Wieder eine Pause. Dann hob er matt den Kopf und stützte sich auf einen Ellbogen. Seine Schulterknochen zeichneten sich spitz unter der Haut ab. »Mischa?«

»Ja.«

»Klar.«

Sie kauerte neben dem Bett nieder. Das Licht von draußen fiel jetzt ungehindert ein und blendete ihn. Er blinzelte und hob die bis zur Transparenz abgemagerte Hand, um die Augen zu beschirmen. Mischa warf einen schnellen Blick zur rückwärtigen Wand und bemerkte erleichtert, daß dort seine abgetragenen Kleider hingen und alles verdeckten, was darunter sein mochte.

»Was ist los?« sagte Chris.

»Ich war gerade zu Hause.«

Er berührte ihre Hand mit Fingern wie ein Fledermausflügel, schmal und zerbrechlich. »Kann ich helfen?«

Sie schüttelte den Kopf. Er half schon, indem er da war und lebte; er half schon, weil sein Blick nicht abschweifte, obwohl seine Augen blutunterlaufen und die blasse Haut darunter von den Schatten der Erschöpfung gezeichnet war.

»Was sonst?«

Mischa hatte fast vergessen, wie beruhigend und angenehm Chris' Stimme war, wenn er nicht jammerte. Sie hörte sich besorgt und sehr müde an.

»Er hat die Kinder verkauft.«

Die Finger auf ihrer Hand drückten sie matt. »Ach ...«

»Wir ...« Sie brach ab; sie konnte ihm nichts von der Schuld daran aufbürden. »Ich habe nie etwas für sie getan. Ich hätte sie zu mir nehmen sollen.«

»Er hätte dich durch Gemmi gezwungen, sie zurückzubringen.«

»Ich hätte es wenigstens versuchen müssen. Bei Gemmi wäre es mir unmöglich gewesen, ich hätte es nicht ertragen, sie die ganze Zeit so nahe zu haben, aber bei ihnen wäre es vielleicht anders gewesen ... Ich hätte mich um sie kümmern können, wie du dich um mich kümmertest.«

Chris schaute weg. »Das war eine andere Sache, zwischen dir und mir ... Es war nicht das gleiche.«

»Warum nicht?« Sie sagte es stumpf, nicht um eine Antwort zu erhalten, sondern weil sie glaubte, daß es keine Antwort gab.

Chris hob die magere Schulter, ohne etwas zu sagen. Er starrte die mit Kleidern verhängte Wand an. Nach einiger Zeit wandte er den Kopf zurück und sah sie an. »Misch, weißt du, wenn er es wirklich wollte, dann hätte keiner von uns etwas dagegen machen können.«

»Ich weiß nicht ...«

Er hob die Hand mit sichtlicher Anstrengung und berührte die trocknenden Tränen an ihrer Wange. Sie wischte sie rasch mit dem Ärmel fort, beschämt. Chris rückte zur Seite. »Komm und schlaf !«

Dankbar schlüpfte sie unter die dünne Decke neben ihn. Chris sagte ihr nicht, daß alles in Ordnung kommen werde, und auch dafür war sie dankbar. Er legte den Arm um sie, in einer schützenden Gebärde, und in ihrer Erschöpfung konnte sie sich ihn als die verläßliche und kämpferische Person vorstellen, die er in jüngeren Jahren gewesen war. An ihn geschmiegt, fühlte sie, wie er ihr mit sanfter, zitternder Hand das wirre Haar aus der Stirn strich.

 

Chris schien sich überhaupt nicht bewegt zu haben, als Mischa erwachte, noch hatte sie den Eindruck, daß er geschlafen hatte. Aber er hatte ihr Erwachen gefühlt; er sperrte die Welt nicht aus.

»Wie fühlst du dich?«

»Besser«, sagte Mischa. »Ganz gut.« Sie reckte die Arme über den Kopf, die Fäuste geballt. Sie setzte sich auf und blickte in Chris' halbdunklem Raum umher. Die Höhlenkammer war fast leer. Die Kleidungsstücke hingen wie ein zerrissenes Bahrtuch von seiner Arbeitswand. Sie stand auf und wanderte im Raum umher; sie hatte Hunger, aber es gab nichts Eßbares.

»Chris, ich werde fortgehen.«

Er hob fragend die Brauen; es war nicht üblich, daß sie sich einander erklärten.

»Ich meine, ich werde das Zentrum verlassen. Im Palast sind neue Leute, Fremde. Im Frühjahr werde ich mit ihnen gehen.«

»Das ist gut, Mischa.« Sie konnte nichts in seiner Stimme hören, keinen Neid, kein Bedauern, keine Freude.

»Wirst du mitkommen?«

Im schlechten Licht schienen seine grünen Augen schwarz; dann bewegte er sich, und sie fingen Licht und reflektierten es wie die Augen eines Tieres. Er blickte zu Boden. »Nein ... wirklich, nein.«

»Dort draußen könnte man dir helfen.«

»Mach nur und geh.«

»Ich möchte nicht ohne dich fort.«

»Doch, du willst.«

»Du weißt, was ich meine.«

Er schloß die Augen und sagte nichts.

»Nun sei nicht beleidigt, Chris. Bitte.«

»Es würde nicht klappen.«

»Wenn du dir das weiter einredest, wirst du es vielleicht selbst glauben.«

Er nickte sehr schwach, ohne die Augen zu öffnen.

»Es würde interessant sein«, sagte sie.

Er hob die Schultern und drehte den Kopf weg.

Mischa begann zornig zu werden, und ihre Stimme hob sich.

»Hier klappt es nicht, also kann es nur ein Gewinn sein.«

Ein Schatten von Verdrießlichkeit ging über seine Stirn, aber

er öffnete die Augen nicht, als er sprach: »So warst du noch nie.« »Du auch nicht!«

Die Spannung zwischen ihnen wuchs in der Stille.

Chris ließ den Atem in einem langen Seufzer ausströmen. »Du bist mir das nicht schuldig.«

Sie kniete an seinem Bett, über ihn gebeugt. »Ich bin dir viel schuldig.«

»Dann laß mich in Ruhe. Laß mich einfach allein.«

Mischa ließ sich auf die Fersen zurücksinken. Die Luft war kalt. Sie stand auf, ging durch den Raum und machte mit geballten Fäusten neben der verhängten Wand halt.

»Hast du gearbeitet?«

Er stieß sich vom Bett hoch, plötzlich aufmerksam und beunruhigt. Das schmutzige Haar fiel ihm in Strähnen ins Gesicht, und er warf es mit einem Ruck zurück. »Geh da weg!« Chris hob niemals die Stimme; wenn er wütend war, verfiel er in dieses gepreßte Flüstern.

Mischa ergriff ein ungewaschenes, graues Hemd, das ihr am nächsten hing, und zeigte es ihm. »Ist das alles, was von dir übriggeblieben ist?« rief sie.

Er kroch auf sie zu, aus dem Bett und über den Boden, versuchte aufzustehen, strauchelte und fiel vornüber. Mischa sprang hinzu, um ihn aufzufangen, kam aber zu spät. Er schlug auf Unterarme und Ellbogen und blieb keuchend im Schmutz liegen, verbarg das Gesicht zwischen den Händen.

Mischa berührte sein schmieriges Haar, ergriff seine magere Hand und zog sie ihm sanft vom Gesicht fort. Seine grindige Wange war tränenverschmiert. »Komm und bleib bei mir«, sagte Mischa. »Für eine kleine Weile.«

»Ist gut«, sagte er, ohne sie anzusehen.

 

Bei der Annäherung an die hohen Flügeltüren des Gästequartiers fühlte Mischa die emotionslose Leidenschaft von Subeins wie einen trägen Dunst, der alles bis auf einen Fühler intellektuellen Engagements von Subzwei verdunkelte. Sie zögerte, bevor sie klopfte, hätte unter dem Vorwand, daß sie ihn nicht stören sollte, am liebsten wieder das Weite gesucht. Sie hatte sich bereits einen Tag verspätet. Sie überwand sich und klopfte.

Die Tür wurde geöffnet. Die Zeit ihrer Abwesenheit hatte der geometrischen Symmetrie der Räume nichts anhaben können. Weder hallende Echos noch Kalksteingeruch deuteten darauf hin, daß die Räume in einer Höhle waren; weder Geräusch noch Geruch zeigten an, daß ein Mensch darin lebte. Mischa ging weiter in den benachbarten Raum und sah Subzwei an seinem Datenanschluß sitzen, wo er ihr den Rücken zukehrte und mit der Tastatur spielte, wie ein Komponist auf einer Orgel spielen mag. Er wandte sich nicht um. Sie dachte, daß die Alarmanlage ihm ihr Kommen gemeldet haben mußte und daß sie ihm nicht völlig unwillkommen sein konnte, weil er sie in dem Fall nicht eingelassen hätte. Sie wartete hinter ihm, aber er unterbrach seine Arbeit nicht.

»Ich bin wieder da.«

Er zeigte keine Überraschung, reagierte aber auf ihre Worte, indem er ein wenig beiseite rückte, daß Mischa den Bildschirm sehen konnte, der bei ihrem ersten Besuch eine Wiedergabe des Korridors gezeigt hatte. Jetzt schaute ihr eigenes Gesicht heraus, bewegte sich nach links, wenn sie sich nach rechts bewegte, und umgekehrt. Sie hielt nach der Kamera Ausschau, konnte sie aber nicht entdecken.

»Es ist eine neue«, sagte Subzwei, ohne den Kopf nach ihr zu wenden. »Sie ist sehr klein.« Während er seine Arbeit an der Konsole fortführte, beobachtete er Mischa über den Bildschirm.

»Wo bist du gewesen?«

»Im Zentrum.«

»Jan Hikaru sagte etwas von einer dringenden persönlichen Angelegenheit. Ich hoffe, alles ist in Ordnung.«

»Eigentlich nicht.«

»Fein.«

Sie dachte zuerst, er sei sarkastisch, bis ihr klar wurde, daß er einfach mit einer seiner mechanischen Redensarten geantwortet hatte, ohne auf das zu hören, was sie gesagt hatte. »Ich muß mit Ihnen reden«, sagte sie, ein wenig lauter als notwendig gewesen wäre. Dies war nicht der beste Zeitpunkt, um mit Subzwei über Chris zu sprechen, aber sie scheute sich, die Angelegenheit noch länger hinauszuschieben, nun, da er hier war.

Er blickte in den Bildschirm, dann über die Schulter zu ihr, als wollte er sich ihres Ausdrucks vergewissern. »Du hast deinen Unterricht verpaßt.«

»Ich weiß, es ließ sich nicht ändern, das heißt ...«

»Es ist schon gut«, unterbrach er sie. Er stand auf und ging im Raum auf und ab, während Mischa verwundert zusah. Sein Umhergehen hatte etwas Künstliches; er schien es zum erstenmal auszuprobieren, um zu sehen, wie es zu ihm passe. Mischa hatte Verärgerung, Ironie oder offenen Tadel erwartet. Nichts davon war in ihm zu spüren. Er blieb vor einem Regal stehen, auf dem eine Skulptur mit symmetrischen Flächen in zwei Dimensionen ruhte. Er drehte sie so, daß die vertikale Symmetrie schief stand und viel weniger deutlich wurde, legte die Hände auf dem Rükken zusammen und betrachtete das Ergebnis seines Tuns. »Ich erwarte dich am Morgen.«

»Am Morgen?«

»Dann werden wir mit deinem Unterricht beginnen«, sagte er ungeduldig. Er wandte sich vom Regal weg und trat an einen Arbeitstisch, wo er die Papiere durcheinanderwarf. Mischa sah und fühlte die Anspannung in ihm wachsen, als er fortfuhr.

»Was tun Sie da?«

Er schoß ihr einen scharfen Blick zu, dann starrte er stirnrunzelnd auf den Arbeitstisch. »Ich habe bemerkt«, sagte er, »daß andere Leute ... nicht wie ich leben.« Er rückte den Stuhl zur Seite, dann verschob er den Arbeitstisch.

»Die Menschen leben so, wie es ihnen gefällt – wenn sie können.«

Seine Miene blieb ausdruckslos, doch die Spannung in ihm nahm weiter zu. »Die Leute fühlen sich in meiner Gesellschaft unbehaglich.« Er ging zu seiner Couch und schob sie in eine andere Position.

»Die Gesellschaft anderer Leute macht Sie unbehaglich.«

Zwei kleine vertikale Linien furchten die glatte Haut seiner Stirn. Mischa bemerkte, daß sein Gesicht in der kurzen Zeit, seit sie eingetreten war, Züge von Gefühl und Reaktion zu entwickeln begonnen hatte.

»Das ist wahr.« Er wandte den Kopf, und das schwarze Haar fiel ihm in die Stirn. »Vielleicht sollte ich eine Konzession machen.«

»Warum?« Er schien ihr völlig frei zu sein, in der beneidenswerten Lage, nach eigenem Gutdünken zu handeln. Obwohl sein Geschmack ziemlich sonderbar war, zwang er ihn keinem auf, wie andere, die als normal galten, es häufig zu tun pflegten.

Er hob die Brauen, musterte kritisch seinen Arbeitstisch und rückte einen Stapel Papiere zurecht. Er betrachtete das Ergebnis und lächelte. »Nun ... vielleicht nicht.« Er ordnete weitere Papiere. »Bis morgen«, sagte er in verändertem, beinahe munterem Ton. »Dein Unterricht. Vergiß ihn nicht.«

»Ich möchte gern über etwas mit Ihnen sprechen«, sagte Mischa.

»Morgen, morgen ...« Er beendete die Neuordnung der Papiere und konzentrierte sich darauf, sie in ein noch symmetrischeres Muster zu bringen. »Nicht jetzt, bitte.«

»Es ist wichtig.«

»Morgen, sagte ich!« Mischa spürte, daß seine Ungeduld keine Erwiderung mehr vertrug. Er stieß den Arbeitstisch heftig gegen die Wand und den Stuhl darunter. Mischa ballte die Fäuste, machte auf der Stelle kehrt und ging.

 

Chris lag genau so auf Mischas Bett, wie sie ihn verlassen hatte, flach auf dem Rücken, die Augen offen, den abgezehrten Körper in die weiche Steppdecke gebettet, daß er kaum zu sehen war. Mischa blieb neben ihm stehen, beobachtete ihn und wartete, aber er bemerkte sie erst, als sie ihn berührte.

»Chris«, flüsterte sie. Er zwinkerte, zeigte aber weiter keine Reaktion. Mischa schluckte und beugte sich über ihn. »Chris, möchtest du was? Kannst du etwas essen?«

Er befeuchtete sich die aufgesprungenen Lippen. »Ich möchte bloß schlafen. Hast du es gebracht?«

»Es war nichts mehr da.«

»Ach ja«, murmelte er. »Das stimmt. Ich hatte den Rest genommen.« Er lächelte unangenehm, als wollte er sich rächen. »Du hättest mich allein lassen sollen.«

»Sei still !«

Er hob den Kopf, und Mischa sah etwas vom alten Kampfgeist in ihm wach werden und nach Ausdruck suchen. »Dachtest du, daß du mich hierhergebracht hast, würde etwas ändern?«

»Ich werde dir was besorgen«, sagte sie. »Ich werde schon was auftreiben. Bleibst du hier?«

Seine gesprungene Unterlippe riß auf, und ein dünner Blutstropfen quoll hervor und rann über sein Kinn. »Ich werde tun, was ich will«, sagte er.

 

Wieder suchte sie Jan, konnte ihn jedoch nicht finden und hatte nicht die Zeit, auf ihn zu warten. Sie vermutete, daß er einen seiner Ausflüge ins Zentrum unternommen hatte, die bis zu zwei Tage dauerten. Er hatte mehr als sie für die Menschen übrig; es machte ihm Freude, sie zu beobachten und mit ihnen zu reden. Bei zwei Gelegenheiten hatte sie ihn begleitet und ihm als Führerin durch die Viertel jenseits der Schänken und Bordelle gedient; hatte ihm Namen erklärt und Landmarken gezeigt, hatte ihm die Struktur der Stadt und ihrer Gesellschaft erläutert. Bei seiner ersten Exkursion hatten die Einwohner mit Ehrerbietung, Argwohn und Furcht auf ihn reagiert, wie sie auf jeden Besucher aus dem Palast zu reagieren gewohnt waren. Das zweite Mal sprachen sie ihn an, plauderten, lachten und beklagten sich, ohne daß er sein Auftreten geändert hätte. Als Mischa seinen Gesprächen gelauscht hatte, war ihr Jans Bemühen aufgefallen, sich dem Akzent der Stadtbewohner anzupassen. Er glich keinem Menschen, den Mischa je im Zentrum gesehen hatte, doch je häufiger er die Stadt besuchte, desto mehr schien er mit ihrer Bevölkerung zu verschmelzen.

Sie wünschte, er wäre da, um sie zu beraten. Sie vermochte nicht zu sagen, ob der Aufenthalt im Palast sie geschwächt oder gestärkt hatte, ob sie eine neue Hilfsquelle hatte oder im Begriff war, ihr Selbstvertrauen zu verlieren, aber sie wünschte, Jan wäre jetzt bei ihr.