Die Agraffe


So war es auch. Zunächst machte die Bavaria Theater, wollte die Conradi wegen Vertragsbruchs verklagen. Auch für Klose sollte die Angelegenheit nicht ohne Folgen bleiben.

Das duldete Frobenius wiederum nicht. Er sei der Produzent, die Bavaria nur beteiligt.

Klose ließ sich zunächst überhaupt nicht blicken. Er wollte den ganzen Anfang zusammenstellen, also die Aufnahmen von der Insel, die er ja reichlich hatte, und mitten hinein die inzwischen schon berühmte Abschiedsszene, über die sich Burckhardt genauso begeistert äußerte wie Bronski. Susanne Conradi war gar nicht nach München gekommen, sie war auf dem Weg nach Boston, wo sie ihren Bruder besuchen wollte. So ging sie zunächst mal allen Schwierigkeiten aus dem Weg, dem Ärger mit Produzent und Bavaria, den lästigen Fragen der Presse.

Die Bavaria war genauso wenig wie Frobenius willens, die Rolle der Alkmene der unbekannten Geraldine Bansa zu überlassen.

Doch alle Bedenken, aller Ärger verschwanden, lösten sich auf, als Klose seine Aufnahmen vom Beginn des Films vorführte. Das Meer, die Berge, der endlos blaue Himmel, die Bilder von der Insel und dann, von allen Seiten eingefangen, das Amphitheater.

Nur flüchtige Aufnahmen von den Statisten – das Personal, die Soldaten, die Offiziere –, sie gingen wie Schemen durch das Bild, doch dann traten Alkmene und Amphitryon in die Mitte des Runds, er den Arm leicht um ihre Schulter gelegt. Dann standen sie voreinander, der kurze Dialog, ihr Griff nach der Agraffe, sein Lächeln, der Kuss.

Nachdem die Experten das gesehen hatten, blieb es lange still. Geraldine und Burckhardt waren nicht geladen. Aber Charlotte Gadomsky war dabei. Sie brach das Schweigen, als das Licht wieder angegangen war, stand auf und trat zu Sebastian Klose.

»Meinen Glückwunsch, Herr Klose. Wenn es so weitergeht, wie es angefangen hat, dann …« Sie spuckte ihm über die Schulter. Plötzlich redeten alle durcheinander, und dann wurde es wieder still, alle sahen Klose an.

Bronski grinste. »Ich habe gesagt, dass es gut ist, und wenn ich das sage, stimmt es auch.«

»Diese Frau ist erstaunlich«, sagte einer der leitenden Mitarbeiter der Bavaria. »Ich habe noch nie von ihr gehört. Hat sie bisher nur Theater spielt?«

Klose nickte. »Ja. Nur Theater.«

»An welchen Bühnen? Man müsste doch von ihr gehört haben.« Sebastian setzte an zu sprechen, er wollte sagen, sie sei lange krank gewesen, habe aussetzen müssen. Doch dann entschied er sich zu schweigen. Alles, was er sagen würde, wäre Unsinn, stimmte nicht. Er verstand ja selbst nicht, wie diese Frau sich verwandelt hatte, seine arme kleine Geri, von ihm nie ernst genommen, früher mal geliebt, doch das war lange her.

»Diese Idee mit der Agraffe, das ist sehr gut«, lobte ein anderer. »Die hat Zeus dann natürlich nicht. Und damit kommt die Geschichte ins Wackeln, jedenfalls soweit es Alkmene betrifft. Ein großartiger Einfall, Herr Klose.«

Sollte er nun sagen: Mir ist das nicht eingefallen. Meiner dummen kleinen Geri ist es eingefallen.

Ihr war noch mehr dazu eingefallen.

Der erste Auftritt von Zeus.

Zeus in der Gestalt des Amphitryon, mit seinem Gesicht, seiner Haltung. Oder fast seiner Haltung. Ein kleiner Unterschied war da doch. Burckhardt machte das sehr gut.

Ein Weg, der einen Hügel herabführt, ein leerer Weg. Doch nicht, da geht jemand. Nein, nicht. Der Weg ist leer. Dann ist da plötzlich jemand, direkt vor den Säulen des Palastes.

Alkmene sitzt im Hof, umgeben von ihrem Hofstaat. Sie liest in einem Taschenbuch, dann lehnt sie sich zurück, es dämmert, es wird zu dunkel, um zu lesen. Eine der Dienerinnen fragt, ob sie Licht bringen soll.

Alkmene lehnt ab, es sei so ein schöner Abend, man könne im Dämmerlicht besser träumen. Nikolaos solle singen.

Ein hübscher junger Mensch, der auch im Hof sitzt, fängt an zu singen, begleitet sich auf der Gitarre, ein anderer spielt auf einer Klarinette.

Es ist ein melodiöser Schlager, extra für den Film geschrieben, der später ein Hit sein wird. Und sie singen nicht griechisch, sie singen englisch, es klingt ein bisschen wie Frank Sinatra.

Und mitten unter ihnen steht Zeus. Der aussieht wie Amphitryon. Doch keiner sieht ihn. Man kann ihn erst sehen, wenn er will, dass er gesehen wird.

Er betrachtet alles gelassen, lange sieht er Alkmene an, die leise die Musik mitsummt, dann hebt er die Hand, streicht sich über die Stirn, und nun ist er sichtbar.

Alkmene stößt einen lauten Ruf aus, teils Schreck, teils Freude. Sie springt auf.

Sie läuft auf ihn zu, er breitet die Arme aus, hält sie fest und küsst sie.

Atemlos fragt sie: »Wo kommst du her? So spät am Abend. Was ist geschehen?«

»Ich habe eine Schlacht gewonnen. Heute Nacht will ich bei dir sein.«

Sie lacht. »Heute Nacht? Und so ein weiter Weg. Ach, mein Geliebter!«

Die Musik ist verstummt, sie sind alle aufgestanden, lachen, reden durcheinander.

»Geht schlafen«, ruft Zeus ihnen zu. Dann hebt er den Arm himmelwärts. Helios muss den Sonnenwagen anhalten, die Nacht soll sehr lang werden.

Zeus trägt die gleiche elegante Uniform wie Amphitryon, doch ohne Orden auf der Brust, ohne Achselstücke.

Sie küssen sich, sie redet aufgeregt, er lächelt.

Dann tastet sie über seine Brust.

Das ist der spannende Moment.

»Hast du meine Agraffe verloren?«

Jetzt erst sieht man, dass ihr Kleid auf der einen Schulter mit einer Sicherheitsnadel zusammengesteckt ist.

Er lässt sie los, löst geschickt die Sicherheitsnadel, die beiden Enden des Trägers fallen wieder herab. Doch er greift in die Seitentasche seines Jacketts und bringt die Agraffe zum Vorschein.

Nein, so leicht ist Zeus nicht zu erwischen.

Doch statt die Agraffe zu befestigen, löst er mit einer Hand die Agraffe auf ihrer anderen Schulter, nun fällt auch hier der Träger herab, ihre Brust ist nackt. Er hält sie umfangen, man sieht nur ihren nackten Rücken, und er lässt mit einem lässigen Schulterzucken seine Jacke heruntergleiten, darunter ist er nackt, ihre Oberkörper schmiegen sich aneinander.

Mit einer Bewegung zieht er ihr das Kleid ganz vom Körper, lässt es über den Stuhl fallen, auf dem sie zuvor lesend gesessen hat.

Dann hebt er sie auf und trägt sie in den Palast.

Die Szene ist von unbeschreiblicher Erotik.

Als das Licht im Vorführraum wieder angeht, sagt Bronski: »Man kriegt vom Zusehen einen Orgasmus.«

Ausgerechnet er sagt das, der das alles mit seiner Kamera aufgenommen hat.

Alle anderen schweigen wieder einmal. Sebastian Klose steigt mit jedem Moment in der Achtung der Experten.

Doch die Agraffe soll eine noch größere Rolle spielen.

Es wird wieder Tag, sehr früher Morgen, es ist sehr hell, strahlende Sonne, ein geradezu grelles Licht.

Helios, der Sonnengott, hat einiges nachzuholen.

Alkmene kommt aus dem Palast, sie ist noch ganz benommen nach dieser langen Nacht, streicht sich das in Unordnung geratene Haar aus dem Gesicht. Sie hat nur ein Badetuch um sich geschlungen. Sie schaut sich um, keiner ist da. Schlafen sie denn noch bei dieser Helligkeit?

Sie hebt ihr zusammengeknülltes Kleid auf, betrachtet es, lässt es wieder fallen, setzt sich, legt den Kopf zurück und schließt die Augen, sie ist noch so müde.

Doch dann fährt sie auf, sie hat ein Geräusch gehört wie von einem Motor.

Und da sieht der Zuschauer es auch schon. Auf dem Weg, der von dem Hügel herabführt, kommt ein Jeep angefahren: Amphitryon am Steuer.

Das Geräusch verstummt, sie schließt die Augen wieder. Dann steht sie auf, reckt sich und streckt sich, sie hört Schritte und zieht sich eilends das weiße Kleid über, dessen Träger herabhängen. Doch da ist ja noch die Sicherheitsnadel, sie steckt einen der Träger zusammen, wendet sich zum Haus, und plötzlich steht Amphitryon am Rande des Hofes.

»Alkmene!«, ruft er.

Sie wirft ihm einen kurzen Blick zu, lächelt abwesend, sagt: »Du bist schon aufgestanden.«

Das versteht er natürlich nicht. Er hat Erstaunen erwartet, einen Ruf der Freude und die Frage: Wo kommst du denn her?

Er geht rasch auf sie zu, nimmt sie in die Arme, will sie küssen, sie wendet das Gesicht zur Seite. Sie hat nun erst einmal genug von Küssen und Umarmungen. Das ist ganz verständlich. Irgendwann muss das Leben wieder normal werden.

»Ich habe mir Sorgen gemacht«, sagt er, sie immer noch festhaltend.

»Diese endlose Dunkelheit. Ich habe eine Schlacht gewonnen.«

»Ja, ich weiß«, sagt sie gleichgültig.

»Und dann wurde es dunkel. Und es blieb dunkel. Es wurde einfach nicht hell. Ich bin die ganze Nacht gefahren, weil ich Angst um dich hatte.«

Nun wird sie aufmerksam. Mit den Händen wehrt sie ihn ab.

»Was soll das heißen? Du bist die ganze Nacht gefahren. Und wieso ist es dunkel. Es ist doch ganz hell.«

»Ja, jetzt ist es hell. Ganz plötzlich wurde es hell. Aber zuvor blieb es einfach dunkel. Es war richtig unheimlich.«

Doch nun hat sie, die Hände abwehrend gegen seine Brust gestemmt, er trägt diesmal keine Orden, etwas gespürt.

»Was ist das?«, flüstert sie.

»Deine Agraffe. Ich bringe sie dir zurück. Wie ich sehe, fehlt nun die andere auch.«

Alkmene erstarrt. Sie kann nicht begreifen, was das bedeutet. Und für sie wird es plötzlich dunkel trotz der strahlenden Helligkeit dieses Morgens.

Was geschieht mit ihr?

Amphitryon zieht die Agraffe aus der Brusttasche, und dann macht er sich daran, die Sicherheitsnadel zu lösen, er ist ungeschickt, er sticht sich in den Finger, es blutet, Fingerspitzen bluten immer heftig, ein Blutfleck erscheint auf ihrem Kleid.

»Oh, das tut mir Leid«, sagt er, lässt die Sicherheitsnadel zu Boden fallen, will die Agraffe befestigen, doch sie stößt ihn heftig zurück, wendet sich zum Haus, läuft zur Tür und reißt sich dabei das weiße Kleid vom Leib, wirft es hin, ein Schrei kommt über ihre Lippen, diesmal ist sie ganz nackt. Dann erscheint Zeus in der Tür, er ist schon angezogen, ist genauso gekleidet wie Amphitryon.

Und er ist überrascht. Denn das hat er nicht geplant.

Er blickt hinauf in die strahlende Sonne, das kann nur er, er schüttelt den Kopf.

»Die Nacht war zu lang«, sagt er.

Das scheint Helios zu ärgern, sogleich verdunkelt sich die Sonne, die Helligkeit vergeht, es ist ganz normales Tageslicht, weniger als das, es wird dämmerig, eine frühe Morgendämmerung, ganz normal.

Dann bückt sich Zeus, hebt das Badetuch auf und hüllt Alkmene darin ein.

Amphitryon steht nun auch starr. Er kann nicht begreifen, was er sieht.

Wer ist dieser Mann?

Sieht er, dass der Fremde genauso aussieht wie er selbst? Weiß man denn eigentlich, wie man aussieht?

Zeus blickt Alkmene an, dann streicht er leicht mit der Hand über ihre Augen.

»Vergiss es«, sagt er.

Dann geht er über den Hof, besser gesagt, er schreitet, er ist wieder er selbst.

Er hebt die Agraffe auf, geht zu Amphitryon, legt ihm die Hand auf die Schulter und steckt ihm die Agraffe wieder in die Brusttasche. Aus seiner Jackentasche nimmt er die zweite und steckt sie in Amphitryons Jackentasche, dann nimmt er die dritte, betrachtet sie, lächelt, und dann ist sie verschwunden. Nicht mehr vorhanden. Und dann ist auch er fort. Nur einmal noch wird der Weg zum Hügel gezeigt, dort sieht man ihn kurz, er geht langsam, verschwindet, es ist wohl der Weg zum Olymp.

Alkmene schaut um sich, wie erwachend, schlingt das Badetuch fester um ihren Körper.

»Ich wollte gerade duschen«, sagt sie kindlich.

»Das ist eine gute Idee«, sagt Amphitryon. Tritt neben sie.

»Das mach ich auch.«

»Wo kommst du eigentlich her?«, fragt sie.

Und lässt sich von ihm küssen.

Ende.

Sebastian Klose hat also wirklich einen ganz neuen Amphitryon geschaffen. Es gab keine Ähnlichkeit mit Kleist, geschweige denn mit Plautus. Zeus verschwand nicht in einer Donnerwolke zum Olymp, es war auch nicht die Rede von Herakles, den Alkmene gebären würde.

Und das Wichtigste von allem, kein Diener, kein Soldat hatte den zweiten Amphitryon gesehen, es gab kein Staunen, kein Geschwätz, keinen Klatsch. Und somit war es nun wirklich kein Lustspiel, sondern eine ernste, herzanrührende Liebesgeschichte zwischen einem Gott und einer Menschenfrau. Die Frau würde es nicht mehr wissen, Amphitryon nie erfahren. Das Amphitheater, das Klose so wichtig gewesen war, kam gar nicht mehr vor, nur eben gerade in der Anfangsszene, später war es dann der Säulenpalast in Theben, nicht der weite Raum eines Amphitheaters. Was in der langen Nacht in den Räumen des Palastes geschah, braucht hier nicht weiter erzählt zu werden.

Sebastian Klose hatte einen großartigen Film gemacht, darüber waren sich alle einig.

Oder hatte ihn Geraldine gemacht?

Oder am Ende doch Apollo?

Daran dachte keiner, davon sprach man nicht. Nur Geraldine wusste es. Sie war überzeugt, dass es Apollo war, der sie an jenem Tag geküsst hatte. Sie hatte es einmal erwähnt, an dem Abend, an jenem Tag, an dem alles begann.

Und sehr viel später erst würde sie ihn noch einmal aussprechen, diesen einen Satz: Mich hat Apollo geküsst.