Das Drehbuch

Verständlich, dass Bad Reichenhall im Leben der Freunde einen besonderen Platz einnahm. Dann und wann, ob es einen Anlass gab oder nicht, trafen sie sich in dem Kurort zu einem kurzen oder längeren Aufenthalt.

Will war erfolgreich im internationalen Finanzgeschäft, das Fundament war eine Banklehre. Herbert hatte studiert, später als Journalist gearbeitet und war dann per Zufall zum Film gekommen. Es war eine im Filmgeschäft höchst einflussreiche Frau, die er als junger Reporter kennen lernte. Er war von seiner Zeitung beauftragt, ein Interview mit ihr zu führen. Das war noch in München gewesen. Diese Frau war imponierend, nicht nur wegen ihres Erfolges, vor allem ihr Auftreten und ihr Charme nahmen ihn gefangen. Es wurde die erste große Liebe in Herberts Leben.

Er lernte von ihr, in dieser und jener Beziehung. Damals, als Fernsehen noch keine Rolle spielte, waren Filmproduzenten und Filmverleiher wichtige Leute, es gab einige bedeutende Namen in dieser Branche, und Herbert Frobenius lernte sie alle kennen. Er war beeindruckt, fasziniert, und ehe er es sich richtig überlegt hatte, wechselte er von der Redaktion der Zeitung in das Besetzungsbüro einer großen Filmproduktion, zunächst in München, später bekam er ein eigenes Ressort im geteilten Berlin.

Für Theater und Film hatte er sich immer interessiert, keine Aufführung hatte er versäumt, weder in den Münchener Kammerspielen noch im Residenztheater, noch in den kleinen, nach dem Krieg in allen Stadtteilen entstandenen Boulevardtheatern. Auch war er ein begeisterter Opernbesucher geworden, nicht zuletzt durch seine bedeutende Freundin. Von ihr hatte er gelernt, nicht nur zu sehen und zu hören, sondern auch zu urteilen.

In Berlin traf er dann mit dem damals erfolgreichsten Filmproduzenten zusammen, lernte weiter und kam schließlich Ende der Siebzigerjahre auf die »irre Idee«, wie er es selbst nannte, sich als Produzent selbständig zu machen. Obwohl nun, nicht zuletzt im Schatten des Fernsehens, das Filmgeschäft rückläufig war. Andererseits gab es durch das Fernsehen Aufträge und Verdienst, man musste sich eben gut in beiden Geschäftsfeldern bewegen können.

Sein Freund Wilhelm Loske, inzwischen ein reicher Mann geworden, versorgte ihn mit einem gewissen Anfangskapital, nach dem Herbert nicht gefragt hatte, das ihm quasi aufgedrängt worden war. Und Jana, mit der er inzwischen verheiratet war, stand ihm zur Seite, hatte keine Angst vor mageren Jahren, sondern ermutigte ihn, das Wagnis einzugehen. Er hatte sie auf Sylt kennen gelernt, als er dort Ferien machte. Zum zweiten Mal bewies er eine glückliche Hand bei der Wahl einer Partnerin.

Wie von Will gewünscht, trafen sie sich in der Osterwoche wieder einmal in Bad Reichenhall, und Herbert brachte das Drehbuch mit, das Sebastian ihm pünktlich geschickt hatte.

Am ersten Abend saßen sie bei Werner in der Bar des Hotels Axelmannstein, das sie nach dem Krieg nur von außen hatten bewundern können. Die Herren tranken wie gewohnt Martini, Jana ein Glas Champagner. Sie sprachen von Amphitryon.

»Er macht es ziemlich kompliziert«, sagte Dr. Frobenius.

»Er will das Ganze in einem Amphitheater spielen lassen, als moderne Inszenierung, die dann unversehens in dem alten griechischen Mythos landet.«

Will, erst vor einer Stunde eingetroffen, war von der langen Fahrt etwas müde. Er war diesmal mit dem Auto aus Düsseldorf gekommen, seinem Hund zuliebe, den er nicht so lange allein lassen wollte. Seine Frau war, wie erwartet, an die Côte d’Azur gereist. Zwar hatten sie daheim in Meerbusch ein Hausmädchen, allerdings hielt das nicht viel vom Spazierengehen.

Will sagte: »Später. Lass uns erst den Abend genießen. Wir werden essen und dann einen Abendspaziergang durch den Ort machen und Tante Kitty einen kleinen Besuch abstatten. Morgen gehen wir hinauf nach Nonn und essen Forelle, und dann, nach einem kleinen Schläfchen, werde ich das Drehbuch lesen. Und dann reden wir darüber. Glücklicherweise liegt auf den Bergen noch reichlich Schnee, darauf habe ich mich am meisten gefreut.« Kitty, nun sechsundsiebzig, hatte sich in der Reichenhaller Luft gut gehalten, lebte nach wie vor in ihrer hübschen Wohnung am Park und freute sich jedes Mal, wenn die beiden Jungs, wie sie sie nannte, sie besuchten. Hanna, Wills Mutter, war vor sieben Jahren gestorben.

Sie kamen nicht dazu, lange über das Drehbuch zu reden, denn schon am Gründonnerstag reiste Sebastian Klose an, begierig darauf zu erfahren, was Produzent und potentieller Finanzier zu seinem Drehbuch sagten.

Herbert hatte inzwischen Gespräche mit dem Bayerischen Rundfunk geführt, der ein gewisses Interesse an dem Projekt signalisierte.

Griechenland sei in, hatte der Redakteur vom Bayerischen Rundfunk erklärt. Er fahre jedes Jahr, seine Frau wolle partout dorthin. Ihm schmecke zwar das Essen nicht, das sei in Italien besser. Aber die Landschaft, das Meer fände er großartig. Voriges Jahr sei er auf den Kykladen, auf Santorin gewesen.

Als Sebastian das hörte, war er sofort im Bilde.

Er hatte offensichtlich viel auf seiner Reise gelernt. Er berichtete ausführlich über die Kykladen, dass es ungefähr fünfzig Inseln seien, große, mittlere und kleine, und keineswegs alle bewohnt.

»Überall begegnet man der griechischen Mythologie, es geht gar nicht anders.« Die anderen mochten seine Art zu erzählen. Heiter und nicht ohne Humor berichtete er von den Inseln, den antiken Tempelanlagen, den Museen und der faszinierenden Landschaft. Davon, dass er die meiste Zeit mittellos gewesen war, sprach er nicht. Jana imponierte das.

Sebastian war am Nachmittag gekommen, von Paris nach München geflogen, von dort nach Salzburg und mit einem Taxi herüber nach Bad Reichenhall. Er hätte müde sein müssen, war es aber nicht. Es war schon spät, sie waren die letzten Gäste bei Werner in der Hotelbar. Sebastian musste jetzt endlich erzählen, was ihm noch zu Amphitryon eingefallen war.

»Wir stecken Amphitryon in eine fesche Uniform – er ist ein General. Nicht deutsch, nicht amerikanisch, nicht russisch, einfach eine legere, elegante Uniform. Wir wissen nicht, wie ein Thebaner, der in den Krieg gezogen ist, gekleidet war. Und Alkmene bekommt auch kein umständliches Gewand, sondern ein hübsches leichtes Sommerkleid. Am Schluss natürlich, als sie nach der Liebesnacht mit Zeus aus dem Haus kommt, trägt sie ein kurzes Nachthemdchen.«

»Das beruhigt mich«, sagte Will. »Ich dachte schon, sie kommt nackt aus dem Haus.«

»Das wäre auch eine Möglichkeit«, sagte Sebastian ganz ernsthaft.

»Nicht gerade nackt aus dem Haus, aber aus dem Bett. Das wären dann noch Innenaufnahmen. Aus dem Haus nicht, dort lungert nämlich das Personal des Palastes herum.«

»Und von dem, was sie im Bett treiben, sieht man gar nichts?«

Herbert lachte. »Will, ich bitte dich. Wir drehen doch keinen modernen Sexfilm, sondern ein griechisches Drama.«

»Von Drama kann keine Rede sein. Es ist eine Liebesgeschichte. Mit zwei Männern, die ein Mann sind. Sein sollen. Man müsste zeigen, wie der echte Amphitryon sich im Bett aufführt, sagen wir mal, ehe er in den Krieg zieht. Und ob es Zeus anders macht.«

Sebastian hatte ein nachdenkliches Gesicht bekommen. Und Herbert sagte: »Schluss jetzt. Womöglich fängst du noch an, ein neues Drehbuch zu schreiben.«

»Auf jeden Fall müssen wir eine Szene auf Delos drehen«, sagte Sebastian nach einer Weile der Überlegung und zündete sich die sechste Zigarette an, seit sie an der Bar saßen. Die anderen sahen ihn missbilligend an. Will hatte nie geraucht, Jana ganz gern und Frobenius sehr viel. Er hatte es sich mühsam abgewöhnt, und Jana rauchte ihm zuliebe auch nicht mehr. Jetzt blickte sie nachdenklich auf Oskar, der lang ausgestreckt auf dem grünen Teppich lag und fest schlief.

Oskar war Wills Hund, ein dunkler Gordonsetter, er war dieser Rasse treu geblieben.

»Delos, was soll das denn nun wieder heißen?«, fragte Frobenius.

»Delos ist die berühmteste Insel der Kykladen«, erzählte Sebastian. »Hier wurden Apollo und Artemis geboren, beide Kinder des Zeus. Nicht von Hera, seiner Gattin, selbstverständlich nicht, sondern von einer Dame namens Leto. Die ihrerseits von Hera auf die Insel verbannt wurde, wo sie dann die beiden Kinder gebar. Artemis, Göttin der Jagd, der Natur, Beschützerin der Tiere. Und Apollo, na, das wisst ihr ja, Gott der Musik und der Dichtkunst, der Kunst überhaupt, der Medizin, im Guten wie im Bösen, und der schönste aller Götter.«

»Was heißt denn das nun wieder, Medizin im Guten wie im Bösen?«, fragte Jana müde.

»Er kann heilen und verderben, er kann Wahnsinn verursachen. Delos war eine Kultstätte der alten Griechen und ist es heute noch. Auf der Insel darf niemand geboren werden und niemand sterben, sie wird von steinernen Löwen bewacht. Hier steht auch das Amphitheater, in dem ich den Film beginnen lassen möchte. Die Insel ist unbewohnt. Allerdings dürfen Touristen an bestimmten Tagen und zu bestimmten Stunden Delos besuchen. Von Mykonos aus zum Beispiel, das liegt am nächsten. Dort ist ein fürchterlicher Rummel, eine Amüsierinsel, voll von Fremden, jede Menge Kneipen. Außerdem ein beliebter Treffpunkt für Schwule.«

»Das würde Apollo kaum gefallen«, sagte Will und kicherte albern.

»Wollen wir nicht schlafen gehen?«, fragte Jana, die Augen immer noch auf den schlafenden Hund gerichtet.

»In Griechenland wollen Sie drehen?« Frobenius war entsetzt. »Was soll das denn noch kosten?«

»Außenaufnahmen von den Inseln müssen sein, das Meer, die Küsten, die Berge. Und das Amphitheater von Delos, das ganz bestimmt. Jedenfalls als Beginn. Komparsen bekommen wir vor Ort, das wird nicht teuer.«

»Fragt sich nur, ob Sie auf Delos filmen dürfen, wenn das eine so geheiligte Städte ist«, sagte Will.

»Ich habe schon eine Anfrage bei der griechischen Botschaft in Paris laufen«, erklärte Sebastian kühl.

Alle sahen ihn verblüfft an. Es schien ihm ernst mit seinem Plan zu sein.

»Für die weiteren Aufnahmen«, fuhr er fort, »können wir das Amphitheater hier nachbauen. In Babelsberg. Oder noch besser bei der Bavaria in München, die können das gut. Die haben mir auch ganz fabelhaft die Brücke von Avignon aufgebaut.«

Werner blickte von einem zum anderen, dann auf die leeren Gläser.

»Noch eine Runde?«, fragte er freundlich.

»Gut«, sagte Frobenius. »Einen kleinen Nightcap.«

»Für mich nicht«, sagte Jana. »Es ist bereits Karfreitag, den sollte man nicht gerade besoffen beginnen.«

»Ich mache mit Oskar noch einen kleinen Spaziergang«, sagte Will. »Ein Glas trinke ich noch, dann gehen wir hinaus. Komm, steh auf, Oskar. Eine wunderbare klare Nacht draußen, wir schauen auf die weißen Berge, es wird ganz still sein, kein Mensch auf den Straßen, das haben wir gern.«

Der Hund war aufgestanden, streckte sich, die Beine weit gereckt.

»Es ist Karfreitag, da hat Jana recht. Den kann man sehr gut mitten in der Nacht beginnen und dabei auf die Berge blicken. Morgen wird gefastet. Oder sagen wir mal, wenig gegessen. Meine Mutter hat am Karfreitag immer Eier in Dillsoße gemacht. Gibt es hier sicher nicht.«

»Wenn Sie es wünschen«, sagte Werner, »bekommen Sie es bestimmt.«

»Vielleicht bekomme ich sie bei Tante Kitty«, überlegte Will. »Kann ich ja mal nachfragen.«

»Jetzt?«, sagte Jana und gähnte.

»Morgen Vormittag. Sonntag gehe ich mit Tante Kitty in die Kirche, und dann laden wir sie ganz groß zum Essen ein. Also dann, Genossen. Schlaft gut in dieser traurigen Nacht.«

Er trank sein Glas aus, schnalzte mit der Zunge und verließ mit Oskar die Halle. Der Nachtportier stand schon an der Tür bereit.

Auch Herbert machte sich daran aufzubrechen.

Er leerte sein Glas und sagte: »Danke, Werner. Es ist spät geworden. Es wird Zeit, dass Sie auch nach Hause kommen. Falls Sie unser Gelaber einigermaßen mitbekommen haben, wissen Sie jetzt, dass wir einen Film über die alten Griechen machen wollen. Amphitryon. Vielleicht. Sehr vielleicht. Komm, Jana.«

Er fasste Janas Hand und steuerte mit ihr zum Lift. Das schlesische Wort Gelaber hatte er von Will gelernt. Damals schon.

Sebastian blickte ihm verdutzt nach.

»Haben Sie das gehört, Werner? Vielleicht hat er gesagt. Nachdem ich mich jetzt jahrelang mit dem Stoff herumschlage. Und mein neues Drehbuch … Geben Sie mir noch einen Whisky. Bitte. Dann sind Sie mich gleich los.«

Er zündete sich noch eine Zigarette an und blickte zur großen Tür der Halle, die nach draußen führte.

»Wie lange geht Herr Loske denn üblicherweise mit dem Hund spazieren?«

»Das weiß man nicht. Gestern war er eine halbe Stunde unterwegs. Vorgestern fast eine Stunde. Da war es allerdings nicht so spät wie heute.«

Sebastian nahm einen Schluck von seinem Whisky.

»Toller Mann, was? Muss doch ziemlich kalt draußen sein, so mitten in der Nacht. Und ich habe nicht gesehen, dass er einen Mantel angezogen hat.«

»Es ist sicher kälter als in Griechenland.«

»Um diese Jahreszeit kann es dort auch recht ungemütlich sein. Und bedenken Sie, die haben keine Heizung.«

»In Griechenland gibt es keine Heizung?«

»In Athen sicher schon. Aber nicht auf den Kykladen. Na also dann, gute Nacht. Fröhliche Ostern darf man ja noch nicht sagen in dieser traurigen Nacht.«

»Gute Nacht, Herr Klose. Schlafen Sie trotzdem gut.«