oder Bestechung jeden zum Sprechen zu bringen.
»Hier herein«, sagte sie und half Jan, den Bruder durch die schmale Eingangsöffnung zu heben. Sie war froh, daß Chris das Bewußtsein nicht wiedererlangt hatte. Tief in ihm glomm noch immer ein Funke von Leben.
Ihre Höhle war genau so, wie sie sie verlassen hatte; niemand hatte versucht, sich in ihr einzunisten. Sie zog die Decke von den Lichtzellen, die nur noch matt glühten, vom Hungertode bedroht. Nachdem sie ihnen Nahrung in ihr Gefäß gestreut hatte, zog Mischa eilig ihr Bettzeug glatt. Jan legte Chris auf das Bett, trat zurück und massierte sich die verkrampften Arme und Schultern. Selbst in der Mitte der Höhle konnte er nicht ganz aufrecht stehen. Mischa öffnete ihre hölzerne Truhe und fand Stoff, den sie für einen Verband verwenden konnte, dazu eine Wundsalbe mit leicht anästhetischer Wirkung, von der sie sich nicht viel versprach.
Sie kniete neben Chris nieder und zog die verkohlten und geschmolzenen Ränder seines roten Hemdes von der Verbrennung zurück. Hautfetzen und Fleisch lösten sich mit, und die Wunde begann stark zu bluten. Sie würgte. Jan schob ihre Hände zur Seite und bedeckte den Bereich der Verbrennung mit einem Polster aus zusammengelegtem Stoff, das er dick mit Wundsalbe bestrichen hatte. Die Muskeln seiner Kinnbacken traten knotig hervor; Mischa vermutete, daß er in seinem bisherigen Leben nicht viel Tod und Gewalttat gesehen hatte. Sie verspürte ein Bedürfnis, seinen Arm zu berühren, ihm irgendwie zu danken. Er bandagierte Chris, deckte ihn zu, ließ sich auf die Fersen zurücksinken und kauerte bewegungslos mit gesenktem Kopf. Nach einer Weile räusperte er sich und sagte: »Manchmal werden die Nerven mit ausgebrannt, und es gibt keinen Schmerz.« Er blickte zu ihr auf, und Mischa sah in seinen Augen, daß auch er wußte, daß Chris im Sterben lag, und daß er keine Worte für sie fand.
»Es tut mir leid«, sagte sie. »Ich habe Sie in diese Sache hineingezogen.«
Er nahm ihre Hand. »Das stimmt nicht. Was immer geschieht, eins darfst du mir glauben: wir sind verantwortlich für unsere eigenen Entscheidungen, aber nicht für die Entscheidungen anderer.«
»Ich wünschte, ich könnte das glauben.«
»Es ist wahr.«
Vielleicht war es so, in der Utopie, als die sie sich die Sphäre dachte, aber nicht im Zentrum. »Es ist meine Schuld, daß er so hier liegt«, sagte sie. »Und es ist meine Schuld, daß Sie hier gestrandet sind.«
»Wer ist er?«
»Mein Bruder.«
Jan nickte langsam. »Aber du sagtest mir einmal, daß du niemanden zurücklassen würdest.«
»Darum brachte ich ihn zum Palast ... Ich wollte ihn mitnehmen, denn ich dachte, in der Sphäre könnte man ihm helfen.«
Er schwieg, aber in seinem Gesichtsausdruck blieb eine Frage. Sie langte in die Jackentasche, schloß die Finger um die Kapsel, zog sie heraus und zeigte sie ihm. Seine blassen Brauen hoben sich; er erkannte die sich windenden Fäden der Droge.
»Ich mußte ihn allein lassen, um es zu beschaffen. Und ...« Wahrscheinlich würde sie nie erfahren, ob Chris den Palast in einer letzten Schaustellung von Trotz verlassen hatte, oder ob ihm einfach nicht klar gewesen war, was er tat.
Jan fuhr sich über das wirre Haar, eine nervöse Geste. »Es gibt keine Möglichkeit ...« Er brach ab und schüttelte den Kopf. »Dann ... was nun?«
Ihre Hände öffneten und schlossen sich wie Krabbenscheren. »Ich will nicht, daß er stirbt«, sagte sie. Die Worte schmerzten wie Glassplitter, aber sie waren gesagt. »Wenn er stirbt ...«
»Was ist mit dir?«
Mischa zuckte die Achseln. Die Frage mußte gestellt und beantwortet werden, aber sie konnte jetzt nicht darüber nachdenken. »Ich weiß nicht.«
»Gibt es kein Krankenhaus, keinen Chirurgen, der ihm vielleicht helfen könnte?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Dann können wir nichts weiter tun?«
»Nur warten.«
Kirillin humpelte durch den Sand, und sie kam sich unbeholfen und auffällig vor, so sehr, daß sie die Dunkelheit wohltätig empfand. Für einen Krüppel, dachte sie, gibt es keine Anmut. Der Weg wurde steinig, als sie suchend höher stieg. Sie konnte nur Ausschau halten und warten. Ihr Bein schmerzte; sie hatte keinen Stock und sah nichts, was als Krücke geeignet gewesen wäre. Ihr unteres rechtes Augenlid begann nervös zu zucken und verriet ihre innere Bewegung trotz ihres entstellten, halbgelähmten Gesichts. Die Zeit schien sich zu beschleunigen und vorbei-zuströmen. Sie hatte ihre Erbitterung so lange gezwungen, still und unterirdisch zu brennen, daß sie unter einer grauen Aschenschicht aus Zeit verborgen war. Sie hinkte auf ein Flachdach hinaus und stand unter den trüben Lichtern des Zentrums. Sie konnte Menschen nicht verstehen, die ihre Fenster unversperrt und ohne Vorhänge ließen; draußen gab es nichts zu sehen, und die Öffnungen erlaubten anderen nur, hereinzuspähen. Sie wünschte, sie hätte einen Umhang, der ihrer verkrüppelten Gestalt hätte Würde verleihen können.
»Wo steckst du, verdammte Alte?«
Sie bekam keine Anwort.
»Ich brauche deine Hilfe.« Ihre Stimme trug weit.
Weiter unten rief jemand, sie solle still sein. Sie stellte sich vor, wie sie das Haus dieses Rufers verwüsten würde, tat aber nichts. Sie bückte sich und massierte das Bein oberhalb des Knies, dann verließ sie das Dach und stieg weiter.
Die Kuppen der vergeblich zum Höhlendach emporstrebenden Hügel waren keine begehrte Wohngegend, denn sie waren mühsam zu erreichen, und der Ausblick war ein Panorama der Monotonie. Zwischen den Gebäuden, die wie Schwalbennester übereinander klebten, verliefen tief eingeschnittene Wege und Treppen. Kiris Knie begann Schmerzbotschaften auszusenden, die bald auf Knöchel und Hüfte übergingen. »Bitte«, keuchte sie kleinlaut. »Dies ist nicht die rechte Zeit, um mich zu bestrafen.«
»Sieh da, meine skeptische Freundin.«
Kiri fuhr herum und verdrehte dabei ihr Bein; es knickte unter ihr ein, und sie fiel vornüber. Sie erhob sich auf die Knie, wischte die Hände an ihrem Kleid ab und blickte auf. Schweiß rann ihr übers Gesicht und von den Achselhöhlen die Seiten herunter. Über ihr, mit achtloser Erheiterung auf sie herabblickend, saß die Person, die Kiri gesucht hatte. Die Heilerin war sehr alt und bisweilen von einer übertriebenen Würde; immer wirkte sie geheimnisvoll, und häufig verrückt. »Bleib nicht auf den Knien liegen«, sagte sie. »Du siehst lächerlich aus. Du hättest geheilt werden können, und deine Schwächen beleidigen mich.«
Kiri rappelte sich errötend auf und stand unbeholfen, das Gewicht auf dem gesunden Bein. Die Miene der Alten wurde zugänglicher. »Nimm wenigstens etwas gegen die Schmerzen. Ich kann dir etwas geben, was dich bewegen würde, an mich zu glauben.«
»Ich habe diese Narben verdient«, sagte Kiri. »Ich habe sie alle verdient. Würde ich hier sein, wenn ich nicht an dich glaubte?«
»Vielleicht nicht. Du bist stolzer als die meisten. Verzweiflung führt dich nicht zum Glauben. Du hättest gelebt haben sollen, als ich jung war. Damals waren die Menschen stolzer und beständiger.«
»Ich glaube, du wirst dringend gebraucht«, sagte Kiri. »Kommst du mit mir?«
Die alte Frau schüttelte den Kopf und blieb so lange dabei, daß Kiri das Kopfwackeln des Alters zu sehen glaubte; erst verspätet wurde ihr klar, daß ihr Anliegen abgelehnt wurde. »Strafe mich nicht durch sie!« rief sie. »Du wirst Chris zerstören und Mischa mit ihm. Sie haben nichts getan, wodurch sie es verdient hätten.«
»Ich bin nicht so kleinlich«, sagte die Heilerin.
»Dann komm!«
»Nein.«
»Aber er könnte sterben.«
»Der Junge stirbt seit langem. Ich wäre hilflos.«
»Wie kannst du das wissen?«
»Liebes Kind«, sagte die Heilerin, »meinst du wirklich, meine Informationsquellen seien nicht besser als die deinigen?«
Kiri schlug den Blick nieder, starrte verdrießlich auf den Weg und verlagerte unter Schmerzen ihr Gewicht. »Dann wirst du ihnen nicht helfen?«
»Ich werde nicht mit dir kommen.«
»Ist das deine endgültige Entscheidung?«
»Das ist meine einzige Entscheidung!«
Kiri dachte an dies und das, was sie sagen könnte, wußte aber, daß es nichts bewirken würde. Sie ließ den Kopf hängen und machte kehrt, um zurückzugehen.
»Komm her, du einfältiges Kind!«
Kiri warf sich herum wie ein angegriffenes Tier. »Spiel nicht mit mir!«
Die Heilerin stand auf dem Sims über ihr, angetan mit ihrem langen, dunklen Gewand. »Kinder hören nie zu. Ich sagte, ich würde nicht kommen, aber ich sagte nicht, daß ich nicht helfen würde.« Sie warf ein glänzendes Ding herunter; Kiri fing es auf. »Nimm das und geh!«
Das Ding war eine Kugel, so schwarz, daß sie an ein rundes Loch denken mußte. Sie wärmte Kiris Handfläche. »Ist dies alles, was du ihnen geben kannst?«
»Das ist ein Leben«, sagte die alte Frau geheimnisvoll. »Und ein schmerzloser Tod.«
»Ein Leben«, murmelte Kiri. »Ich hatte auf zwei gehofft.« Sie blickte auf, aber die Heilerin war fort.
Übergangslos erwachte Chris aus tiefer Bewußtlosigkeit. Seine Augenlider flatterten, und er spähte wie aus einem Tunnel ängstlich darunter hervor. Mischa spürte seine Verwirrung, seine Desorientierung und berührte seine unverletzte Schulter, um ihm Kontakt mit der Wirklichkeit zu geben. »Du bist in meiner Nische, Chris.«
Er öffnete den Mund, um zu sprechen, begann jedoch zu husten und konnte, einmal angefangen, nicht wieder aufhören. Der Schaum auf seinen Lippen wurde rosa, und ein wilder Schmerz durchschoß ihn in unkontrollierbaren Krämpfen. Mischa versuchte ihn zu stützen, und endlich ließ der Hustenanfall nach und hörte auf. Chris lag erschöpft, die grünen Augen weit offen. »Ich hätte es mir denken sollen«, sagte er matt, aber mit einem häßlichen Unterton. Er versuchte zu lachen, gab aber sofort wieder auf. »Deine Nische. Ich hätte es mir denken sollen.«
»Chris ...«
»Hältst du dich für meine Eigentümerin?« Er versuchte sich auf einen Ellbogen zu stützen und fiel mit einem rauhen Schmerzenslaut zurück. Mischa hielt den Atem an, bis er zur Ruhe gekommen schien. »Laß mich doch helfen«, sagte sie. »Bitte ... laß mich helfen.« Ihre Stimme bebte.
»Laß mich allein.« Er drehte den Kopf zur Wand.
Jan legte die Hand auf ihren Arm. »Mischa ...«
Sie schüttelte den Kopf, ohne ihn anzusehen.
»Es ist zuviel für dich, Mischa. Es bringt dich um.«
»Ich kann ihn nicht verlassen. Ich bin ihm zuviel schuldig.« Jan festigte seinen Griff um ihren Arm, als wollte er ihr etwas von seiner Kraft mitteilen.
»Mischa .?« Chris war wieder bei klarem Bewußtsein, unschuldig und vergeßlich, und Mischas Kummer löste sich auf. »Ich bin hier.«
»Hast du Schlaf bei dir?«
Sie zog die Kapsel aus der Tasche. Seine Unruhe und sein Verlangen nahmen zu, und Mischa fühlte seine Enttäuschung, daß sie nur eine Kapsel hatte. »Mehr konnte ich nicht bekommen«, sagte sie. »Sie wollten es mir nicht geben.« Sie steckte ihm die Kapsel in den Mund. Er saugte sie gierig aus, und Mischa hatte ungewollt Anteil an dem Gefühl der sich windenden Fäden auf seiner Zunge und würgte vor Ekel. Bald wurde die Wirkung der Droge spürbar, und er veränderte sich abermals. Statt ihn einzuschläfern, schien die Kapsel eine belebende Wirkung auf ihn zu haben. Er sah Mischa mit ihren eigenen Augen. »Danke.«
»Schon gut.«
Bald darauf schienen seine Gedanken sich nach innen zu kehren. Eine so kleine Menge der Droge ließ ihn nicht schlafen, aber sie drängte ihn langsam durch Stadien der Erschöpfung zurück. Der Schmerz näherte sich ihm aus einer anderen Richtung.
»Wann reisen wir ab, Mischa?«
Einen Augenblick lang wußte sie nicht einmal, was er meinte. Dann drückte sie die Fingerspitzen gegen ihre Schläfen und konzentrierte sich auf die Kratzmuster des Steinbodens. »Bald«, sagte sie und hoffte, er werde die Lüge nicht heraushören.
»Wann?«
»Im Frühjahr. Sobald die Stürme vorüber sind. Vielleicht noch eher.«
»Das ist gut«, murmelte er. »Das ist gut ...«
Die Stille streckte sich wie ein gespannter Draht. Einst hatten sie über alles miteinander gesprochen, als das Gleichgewicht zwischen ihrem Geben und Nehmen beinahe ausgeglichen war. Es war die Zeit gewesen, als Mischa alt genug geworden war, um für sich selbst zu sorgen und für sie beide zu stehlen, bevor es mit Chris abwärts gegangen war, weil er sich auf diese endlose, abschüssige Bahn gezwungen hatte oder gezwungen gefühlt hatte.
Mischa hörte, wie er sich regte, blickte auf und sah ihn mit zu-
rückgerecktem Kopf liegen. Die Sehnen seines Halses zitterten. Unter der Decke, die sie ihm übergelegt hatte, krallte seine Hand sich ins Laken; er schien nach irgendeiner Empfindung zu suchen, die nicht mit dem Schmerz verbunden war. »0 Gott, Mischa, es tut weh ...« Eine Träne quoll unter seinen langen, feinen Wimpern hervor, rollte über den Backenknochen in sein Haar.
Mischa würgte an einem Schluchzen, konnte es aber nicht zurückhalten.
»Mischa ...«
Als sie bemerkte, daß Jan zu ihr gesprochen hatte, wandte sie sich zu ihm um. Er saß an die Wand gelehnt, blickte auf seine Hände und krümmte und streckte die kräftigen Finger.
»Es war nicht genug«, sagte er.
Sie zuckte die Achseln. »Ich konnte nicht mehr bekommen.«
»Was willst du machen?«
»Ich weiß es nicht.« Ihr Geist war benommen und langsam, abgelenkt von Chris' wirren Visionen, und obwohl sie begriff, daß sie anfangen mußte, wieder in Begriffen des Zentrums und seiner Möglichkeiten zu denken, statt in Begriffen des Entkommens daraus, war der rückwärts gerichtete Übergang sehr schwierig.
»In Gottes Namen, Mischa, ich biete meine Hilfe an! Willst du sie nicht annehmen? Es muß jemanden oder etwas in dieser Stadt geben, was sein Leiden erleichtern kann.«
»Können Sie gehen?«
Er zögerte. Neben dem Bett kauernd, krümmte Mischa sich noch mehr in sich hinein, als erwarte sie einen Streit.
»Gut«, sagte er traurig. »Ich gehe.«
Er verließ die Höhle, beunruhigt, daß Mischa mit Chris verbunden und doch allein war. Aber sie fürchtete so wenig, was ihr zustoßen mochte, daß ihm nichts übrigblieb, als ihre Bitte zu erfüllen. Er hätte mit ihr streiten können, wäre aber nicht weit damit gekommen.
Die Lampen waren noch nicht heller geworden. Er hatte keine Ahnung, wie spät es war, vermutete aber, daß die Nacht wenigstens zur Hälfte um sein müsse. Soviel er erfahren hatte, gab es im Zentrum keinen Menschen, der sich medizinischer Kenntnisse rühmen durfte, und er fragte sich, ob Mischa ihn in ihrer naiven Unkenntnis auf die Suche nach einem Wunderheiler oder Scharlatan geschickt hatte.
Wo der Radialstollen in die Spirale mündete und die Haupthöhle sich vor ihm öffnete, blieb er stehen. Die halbdunkle Schlucht des Kreises unter ihm lag verlassen und ohne Bewegung, aber vor dem Steinpalast hatte sich eine Menschenversammlung gebildet.
Er folgte der Spirale abwärts, immer am Rande des Abgrundes entlang. Ein Stück voraus kam ihm eine Gestalt entgegengestapft, vorgebeugt in der Mühseligkeit des Anstiegs. Ihr hinkender Gang kennzeichnete sie als lahm, mehr konnte er in der herrschenden Dunkelheit nicht ausmachen. Näherkommend, verlangsamte er seinen Schritt, damit sie einander auf dem schmalen Pfad ungefährdet passieren könnten. Die Gestalt gehörte einer schwarzgekleideten jungen Frau, die den Kopf hob, als er vorbeiwollte. Er nickte ihr zu und schaute wieder weg, nicht weil er ihr Aussehen abstoßend fand, sondern weil er meinte, sie sei empfindlich gegen die starrenden Blicke Fremder.
Im Augenblick der Begegnung griff sie rasch zu und umfaßte seinen Arm mit erstaunlicher Kraft. Er hielt erschrocken an, und diesmal begegnete er ihrem Blick. Ihr von Gesichtsrose entstelltes Antlitz wurde von einem Ausdruck düsterer Eindringlichkeit beherrscht, der ihn nicht zu Wort kommen ließ.
»Sie sind Mischas Freund«, sagte sie. »Vom Palast.« »ja.«
»Ist Chris noch am Leben?« Ihre Stimme war fest, aber die Hand verstärkte ihren Druck auf seinen Arm und verriet ihre innere Erregung.
»Ich bin unterwegs, um Hilfe für ihn zu holen.«
Sie ließ ihn los und streckte die andere Hand aus, in der eine kleine schwarze Kugel lag. »Dies ist, was Sie suchen.«
»Mischa bat mich, jemanden aufzusuchen ...«
»Ich habe mit ihr gesprochen. Sie wird nicht kommen. Sie schickt dies.«
Jan blickte zu den Hügeln hinüber, wohin er gehen sollte. Die Frau ergriff ihn ungeduldig beim Arm und schüttelte ihn. »Hören Sie nicht? Sie werden die Frau nicht finden.«
»Aber ...«
Sie zeigte zur Menschenansammlung. »Sehen Sie die dort drü-
ben? Wenn sie hierherkommen, werden sie es tun, um Sie zu suchen.«
Er suchte die Wahrheit in ihrem Gesicht und fand sie, vereint mit Verzweiflung.
»Wenn ich laufen könnte«, sagte sie, »würde ich Sie mit Vergnügen weitergehen und in die Falle tappen lassen. Aber es ist keine Zeit zu verlieren. Mischa braucht dies.«
»In Ordnung«, sagte Jan.
Sie legte ihm die schwarze Kugel in die Hand. Sie war von einer unbestimmten Weichheit, warm und glänzend, so daß Schatten und Umrisse über ihre Oberfläche gingen.
»Sie weiß, was es ist.«
»Danke.« Die schwarze Kugel so behutsam in der Hand haltend, als wäre sie ein Schmetterling, kehrte er um und stieg zurück zur Einmündung des Radialstollens. Die verkrüppelte Frau blieb zurück. Einmal sah er sich nach ihr um. Fast unsichtbar in den tiefen Schatten der Wände und Höhleneingänge, folgte sie ihm langsam.
Mischa saß zusammengekauert, das Gesicht auf den Knien, als wollte sie ihre Augen gegen die Klauen dunkler Dämonen beschirmen. In dem trüben Licht konnten sie leicht ungesehen über sie flattern.
Jan legte ihr die Hand auf die Schulter und war überrascht, als sie zusammenfuhr.
»Tut mir leid«, sagte er. »Ich dachte, du hättest mich gehört.«
»Chris halluzinierte. Es ... Ich hoffte, daß Sie den Weg zurück finden würden, aber – wo ist sie? Wie kommt es, daß Sie so bald zurückgekommen sind?«
Jan hielt ihr die schwarze Kugel hin. »Dieses Ding gab mir eine verkrüppelte Frau. Es ist für dich.«
Mischa starrte schweigend auf die Kugel in seiner geöffneten Hand. Die Hoffnung verlor sich mit dem Blut aus ihrem Gesicht und hinterließ Blässe.
»Sie kommt nicht?« fragte sie mit tonloser Stimme.
»Nein. Aber es schien ihr viel daran zu liegen, daß du zu dieser Kugel kommst. Wenn du willst, kann ich ...«
Mischa schüttelte den Kopf und starrte unverwandt die schwarze Kugel an, als wäre sie mit ihr allein, und Jan spräche aus weiter Ferne zu ihnen. Beunruhigt über ihre Reaktion, schloß er die Finger um die Kugel. Mischa griff nach ihr, aber er entzog ihr die Hand. »Was ist es, Mischa? Was bewirkt es?«
»Geben Sie es mir, Jan.«
Er sah sie an und reagierte nicht.
»Es wird ihm helfen, zu sterben«, sagte sie endlich. In stummer Betroffenheit überließ er ihr die Kugel.
Mischa schlug die Decke zurück. Chris murmelte unzusammenhängende Worte, verstrickt in unbekannte Fieberträume. Sie war froh, daß er nicht wach war und nicht sehen konnte, was sie tat. Er sollte nicht wissen, daß er starb. Sie fühlte, wie die Träume allmählich verblaßten und sich auflösten, als er schwächer wurde; die Droge hatte ihn in den Zustand versetzt, den er gesucht hatte, wollte ihn aber noch nicht ruhen lassen. Sie zog den geschwärzten und geschmolzenen Rand seines Hemdes von der Bandage zurück und schnitt den Stoff mit dem Messer auf, bis Chris' Oberkörper entblößt war. Sie legte die schwarze Kugel in die Höhlung seines Brustbeins, unweit vom Rand der Wunde. Jan glaubte die Kugel erzittern zu sehen, als sie den Körper berührte, und plötzlich zersprang sie mit einem scharfen, hohen Ton. Selbst Mischa, die diese Reaktion erwartet hatte, zuckte zusammen und riß die Hand vors Gesicht, doch nichts berührte sie; was immer die Kugel getan hatte, sie war nicht explodiert. Eine schwarze Flüssigkeit breitete sich langsam über Chris' Brustkorb aus, floß unter die Bandage, die sich kräuselte und auflöste.
»Großer Gott«, flüsterte Jan. Die sich ausbreitende und zu einer Art Schale verfestigende Flüssigkeit erreichte Chris' Kehle, wo sie zum Stillstand kam. Auf der anderen Seite kroch sie über seinen Leib bis zu den Schenkeln. Hemd und Hose lösten sich in aschenähnliche Flocken auf, zerfielen.
»Was ist es?«
»Es – nimmt den Schmerz«, sagte Mischa. »Ich habe es noch nie gesehen, nur davon gehört.«
»Ich habe in meinem Leben nichts dergleichen gesehen.«
Mischa streckte die Hand aus und berührte die langsam expandierende glänzende Schicht. Sie war sehr kalt, und ihre Fingerspitzen waren feucht von kondensiertem Wasser. Endlich um-schloß die schwarze Schale Chris' ganzen Rumpf und bewegte sich langsam mit seinem Atmen. »In der Sphäre«, sagte sie. »Hätte man ihn dort retten können?«
»Ich weiß es nicht«, sagte er nach kurzem Zögern. »Vielleicht, wenn man ihn gleich behandelt und operiert hätte.«
»Ich fühle, wie es ihn betäubt. Zuvor litt er große Schmerzen, doch nun fühlt er nichts mehr ...« Sie brach ab, als sie bemerkte, daß Chris wieder zum Bewußtsein erwachte. Sie legte die Hand an sein Gesicht, ihn zu trösten, und wurde zu einem mitschwingenden Resonanzkörper für seine Echos.
»Mischa?«
»Ja, Chris.«
Er wollte sie mit der rechten Hand berühren, aber die Muskeln waren betäubt. Er entspannte sich und lag still, verausgabte seine ganze Energie für das Atmen. Mischa nahm ihre Hand von seinem Gesicht, ergriff seine Linke und hielt sie mit sanftem Druck. Er hob ein wenig den Kopf, blickte an sich hinab und sah die Schwärze. Seine Pupillen weiteten sich ein wenig, dann ließ er den Kopf zurücksinken und schloß die Augen. »Lieber Gott!« Rosa Schaum trat ihm auf die Lippen. »Was wird geschehen?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Mischa. »Ich habe es noch nie miterlebt.«
»Es ängstigt Gemmi.«
»Ja.« Chris verstummte, und Mischa zerbrach sich den Kopf, um ermutigende Worte zu finden. »Alles Unbekannte ängstigt sie. Sie kann Gutes nicht von Schlechtem unterscheiden.«
Chris versuchte zu lächeln, aber die Fähigkeit dazu war ihm abhanden gekommen. Auch Mischa spürte, wie ihre tapfere Fassade bröckelte. »Das stimmt«, murmelte Chris. »Ich ... ich weiß das ...«
Um nicht aussprechen zu müssen, was ihr in der Seele brannte, suchte Mischa Zuflucht bei einer Banalität und sagte: »Versuch ein wenig zu schlafen.«
»Mischa ...« Seine Hand erwiderte ihren Druck in einem matten Aufflackern seiner alten Kraft. »Ich wollte mit dir gehen.« Er schloß die Augen, und es verging eine Weile, ehe er einen neuen Anlauf nahm. »Nichts lief so, wie es sollte. Es tut mir leid.«
»Du solltest nicht so reden.« Sie hatten Streitigkeiten miteinander gehabt, nie aber hatte es Vorwürfe gegeben. Das war die Ehre zwischen ihnen, daß sie letzten Endes nur für sich selbst verantwortlich waren.
Chris nickte und ruhte aus. Mischa fühlte Tränen über ihre Wangen rinnen und wurde sich bewußt, daß Hikaru noch immer da war, ein stummer Beobachter. »Verdammt«, murmelte sie. »Ich weine nie.«
Er legte ihr seine Hand auf die Schulter. Sie versteifte sich.
»Du brauchst dich deiner Tränen nicht zu schämen«, sagte er. »Niemand kann sie gebrauchen, um dir weh zu tun.«
Das wollte sie nicht glauben. Sie hatte ihre Gefühle so lange Zeit in Selbstverteidigung für sich behalten, daß sie es nicht glauben konnte. Und sie hatte gedacht, daß sie Jan Hikaru vertrauen könne, aber das Vertrauen war nicht ganz stark genug. Wirre Traumvisionen zogen durch Chris' umnachtetes Bewußtsein und drohten Mischa vollends um ihre Selbstbeherrschung zu bringen. In der Erschöpfung öffnete sein Geist sich tiefer, als sie es je zuvor erfahren hatte; sie wurde Zeugin seiner Qualen und seines Stolzes, seiner Hoffnungen und Schwächen, seiner Niederlagen und Sehnsüchte, als die Tätigkeit der Nervenzellen und Synapsen seines Gehirns durch die Kälte und das Aufhören des Schmerzes eine Verlangsamung erfuhr. Die schwarze Schale wuchs, entzog seinem Körper und der umgebenden Luft Wärme. Mischas Schultern zuckten von unterdrücktem Schluchzen. Mit einer Anstrengung wandte sie den Blick von ihrem Bruder und sah Jan an.
»Er kümmerte sich um mich, als ich klein war«, sagte sie. »Er zog mich auf. Er gab mir sogar meinen Namen. Er meinte es gut.«
Nie hatte sie etwas, was ihr teuer war, so unwiderruflich verloren. Was immer sie früher verloren hatte, sie hatte sich sagen können, daß es nicht wirklich wichtig sei. Das war jetzt unmöglich.
Sie preßte die Fäuste gegen die Stirn, lehnte sich gegen Jans Brust und weinte.