»Nein, ich trinke nicht mehr so wie damals.«

»Hast du es wegen Mutter getan?«

Ich überlegte einen Augenblick. Es wäre einfach genug gewesen, ja zu sagen. Aber es war nicht die volle Wahrheit. »Nein«, sagte ich. »Das war nicht der Grund.«

»Warum hast du’s dann aber getan, Daddy?«

»Aus mancherlei Gründen. Hauptsächlich wohl, weil ich mich vor mir selber verstecken wollte. Ich wollte der Tatsache nicht ins Gesicht sehen, daß ich ein Versager war.«

Dani schwieg und dachte darüber nach. Dann hatte sie die Antwort gefunden. »Aber du warst kein Versager, Daddy«, sagte sie. »Du hattest doch dein Boot.«

Ich lächelte. Auf was für einen einfachen Nenner ihre Logik es brachte! Aber in gewisser Weise hatte sie recht. Sie wußte wahrscheinlich nicht, daß ich jemals etwas anderes versucht hatte.

»Ich war Architekt, Kind, Baumeister. Ich wollte große Bauten machen - und das ist mir schiefgegangen.«

»Aber jetzt bist du doch Baumeister. Das steht in der einen Zeitung.«

»Ich bin kein richtiger Baumeister, ich arbeite nur für einen Baumeister. Tatsächlich bin ich nur ein Angestellter.« »Ich möchte Baumeister sein«, sagte sie plötzlich. »Ich würde aber nur glückliche Häuser bauen.«

»Wie würdest du das anfangen, Kind?«

»Ich würde nur dann ein Haus für eine Familie bauen, wenn sie miteinander glücklich ist und zusammenbleiben will.«

Ich lächelte ihr zu. Wo sie recht hatte, hatte sie recht. Sie hatte das einzige Fundament gefunden, auf dem man bauen kann. Aber wer gibt einem diese Garantie? Gott?

»Weil wir grade >Würde und Hätte< spielen, Dani, möchte ich dich gern ein paar Dinge fragen.«

Ein wachsamer Blick kam in ihre Augen. »Zum Beispiel. was, Daddy?«

»Genau: Wessen Freund war Riccio? Deiner - oder der deiner Mutter?«

Sie zögerte. »Er war Mutters Freund.«

»Aber du.«, und nun zögerte ich.

Sie sah mich offen an. »Hat man dir gesagt, daß wir.«

Ich nickte.

Sie sah herunter auf ihr Coke. »Das stimmt, Daddy. Wir hatten.«

»Warum, Dani? Warum gerade mit ihm? Warum nicht mit jemand anderem?«

»Du kennst doch Mutter. Sie will immer der Mittelpunkt sein, um den sich alles dreht. Und dies eine Mal wollt ich ihr beweisen, daß sie es nicht war.«

»Und deshalb hast du ihn getötet, Dani?«

Sie wandte den Blick von mir ab. »Ich wollte es nicht«, sagte sie leise. »Es war ein unglücklicher Zufall.«

»Warst du eifersüchtig auf deine Mutter, Dani? Hast du es deshalb getan?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich möchte nicht darüber sprechen«,

sagte sie entschlossen. »Ich habe bei der Polizei alles gesagt, ehe sie mich hierhergebracht haben.«

»Wenn du ihnen nicht die Wahrheit sagst, Dani, werden sie nicht zulassen, daß du bei deiner Großmutter lebst.«

Sie sah mich noch immer nicht an. »Auf ewig können sie mich nicht hierbehalten. Wenn ich achtzehn bin, müssen sie mich rauslassen. Soviel weiß ich auch.«

»Dreieinhalb Jahre sind eine lange Zeit, wenn man hinter Schloß und Riegel sitzt.«

»Was kümmert es dich?« Sie sah mich trotzig an. »Am nächsten Dienstag, wenn alles vorbei ist, wirst du nach Hause fahren und wahrscheinlich nie wieder zu mir kommen. Genau wie bis jetzt.«

»Ich mache mir Sorgen um dich, Dani. Deshalb bin ich doch hier. Ich habe dir ja gesagt, weshalb ich inzwischen nicht mehr kommen konnte.«

Ihre Stimme klang mürrisch. »Das ist doch bloß Gerede! Du hättest kommen können, wenn dir genug daran gelegen hätte!« Sie sah wieder auf ihre Cokeflasche. Was mochte sie in der braunen Flüssigkeit hinter dem grünen Glas so Interessantes sehen?

»Es ist leicht für dich, jetzt wiederzukommen und solche Dinge zu sagen.« Sie sprach sehr leise. »Es ist immer leicht, das Richtige zu sagen. Aber es ist schwer, es zu tun.«

»Das weiß ich, Dani. Ich bin der erste, der zugibt, daß er Fehler gemacht hat.«

»Schon gut, Daddy.« Sie sah auf - und mit einem Male war sie kein kleines Mädchen mehr. Sie war eine junge Frau. »Und wir haben alle Fehler gemacht. Sprechen wir nicht mehr davon. Ich sagte dir, ich will nicht mehr über die meinen sprechen. Es ist mein Leben. Und nichts, was du auch sagen magst, kann etwas daran ändern. Dazu ist es zu spät. Du bist zu lange fort gewesen.«

Sie hatte recht - und sie hatte unrecht. Wie es kein absolutes Weiß und kein absolutes Schwarz gibt.

»Hattest du auch andere. Freunde?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein.«

»Du belügst mich jetzt nicht, Dani?«

Sie sah mir gerade in die Augen. »Nein, Daddy. Ich belüge dich nicht. Ich hätte es mit jemand anderem nicht tun können. Es hat vielleicht damit angefangen, daß ich Mutter eine Lehre geben wollte, aber dann hat es sich so ganz anders entwickelt.«

»Wie denn, Dani?«

Jetzt waren ihre Augen klar und weich und sehr traurig. »Ich habe ihn geliebt, Daddy«, sagte sie ruhig. »Und er hat mich geliebt. Wir wollten zusammen weglaufen und heiraten, sobald ich alt genug war.«

Endlich brach die Sonne durch den Nebel. Ich ging unruhig vom Fenster weg, nahm die Zeitung und sah in die Vergnügungsanzeigen. Ich dachte daran, ins Kino zu gehen, aber ich hatte schon fast jeden Film gesehen, der in der Stadt lief. Ich stellte den Fernseher an. Aber zehn Minuten später schaltete ich ihn wieder ab. Was da geboten wurde, war nichts für mich. Ich gehörte zu der falschen Generation, zu der dazwischenliegenden: Genau eine Generation zu alt und eine Generation zu jung.

Als das Telefon läutete, sprang ich auf. Vielleicht hatte Elizabeth sich eines Besseren besonnen.

»Colonel Carey?«

»Ja.«

»Hier ist Lorenzo Stradella. Erinnern Sie sich an die beiden Briefe, die wir Anna holen lassen wollten?«

»Was ist mit ihnen?«

»Na, die hab’ ich noch.« »Warum rufen Sie mich an? Sie wissen doch, wer sie gekauft hat.«

»Stimmt. Aber die hat schon gezahlt. Ich glaube, für diese beiden wären Sie mir gut.«

»Ich habe kein Interesse daran. Bringen Sie sie zu Miss Hay-den.«

»Einen Augenblick noch! Hängen Sie nicht ab!«

»Gut. Ich warte.«

»Ich kann sie ihr nicht bringen. Ich würde Ihnen einen günstigen Preis machen.«

Plötzlich verstand ich. Natürlich konnte er sie Nora nicht bringen, denn Nora würde es Coriano sagen. Und Coriano schätzte es gar nicht, wenn seine Jungens ihn ausschmieren wollten. Ich probierte meine Theorie aus.

»Okay, aber ich verhandle nicht mit kleinen Leuten. Sagen Sie Coriano, er soll sich mit mir in Verbindung setzen. Nur auf die Art kann ich sicher sein, daß später nicht noch weitere Briefe auftauchen.«

Ich hatte richtig geraten.

»Nix Coriano. Es ist ein Geschäft zwischen Ihnen und mir.«

»Das wird Coriano nicht gefallen.«

»Ich mach’s so billig, daß er’s nicht zu wissen braucht.«

»Was nennen Sie billig?«

»Fünfhundert.«

»Adieu, Charley«, sagte ich und legte auf. Ich hatte gerade Zeit, mir eine Zigarette anzuzünden, als er wieder anrief.

Diesmal klang seine Stimme beträchtlich höflicher.

»Was nennen Sie billig?«

»Fünfzig Dollar.«

»Das wäre allerdings billig.« »Sie sprechen auch mit einem billigen Mann. Ich bin nämlich von der armen Seitenlinie der Familie.«

»Gut. Dann will ich’s Ihnen leichtmachen. Zweifünfzig.«

»Einhundert - höher kann ich nicht gehen.«

Er sagte ein paar Sekunden nichts, wahrscheinlich überlegte

er.

»Es ist doch gefundenes Geld«, sagte ich.

»Gut. Sie haben gewonnen.«

»Bringen Sie sie her.«

»Nicht so eilig. Sie sind ’n komischer Typ. Vielleicht haben Sie die Polente da.«

»Seien Sie nicht so feige.«

»Sie sind heute abend um elf in Ihrem Zimmer. Ich schicke dann jemand mit den Briefen.«

»Okay«, sagte ich.

»Denken Sie dran: keine Tricks. Kommen Sie mit dem Zaster rüber, dann haben Sie die Briefe.«

Das Telefon verstummte, und ich legte auf. Ich ging zum Tisch und schrieb einen Scheck über hundert Dollar aus. Dann ging ich hinunter und ließ ihn mir auszahlen. Ich drückte die ganze Zeit den Daumen, bis mir der Kassierer das Geld aufzählte. Ich hoffte nur, daß noch Geld genug auf der Bank war, um den Scheck zu decken.

Als ich in mein Zimmer zurückkam, flackerte schon wieder das rote Licht am Telefon. Nora hatte angerufen und gebeten, ich solle mich gleich bei ihr melden. Ich wählte ihre Nummer. »Hier ist Carey, Charles«, sagte ich. »Ist Miss Hayden zu Hause?«

»Einen Augenblick, Sir. Ich verbinde sofort.«

Ich hörte es klicken und dann ihre Stimme. »Luke?«

»Ja«, sagte ich. »Bitte, was wünschst du?«

»Ich möchte mit dir sprechen. Kannst du zum Dinner kommen?«

»Ich glaube nicht. Ich würde mich nicht sehr wohl dabei fühlen.«

»Sei nicht so altmodisch! Ich werde dich nicht fressen. Ich möchte mit dir über Dani sprechen.«

»Was willst du über sie wissen?«

»Darüber sprechen wir beim Dinner.«

Ich zögerte einen Augenblick. Ein gutes Essen könnte mir nicht schaden. Bockwurst mit Bohnen war mir ziemlich über. »Um welche Zeit?«

»Früh genug zu einem Drink vorher. Sagen wir sieben?«

»Also auf nachher.« Ich legte den Hörer auf - was zum Kuk-kuck wollte sie auf einmal?

Als ich um sieben läutete, machte Charles fast im selben Augenblick die Tür auf. »Guten Abend, Colonel!«

»Guten Abend, Charles.«

Es war fast, als sei ich nie fortgewesen. »Madame ist in der Bibliothek. Sie kennen ja den Weg«, sagte er mit leisem Lächeln.

»Allerdings«, antwortete ich trocken.

Ich klopfte an die Tür der Bibliothek und trat ein. Nora erhob sich von der großen Couch vor dem Schreibtisch. Dr. Weidman eine halbe Sekunde nach ihr. Sie kam mir mit ausgestreckter Hand entgegen. »Luke! Ich freue mich sehr, daß du gekommen bist!«

Ich kannte diesen Ton. Er war warm und freundlich, als habe es zwischen uns niemals wirkliche Differenzen gegeben. Die Gesellschaftsstimme, die sie immer gebrauchte, wenn sie ein Auditorium hatte.

Sie behielt meine Hand in der ihren, als sie sich zu dem Arzt wandte. »Du erinnerst dich an Dr. Weidman? Er war neulich mit bei Mutter.«

Wie hätte ich ihn vergessen können? Besonders nach dem, was Dani gesagt hatte. Was erwartete sie von mir? Sollte ich vielleicht den Brautführer spielen?

»Guten Abend, Doktor.« Ich hätte ihm meine Hand hingestreckt, aber aus irgendwelchen Gründen hatte Nora sie noch nicht losgelassen. Er verbeugte sich elegant. »Freut mich, Sie wiederzusehen, Colonel.«

Nun ließ Nora meine Hand los. »Auf der Bar steht eine frische Flasche Bourbon. Bourbon ist doch immer dein Leib- und Magengetränk, oder.?«

Ich nickte. Eins zu null für sie. Ich ging zur Bar. »Kann ich dir etwas mixen?« fragte ich unwillkürlich. Es war, als lebte ich noch hier. Ich hatte diese Frage immer gestellt, wenn wir in der Bibliothek etwas tranken.

»Nein, danke. Der Doktor und ich haben schon einen Marti-ni.« Ich drehte mich um und sah ihn an. Das war ein Zeichen dafür, daß Nora Interesse an Dr. Weidman hatte. Denn sie trank eigentlich nur Scotch wirklich gern. Aber es gab zwei Dinge, die sie blitzschnell erfaßte, wenn sie einen neuen Mann gefunden hatte: seine Zigarettensorte und sein Getränk.

»Auf dein Wohl«, sagte ich und hob mein Glas.

Wir tranken alle einen Schluck. Erst als ich mich setzte, merkte ich, daß ich zu meinem alten Sessel hinter dem Schreibtisch gegangen war. Ich nahm noch einen Schluck und stellte mein Glas auf den Schreibtisch. »Nichts ist verändert«, sagte ich und sah mich im Zimmer um.

»Es bestand kein Grund, etwas zu verändern, Luke«, sagte Nora schnell. »Dies war immer dein Zimmer.«

Warum mochte sie das sagen? Nora war in solchen Dingen doch sonst nicht sentimental. »Ich glaube, ich würde es verändert haben«, sagte ich. »Schon, um die Erinnerungen zu vermeiden.«

Sie lächelte. »Ich hatte nichts zu vermeiden.«

Doktor Weidman leerte sein Glas und stand auf. »Leider muß ich jetzt wirklich gehen, Nora«, sagte er.

»Können Sie nicht doch zum Dinner bleiben, Doktor?«

Er schüttelte bedauernd den Kopf. »Ich werde in meiner Praxis erwartet«, sagte er. »Ich habe eine Verabredung für acht Uhr.«

Nora stellte ihr Glas hin und stand auf. »Ich bringe Sie noch bis zur Tür.«

Weidman wandte sich zu mir. Diesmal schüttelten wir uns die Hände. »Nett, Sie gesehen zu haben, Colonel.«

»Kommen Sie gut nach Hause, Doktor.«

Ich blieb stehen, bis sie aus dem Zimmer waren. Dann setzte ich mich wieder hinter den Schreibtisch. Unwillkürlich zog ich eine Schublade auf. Zuoberst lag eine alte Pause. Ich nahm sie heraus und sah sie an. Es war eine Skizze für das erste Haus meines ersten Projektes. So viele Jahre war es her. und dabei war es wie gestern. Ich sah mir die Grundrisse genau an. Es war ein gutes Haus, auch für heutige Begriffe. Nur ein paar Kleinigkeiten würde ich heute anders machen. Nora stand in der Tür und beobachtete mich. »Du siehst, es ist nichts verändert. Ich habe nicht einmal den Schreibtisch ausräumen lassen.«

»Das sehe ich.« Ich legte die Pause zurück und schloß die Schublade. »Ehrlich: Warum hast du mich zum Dinner eingeladen?«

Sie lächelte und zog die Tür hinter sich zu. »Laß das bis nach Tisch, Luke. Du bist mit vollem Magen immer erheblich umgänglicher.«

Sie kam näher, blieb vor dem Schreibtisch stehen und sah zu mir herunter. »Ich habe immer gesagt: In solche Räume gehören Menschen. Dieser hier ist mir ohne dich immer irgendwie leer vorgekommen, Luke.«

»Mach einen Punkt, Nora.« Ich lächelte, um meinen Worten die Schärfe zu nehmen. »Es ist kein Publikum mehr da. Du bist doch nicht sentimental mit solchen Nebensächlichkeiten!«

Sie lachte plötzlich. »Uns sind keine Illusionen geblieben, Luke, nicht wahr?« Ich schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, Nora.«

Sie ging hinüber zu ihrem Glas und nahm es in die Hand. Eine Sekunde lang betrachtete sie es, dann stellte sie es mit einem Ruck auf den Tisch. »Sei nett, Luke. Mach mir einen ordentlichen Scotch mit Soda. Ich kann nicht begreifen, wie ein Mensch diese verdammten Martinis schlucken kann! Sie riechen wie billiges Parfüm.«

Ich stand auf, mischte ihr ihren Drink und brachte ihn ihr hinüber zu der Couch. Sie nahm einen Schluck und nickte. »So. das ist schon besser!«

Ich ging zurück, lehnte mich gegen den Schreibtisch, hob mein Glas und trank ihr zu. Sie nickte und trank auch.

»Dr. Weidman hat so ein interessantes Gesicht. Findest du nicht auch, Luke?« Ich machte eine Geste mit den Händen.

»Weißt du, wie er mit Vornamen heißt?«

»Nein.«

»Isidor! Kannst du das glauben? Isidor! Heutzutage! Man sollte meinen, er ändert einen solchen Namen.«

»Vielleicht gefällt er ihm?«

»Das glaube ich nicht«, sagte sie nachdenklich. »Aber er ist zu stolz, um das zuzugeben. Das habe ich schon oft bei den jüdischen Ärzten festgestellt. Sie sind sehr stolz.«

»Sie haben auch alle Ursache dazu.«

»Sie hüllen sich in ihre Religion wie in einen Mantel. Und weißt du, was ich noch an ihnen beobachtet habe?«

»Was denn?«

»Sie haben alle so traurige Augen«, sagte sie. »Wie auf den Christusbildern.«

Die Tür ging auf, und Charles kam in die Bibliothek. »Das Dinner ist angerichtet, Madam.«

Das Dinner war zu reichlich. Es fing mit Krebsschwänzen an, die zierlich auf Salatblättern über Eisstückchen ausgebreitet waren, dazu die wunderbar scharfe Senfsauce, die Charles’ Spezialität war. Dann gab es cioppino, eine Art Friscoer Boullabaisse, mehr ein Fischbrei als eine Suppe, mit allem darin, was der Pazifik zu bieten hat. Anschließend Roastbeef, eine große dicke Scheibe, noch an der Rippe, mittelgar, so daß beim Schneiden der rote Saft auf den Teller rann. Und zuletzt große halbe Pfirsiche auf Schokoladeneiscreme, genauso, wie ich sie gern aß. Ich sah Charles an, während er mir Kaffee eingoß.

Er lächelte. Er erinnerte sich also, wie gern ich eingemachte Pfirsiche aß. Zuerst war er entsetzt gewesen über meinen gewöhnlichen Geschmack und hatte extra für mich frische Riesenpfirsiche bestellt. Aber nach einiger Zeit gab er nach und bestellte Konservenpfirsiche.

Und er hatte auch nicht vergessen, daß ich nach Tisch gern eine große Tasse Kaffee trank, keine Schlückchen aus Mokka-täßchen.

»Das war ein tolles Dinner, Nora!« sagte ich.

Sie lächelte. »Es freut mich, daß es dir geschmeckt hat, Luke.«

Es hatte mir tatsächlich geschmeckt. Ich hatte gegessen wie ein Pferd, aber sie hatte, genau wie früher auch, nur ein paar Bissen zu sich genommen.

»Soweit ich dich kenne, hast du nichts dagegen, daß ich in die Küche gehe und Cookie sage, wie großartig es war.«

Nora stand auf. »Geh nur gleich hinunter. Wir trinken dann noch einen Kaffee und einen Kognak im Atelier, wenn du heraufkommst.«

Ich ging in die Küche. Cookie stand mit erhitztem, rotem Gesicht am Herd, genau wie einst. Nur war ihr Haar jetzt grau. Ja, ja, die Zeit vergeht. »Colonel Carey!« rief sie erfreut.

»Ich kann doch nicht weggehen, Cookie, ohne Ihnen zu sagen, was für ein herrliches Dinner das war.«

»Ich habe es so gern für Sie gekocht, Colonel. Sie waren immer ein guter Esser.« Dann bewölkte sich ihr Gesicht. »Nur eins hat gefehlt. Ach, wäre doch Miss Dani auch hier gewesen.«

»Vielleicht kommt sie bald nach Hause«, sagte ich leise.

»Glauben Sie das wirklich, Colonel?«

»Ich hoffe es, Cookie.«

»Ich hoffe es auch. Wären wir an dem Tag nur alle zu Hause gewesen., dann wär’s sicher nicht passiert.«

Ich hatte gerade gehen wollen. Aber nun drehte ich mich wieder um. »Waren Sie denn nicht da?« fragte ich.

»Nein, Sir. Eigentlich ist Mittwoch unser freier Tag. Aber da Miss Hayden in Los Angeles war und erst Freitag spätabends zurückerwartet wurde, hatte uns Mister Riccio noch bis Freitag Urlaub gegeben.«

»Das wußte ich nicht.«

»Ich fuhr nach Oakland zu meiner Schwester und kam erst spät zurück. Erst als alles vorbei war.«

Ich sah Charles an. »Und Sie?«

»Ich bin um sechs zurückgekommen. Miss Hayden war schon zu Hause.«

»Und Violet?«

»Violet kam ein paar Minuten nach mir.«

»Dann müssen Sie doch etwas von dem Streit gehört haben.«

Charles schüttelte den Kopf. »Nein, Sir. Niemand wollte das kalte Souper haben, das ich vorbereitet hatte, und deshalb blieben Violet und ich in der Küche. Und von hier aus können Sie nicht hören, was im Haus vorgeht.«

Damit hatte er recht. Ich erinnerte mich: Ich hatte alles so umgebaut, daß die Küche und die Räume des Personals abseits lagen. Nora hatte immer gesagt, nichts sei so lästig, als wenn die Unterhaltung bei Tisch das Geräusch des Geschirrwaschens in der Küche übertönen müsse.

Ich wandte mich wieder zur Köchin und lächelte. »Immerhin

- das Dinner war herrlich, Cookie - vielen Dank für Ihre Mühe!«

Sie lächelte ebenfalls. »Nein, ich danke Ihnen, Colonel.«

Auf dem Tisch in der kleinen Plauderecke des Ateliers standen Kaffee und Kognak. Nora sah mir lächelnd entgegen. Daraus merkte ich, daß sie jetzt bereit war, zur Sache zu kommen.

»Nun, wie war’s?« fragte sie. »Hat sich Cookie gefreut, dich wiederzusehen?«

»Es war geradezu die Heimkehr des verlorenen Sohnes«, sagte ich, schloß die Tür und setzte mich ihr gegenüber.

Sie goß etwas Kognak in die Gläser und reichte mir eins davon. Ich legte die hohle Hand um die Wölbung und schwenkte den Kognak, um ihn anzuwärmen. Ich genoß den Geruch, der vom Glas aufstieg. Reich und warm und prickelnd.

Nora beobachtete mich. »Nun?« fragte ich.

Sie nahm ihr Glas und trank einen kleinen Schluck. Als sie sprach, klang ihre Stimme belegt. »Ich möchte, daß du mir hilfst, Dani hierher zurückzubringen - hierher, wohin sie gehört.«

Soso. Also kam der Berg zu Mohammed.

»Warum ich?« fragte ich schließlich.

Ihre Stimme klang noch immer heiser. »Weil wir beide zusammen es erreichen können. Du und ich. Wir könnten Dani nach Hause holen.«

Ich nahm einen Schluck Kognak. »Du vergißt nur eines«, sagte ich, »daß ich nicht mehr hier zu Hause bin.«

»Das ließe sich einrichten.«

Ich saß da und betrachtete sie und stellte fest, daß sie sich keine Spur verändert hatte. Die Gesetze, nach denen sie lebte, waren dieselben geblieben. Das einzig Wichtige für sie war das, was sie wollte. Welchen Schaden sie anrichtete, wen sie verletzte - danach fragte sie nicht.

»Soso. meinst du?«

»Überlege dir’s. Dani wäre bei uns besser aufgehoben als bei Mutter und bestimmt viel besser als in einem dieser Erziehungsheime. Gordon ist der Ansicht, wir könnten es durchsetzen, wenn wir es gemeinsam versuchen. Und Dr. Weidman meint, das wäre psychologisch so richtig, daß das Gericht einverstanden sein müßte.«

»Es wäre vielleicht eine ganz gute Idee, wenn ich ledig wäre«, sagte ich. »Aber ich bin verheiratet.«

»Du sagtest doch, deine Frau ist vernünftig. Dann muß sie doch verstehen, was du für Dani empfindest; nun ja, sonst hätte sie dich gar nicht herkommen lassen. Wir können ihr eine für sie sehr günstige Lösung anbieten. Sie brauchte für den Rest ihres Lebens keine Geldsorgen mehr zu haben.«

»Du redest umsonst, Nora«, sagte ich. »Es ist unmöglich.«

Ich stellte den Kognak weg und wollte gehen. Sie beugte sich vor, faßte meine Hand und sah mir ins Gesicht. »Luke!«

Ich starrte sie an. Es war, als ginge Elektrizität vom Druck ihrer Finger aus. Ich blieb ganz still sitzen und sagte nichts.

»Weißt du noch, wie alles war, Luke?« fragte sie leise.

»Ich weiß es noch.«

Der Druck ihrer Finger wurde stärker. »Es kann wieder so werden, Luke. Es war mit niemand anderem so wie zwischen dir und mir, Luke!«

Es war fast, als wäre ich hypnotisiert. »Nein«, sagte ich.

»Es könnte wieder so sein, Luke.«

Empört zog ich meine Hand weg - zorniger auf mich selbst als auf sie. Ich wußte, daß das, was ich fühlte, genau das Unrecht war, das Nora immer zum Recht umbiegen wollte. Der Bann war gebrochen. »Nein«, sagte ich kurz. »Nichts kann mehr so sein wie früher. Denn was es auch war - es war niemals die Wahrheit. Es war niemals wirklich. Ich kann nicht in ein Leben aus lauter Lügen zurückkehren.«

»Das ist es ja grade, Luke! Wir brauchen doch jetzt nicht mehr zu lügen. Jetzt, da wir keine Illusionen mehr haben. Wir könnten sehr vernünftige Vereinbarungen treffen.«

»Red kein dummes Zeug, Nora!«

»Ich habe meine Arbeit«, sagte sie. Ihr Blick ließ mich nicht los. »Und du hättest deine. Ich habe mit Vetter George gesprochen. Er sagt, er wäre froh, dich wieder in der Firma zu haben.

Und das Wichtigste: Wir hätten ein Heim für Dani, in das sie zurückkehren kann.«

Plötzlich war ich müde. Wirklich, Nora hatte nichts übersehen. Aber sie begriff nicht, daß nichts davon wirklich war. Sie fing an, mir leid zu tun. »Nein, Nora«, sagte ich ruhig.

Nora lehnte sich in ihrem Sessel zurück. Etwas wie Ärger klang in ihrer Stimme. »Du hast so viel von deiner Tochter gejammert«, sagte sie bitter. »Wie du sie liebst. Wieviel du für sie tun willst. Und nun, wo du Gelegenheit hast, wirklich etwas für sie zu tun - da machst du nicht einen Finger krumm.«

Und jetzt auf einmal begann ich zu begreifen, begann so vieles zu begreifen. Zum Beispiel das, was Elizabeth gemeint hatte, als sie sagte, sie wünschte sich, daß ich endlich ohne die Gespenster heimkäme, die mich so lange verfolgt hätten. Irgendwie mußte sie geahnt haben, daß es zu einer solchen Szene kommen würde. Daß ich zwischen ihr und Dani wählen mußte.

Mir wurde ganz weit ums Herz. Sie hatte es gewußt, und doch hatte sie mich hergeschickt. Mehr konnte kein Mann von seiner Frau verlangen!

Ich sah wieder auf Nora, und in gewisser Weise war es, als sähe ich sie zum erstenmal. Sam Corwin hatte ganz recht gehabt, als er sagte, das einzige, was sie besaß, sei ihre Kunst. Außer dieser Kunst hatte sie nichts, aber auch gar nichts, das sie mit einem Menschen teilen konnte.

»Ich bin hergekommen, um Dani zu helfen«, sagte ich ruhig. »Aber nicht, um ihr ein neues Leben auf Lug und Trug aufzubauen.«

»Wie edel du bist! Ich nehme an, als nächstes wirst du mir erzählen, du liebst deine Frau!«

Ich sah sie nachdenklich an. Plötzlich mußte ich lächeln. Sie hatte alles für mich in ein paar Worte gefaßt. »Genau das ist es, Nora«, sagte ich. »Ich liebe meine Frau.«

»Was meinst du, wie sehr sie dich lieben wird, wenn ich ihr diese Bilder schicke?« Darauf hatte ich gewartet. Ich antwortete nicht. »Und was für einen Grund hättest du dann noch, meinen Vorschlag abzulehnen?«

»Den besten Grund der Welt, Nora. Ich mag dich nicht.«

Bei solchen Worten stirbt die Liebe. Sie verbrennt zu Asche und zerstört sich selbst durch die Sprache des Hasses und der Vorwürfe. Zorn und Bosheit haben sie zugrunde gerichtet. Aber dennoch bleibt eine Spur von ihr zurück, hält sich im Herzen wie eine unerfüllte Hoffnung, als Erinnerung an eine Leidenschaft, die niemals fruchtbar geworden ist. Endlich stirbt auch dieses letzte durch ein paar einfache, fast kindische Worte.

Dann sind die Gespenster verschwunden, dann ist die alte Schuld getilgt. Es war vorbei - es war für immer vorbei. Gleichviel, was geschah.

Ich machte alle Fenster meines kleinen Wagens auf, als ich zum Motel zurückfuhr. Die kühle reine Nachtluft wusch den Rest von Haß weg, den ich noch in meinem Herzen spürte. Nora bedeutete mir nicht einmal mehr so viel, daß ich sie hassen konnte. Nicht einmal das mehr.

Um Viertel vor elf war ich im Motel und ging sogleich in mein Zimmer. Pünktlich um elf klopfte es an meiner Tür. Ich öffnete. Draußen stand Anna Stradella mit ziemlich ängstlichem Gesicht. Ich trat zurück. »Kommen Sie herein, Anna«, sagte ich. Ich machte die Tür hinter ihr zu. »Warum hat er Sie hergeschickt?«

»Weil er dachte, mich würden Sie nicht der Polizei übergeben, falls Sie die geholt hätten.«

»Sie brauchen keine Angst zu haben - ich habe sie nicht geholt, Anna.«

Sie sah mich erleichtert an. »Ich hab’s auch nicht gedacht.«

»Haben Sie die Briefe?« Schweigend öffnete sie ihre Handtasche, nahm sie heraus und gab sie mir.

»Und wenn ich nun sage, ich habe das Geld nicht?«

Sie zuckte die Achseln. »Das bliebe sich gleich.«

»Was wollen Sie dann Ihrem Bruder sagen?«

Sie blickte mich an. Ich sah an ihren Augen, daß sie verletzt war. »Ich brauche ihm gar nichts zu sagen. Ich habe ihm das Geld gegeben, ehe er mir die Briefe gab.«

»Warum, Anna?«

»Weil ich wollte, daß Sie sie bekommen. Wir haben Ihnen genug angetan.«

Sie begann zu weinen. Ich konnte nur dastehen und sie anschauen. »Sie dürfen nicht weinen, Anna«, sagte ich dann. »Ich habe das Geld.«

»Deshalb weine ich nicht.« Jetzt rollten ihr die großen Tränen die Wangen herunter und hinterließen tiefe Rinnen in ihrem Make-up. »Ich weine, weil alles so schrecklich durcheinander ist.«

»Was denn, Anna?« fragte ich. »Erzählen Sie doch, warum weinen Sie?«

»Wegen Steve. Er hat mich heute gefragt, ob ich ihn heiraten will. Und ich wußte nicht, was ich ihm antworten soll.«

Ich lächelte. Ich werde die Frauen niemals verstehen! »Ich dachte, das haben Sie sich längst gewünscht?«

»Natürlich.« Sie schluchzte in ihr Kleenex, das sie aus der Tasche gezogen hatte.

»Dann ist es doch kein Problem. Er weiß von seinem Bruder?«

Sie sah zu mir auf. »Er weiß von Tony. Aber sonst weiß er von nichts.«

»Was sollte er denn noch wissen?«

»Dasselbe, was Tony wußte«, sagte sie. »Ein Mädchen, das für Coriano arbeitet, tut. tut allerlei.«

Ich holte tief Atem. »Möchten Sie Steve gern heiraten?« Sie nickte. Ich legte ihr die Hand auf die Schulter. »Dann tun Sie es. Das ist das einzige, worauf es wirklich ankommt.«

Sie sah mich zweifelnd an. »Glauben Sie das tatsächlich?«

»Er liebt Sie. Sonst würde er Sie nicht heiraten wollen. Und nur das ist wichtig.« Sie lächelte zaghaft.

»Und jetzt gehen Sie ins Badezimmer und waschen Sie sich das Gesicht. Ich telefoniere nach unten und lasse uns Kaffee heraufbringen. Wir können ihn beide brauchen.«

Sie ging ins Bad und schloß die Tür. Ich bestellte Kaffee, dann setzte ich mich hin und las die Briefe.

Zuerst Danis Brief. Mir wurde elend. Es war ein Brief, wie

ihn nur ein Kind schreiben kann, aber die Dinge, die darin standen, hätte kein Kind wissen dürfen. Er war genauso, wie Lorenzo es geschildert hatte.

Es klopfte. Hier wird man wirklich schnell bedient, dachte ich, als ich zur Tür ging. Ich öffnete. Draußen stand Nora.

»Darf ich hinein?« fragte sie und ging an mir vorbei ins Zimmer. Ich konnte sie nur sprachlos ansehen.

»Ich bin gekommen, um mich zu entschuldigen, Luke.« Sie zog ein Kuvert aus ihrer Handtasche. »Hier sind die Bilder. Ich hätte sie ohnedies nicht benutzt.«

Automatisch nahm ich den Umschlag. Ich hatte noch kein Wort gesagt, als sich die Tür des Badezimmers öffnete und Anna hereinkam. Sie hielt noch das Handtuch in den Händen. Ihr Gesicht war wieder frisch und ohne Make-up. Sie starrten sich einen Augenblick an, dann wandte sich Nora wieder zu mir. Was immer ich vorher in ihrem Gesicht gesehen hatte - jetzt war es nicht mehr da. Sie sah gekränkt und ärgerlich und düpiert aus.

»Ich hätte es wissen müssen«, sagte sie kalt. »Ich war drauf und dran, dir alles zu glauben, was du gesagt hast.«

Ich legte die Hand auf ihren Arm, um sie zurückzuhalten. »Nora!« Sie schüttelte sie heftig ab und sah mir ins Gesicht.

»Jetzt kannst du aufhören zu lügen, Luke«, sagte sie. »Du bist kein lieber Gott. Du kannst jetzt reden, wie dir ums Herz ist.«

Die Tür schlug laut hinter ihr zu. »Oh, das tut mir leid, Mister Carey. Immer mache ich nur Ungelegenheiten!«

Ich sah auf die geschlossene Tür. Noch nie hatte ich gehört, daß sich Nora für etwas entschuldigte. Nein, niemals. Ich betrachtete das Kuvert in meiner Hand. Die Bilder waren darin. Ich steckte sie in die Tasche.

Dann klopfte es wieder an der Tür. Diesmal war es die Bedienung. Ich bezahlte den Kaffee und goß uns ein. »Hier«, sagte ich und hielt Anna eine Tasse hin. »Trinken Sie. Es wird Ihnen sicher guttun.« Dann ging ich wieder zum Tisch. Anna setzte sich mir gegenüber. Ihre Augen waren groß und traurig. Nun nahm ich Noras Brief an Riccio und begann zu lesen.

Und plötzlich war es, als sei nichts weiter da als dieser Brief. Es stand alles drin. Alles. Hier war der fehlende Schlüssel. Hier waren alle Antworten. Ich hatte danach gesucht, ohne zu wissen. Ich las den letzten Absatz noch einmal, bloß um ganz sicher zu sein.

Und nun, mein Liebling, nachdem wir den Thanksgiving-Tag endgültig als Datum unserer Heirat festgesetzt haben, laß Dich von mir ernstlich vordem einen warnen: Ich bin eine eifersüchtige Frau, eine Frau, die mit niemandem teilt. Wenn ich Dich jemals dabei ertappe, daß Du einer anderen Frau auch nur einen Blick schenkst, so schneide ich Dein Herz in tausend kleine Stücke! Also hüte Dich!

Ich liebe dich!

Nora.

Ich hörte Annas Stimme. Sie schien aus weiter Ferne zu kommen. »Was ist passiert?« fragte sie. »Ihr Gesicht ist ja weiß wie die Wand!« Ich riß meinen Blick von dem Brief los.

»Es ist nichts«, sagte ich barsch. »Nichts ist passiert.«

Nun fügte sich das Bild zusammen. All die kleinen Stücke und Einzelheiten. All die verschlungenen Windungen, all die vertrackten Lügen. Jetzt kannte ich die Wahrheit. Außer Dani und Nora war ich der einzige, der sie kannte. Nun blieb nur noch ein Problem übrig: Dem Gericht zu beweisen, daß meine Tochter keinen Mord begangen hatte. Und daß ihre Mutter die Mörderin war.

Fünfter Teil: Colonel Careys Geschichte

Die Verhandlung

Als Dani in den Sitzungsraum kam, sah sie bleich und nervös aus. Sie blieb hinter Marian Spicer im Türrahmen stehen und sah sich in dem kleinen Saal um.

Wir saßen an dem langen Tisch, wie bei der letzten Vernehmung, nur hatte diesmal Dr. Weidman neben Nora Platz genommen und Harry Gordon zwischen ihr und ihrer Mutter. Dadurch kam ich an das Ende des Tisches, genau gegenüber den Plätzen für Dani und ihre Bewährungshelferin.

Der Richter saß bereits an seinem Pult; auch der Gerichtsschreiber und der Stenograph befanden sich an ihren Plätzen. Der Gerichtsdiener in seiner Amtsuniform lehnte nachlässig an einer geschlossenen Tür.

Als Dani auf dem Weg zu ihrem Platz an mir vorbeiging, berührte ich ihre Hand. Sie war eiskalt. Ich lächelte ihr zuversichtlich zu.

Sie zwang sich zu einem Lächeln, das ihr kläglich mißglückte. Ich machte eine kleine Geste mit der Hand, die ihr Mut machen sollte. Sie nickte und ging weiter. Bei der alten Dame und Nora blieb sie eine Sekunde stehen, küßte sie und begab sich dann auf ihren Platz. Der Richter wollte offenbar keine Zeit verlieren. Er klopfte schon mit seinem Hammer auf, ehe Dani noch richtig saß. »Es ist der Zweck dieser Verhandlung«, sagte er, »zu einem Entschluß über die zukünftige Vormundschaft und Fürsorge für die Jugendliche Danielle Nora Carey zu kommen, der im Einklang steht mit ihren eigenen Interessen und zugleich den Inter-

essen des Staates Kalifornien.« Er blickte hinunter zu Dani. »Verstehst du das, Danielle?«

Dani nickte. »Ja, Sir.«

»Du wirst dich auch erinnern«, fuhr er fort, »daß ich dich, als du letzte Woche hier vor diesem Gericht standest, darüber unterrichtet habe, daß du gewisse Rechte hast: das Recht, Zeugen zu deinen Gunsten zu benennen; das Recht auf einen Anwalt; das Recht, jede Aussage über dich, die du als für dich nachteilig oder schädlich empfindest, im Kreuzverhör anzufechten.«

»Ja, Sir.«

»Ich habe zur Kenntnis genommen, daß du zusammen mit deiner Familie Mister Gordon bestellt hast, um die gemeinsamen Interessen wahrzunehmen. Bist du damit einverstanden, Danielle?«

Sie hob den Blick nicht. »Ja, Sir.«

Der Richter sah uns alle an. »Dann werden wir fortfahren«, sagte er. Er nahm ein paar Blatt Papier zur Hand, die vor ihm auf dem Tisch lagen. »Uns liegen zwei verschiedene Anträge wegen der Vormundschaft über dieses Kind vor. Der eine wurde von der Bewährungshelferin, Miss Marian Spicer, eingereicht; sie ersucht darum, daß der Staat die Vormundschaft behält, bis Danielle einer ausreichenden Behandlung unterzogen worden ist, welche sie so weit wiederherstellt, daß durch ihre Handlungen ihr selbst und anderen kein Unheil mehr geschehen kann. Der andere Antrag, der durch Mister Gordon namens der Eltern und Verwandten des Kindes eingereicht wurde, befürwortet, daß das Kind zum Mündel von Mrs. Hayden, der Großmutter mütterlicherseits, erklärt und ihrer Vormundschaft und Fürsorge unterstellt wird. Sie würde die Aufsicht, Erziehung und Fürsorge für das Kind übernehmen, bis es großjährig wird.

In beiden Anträgen werden ausführliche Vorschläge hinsichtlich der Erziehung und des Wohls des Kindes gemacht. Wenn kein Einspruch erfolgt, werden wir unsere Verhandlung damit beginnen, den Antrag der Bewährungsbehörde zu erwägen.«

»Ich erhebe keinen Einspruch, Euer Ehren«, sagte Gordon.

»Gut.« Der Richter sah die Bewährungshelferin an. »Miss Spicer, würden Sie bitte dem Gericht Ihre Gründe darlegen, warum der Staat weiterhin die Vormundschaft über das Kind behalten soll?«

Marian Spicer räusperte sich nervös und stand auf. »Wir haben mehrere Gründe, Euer Ehren.«

Dann begann sie mit dünner, angespannter Stimme, aber je mehr sie sprach, desto mehr verschwand die Nervosität, und ihre Stimme klang normal. »Wir müssen im Auge behalten, daß dieses Kind der Bewährungsbehörde eingeliefert und vor Gericht gestellt wurde, weil eine schwere kriminelle Handlung vorliegt -ein Totschlag.«

»Ich erhebe Einspruch!« Harris Gordon sprang auf. »Der Spruch des Untersuchungsrichters und der Geschworenen lautete auf berechtigte Notwehr<.«

Ich sah, daß Marian Spicer verwirrt errötete. Sie sah den Richter an.

»Ich nehme Kenntnis von dem Einspruch«, sagte er mit einem Blick auf Gordon. »Aber ich möchte Ihre Aufmerksamkeit dahin lenken, daß das Jugendgericht automatisch vorsieht: Alle derartigen Einwände werden nur zugunsten des Jugendlichen gemacht und vermerkt. Da dieses Gericht keine Geschworenen hat, die über diese Dinge instruiert werden müssen, halten wir es nicht für nötig, solche Einwände weiter zu erörtern.«

Gordon nickte. »Jawohl, Euer Ehren.«

Der Richter sah die Bewährungshelferin an. »Sie können fortfahren, Miss Spicer.«

Marian Spicer warf einen Blick auf die Papiere vor sich auf dem Tisch und begann wieder: »Die Bewährungsbehörde beschäftigt sich natürlich nicht nur mit der Beschuldigung selbst, sondern auch mit den Ursachen, mit der Frage also, warum die

Minderjährige eine solche Tat begangen hat, und was nach Möglichkeit geschehen kann, um einen ähnlichen Vorfall seitens der Jugendlichen in Zukunft zu verhüten.

Sie werden aus unserem Bericht ersehen, Euer Ehren, daß wir gründliche Nachforschungen über die bisherige Umwelt des Kindes angestellt haben, ebenso über die Umstände, unter denen sich diese Tat abgespielt hat. Wir haben das Kind, soweit wir das unter den vorliegenden Gegebenheiten konnten, physisch und psychisch überprüft.«

Sie sah Nora einen Augenblick an. »Aufgrund der physischen und medizinischen Untersuchung sind wir zu der Feststellung gekommen, daß sie im allgemeinen in guter körperlicher Verfassung ist, daß sie aber während der Zeit unmittelbar vor ihrer Einlieferung bei uns intensive sexuelle Beziehungen gehabt haben muß. Nach Ansicht des untersuchenden Arztes hat sie seit mindestens einem Jahr sexuellen Verkehr gehabt. Danach wäre sie erst etwas über dreizehn Jahre alt gewesen, als sie damit begonnen hat.«

Ich sah Dani an. Mit bleichem Gesicht sah sie starr auf den Tisch. Die Bewährungshelferin fuhr fort:

»Als wir Dani darüber befragten, verweigerte sie jede Auskunft. Sie wollte uns nicht sagen, mit wem sie diese Dinge getan hatte, sie wollte auch weder bestätigen noch leugnen, daß sie sexuellen Verkehr gehabt hat. Als wir darauf hinwiesen, daß ihre Weigerung, über diese Dinge zu sprechen, sich ungünstig auf ihre Lage auswirken könne, blieb sie hartnäckig dabei, daß dies nichts mit der Angelegenheit zu tun habe, deretwegen sie zu uns gebracht worden ist.«

Der Richter räusperte sich. »Dani«, sagte er ernst, »verstehst du, was Miss Spicer sagt?«

Dani sah nicht auf. »Ja, Sir.«

»Du weißt natürlich, daß solche Dinge sehr unrecht sind?« fuhr er im gleichen strengen Ton fort. »Daß anständige Mädchen so etwas nicht tun? Daß ein solches Betragen allen moralischen Grundsätzen zuwiderläuft und als sehr sündhaft gilt?«

Dani sah weiter auf den Tisch. »Ja, Sir.«

»Dann hast du uns also nichts zu sagen, womit du dich irgendwie rechtfertigen könntest?« Jetzt sah ihn Dani an.

»Nein, Sir!« antwortete sie mit fester Stimme.

Der Richter betrachtete sie einen Augenblick prüfend, dann wandte er sich wieder an Miss Spicer. »Bitte, fahren Sie fort.«

»Das Kind hatte mehrere Aussprachen mit Miss Sally Jennings, der Psychologin unserer Abteilung; auch hierbei weigerte sie sich, über diese Dinge zu sprechen, mit der Begründung, sie seien ihre private Angelegenheit. Über andere Dinge hat sie aber offen mit Miss Jennings gesprochen; der Bericht hierüber liegt der Eingabe unserer Abteilung bei.«

Miss Spicer nahm ein Blatt vom Tisch. »Hier ist der zusammenfassende Bericht von Miss Jennings. Ich lese ihn wörtlich vor.

>Nach mehreren Aussprachen mit Danielle Nora Carey bin ich zu folgendem Ergebnis gekommen: Hinter der äußerlichen Gefaßtheit und Fügsamkeit des Kindes liegt tief verwurzelt und wohlverborgen ein Gefühl des Grolls und der Eifersucht auf ihre Mutter. Dies hat sich - nach eigenen Worten des Kindes - viele Male in Auseinandersetzungen und heftigen Szenen mit der Mutter Luft gemacht. Danielle findet eine gewisse Beruhigung in der Tatsache, daß ihre Mutter sie liebt, was sie aus der Aufmerksamkeit schließt, welche die Mutter ihr in solchen Augenblicken der Rebellion zeigt. Zu anderen Zeiten empfindet Danielle mit Sicherheit, daß ihre Mutter nicht das mindeste Interesse für sie hat. Dani sprach über ihr Gefühl, daß die Mutter sie von jedem Menschen trenne, der sie mehr liebt als ihre Mutter, und daß ihre Mutter eifersüchtig auf sie sei, widersprach sich aber durch die wiederholte Versicherung, daß ihre Mutter sie liebe. Es sind einige Anzeichen dafür da, daß hinter diesen Bemerkungen eine leichte Form von Paranoia steckt, was aber im derzeitigen Stadium unserer Beobachtungen des Kindes schwer zu beurteilen ist. Ob diese latente Paranoia stark genug ist, unter gewissen Umständen zu einem Ausbruch von Gewalttätigkeit zu führen, kann ich nicht mit Sicherheit sagen. Ich würde dringend empfehlen, das Kind unter staatlicher Obhut zu behalten, bis alle diese Momente ausreichend überprüft sind und richtig eingeschätzt werden können.««

Miss Spicer legte den Bogen hin und sah wieder den Richter an. »Wir haben wie üblich auch genaue Nachforschungen über das schulische und häusliche Leben des Kindes vorgenommen. Der Bericht ihrer Schule ist, was die Leistungen betrifft, ungewöhnlich günstig. Sie ist die Beste in ihrer Klasse. Im Umgang mit ihren Klassenkameradinnen wird sie allgemein akzeptiert, obwohl diese finden, daß sie ihnen gegenüber auf dem Gebiet des Intellektuellen und der Allgemeinbildung eine gewisse Überlegenheit zur Schau trägt. Die wenigen Knaben, mit denen sie ausgegangen ist, hatten alle den Eindruck, daß sich Danielle in ihrer Gesellschaft ziemlich gelangweilt hat.

Wir haben auch mit Miss Hayden Rücksprache genommen; die Mutter des Kindes drückte größtes Erstaunen über unsere Feststellung aus, daß die Jugendliche sexuellen Verkehr gehabt hat. Sie behauptet, niemals etwas davon bemerkt zu haben. Unsere Feststellungen über Miss Hayden ergaben, daß trotz ihrer Sorgfalt in bezug auf das physische Wohl des Kindes das Niveau ihrer eigenen Moral sowohl im Haus wie außerhalb keineswegs ein annehmbares moralisches Klima für ihre Tochter darstellt. Ohne uns ein Urteil über Miss Hayden anmaßen zu wollen, die, wie wir zugeben, als Künstlerin in einer besonderen und eigenen Welt lebt, sind wir der Meinung, daß die Begriffe eben dieser Welt und ihre Lebensführung Danielle nicht günstig beeinflussen können in dem, was man normalerweise mit Recht und Unrecht bezeichnet. Ohne auf einzelne Beispiele aus Miss Haydens Lebensführung einzugehen - wir haben zahlreiche solcher Beispiele -, kommen wir zu dem Schluß, daß diese Sachlage allein es außerordentlich gefährlich erscheinen läßt, das Kind ihrer Aufsicht anzuvertrauen.«

Ich blickte auf Nora. Ihre Lippen waren fest zusammengepreßt; sie sah die Bewährungshelferin starr an. Wenn Blicke töten könnten, wäre Miss Spicer eine Leiche gewesen.

Miss Spicer erwiderte den Blick nicht, sondern hatte ihre ganze Aufmerksamkeit weiterhin auf den Richter konzentriert. »Wir haben auch mit Danielles Großmutter mütterlicherseits, Mrs. Hayden, Rücksprache genommen; sie möchte die Verantwortung für dieses Kind übernehmen. Mrs. Hayden hat einen ausgezeichneten Ruf in der Gemeinde und wird von jedermann hochgeachtet. Es besteht hier jedoch ein Hindernis, das uns äußerst bedenklich erscheint. Mrs. Hayden ist zur Zeit vierundsiebzig Jahre alt, und obwohl sie sich offenbar bester Gesundheit erfreut, stehen wir doch der Tatsache gegenüber, daß sie sich nicht ständig persönlich um das Kind kümmern kann. Sie muß es notgedrungen anderen Personen überlassen, eine ganze Reihe von Handlungen vorzunehmen, denen sie selbst nicht gewachsen ist. So bewundernswert ihre Absichten sind, bezweifeln wir doch, daß sie in der Lage ist, all die Pflichten zu erfüllen, die sie auf sich zu nehmen bereit ist. Bei größter Hochachtung für Mrs. Hayden haben wir dennoch Bedenken, das Kind jetzt ihrer Obhut anzuempfehlen.« Die Augen der alten Dame blieben gelassen. Sie sah die Bewährungshelferin ruhig an. Offenbar hatte sie diesen Einwand von vornherein erwartet.

Jetzt kam ich an die Reihe. Miss Spicer sprach weiter: »Wir haben auch mit dem Vater der Jugendlichen gesprochen, mit Colonel Carey. Er kommt schon automatisch als Vormund des Kindes dadurch nicht in Betracht, daß er außerhalb des Staates Kalifornien wohnt. Dazu treten aber auch noch andere Faktoren, die es ausschließen, daß er diese Verantwortung übernimmt. Er hat jahrelang keinerlei Verbindung mit seiner Tochter gehabt. Sie haben sich auseinandergelebt und sind durch mehr als die beim Aufwachsen eines Kindes normalen Umstände voneinander getrennt. Wir bezweifeln, daß er finanziell wie persönlich die Erfahrung und die Fähigkeit besitzt, die Verantwortung für seine Tochter zu übernehmen.«

Jetzt konnte ich verstehen, warum sie mir gesagt hatte, daß sie nicht viele Fälle verpfuschen. Ich sah den Richter an, welchen Eindruck er wohl haben mochte. Sein rötliches Gesicht glänzte von der feuchten Hitze im Sitzungsraum. Aber seine Augen hinter den Brillengläsern verrieten mir nichts.

»Angesicht der vorgetragenen Informationen«, fuhr Miss Spicer fort, »beantragen wir, daß das Gericht das Kind dem Kalifornischen Jugendamt übergibt, und zwar der Nordkalifornischen Aufnahmezentrale in Perkins. Wir hoffen, daß man sie von dort nach genauer Prüfung nach dem Los-Guilicos-Erziehungsheim in Santa Rosa überweisen wird, wo sie unter wirksamer Aufsicht steht und die geeignete psychiatrische Therapie erhält, bis sie das gesetzliche Alter erreicht hat und in eigene Verantwortung entlassen werden kann.«

Als die Bewährungshelferin sich setzte, herrschte tiefes Schweigen im Raum. Keiner von uns wagte den andern anzusehen.

Die Stimme des Richters unterbrach das Schweigen. »Haben Sie irgendwelche Fragen betreffs der Vorschläge im Antrag der Bewährungsabteilung?«

Harris Gordon stand auf. »Es gibt - wie das Gericht ohne weiteres verstehen wird - eine ganze Anzahl von Einwänden, die ich unter normalen Umständen zu einem Bericht dieser Art vorzubringen hätte. Aber da das Gericht sie sicherlich ebenso klar erkennt wie ich, lassen wir sie fallen.«

Der Richter nickte. »Gut, lassen wir sie fallen.«

»Ich danke Euer Ehren«, sagte Gordon höflich. »Wir glauben, daß unser eigener Antrag sowohl unsere Lage wie alle Fragen darlegt, die wir hinsichtlich des Antrags der Bewährungsabtei-lung haben. Wir glauben, daß die Nachforschungen der Bewährungsabteilung in vieler Beziehung oberflächlich und voreingenommen waren. Unter manchen Umständen würde dies, so meine ich, keinen großen Unterschied machen, aber das Gericht muß anerkennen, daß die Möglichkeiten der Familie, in richtiger Weise für das Wohl des Kindes zu sorgen, durchaus vorhanden sind, sowohl in gegenständlicher wie in finanzieller Beziehung -vielleicht besser für das Wohl des Kindes zu sorgen, als der Staat dazu in der Lage sein dürfte.«

»Das Gericht hat Ihren Antrag gelesen, Mister Gordon. Wir sind bereit, ihn nunmehr in Erwägung zu ziehen. Würden Sie bitte fortfahren?«

Gordon nickte. Er blieb stehen. »Darf ich Euer Ehren darauf hinweisen - es dürfte bei diesem Antrag dienlich sein -, daß die Antragstellerin in diesem Fall Mrs. Marguerite Cecilia Hayden ist, die Großmutter des Kindes mütterlicherseits.«

»Das Gericht hat es zur Kenntnis genommen.«

»Ich danke Euer Ehren. Ohne damit eine Ansicht über das Kind irgendwie vorwegnehmen zu wollen, möchte ich sagen, daß die Antragstellerin viele der in diesem Fall eine Rolle spielenden Faktoren, von denen im Antrag der Bewährungsbehörde die Rede ist, durchaus anerkennt. Dennoch behauptet die Antragstellerin, daß die genannte Behörde infolge ihrer nun einmal begrenzten Möglichkeiten ’ und der Staat wegen der vielen Lasten, die er ohnehin zu tragen hat, dem Kind nicht die Fürsorge angedeihen lassen können, die zu seiner völligen Wiederherstellung so notwendig ist. Die Antragstellerin jedoch ist dazu durchaus in der Lage. Im Gegensatz zu den etwas unklaren Verallgemeinerungen über Aufsicht und Behandlung im Antrag der Bewährungsabteilung haben wir einen sorgfältig im Detail ausgearbeiteten Plan für die Fürsorge und Behandlung des Kindes erstellt und sind bereit, ihn dem Gericht zu unterbreiten.

Wir haben bereits mit der Abingdonschule für Mädchen verabredet, daß das Kind sofort dort aufgenommen wird. Ich brauche den guten Ruf, den die Abingdonschule genießt, nicht zu betonen. Ich bin überzeugt, er ist dem Gericht wohlbekannt. Die Schule verzeichnet die besten Erfolge mit den sogenannten schwierigen Kindern, bessere als jede andere Schule in diesem Land. Man sagt, einer der Gründe für diesen Erfolg sei es gerade, daß die Kinder nicht ganz von jedem Kontakt mit einem normalen häuslichen Leben abgeschnitten sind. Jedes Kind wird in einer völlig normalen Umgebung erzogen und kehrt wie in einer normalen Schule jeden Abend nach Hause zurück.

Ich habe Herrn Dr. Isidor Weidman gebeten, bei dieser Verhandlung anwesend zu sein. Dr. Weidman ist ein bekannter Kinderpsychiater und arbeitet eng mit der Abingdonschule zusammen. Er würde die psychologische und psychiatrische Betreuung des Kindes selbst übernehmen. Er hat sich zur Verfügung gestellt, falls irgendwelche Fragen hinsichtlich seiner speziellen Pläne für dieses Kind gestellt werden sollten.« Gordon sah den Richter fragend an.

»Dr. Weidman ist dem Gericht bekannt«, sagte der Richter. »Es hegt große Achtung vor seinen Fähigkeiten und seinen Ansichten. Jedoch im Augenblick liegt kein Grund vor, Dr. Weid-man zu befragen.«

Gordon nickte. »Mrs. Hayden hat ferner Vorsorge getroffen, daß sich ihre Enkelin der Gemeinde der St.-Thomas-Kirche anschließt zur Unterweisung in der Führung eines echten Christenlebens. Der Pfarrer, Reverend J. J. Williston von der St-Thomas-Kirche, der leider zu dieser Verhandlung heute morgen nicht kommen konnte, ist gern bereit, falls von ihm eine Auskunft gewünscht wird, etwas später am Tage, wann es dem Gericht beliebt, hier zu erscheinen.«

»Das Gericht nimmt es zur Kenntnis, Mister Gordon.«

»Mrs. Hayden hat ferner einige Räume in ihrem Haus ausgesucht, die sie neu einrichten und für das Kind beziehbar machen wird. Sie ist bereit, dem Kind all die Fürsorge physischer und moralischer Art angedeihen zu lassen, zu der sonst die Eltern verpflichtet sind. Hinsichtlich der Besorgnisse der Bewährungsbehörde über die körperliche Verfassung von Mrs. Hayden...«

Gordon nahm ein Glas Wasser, das vor ihm auf dem Tisch stand, und trank einen Schluck. Er stellte das Glas wieder hin und wandte sich erneut an den Richter.

»Mrs. Hayden ist zur Zeit Mitglied des Direktoriums von elf verschiedenen Gesellschaften und aktiv an der Leitung von vier dieser Firmen beteiligt. Sie gehört darüber hinaus dem Kuratorium des Kollegiums für Kunst und Wissenschaften der Universität an und hat ferner eine führende Stellung in der Gesellschaft der >Töchter der Gründer von San Franciscoc.

Vor einigen Tagen begab sich Mrs. Hayden auf meinen Rat in das >General Hospital< und ließ sich gründlichst untersuchen. Ich habe die schriftlichen Berichte darüber hier und würde sie gern verlesen.«

Er griff nach einem Bogen Papier. >»Nach Ansicht der untersuchenden Ärzte, die diesen Bericht unterzeichnet haben, ist Mrs. Maguente Cecilia Hayden, vierundsiebzig Jahre alt, bei bester Gesundheit und im Vollbesitz ihrer Kräfte. Es haben sich keinerlei ungewöhnliche gesundheitliche Schäden feststellen lassen, die sonst bei Menschen ihrer Altersklasse auftreten. Wir sind weiter der Ansicht, daß sich Mrs. Hayden, außer infolge eines Unfalls oder unvorhergesehener Ereignisse, ihres jetzigen Gesundheitszustandes noch viele Jahre erfreuen dürfte.««

Gordon machte eine Pause und sah den Richter an. »Dieser Bericht ist unterschrieben von Dr. Walter Llewellyn, Professor für Geriatrie an der Universität von Südkalifornien, Chefarzt der Untersuchungsstelle, sowie von fünf weiteren Ärzten.

Wenn das Gericht wünscht, werde ich die Namen verlesen.«

»Das Gericht akzeptiert die Feststellung des Anwalts. Es liegt kein Grund vor, die Namen der andern Ärzte zu verlesen.«

Gordon trank wieder einen Schluck Wasser. »Ich habe diesem Antrag kaum noch etwas hinzuzufügen, außer dem einen Hinweis.« Er sah über den Tisch zu Dani hin. »Wir bitten das Gericht, im Auge zu behalten, daß es für ein Kind keine wirksamere Behandlung geben kann, als geliebt zu werden und sich sicher zu fühlen in der Gewißheit, geliebt zu werden. Ohne solche Liebe ist alles medizinische und psychiatrische Wissen und Können machtlos. Mit solcher Liebe ist keine Heilung unmöglich.

Wir beharren auf dem Standpunkt, daß Mrs. Hayden alles für ihre Enkelin tun kann, was der Staat beabsichtigt, und mehr als das. Dazu käme dieser eine unendlich wichtige zusätzliche Faktor der Liebe zwischen Großmutter und Enkelin - Liebe, die keine Institution, so wohlmeinend sie auch sein mag, aufbringen oder ersetzen kann.«

Der Richter sah Miss Spicer an. »Haben Sie hinsichtlich dieses Antrags irgendwelche Fragen?«

Die Bewährungshelferin erhob sich. »Unsere Abteilung hat den Antrag von Mrs. Hayden sehr sorgfältig geprüft, ist aber dennoch nach wie vor der Meinung, daß dem Interesse des Kindes sowie des Staates am besten mit unserem eigenen Antrag gedient sein dürfte. Wären wir zu einem anderen Schluß gekommen, so hätten wir den Antrag von Mrs. Hayden mit unserer Empfehlung unterstützt.«

Der Richter sah herunter auf Dani. »Danielle, hast du irgendwelche Fragen über diese beiden Anträge zu stellen?«

»Nein, Sir«, antwortete sie mit leiser Stimme.

»Du verstehst doch, was ich jetzt zu entscheiden habe?« fragte er.

»Ich muß jetzt entscheiden, was mit dir geschehen soll. Ob du in Obhut des Staates bleiben oder zu deiner Großmutter kommen sollst. Je mehr ich von dir weiß, um so besser kann ich meine Entscheidung treffen. Hast du noch irgend etwas auf dem Herzen, was du mir gern sagen möchtest?«

Dani vermied seinen Blick. »Nein, Sir.«

»Du hast nicht nur eine furchtbare Tat begangen«, sagte er mit seiner ernstesten Stimme, »sondern du gibst es auch zu, ein höchst unmoralisches und unpassendes Leben geführt zu haben. Ein Leben, von dem wir beide, du und ich, wissen, daß es unrecht ist und unter keinen Umständen fortgesetzt werden darf. Kannst du mir etwas sagen, das mich überzeugen könnte, den Antrag deiner Großmutter zu genehmigen?«

Sie sah immer noch auf die Tischplatte. »Nein, Sir.«

»Wenn du hier vor Gericht nicht sprechen willst - würdest du mir vielleicht allein etwas zu sagen haben? Drüben in meinem Zimmer, wo uns kein anderer hört?«

»Nein, Sir.«

Er seufzte. »Du weißt wohl selbst, daß du mir kaum eine Wahl läßt, nicht wahr?«

Jetzt war ihre Stimme sehr matt. »Nein, Sir.«

Ich glaubte einen Schimmer von Traurigkeit in den Augen des Richters zu sehen, als er sich in seinen Sessel zurücklehnte. Er saß einen Augenblick ganz still, dann wandte er sich ein wenig zur Seite und musterte uns alle. Sein Gesicht war feierlich. Er räusperte sich, als er zum Sprechen ansetzte.

Wir sahen ihn so gespannt an, als sei er der letzte Mensch auf dieser Welt. Er räusperte sich nochmals, dann griff seine Hand nach dem Hammer.

»Euer Ehren!« rief ich plötzlich und stand auf.

»Ja, Colonel Carey?«

Ich sah mir die Runde um den Tisch an. Ich sah die Überraschung und den Schrecken in allen Gesichtern, aber das einzige Gesicht, das ich tatsächlich sah, war Danis Gesicht.

Sie blickte mich groß an, ihre Augen standen weit geöffnet und rund in dem blassen Gesicht. Ich sah die mattblauen Schatten unter ihnen und wußte, daß sie geweint hatte, ehe sie in den

Sitzungssaal kam. Ich wandte mich ab und blickte den Richter an. Es war meine letzte Chance, etwas für meine Tochter zu tun.

Ich hüstelte nervös: »Habe ich das Recht, einige Fragen zu stellen, Euer Ehren?«

»Sie haben vor diesem Gericht dieselben Rechte wie Ihre Tochter, Colonel Carey«, erwiderte der Richter. »Sie haben das Recht auf einen juristischen Berater, das Recht, Zeugen beizubringen und die Aussagen anderer Zeugen hinsichtlich aller Dinge im Rahmen dieser Verhandlung anzufechten.«

»Ich danke Ihnen, Euer Ehren«, sagte ich. »Ich habe zunächst eine Frage an Miss Spicer.«

»Bitte, stellen Sie Ihre Frage.«

Ich wandte mich zu der Bewährungshelferin.

»Miss Spicer, glauben Sie, daß meine Tochter eines Mordes fähig ist?«

Gordon sprang auf. »Ich erhebe Einspruch, Euer Ehren!« sagte er gereizt. »Colonel Carey stellt eine Frage, die ein Vorurteil gegen meine Klientin hervorrufen könnte.«

Der Richter sah ihn scharf an. »Mister Gordon«, sagte er, mit ebenfalls etwas gereizter Stimme, »ich meinte Ihnen bereits erklärt zu haben, daß alle Einwände zugunsten der Jugendlichen automatisch genehmigt sind.« Er wandte sich an Miss Spicer.

Die Bewährungshelferin zögerte. »Ich weiß es nicht.«

»Sie haben gestern zu mir gesagt, es falle Ihnen schwer zu glauben, daß ein Kind wie Dani einen Mord begehen könne. Daß Ihnen wohler wäre, wenn Sie einen stichhaltigen psycholo-

gischen Grund für diese Tat entdecken können. Warum hatten Sie diese Empfindung?«

Marian Spicer sah den Richter an. »Es ist weder Miss Jennings noch mir gelungen, einen so engen Kontakt mit Danielle herzustellen, daß wir beurteilen können, wozu sie wirklich fähig ist und wozu nicht. Wir sind der Meinung, daß sie ein für einen so jungen Menschen außergewöhnliches Maß an Selbstbeherrschung an den Tag legt.«

»Sie waren bei der Verhandlung vor dem Untersuchungsrichter zugegen und haben die Aussagen dort gehört. Waren Sie mit dem Spruch der Geschworenen einverstanden?«

Sie sah mich an. »Ich habe ihren Spruch akzeptiert.«

»Danach frage ich nicht, Miss Spicer. Glauben Sie nach dem, was Sie jetzt über meine Tochter wissen, daß sie einen Mann getötet hat, wie dies bei der Verhandlung angenommen wurde?«

Sie zögerte wieder. »Für möglich halte ich es.«

»Aber Sie haben noch immer Ihre Zweifel?«

Sie nickte. »Zweifel hat man immer, Colonel. Aber wir müssen uns mit den Tatsachen abfinden. Wir können und dürfen uns nicht von unseren persönlichen Empfindungen beeinflussen lassen. Die Tatsachen, vor denen wir stehen, rechtfertigen den Spruch der Geschworenen. Deshalb müssen wir entsprechend handeln.«

»Ich danke Ihnen, Miss Spicer.«

Ich wandte mich wieder dem Richter zu. Er hatte sich ein wenig vorgebeugt und beobachtete mich. Offenbar war er neugierig, was ich weiter vorbringen würde.

Gordon war schon wieder aufgestanden.

»Ich muß protestieren, Euer Ehren«, sagte er. »Ich kann nicht einsehen, was Colonel Carey zu erreichen hofft, wenn er solche Fragen stellt. Die ganze Form seines Vorgehens erscheint mir höchst, ungewöhnlich.«

Der Richter wandte sich an mich. »Ich muß zugeben, daß auch ich etwas betroffen bin. Genau: Was hoffen Sie denn zu erreichen?«

»Ich weiß es nicht genau, Euer Ehren, aber da sind einige Dinge, die mich irritieren.«

»Was sind das für Dinge, Colonel Carey?«

»Wenn meine Tochter keine Jugendliche wäre, sondern erwachsen, und wenn dann das Urteil der Geschworenen auf berechtigte Notwehr< oder >Totschlag in Notwehr< gelautet hätte., dann wäre sie doch jetzt aller Wahrscheinlichkeit nach frei und könnte ihr normales Leben fortsetzen. Stimmt das nicht?«

Der Richter nickte. »Ja, das stimmt.«

»Aber da sie eine Jugendliche ist, unterliegt sie der Bestrafung, und darum steht sie jetzt vor diesem Gericht?«

»Das ist nicht wahr, Colonel«, antwortete der Richter. »Ihre Tochter steht hier nicht wegen Mord vor Gericht. Hier findet eine Verhandlung über die Vormundschaft statt - eine Verhandlung, die vornehmlich zu ihrem eigenen Wohl und Besten stattfindet.«

»Verzeihen Sie meine Beschränktheit, Euer Ehren. Ich bin kein Rechtsanwalt. Für mich ist die bloße Tatsache, daß ihr Gefangenschaft oder Haft droht, gleichbedeutend mit Bestrafung. Was auch der Grund sein mag, das Verbrechen, dessen man sie beschuldigt, oder ein durch den Staat gegebener - für mich scheint es auf dasselbe hinauszulaufen.«

»Sie können versichert sein, Colonel, daß Strafmaßnahmen das letzte wären, was dieses Gericht beabsichtigt«, sagte der Richter förmlich.

»Vielen Dank, Euer Ehren. Aber da ist noch etwas, das mir unverständlich ist.«

»Und was ist das?«

»Wenn ich heute eines Verbrechens angeklagt wäre, so würde ich vor ein Schwurgericht gestellt werden. Dort hätte ich das Recht, mich gegen die Anklage zu verteidigen und endgültig, ein für allemal, meine Unschuld oder Schuld feststellen zu lassen.«

Wieder nickte der Richter.

»Das wurde aber im Fall meiner Tochter nicht für nötig befunden. Man hat mir hier vom ersten Augenblick an nachdrücklich erklärt, daß es überflüssig sei, sich mit der Frage einer Strafe zu befassen, da Dani eine Jugendliche ist. Das einzige, worüber es zu verhandeln gelte, sei die Vormundschaftsfrage. Erst heute ist mir klargeworden, daß ein sehr wichtiger Faktor fehlt.«

Ich war sehr durstig und goß mir ein Glas Wasser ein. Der Richter sah mich neugierig an, als ich weitersprach:

»Ich habe bei diesem ganzen Verfahren nichts gesehen, was auch nur irgendwie einer Verteidigung meiner Tochter glich. Sie ist doch sicherlich dazu berechtigt, daß man ihr eine Gelegenheit gibt, sich zu verteidigen.«

»Man hat ihr keines ihrer Rechte vorenthalten«, sagte der Richter etwas gereizt. »Meines Erachtens haben Sie und ihre Mutter einen höchst fähigen Anwalt bestellt. Mister Gordon ist bei allen Verhandlungen zugegen gewesen. Wenn Sie irgendwelche Klagen über die Art seiner Verteidigung haben, so ist, fürchte ich, das Gericht nicht die dafür zuständige Stelle.«

Ich hatte das Gefühl, mich immer mehr in ein Paragraphennetz zu verwickeln. Wie töricht war meine Annahme gewesen, ich könne das Gewebe der Verdunkelungen zerreißen, welches das Gesetz schon um sie geschlungen hatte. »Euer Ehren«, sagte ich verzweifelt, »ich versuche doch nur, in simplen Worten zu fragen: Was kann ich tun, um die Wahrheit über meine Tochter vor dieses Gericht zu bringen?«

Nun sah mich der Richter lange an. Dann lehnte er sich in seinen Sessel zurück. »Wenn das alles ist, was Sie wünschen, Colonel«, sagte er langsam, »so fahren Sie nur fort - in jeder Art, die Sie für nützlich halten. Dieses Gericht ist ebenso eifrig wie Sie selbst bestrebt, die Wahrheit zu erfahren.«

Gordon stand auf. »Dies ist in hohem Maße ungewöhnlich, Euer Ehren«, protestierte er. »Colonel Carey kann nichts weiter tun, als die ganze Angelegenheit unnötig in die Länge ziehen. Die Geschworenen des Untersuchungsrichters haben ihren Spruch gefällt. Ich kann nicht einsehen, was für einen Sinn es hat, die ganze Geschichte noch einmal aufzuwärmen. Wir wissen alle, daß es bei dieser Verhandlung um die Vormundschaftsfrage geht, und ich lege dagegen Verwahrung ein, daß sie in etwas anderes verwandelt wird.«

»Vor jedem andern Gericht hätte meine Tochter doch das Recht auf Berufung, Euer Ehren?« fragte ich. »Könnte dieser Gerichtshof ihr nicht dieselben Rechte einräumen?«

Der Richter betrachtete uns beide, Gordon und mich. »Es liegt nicht innerhalb der Befugnisse dieses Gerichts, die Entscheidungen einer andern Instanz zu revidieren. Es ist jedoch die Absicht dieses Gerichts, alles anzuhören, was sein Urteil über den hier verhandelten Fall fördern könnte. Es ist die Pflicht des Gerichts, sich zu vergewissern, daß ein Jugendlicher geschützt wird, wenn nötig, vor seinen eigenen Handlungen, ganz gleichgültig, auf welche Art. Nachdem diese Verhandlungen mehr oder weniger informell geführt werden, sehe ich nicht, was es schaden könnte, den Colonel anzuhören.«

»Danke, Euer Ehren.«

Gordon warf mir einen sonderbaren Blick zu, als er sich wieder setzte. Ich wendete mich wieder an den Richter: »Darf ich eine Zeugin vorführen?«

Der Richter nickte.

Ich ging durch den Saal und öffnete die Tür des Warteraums. Anna saß in der gegenüberliegenden Ecke in der Nähe der Glasfenster. Ich winkte ihr, und sie kam in den Saal.

»Dies, Euer Ehren«, sagte ich, »ist Anna Stradella.«

Noras Gesicht war weiß vor Zorn. Ich sah, wie sie Gordon etwas zuflüsterte. Das Gesicht der alten Dame war gelassen wie immer, und Dani schien nur neugierig.

»Bitte setzen Sie sich, Miss Stradella«, sagte der Richter. Er deutete auf einen Stuhl in der Nähe der Richterbank. Anna setzte sich, der Schreiber trat mit einer Bibel in der Hand zu ihr. Er nahm ihr schnell den Eid ab und setzte sich wieder.

»Sie können fortfahren, Colonel«, sagte der Richter. Jetzt waren seine Augen hinter den Brillengläsern lebendig. Seine Miene verriet ein Interesse, das er vorher nicht gezeigt hatte.

Anna war ganz in Schwarz, aber ihr dunkles Kleid konnte die Üppigkeit ihrer Gestalt nicht verbergen. Sie saß ruhig, die Hände über ihrer Handtasche gefaltet.

»Würden Sie dem Gericht erzählen, wie wir uns kennengelernt haben, Anna?« fragte ich.

»Ich lernte Colonel Carey kennen, als er in das Bestattungsinstitut kam, um mit der Familie von Tony Riccio zu sprechen.«

Ich sah aus dem Augenwinkel, wie Dani sich plötzlich vorwärts über den Tisch beugte und Anna betrachtete. »Warum waren Sie dort, Anna?«

»Tony war mein Verlobter gewesen«, antwortete sie ruhig. »Wir hatten die Absicht zu heiraten.«

»Wie lange waren Sie verlobt?«

»Neun Jahre.«

»Das ist für heutzutage eine lange Verlobungszeit, meinen Sie nicht?«

»Wahrscheinlich«, antwortete sie. »Aber Tony wollte warten, bis ihm der große Coup gelungen war.«

»Ich verstehe. Sie wußten, daß er bei Miss Hayden beschäftigt war, nicht wahr?« Sie nickte.

»Haben Sie über die Art seiner Stellung dort jemals mit Tony gesprochen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, er hat nie darüber gesprochen. Aber er sprach oft von Miss Hayden.«

»Was hatte er über sie zu sagen?«

Gordon schoß hoch. »Gegen diese Frage muß ich schärfstens Verwahrung einlegen, Euer Ehren. Der ganze Gegenstand ist absolut unerheblich und vor diesem Gericht nicht zur Sache gehörig, Euer Ehren!«

»Abgelehnt«, sagte der Richter fast nachlässig. Ich merkte, er war gespannt, worauf ich hinauswollte. »Beantworten Sie die Frage, Miss Stradella.«

»Er sagte, sie sei eine reiche Dame in mittleren Jahren, und eines Tages würde er ein hübsches Bündel Scheine von ihr kassieren.« Ich warf einen Blick auf Nora. Ihr Gesicht war weiß und voll Zorn. Ich wandte mich wieder zu Anna. »Hat er mit Ihnen jemals irgend etwas besprochen über seine. Beziehungen im Hause seiner Arbeitgeberin?«

»Ja«, flüsterte Anna. »Er sagte, daß er zwischen der Kleinen und der Mutter. daß er nicht wüßte, bei welcher er sich zuerst das Kreuz brechen würde.«

»Ich nehme an, er wollte damit ausdrücken, daß er mit beiden sexuelle Beziehungen hatte?«

»Ja.«

»Während dieser Zeit hatte er auch Beziehungen zu Ihnen?«

Anna sah zu Boden. »Ja«, flüsterte sie.

»Hatten Sie nichts gegen seine Beziehungen mit Miss Hayden und ihrer Tochter einzuwenden?«

»Was hätte es genützt?« fragte sie mit tonloser Stimme. »Er sagte mir, er müsse es tun. Es gehöre zu seiner Stellung.«

»Das ist eine Lüge!« schrie Dani plötzlich. »Das ist eine schmutzige Lüge!«

Der Richter klopfte scharf mit dem Hammer auf. »Sei still, Danielle«, verwarnte er sie, »sonst muß ich dich aus diesem Saal bringen lassen.« Danis Gesicht erstarrte. Sie sah mich groß an. Jetzt wußte ich, wie Judas zumute gewesen ist, als er Jesus ins Gesicht blickte. Ich wandte mich wieder zu Anna.

»Wann hatten Sie Ihren Verlobten zum letztenmal gesehen?«

»Ungefähr zwei Wochen, ehe. ehe er starb.«

»Und was hatte er Ihnen damals zu sagen?«

»Er gab mir einen großen Umschlag und bat mich, ihn aufzubewahren«, erwiderte sie. »Er sagte, er enthalte Briefe von Miss Hayden und ihrer Tochter, und die Briefe würden binnen kurzem für uns eine Menge Geld wert sein. Genug Geld, daß wir damit heiraten könnten.«

»Haben Sie diese Briefe gelesen?«

»Nein«, sagte sie. »Der Umschlag war versiegelt.«

»Was haben Sie damit getan?«

»Ich habe sie aufbewahrt«, sagte sie. »Aber dann kam eines Abends mein Bruder und sagte, Tony wolle sie wiederhaben, und ich gab ihm den Umschlag. Erst als mein Bruder fort war, erfuhr ich, daß Tony schon tot war.«

»Was hat Ihr Bruder mit den Briefen gemacht?«

»Er hat sie verkauft.«

»An wen?«

»An Miss Hayden.«

»Aber Miss Hayden hat nicht alle Briefe bekommen, nicht wahr?« fragte ich.

»Nein, mein Bruder hat zwei davon zurückbehalten.«

»Und was hat er mit diesen beiden getan?«

Sie sah mir gerade ins Gesicht. »Er hat sie Ihnen verkauft -für hundert Dollar.«

Diesmal war es Nora, die von ihrem Stuhl emporfuhr. »Dieser schmutzige kleine Gauner!«

Gordon zog sie zurück, und ich konnte sehen, daß er ebenso überrascht war wie die andern. Er hatte vermutlich überhaupt nicht gewußt, daß diese Briefe existierten.

Ich zog die Briefe aus der Tasche. »Sind das dieselben, die Ihr Bruder Ihnen für mich gegeben hat?«

Anna sah sie an. »Ja, sie sind es.«

»Das ist alles, Anna. Ich danke Ihnen.« Anna erhob sich und ging zur Tür. In der offenen Tür blieb sie noch eine Sekunde stehen und blickte zurück, dann schloß sich die Tür hinter ihr.

»Ich würde gern einen Absatz aus einem dieser Briefe hier vorlesen«, sagte ich und las den letzten Absatz aus Noras Brief vor, ohne die Zustimmung des Richters abzuwarten.

»Du hast mir nicht gesagt, daß du ihn heiraten willst, Mutter«, rief Dani. »Du hast es mir nicht gesagt!«

»Sei still, Dani.« Die Bewährungshelferin legte die Hand auf Danis Arm.

Gordon war schon wieder aufgestanden. »Ich beantrage, daß die gesamte Aussage dieser Frau und der Auszug aus dem Brief als unerheblich und unwesentlich aus dem Protokoll gestrichen werden!«

»Genehmigt«, sagte der Richter gleichgültig. »Die Streichung ist hiermit angeordnet.« Er sah mich an. »Haben Sie weitere Überraschungen, Colonel Carey?«

»Jawohl, Euer Ehren. Ich möchte einige Fragen an Miss Hayden stellen.«

Gordon schnellte hoch. »Ich erhebe Einspruch, Euer Ehren.«

»Abgelehnt.«

»Dann ersuche ich um eine kurze Pause, um mich mit meiner Klientin zu besprechen«, sagte Gordon.

Der Richter beugte sich über sein Pult und sah herab auf Gordon. »Sie haben anscheinend einen Überfluß an Klienten bei dieser Verhandlung, Mister Gordon. Von welcher Ihrer Klientinnen sprechen Sie?«

Gordon wurde rot. »Von Miss Hayden, Euer Ehren.«

Der Richter nickte. Er klopfte mit seinem Hammer auf das Pult. »Das Gericht setzt die Verhandlung für fünfzehn Minuten aus.«

Wir erhoben uns alle, als er den Saal verließ. Miss Spicer brachte Dani in das Wartezimmer für Mädchen. Kaum hatte sie die Tür hinter ihr geschlossen, wandte sich Gordon zu mir.

Seine Stimme war gereizt und scharf. »Was, zum Teufel, wollen Sie tun, Luke?«

»Ihre Arbeit, Rechtsanwalt Gordon«, sagte ich. »Ich versuche, meine Tochter zu verteidigen.«

»Sie sind verrückt, Luke. Sie machen alles nur noch schlimmer für sie!«

»Was kann noch schlimmer werden? Der Richter ist entschlossen, sie wegzuschicken.«

»Das wissen Sie noch nicht. Er hat seine Entscheidung noch nicht gefällt. Und wenn er gegen uns entscheidet, werden wir morgen Antrag auf Wiederaufnahme stellen.«

»Und was würde das nützen?« fragte ich. »Dani bleibt eingesperrt. Warum fürchten Sie sich so sehr davor, daß ich die Wahrheit herausbringe? Oder sind Sie mit in die saubere Geschichte verwickelt?«

»In welche.?«

Ich erkannte, daß er wirklich ganz überrascht war. »Nora hatte Angst, ich könne zufällig über die Wahrheit stolpern und aufdecken, was in jener Nacht tatsächlich geschehen ist. Deshalb hat sie mir von Coriano eine Falle stellen lassen, als ich mir die Briefe holen wollte.«

»Eine Falle? Ihnen?«

Ich nahm die Bilder aus der Tasche, zeigte sie ihm und erklärte ihm, was vorgefallen war. Er war blaß, als ich sie wieder in meine Tasche schob und zu ihm sagte: »Nora hat mich gewarnt, ich solle mich nicht einmischen. Andernfalls werde sie die Bil-

der meiner Frau schicken.«

»Ich hätte sie dir niemals geben sollen«, zischte Nora wütend. »Ich muß ja völlig verrückt gewesen sein!«

Jetzt war aber auch Gordon zornig. Er faßte sie ziemlich grob am Arm und zog sie fort.

Ich beobachtete sie, wie sie an das andere Ende des Saales gingen. Ich hörte sie flüstern, konnte aber nicht verstehen, was sie sagten. Ich setzte mich und griff nach einem Glas Wasser. Ich hätte gern eine Zigarette geraucht, wußte aber nicht, ob das Rauchen hier gestattet war.

»Sie haben Ihre Tochter sehr aufgeregt, Colonel«, sagte Dr. Weidman.

Ich sah auf. In seinem Blick war etwas wie echtes Mitgefühl. Ich trank das Wasser. »Es ist besser, sie regt sich jetzt auf, Doktor, als wenn wir versuchen müßten, den Schaden wiedergutzumachen, den ihr drei Jahre Erziehungsheim antun.«

Weidman schwieg. Ich griff nach einer Zigarette und zündete sie an.

Zum Teufel mit allen Vorschriften. Ich fühlte, wie meine Hand zitterte.

Die alte Dame legte plötzlich ihre Hand auf die meine. Ihre Stimme war so sanft und weich wie ihre Berührung. »Ich hoffe, du weißt, was du tust, Luke.«

Ich sah sie an. Offenbar war sie die einzige von uns, die ihre Vernunft behalten hatte. Ich erwiderte ihren Händedruck. »Ich hoffe es«, sagte ich.

Mit einem Male wünschte ich mir, Elizabeth wäre hier. Sie würde wissen, was ich zu tun hatte. Sie würde imstande sein, die plötzlichen Zweifel und Befürchtungen, die in mir aufstiegen, zu beruhigen. Vielleicht hatte Gordon recht. Vielleicht richtete ich mehr Schaden an, als ich Gutes tat. Ich wußte es nicht; ich konnte mich nicht erinnern, mich jemals so einsam gefühlt zu haben.

Die Tür des Richterzimmers öffnete sich, und der Richter betrat den Saal. Wir standen auf, bis er uns mit seinem Hammer das Zeichen gab, uns wieder zu setzen. Gordon und Nora nahmen ihre Plätze am Tisch ein. Ich sah, daß Gordons Gesicht noch gerötet und zornig war.

»Der Gerichtsdiener soll das Kind holen«, sagte der Richter.

Der Beamte ging hinüber zu dem Warteraum für Mädchen und klopfte an die Tür. Wenige Sekunden darauf kamen Dani und die Bewährungshelferin wieder herein.

Die blauen Schatten unter Danis Augen schienen mir noch tiefer geworden zu sein. Ich sah, daß sie wieder geweint hatte. Als sie an mir vorbei auf ihren Platz ging, blickte sie mich nicht an. »Sie können fortfahren, Colonel Carey«, sagte der Richter.

Noch ehe ich etwas sagen konnte, hatte sich Gordon erhoben. »Ich muß nochmals gegen dieses Vorgehen protestieren, Euer Ehren. Es ist absolut gesetzwidrig und könnte, wenn es fortgesetzt werden darf, zu Beschwerden gegen den Gerichtshof wegen Voreingenommenheit und Vorurteils führen.«

Richter Murphys Augen waren plötzlich kalt.

»Ist das eine Drohung gegen diesen Gerichtshof, Rechtsanwalt Gordon?«

»Nein, Euer Ehren. Ich habe lediglich eine als gesetzlich geltende Möglichkeit erwähnt.«

»Das Gericht respektiert die Meinung eines erfahrenen Anwalts«, sagte der Richter. Seine Stimme klang noch immer sehr frostig. »Es weiß seine Vorsorglichkeit zu schätzen. Aber das Gericht wünscht folgendes klarzustellen: Da, wo Sie ihm Vorurteil und Voreingenommenheit zugunsten der Jugendlichen vorwerfen, erfüllt es lediglich seine Aufgabe. Dem Gesetz entsprechend ist es die erklärte Pflicht dieses Gerichts, jeden Jugendlichen, der vor ihm erscheint, mit allen Mitteln zu schützen.«

Gordon setzte sich schweigend hin. Der Richter sah mich an.

»Sie können fortfahren, Colonel.«

Ich erhob mich von meinem Sitz. »Ich würde gern Miss Hayden befragen, Euer Ehren.«

»Miss Hayden, würden Sie bitte den Platz neben der Richterbank einnehmen«, sagte der Richter und deutete auf denselben Stuhl, auf dem Anna gesessen hatte.

Nora sah Gordon einen Augenblick an. Er nickte. Sie stand auf und ging auf den angewiesenen Platz zu. Der Schreiber trat zu ihr und vereidigte sie. Nora setzte sich und blickte mich an. Jetzt war ihr Gesicht ruhig und gelassen, fast als sei es aus einem der Marmorblöcke in ihrem Atelier gemeißelt.

Ich holte tief Atem. »Nora«, begann ich, »bei der Vernehmung durch den Untersuchungsrichter vor einer Woche hast du ausgesagt, daß du dich mit Tony Riccio an dem Tag, an dem er getötet wurde, gestritten hattest. Kannst du sagen, wann dieser Streit angefangen hat?«

»Daran erinnere ich mich nicht genau.«

»Nur so ungefähr. Um acht Uhr morgens? Um zehn? Oder zwölf? Nachmittags um zwei?«

Ich sah in ihren Augen, daß sie begriff, worauf ich hinauswollte. »Es ist schwierig für mich, eine genaue Zeit anzugeben.«

»Vielleicht kann ich dir helfen, dein Gedächtnis ein wenig aufzufrischen«, sagte ich. »Du warst den ganzen Donnerstag in Los Angeles. Die Western Airlines haben mir die Auskunft gegeben, daß du auf ihrer Passagierliste für die Maschine von Los Angeles gebucht hattest, die Freitag nachmittag zehn Minuten nach vier in San Francisco ankam. Wenn man die üblichen Verspätungen durch den Straßenverkehr einrechnet, müßtest du gegen. sagen wir, fünf Uhr zu Hause gewesen sein. Hat der Streit zu diesem Zeitpunkt begonnen?«

Jetzt wurden ihre Augen kalt und zornig. »Ungefähr, ja.«

»Also hat der Streit, von dem du ausgesagt hast, er habe sich

durch den ganzen Tag hingezogen, ungefähr nachmittags um fünf Uhr begonnen? Ist das richtig?«

»Das ist richtig.«

Wieder fuhr Gordon wie ein Schachtelmännchen in die Höhe. »Euer Ehren«, sagte er, »ich muß denn doch.«

»Mister Gordon!« Die Stimme des Richters klang jetzt sehr ärgerlich. »Bitte enthalten Sie sich jeder weiteren Unterbrechung dieser Verhandlung! Als der Anwalt, der doch wohl die Jugendliche vertritt, sollte Ihnen jede Information willkommen sein, die Licht auf ihre Handlung wirft und zu ihrer Verteidigung beitragen kann. Es kommt mir allmählich so vor, als versuchten Sie, zu vielen Herren zu dienen und zu viele Tatsachen im voraus zu beurteilen. Lassen Sie mich Ihnen wiederholen, daß ich hier der Richter bin und daß Sie jede Gelegenheit haben werden, Ihrer Meinung zu gegebener Zeit Ausdruck zu verleihen. Bitte nehmen Sie Ihren Platz wieder ein, Mister Gordon!«

Gordon setzte sich. Sein Gesicht war blaurot vor Wut. Der Richter sah mich wieder an: »Bitte, fahren Sie fort, Colonel Carey.«

»War jemand zu Hause, als du ankamst?« fragte ich.

Zum erstenmal zögerte Nora. »Ich weiß nicht, was du meinst.«

»War jemand von der Dienerschaft zu Hause?«

»Nein, ich glaube nicht.«

»Waren Dani oder Tony Riccio da?«

»Ja.«

»Beide?«

»Beide.«

»Hast du sie gesehen, als du ins Haus kamst?«

»Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich ging direkt ins Atelier. Ich wollte einige Ideen skizzieren, die mir inzwischen gekommen waren, ehe sie mir wieder verlorengingen.« »Um welche Zeit hast du sie dann endlich gesehen?«

Sie blickte mich an. Zum erstenmal sah ich einen bittenden Blick in ihren Augen. Als wollte sie mich beschwören aufzuhören.

»Um welche Zeit?« wiederholte ich kalt.

»Gegen.. .gegen sieben Uhr dreißig.«

»Dann fing der Streit nicht vor sieben Uhr dreißig an, nicht um fünf Uhr?« fragte ich.

Sie sah auf ihre Hände. »Das ist richtig.«

»Du hast bei der Vernehmung durch den Untersuchungsrichter auch gesagt, daß es bei dem Streit mit Riccio um geschäftliche Fragen ging«, sagte ich. »Das war nicht der wahre Grund, oder doch?«

»Nein.«

»Und als du Miss Spicer sagtest, du wüßtest nichts über Danis Verhältnis zu Riccio«, sagte ich, »da hast du ebenfalls nicht die Wahrheit gesagt - oder doch?«

Sie fing stumm zu weinen an, die Tränen sammelten sich auf ihren unteren Augenlidern und rollten ihre Wangen hinunter. Ihre Hände begannen nervös zu zucken. »Nein.«

»Wo hast du sie gefunden?«

»Als ich hinaufging; ich wollte mich zum Abendessen umziehen.«

»Wo, nicht wann! In welchem Zimmer?«

Sie sah nicht auf. »In Ricks Zimmer.«

»Was taten sie?«

»Sie waren.« Jede Spur von Empfindung war aus ihrer Stimme gewichen. Ihre Augen waren stumpf und glasig. »Sie waren im Bett.«

Ich sah sie an. »Warum hast du das nicht beim Verhör gesagt?«

»Alles war ohnedies schlimm genug«, flüsterte sie. »Ich dachte nicht.«

»Du dachtest nicht!« unterbrach ich sie bitter. »Das ist es ja gerade. Du hast gedacht! Du wußtest. Wenn du so viel sagen würdest, so müßtest du bald die ganze Wahrheit sagen. Die ganze Wahrheit über alles, was sich in jener Nacht abspielte.«

»Ich. ich verstehe dich nicht!« sagte sie mit einem verwirrten, ängstlichen Ausdruck in den Augen.

»Du verstehst mich recht gut!« sagte ich brutal. »Ich weiß nicht, wie du Dani dazu gebracht hast, damit einverstanden zu sein, aber du wußtest, wenn du die Wahrheit sagst, so konnte das übrige nicht geheimgehalten werden. Nämlich, daß du diejenige warst, die Tony Riccio erstochen hat, nicht Dani!«

Ich konnte sehen, wie sie vor meinen Augen alt wurde. Ihr Gesicht erstarrte, und auf einmal waren Linien darin, die ich vorher nie gesehen hatte.

Da kam von hinten ein lauter Aufschrei. »Nein, Mutter, nein! Er kann dich nicht zwingen zu sagen, daß du es getan hast!«

Ich drehte mich halb nach Dani um, aber sie war schon aufgesprungen und lief auf ihre Mutter zu. Sie nahm Nora in ihre Arme und drückte sie an sich und hielt sie wie beschützend umschlungen. Nora strömten die Tränen noch über die Wangen, aber Danis Augen waren trocken und blitzten mich zornig und haßerfüllt an. Als sie nun zu mir sprach, schrie sie beinahe.

»Du denkst, du weißt eine Menge! Du kommst nach all den Jahren zurück und bildest dir ein, daß du alles mögliche weißt. Du bist ein Fremder! Nichts weiter als ein Fremder! Du kennst mich überhaupt nicht. Und ich kenne dich nicht. Das einzige, was wir beide voneinander wissen, ist unser gemeinsamer Name!« - Ich sah sie erschrocken an. »Aber Dani.«

»Ich habe dir die Wahrheit gesagt!« rief sie. »Aber du wolltest mir nicht glauben. Ich habe dir gesagt, daß es ein Zufall war, daß ich es nicht beabsichtigt hatte, aber du hast mir nicht geglaubt. Du hast meine Mutter so sehr gehaßt, daß du einfach nichts davon hören wolltest. Nun, wenn du jetzt durchaus die Wahrheit hören willst, dann höre nur zu: Nicht ich war es, die Rick in jener Nacht im Atelier töten wollte. Es war meine Mutter!«

Ich sah mich im Sitzungssaal um. Es war tödlich still. Alle Blik-ke hingen an Dani. Selbst der Gerichtsstenograph, der den ganzen Morgen ein undurchdringliches Gesicht gemacht hatte, während seine Augen blicklos in den Saal starrten und seine Finger blitzschnell über die Tasten der Maschine flogen, sah jetzt Dani an.

»Wir waren in Ricks Bett, als Mutter uns fand«, sagte sie, und ihre Stimme klang nun ruhig und nüchtern. »Wir wußten, daß es schon spät war, aber ich wollte nicht von ihm weggehen. Er wollte mich wegschicken, aber ich wollte nicht. Wir hatten nichts gehört, deshalb glaubten wir, wir seien noch allein. Wir waren beinahe zwei Tage im Bett gewesen, außer zu den Mahlzeiten, die ganze Zeit, seit die Dienstboten weggegangen waren. Aber ich wollte noch immer nicht weg.«

Jetzt trat ein trotziger Blick in ihre Augen; ich hatte ihn schon kennengelernt. »Willst du gern wissen, was wir taten, als Mutter uns fand, Daddy?« fragte sie. »Willst du?«

Ich konnte nichts sagen.

»Wir waren beide nackt im Bett. Er lag unten, und ich war auf Händen und Knien über ihm. Weißt du, was ich meine, Daddy? Ich versuchte, es so zu machen, daß er mich wieder haben wollte und ich nicht weggehen mußte.«

Mir wurde hundeelend zumute. Mein Gesicht mußte es ihr verraten haben, denn jetzt kam der Trotz auch in ihre Stimme.

»Du weißt doch, was ich meine, Daddy, nicht wahr?« sagte sie ruhig. »Aber du möchtest es gar nicht ausdenken. Nicht einmal ganz für dich allein. Du möchtest immer noch denken, daß ich dasselbe kleine Mädchen bin, das du vor sechs Jahren verlassen hast. Nun - ich bin es nicht! Die Vorstellung gefällt dir nicht, daß ich über solche Dinge Bescheid weiß - über alle möglichen Arten, wie man es tun kann. Es gefällt dir nicht, daß dein kleines Mädchen solche Dinge tut. Aber ich habe sie getan.«

Ihre Stimme wurde allmählich etwas lauter, und in ihren Augen schimmerten unterdrückte Tränen. »Jawohl, ich habe sie getan. Noch und noch und noch! Sooft ich nur konnte.«

Sie sah mir fest in die Augen. Immer schlimmer würgte es in mir.

»Das hörst du wohl nicht gern, Daddy - nicht wahr?«

Ich gab keine Antwort. Ich konnte nicht.

»Mutter kam durch dein altes Zimmer zu uns herein. Erinnerst du dich, wie du früher von deinem Zimmer in meins kamst? Denselben Weg kam sie. Nur daß es jetzt Ricks Zimmer ist. Ricks Zimmer war. Sie riß mich vom Bett und zerrte mich den Flur entlang in mein Zimmer und schloß mich ein. Ich weinte. Ich sagte ihr, daß Rick und ich heiraten wollten, aber sie hörte mich nicht an. Ich habe sie nie zuvor so zornig gesehen.

Dann ging sie hinunter ins Atelier, und ich blieb auf meinem Bett liegen, bis ich hörte, daß Ricks Tür ging. Ich hörte seine Schritte auf der Treppe, und ich wußte, daß er hinunterging, um mit ihr zu sprechen. Ich zog mich an, so schnell ich konnte, und verließ mein Zimmer durch das Bad, das Mutter vergessen hatte abzuschließen. Ich schlich mich ganz leise hinunter. Ich hörte Charles und Violet in der Küche, auf der andern Seite des Hauses. Dann stahl ich mich durch die Halle und den Gang und blieb vor der Tür des Ateliers stehen und horchte. Ich verstand beinahe jedes Wort, das sie sprachen.

Ich hörte, wie Mutter zu Rick sagte, sie gebe ihm genau eine Stunde Zeit, bis er aus dem Haus sei. Dann sagte Rick, er habe genug mit uns beiden erlebt, um aller Welt zu erzählen, was für Huren wir wären. Mutter sagte, wenn er nicht schleunigst ver-schwände, würde er im Zuchthaus enden wegen noto.« - sie stolperte über das Wort - »notorischer Notzucht.«

Eine leichte Unruhe ging durch den Saal.

»Dann hörte ich Mutter lachen und sagen, daß sie von ihm nichts anderes erwartet habe. und wieviel er verlange. Tony lachte auch. Nun kämen sie der Sache schon näher, sagte er. Fünf zigtausend Dollar. Mutter erwiderte, er sei wohl ganz verrückt. Zehntausend würde sie ihm geben und keinen Cent mehr. Also fünfundzwanzig, sagte er. Gut. Gemacht, sagte Mutter. Und da geriet ich außer mir.«

Die Tränen stürzten ihr in die Augen und liefen ihre Wangen hinab. »Ich wurde rasend! Ich konnte nichts anderes denken, als daß sie es schon wieder so machte. Genau das, was sie mit jedem machte, den ich gern hatte: Sie schickte Tony fort!

Ich stieß die Tür auf und schrie sie an: >Das darfst du nichtc, schrie ich. >Du darfst ihn nicht fortschicken! < Mutter sah mich nur an und befahl mir, wieder hinaufzugehen in mein Zimmer. Ich sah Rick an. Er sagte, ich solle tun, was meine Mutter mir befahl. Da sah ich den Meißel auf dem Tisch neben der Tür. Ich nahm ihn und rannte auf Mutter zu. >Du darfst ihn nicht fortschickem, schrie ich, >eher bring ich dich um!<

Ich hob den Arm und stieß nach Mutter, aber wie aus dem Boden gewachsen war Rick plötzlich zwischen uns, und der Meißel steckte in seinem Bauch. Er stand da und drückte die Hände gegen den Bauch. >Herr im Himmel, Dani, warum hast du so etwas Idiotisches getan?< sagte er. Dann sah ich, wie das Blut zwischen seinen Fingern hervorquoll, und rannte schreiend an ihm vorbei zu Mutter. >Das wollte ich nicht, Mutter<, schrie ich, >das wollte ich nicht, Mami!<

>Ich weiß, du wolltest es nicht, mein Kleines«, sagte sie zärtlich, immer wieder. >Ich weiß, du wolltest es nicht!<

Dann sagte sie, wir wollten allen Leuten erzählen, daß er ihr weh getan habe und daß ich es getan hätte, um sie zu beschüt-zen. Dann brauche auch kein Mensch zu erfahren, was zwischen Tony und mir gewesen war. Sie wiederholte es immer wieder, um ganz sicher zu sein, daß ich es auch genauso sagen würde. Dann schlug ich die Hände vors Gesicht und schrie, und dann ging die Tür auf, und Charles kam herein.«

Sie klammerten sich aneinander, jetzt weinten sie beide; ich starrte sie an. Es war beinahe, als sähe ich sie auf einem Stereofoto ohne die Brille: wie zwei getrennte Bilder derselben Person. Sie sahen so gleich aus, dieselben Tränen rollten ihnen über die Wangen. Mutter und Tochter. Ganz gleich. Aus einem Holz geschnitzt. Ich sah sie an wie hypnotisiert. Dann plötzlich schien der Bann gebrochen. Denn nun waren Danis Augen trocken. Nur Nora weinte noch immer.

»Nun weißt du die Wahrheit, Daddy«, sagte Dani ruhig. »Bist du jetzt zufrieden?«

Ich sah ihr tief in die Augen. Ich weiß nicht, was ich darin las

- aber der Druck in meinem Innern löste sich. Nun wußte ich die Wahrheit. Noch verstand ich nicht, wieso ich die Wahrheit wußte, denn Dani hatte sie nicht ausgesprochen, aber darauf kam es jetzt nicht an. Denn dies war so, wie es Dani haben wollte. Weil es auch einfach so war, wie es sein mußte. Und weil ich in tiefster Seele wußte, daß sie keinen Mord begangen hatte.

Der Richter ordnete eine Unterbrechung von zehn Minuten an. Als er zurückkam, saßen wir alle still da, in Erwartung seiner Entscheidung.

»Das Gericht hat entschieden, daß der Staat Kalifornien die Vormundschaft über die Jugendliche Danielle Nora Carey behält, wie die Bewährungsbehörde dies vorgeschlagen hat. Deshalb wird sie der Obhut des Kalifornischen Jugendamtes übergeben und ist von ihrer Bewährungshelferin in die Nordkalifornische Aufnahmezentrale in Perkins einzuweisen, für die übliche Zeit von sechs Wochen, nach der eine genaue Diagnose möglich ist. Nach Ablauf dieser Zeit und nach Zustimmung dieser Amtsstelle wird sie in das Los-Guilicos-Erziehungsheim in Santa Rosa überwiesen für die Dauer von mindestens sechs Monaten, die zu ihrer Wiederherstellung unerläßlich nötig scheinen. Danach wird das Gericht den Antrag in Erwägung ziehen, sie der Fürsorge ihrer Großmutter mütterlicherseits anzuvertrauen, den es gegenwärtig zu seinem Bedauern ablehnen muß. Die Jugendliche Danielle Nora Carey wird hiermit zum Mündel des Staates Kalifornien erklärt, bis sie das gesetzliche Alter von achtzehn Jahren erreicht oder aber durch dieses Gericht aus der Vormundschaft entlassen wird. Die Eltern der Jugendlichen werden hierdurch aufgefordert, sich der Bewährungsabteilung gegenüber zu einer monatlichen Zahlung von vierzig Dollar zu verpflichten, solange die Jugendliche das Mündel des Staates bleibt.«

Der Richter klopfte mit seinem Hammer auf, dann wandte er sich an Dani. »Los Guilicos, Danielle, ist eine sehr gute Schule, und wenn du dich dort gut führst und beweisen kannst, daß du ernstlich die Absicht hast, dich zu bessern, wirst du nichts zu befürchten haben. Wenn du das Deine dazu beiträgst mitzuhelfen, werden sie dir ebenfalls helfen und dich so bald wie möglich heimschicken.«

Wir standen alle auf, während er majestätisch an uns vorbei in sein Zimmer schritt.

»Sie können Dani morgen besuchen«, sagte Miss Spicer, als sie Dani zur Tür führte und diese öffnete. Dani schaute einen Augenblick zu uns zurück, dann ging sie hinaus. Die Tür schloß sich hinter ihr.

Nora begann wieder zu weinen. Doktor Weidman legte den Arm um sie, und während sie hinausgingen, lehnte sie den Kopf an seine Schulter.

Gordon kam zu mir. Er lächelte. »Nun, es ist schließlich recht glimpflich abgegangen!«

Ich sah ihn betroffen an.

Er erwiderte scharf meinen Blick: »Er hätte sie für die ganze Zeit unter staatliche Obhut stellen können, bis sie achtzehn ist. So wie sein Urteil lautet, besteht gute Aussicht, daß sie in sechs bis acht Monaten wieder herauskommt.«

Ich antwortete nicht. Er folgte Nora.

Da faßte eine alte Hand mit herzlichem Druck die meine. Die alte Dame sah mir in die Augen. Ihr Blick war voll Güte und Verständnis. »Ich danke dir für alles, was du für Dani zu tun versucht hast«, sagte sie liebevoll. »Ich werde mein Bestes tun, sie gut zu hüten, wenn sie nach Hause kommt.«

»Davon bin ich überzeugt, Mrs. Hayden. Es tut mir leid. Das mit Nora, meine ich.«

»Jetzt ist alles vorbei, Luke. Wir haben alle getan, was wir konnten. Leb wohl. Und. viel Glück!«

»Danke.«

Sie ging hinaus in den Korridor. Ich sah nach der Treppe. Sie waren alle verschwunden. Ich zögerte einen Augenblick, dann ging ich durch den Korridor und die Halle zum Zimmer der Bewährungshelferinnen für Mädchen.

Miss Spicer saß vor ihrem Schreibtisch, als ich eintrat.

»Ich muß noch heute nach Chicago zurück«, sagte ich. »Könnte ich nicht heute statt morgen Dani adieu sagen?«

»Ich werde nachsehen, ob Dani Sie sprechen will«, sagte sie höflich und ging hinaus.

Ich hatte gerade Zeit, mir eine Zigarette anzuzünden, als sie auch schon mit Dani zurückkam. »Sie können hier mit ihr sprechen«, sagte sie. »Ich werde draußen warten.«

Als ich die Tür hinter ihr geschlossen hatte, streckte ich Dani die Arme hin, und meine Tochter schmiegte sich hinein. »Es. es tut mir so leid, Daddy«, sagte sie.

»Schon gut, mein Kleines«, sagte ich zärtlich. »Ich habe lange gebraucht, bis ich dich verstanden habe. Aber jetzt verstehe ich dich.«

Sie sah mir ins Gesicht. »Du kannst sie doch nicht so sehr hassen, daß du sie in die Gaskammer schicken möchtest, nicht wahr, Daddy?«

»Nein, Dani. Ich hasse sie jetzt überhaupt nicht. Nicht mehr. Ich habe sie lange gefürchtet. Aber jetzt habe ich nur Mitleid mit ihr.«

»Sie muß immer jemanden haben, der sie mehr liebt als alle andern Menschen. Aber so sind alle Menschen, Daddy. Du hast deine Frau, die dich mehr liebt als alles andere.«

»Und deine Mutter hat dich, Dani.«

Mit einemmal leuchteten ihre Augen auf. »Vielleicht kannst du mich eines Tages einmal besuchen! Oder ich kann zu dir kommen und dich besuchen!«

»Vielleicht. eines Tages«, sagte ich.

Die Tür ging auf. »Es tut mir leid, Dani. Aber die Zeit ist um.«

Dani legte die Arme um meinen Hals und küßte mich. »Wirst du mir schreiben, Daddy?«

Ich küßte sie auf die Stirn. »Ich werde dir schreiben, mein Kleines.«

Ich sah ihr nach, wie sie die Halle entlangging; ihre winzig dünnen Absätze klapperten metallisch auf dem Fußboden. Dann bogen sie um die Ecke, und Dani war fort.

Lebe wohl, Dani. Lebe wohl, mein kleines, rosiges Baby. Ich erinnere mich des Tags, da du geboren wurdest. Ich erinnere mich, wie ich durch das Glasfenster schaute und du dein kleines Gesichtchen verzogst und zu schreien anfingst, und wie es mich innerlich fast zerriß, weil ich wußte, daß du mein warst und daß ich dein war und daß du das wunderbarste Baby auf der ganzen Welt warst.

Wohin die Liebe auch führt. Sie ist mit dir.

Am selben Abend um neun Uhr dreißig rollte das große Flugzeug auf der Landebahn des Flughafens O’Hare in Chicago aus. Kühle Luft strömte in die Kabine, als die Tür aufsprang. Ich war als erster draußen. Ich hatte keine Zeit, höflich zu sein. Ich wußte nicht genau, ob Elizabeth mein Telegramm bekommen hatte. Ich rannte fast über das Feld, hinüber zu dem unvollendeten Empfangsgebäude. Zuerst sah ich sie nicht - es waren so viele Menschen da. Aber dann sah ich sie. Sie winkte und weinte und lächelte, alles auf einmal.

Ich lief zu ihr, und die Welt hörte auf zu beben, und alle meine Schmerzen waren ausgelöscht. Ich hielt sie fest an mich gedrückt. »Ich liebe dich! Ich habe dich so vermißt!« sagte ich. »Du hast mir so gefehlt. Ich liebe dich!«

Wir gingen hinüber, holten meine Handkoffer und gingen hinaus zum Wagen. Ich öffnete die hintere Tür, um mein Gepäck hineinzulegen, als ich einen andern Handkoffer darin stehen sah. Ich drehte mich um.

Elizabeth sah mich an und lachte. »Ach, hab’ ich’s dir noch nicht gesagt? Wir müssen von hier direkt in die Klinik.«

»Wie? Du meinst. jetzt?«

»Ja, jetzt.«

»Warum hast du mir das nicht gleich gesagt?« schrie ich. »Statt hier so viel Zeit zu verschwenden. Schnell! Steig ein!«

»Du brauchst nichts zu überstürzen. Es ist noch Zeit. Die Wehen kommen nur ungefähr jede Stunde einmal.« Sie sah hinauf zu der großen Uhr über der Einfahrt zum Parkplatz. »Tatsächlich. jetzt müßte es gerade wieder soweit sein.«

»Dann steh nicht hier herum!« rief ich. »Schnell, steig doch ein!« Sie hatte sich kaum gesetzt, als die Wehen wiederkamen. Ich sah, wie ihr Gesicht weiß und gequält wurde, aber es ging vorüber, und ihr Gesicht bekam wieder Farbe. »Siehst du«, sagte sie, »es war gar nicht so schlimm.«

Ich weiß nicht mehr, wie schnell wir vor dem St.-Joseph-Krankenhaus waren. Ohne Zwischenfall. Die Polizisten waren vermutlich gerade alle zu Tisch gegangen.

Wir gingen hinein. Elizabeth wurde sofort auf die Station gebracht. Fünfzehn Minuten später lag sie auf der Bahre, und sie fuhren sie hinauf in den Entbindungsraum.

Ich stand an der Tür des Aufzugs und sah auf sie hinunter. Jetzt war sie sehr blaß, aber sie lächelte. »Mach nicht solch besorgtes Gesicht«, sagte sie. »Wir Schwedinnen kriegen keine Zustände, wir kriegen einfach Babys.«

Ich beugte mich über sie und küßte sie. »Die Hauptsache ist, daß dir nichts geschieht!«

Die Türen des Aufzugs öffneten sich. Die Schwester schob sie hinein. »Mir geschieht schon nichts. Aber paß du nur gut auf dich auf. Daß du mir jetzt keinen Kummer machst, hörst du?«

»Ich höre«, sagte ich. Die Türen schlossen sich.

Ich ging den Korridor entlang bis zu dem Zimmer, das den schönen Namen »Der Klub« hatte. Es waren schon mehrere wartende Ehemänner da. Sie sahen auf, als ich in die Tür trat. Ich warf einen Blick auf die Runde und ging wieder hinaus. Ich hatte keine Lust, mich zu ihnen zu setzen. Sie sahen scheußlich aus. Ich ging hinunter und kaufte mir noch ein Päckchen Zigaretten, zündete eine an und zog ein paarmal daran. Dann machte ich sie wieder aus und ging den Korridor hinunter.

Ich stieg wieder die Treppe hinauf zum »Klub«. Selbst diese traurigen Burschen waren besser als niemand.

Als ich mich setzte, sagte mein Nachbar: »Ich bin jetzt schon neun Stunden hier.«

»Oooh.«, sagte ich. Ich steckte mir eine neue Zigarette an. Ich sah mich im Zimmer um. An den Wänden hingen Karikaturen. >Hier ist noch kein Vater abhanden gekommene Sehr komisch, wirklich!

Jetzt erschien eine Schwester in der Tür, und als wären wir Marionetten, drehten sich alle unsere Köpfe zu ihr.

»Mister Carey?« fragte sie. - »Das bin ich«, sagte ich und stand auf. Mir wurde ganz wirr im Kopf.

»Hat der Mensch vielleicht ein Glück!« hörte ich den Mann neben mir murmeln. »Ich sitze neun Stunden hier - und er ist erst vor fünf Minuten gekommen!«

Auch die Schwester hörte, was er sagte, denn sie lächelte, als sie auf mich zukam. »Das stimmt«, sagte sie und nickte. »Sie haben sehr viel Glück, Mister Carey!«