Gäste im Hause Frobenius

Sebastian Klose war deutlich anzumerken, dass er am liebsten gleich von seinen Plänen, seinem Stoff und seinen Ideen gesprochen hätte, aber über ein paar Ansätze kam er nicht hinaus, das wusste Jana geschickt zu steuern.

Wilhelm Loske war die wichtigste Person an diesem Abend, auf ihn und seine Bereitschaft, Geld in das Filmprojekt zu stecken, kam es an. Aber er wollte erst einmal seine Freude über das Wiedersehen äußern, dann erzählte er mit viel Witz von seiner letzten Amerikareise, und schließlich war das Essen Thema Nummer eins.

Jana hatte sich die Tischordnung genau überlegt. Will saß an der Stirnseite des Tisches. Sie saß rechts neben ihm, und rechts neben sich hatte sie Sebastian seinen Platz angewiesen. Ihr gegenüber saß die Frau, die Sebastian mitgebracht hatte, sodass sie Gelegenheit hatte, sie zu betrachten. Links von ihr hatte sie ihren Mann platziert. Das Beste von allem aber war, dass Evi am anderen Tischende saß. Alle Teller, alle Schüsseln standen griffbereit in ihrer Nähe, auch die Flaschen. Sie konnte genau sehen, was jeder auf dem Teller hatte, und so konnte sie servieren und nachservieren, wie es ihr nötig erschien.

Als sie fragte: »Noch einen Knödel, Herr Loske?«, seufzte er.

»Das kannst du gar nicht verantworten, Evi. Keine Frau wird mich mehr anschauen, wenn ich immer dicker werde.«

»Sie sind überhaupt nicht dick, Herr Loske. Sie haben eine prima Figur. Welche Frau will denn ein Gerippe im im …«

»Im Bett haben, willst du sagen.«

Evi kicherte. »Im Arm haben, wollte ich sagen.«

»Na gut, dann nehme ich noch einen Knödel. Es ist ja nur, weil die Soße so gut ist. Ach, und diese Ente, einzigartig.«

Er machte die Augen weit auf und blickte an die Decke.

»Bekomme ich nirgends in dieser Vollendung.«

»Wo versuchst du es denn?«, fragte Jana und nickte Evi zu, worauf diese noch ein Stück knusprige Entenbrust folgen ließ.

Da eine Ente für fünf Personen zu knapp bemessen gewesen wäre, beziehungsweise für sechs Personen, denn Evi musste schließlich auch essen, hatte Jana zwei Enten gebraten, und es war nicht einzusehen, warum ein kläglicher Rest übrig bleiben sollte.

Dieser Meinung schien auch Evi zu sein. Sie ließ ein Entenbein folgen und legte dann, ungefragt, dem Künstler auch noch ein beachtliches Stück auf den Teller. Zwar redete Sebastian nicht so viel über das, was er aß, aber zu schmecken schien es ihm auch.

Dann ging Evi mit der Platte zu der Frau, die Jana gegenüber saß. Die Frau schüttelte den Kopf, aber Evi bat beharrlich: »Bitte, gnädige Frau, noch ein kleines Stück«, und das wurde sie dann auch los.

»Ich versuche es hier und da immer wieder«, antwortete Will auf Janas Frage, »in guten, vornehmen Restaurants, in bürgerlichen, in ländlichen Lokalen, entweder ist der Vogel nicht richtig ausgebraten, das Fett sitzt noch unter der Haut, sodass die gar nicht richtig knusprig sein kann, oder kross, wie das heute heißt, das Fleisch löst sich nicht vom Knochen, wie hier zum Beispiel«, wobei er geschickt das Entenbein entblößte und den Knochen befriedigt auf den daneben stehenden Teller legte. »Die Soße ist zu fett oder mit einer Mehlschwitze vermurkst, die Knödel, wenn es überhaupt welche gibt, sind zu hart oder zu weich, das Rotkraut wird auf dem Teller serviert und verhunzt mir die Soße.«

Evi nickte zu jedem Wort, Herbert Frobenius grinste, und Sebastian sagte: »Ich habe noch nie erlebt, dass man so viel über Essen reden kann.«

»Ich denke, Sie schreiben Drehbücher«, sagte Will.

»Doch nicht über Essen.« Sebastian blickte ihn verwirrt an.

»Versuchen Sie es doch mal. So wie wir hier sitzen, mit Appetit essen und darüber auch noch reden, das wäre eine hübsche Szene.«

»Ein komischer Film müsste das sein«, murmelte Sebastian.

»Ja, genau. Komisch und unterhaltsam. Ich weiß, ich weiß, Unterhaltung ist immer noch ein Schimpfwort. Es gibt so genannte E-Musik und U-Musik. E-Literatur und U-Literatur. Kategorisch getrennt. Eine deutsche Besonderheit. Das Publikum und die Leser sollen sich gefälligst langweilen und sich nicht unterhalten fühlen.« Will nahm sich einen kleinen Löffel von dem Rotkraut, das sich in einer kleinen Schüssel neben seinem Teller befand. Das war eine Spezialität von Jana: lieber eine Schüssel zu viel auf dem Tisch als eine zu wenig.

Sie sagte: »Wenn du bestellst, musst du verlangen, dass man dir das Kraut und die Soße jeweils in einem Schüsselchen extra serviert. Dann kannst du mischen, wie du willst, und hast nicht von vornherein eine unüberschaubare Pampe auf dem Teller.«

Hier nun lachte Herbert. Sie aßen gut; und wie immer, wenn Will bei ihnen am Tisch saß, war es unterhaltsam. Er schickte einen liebevollen Blick über den Tisch zu seiner Frau. Sie spürte das und lächelte ihm zu.

»Kann ich ja mal versuchen«, sagte Will. »Aber heutzutage ist dieser Tellerservice überall in Mode. Spart wohl Personal.«

Jana war versucht zu fragen: Und wie serviert deine Frau das Essen? Aber das wäre boshaft gewesen, sie wusste, dass Elfriede Loske nicht gern kochte, am liebsten gar nicht. Ente gab es bei ihr jedenfalls nie.

»Ich kann dir einen Rat geben«, sagte Jana. »Du bist doch gern auf Sylt.«

»Sehr gern, das wisst ihr ja. Anfang September habe ich mir eine Woche gegönnt. Ehe ich nach Amerika musste. Da drüben kann man das Essen komplett vergessen.«

»Es gibt in Keitum ein Lokal, das heißt Karsten Wulff. Kennst du das?«

»Nee, kenne ich nicht.«

»Dort bestellst du dir das nächste Mal Ente. Sie ist kross gebraten, der Knödel kommt extra, das Rotkraut und die Soße auch.«

»Darf nicht wahr sein.«

Jana blickte befriedigt in die Runde, alle waren sie nun satt und machten zufriedene Gesichter.

Und was war mit dem Gesicht, das ihr gegenüber saß?

Jana lächelte. »Ich hoffe, Geri, es hat Ihnen auch geschmeckt.«

Die Frau lächelte zurück.

»Es war sehr gut«, sagte sie leise.

Ihre Stimme klang heiser, wie verraucht. Und sehr ansehnlich war sie wirklich nicht. Das Haar fiel ihr lang und strähnig auf die Schultern, das Gesicht war zu stark geschminkt, wirkte verlebt, ihre Haltung war schlecht.

Aber die Augen! Ihre Augen waren schön, das entdeckte Jana jetzt, denn bisher hatte diese Geri sie kaum angesehen. Sie schien zu spüren, dass sie nicht willkommen war.

Ihre Augen waren groß, wirkten dunkel, obwohl sie graugrün waren, sie standen ziemlich weit auseinander; ein Zeichen von mangelnder Intelligenz, wie Jana wusste.

Diese Weisheit hatte sie von ihrem Hausarzt. Der machte immer solche Beobachtungen und beurteilte die Menschen danach.

»Entschuldigen Sie, dass ich Sie einfach Geri nenne. Aber so nennt Herr Klose Sie, nicht wahr?«

Sebastian hatte sich nicht die Mühe gemacht, seine Begleiterin richtig vorzustellen, er hatte nur gesagt: »Das ist Geri.«

Mit heiserer Stimme antwortete sie nun: »Mein Name ist vielleicht etwas umständlich. Ich heiße Geraldine.«

»Habe ich damals gleich gesagt, dass das unpraktisch ist«, mischte sich Sebastian ein. »Als wir zusammen am Theater waren, habe ich ihr sofort einen neuen Namen verpasst. Geralda Bansa. Kommt besser an.«

Jana empfand plötzlich Widerwillen gegen das Genie. Was maßte der sich eigentlich an?

Doch ehe ihr eine passende Antwort einfiel, ergriff Will das Wort und bewies wieder einmal, wie klug und gebildet er war.

»Geraldine«, sagte er, und es klang zärtlich, wie er den Namen aussprach. »Na, da hatte Ihre Mutter doch eine ganz bestimmte Person im Sinn, als sie Ihnen diesen Namen gab, Geraldine.«

»Meine Mutter nicht. Mein Vater. Er ist Schauspieler. Genauso erfolglos wie ich. Und er bewundert Charlie Chaplin.«

»Wer nicht«, sagte Will. »Er war einmalig. Geraldine heißt eine seiner Töchter. Erinnert ihr euch an Dr. Schiwago, die Verfilmung von Pasternaks Roman? Da hat sie mitgespielt.«

Daraufhin entstand ein Schweigen am Tisch. Herbert nickte Jana zu, also erinnerte er sich an den Film. Jana dachte nach, das war in den Fünfziger- oder Sechzigerjahren gewesen, sie war mit ihrer Mutter in Hamburg in dem Film gewesen, ein Breitwandfilm, das Meer aus gelben Blumen fiel ihr plötzlich ein. Lara hieß die eine der Frauen im Film, den Namen der Schauspielerin hatte sie vergessen. Geraldine Chaplin gab ihre Kontrahentin. Auf Anhieb hätte Jana es nicht mehr gewusst, das musste sie zugeben. Sie musste Herbert später unbedingt fragen, was er noch alles über diesen Film in Erinnerung hatte.

»Pasternak bekam den Nobelpreis«, erzählte Will. »Aber er durfte nicht ausreisen, um ihn entgegenzunehmen. Gott, waren das beschissene Zeiten.«

Erstaunlicherweise sagte Evi: »Ich habe den Film gesehen. Er war einfach toll.«

»Aber, Evi, dazu bist du noch viel zu jung. Und du hast den Film doch wohl kaum in der DDR gesehen.«

Darauf ging Evi nicht näher ein, sie sprach selten über ihre Jugend hinter der Mauer.

»Ich war mal zur Kur. In Bad Wörishofen, und da lief der Film in einem Kino. Er war wirklich wunderbar.«

»Du warst zur Kur, Evi?«, fragte Will.

»Es ist mir ja nicht immer so gut gegangen wie in diesem Haus. Ich habe damals als Serviererin in einer Raststätte gearbeitet. Ich hatte immer so dicke, geschwollene Beine. Damals. Heute nicht mehr.«

Sie streifte ihren Rock hoch und zeigte ihre Beine, die schlank und sogar ziemlich schön waren.

»Man war sehr freundlich zu den Flüchtlingen von drüben. Und da bekam ich eben die Kur. Im kalten Wasser waten und so. Hat mir sehr gut getan.«

Evi war Ende der Siebzigerjahre auf abenteuerliche Weise über Bulgarien in die Bundesrepublik geflohen. Aber sie sprach nicht darüber, wie es dazu gekommen war.

Jana warf einen flüchtigen Blick in die Runde. Der Regisseur machte ein ziemlich dummes Gesicht. Zu Dr. Schiwago fiel ihm offenbar nichts ein. Herbert nickte ihr zu. Will lächelte.

Ihr Gegenüber, Geri, Geraldine, blickte verständnislos. Sie ist eben dumm, dachte Jana.

»Zum Dessert gibt es nicht viel«, sagte sie. »Obstsalat. Oder Ananas mit Eis.«

»Ananas ohne Eis«, sagte Will.

»Gut. Und den Kaffee oder Espresso trinken wir im Gartenzimmer.«