»Ich kann’s Ihnen wirklich nicht sagen. Er hat damals sehr viel getrunken. Wir sind wegen seines unmäßigen Trinkens geschieden worden. Und in den darauffolgenden Jahren scheint es noch schlimmer geworden zu sein. Er trank mehr denn je und lebte in La Jolla auf einem Boot, mit dem er Charterfahrten machte. Ich glaube, es war ihm mit der Zeit einfach zu unbequem, nach San Francisco zu kommen, um seine Tochter zu besuchen.«

»Ach so«, sagte Marian. »Und was haben Sie Dani gesagt?«

»Daß ihr Vater beschäftigt sei und nicht von seiner Arbeit abkommen könne. Was hätte ich sonst sagen sollen?«

»Hat Dani jemals von einem Jungen oder von mehreren Jungen gesprochen, für die sie sich besonders interessierte?«

Nora schüttelte den Kopf. »Nein, ich glaube nicht.«

»Oder von einem Mann?«

Marian hatte den Eindruck, daß Nora etwas blasser wurde. »Worauf wollen Sie hinaus, Miss Spicer?«

Marian beobachtete sie scharf. »Ich versuche herauszufinden, zu wem Dani sexuelle Beziehungen hatte.«

»Mein Gott!« Nora schwieg einen Augenblick. »Sie ist doch nicht.«

»Nein, in andern Umständen ist sie nicht.«

Nora seufzte erleichtert. Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Wenigstens dafür kann man noch dankbar sein.«

Marian sah eine Träne in Noras Augenwinkel. Zum erstenmal verspürte sie etwas wie Mitleid mit der Frau ihr gegenüber. »Meinen Sie, es könnte Mister Riccio gewesen sein?« fragte sie.

»Nein«, sagte Nora scharf. Dann zögerte sie. »Ich. ich weiß überhaupt nicht, was ich darüber denken soll. Die Tatsache selbst ist ein ziemlicher Schock.« »Das ist sie immer.«

Noras Stimme wurde wieder normal. »Wahrscheinlich. Es ist jedenfalls immer überraschend, wenn man entdeckt, daß ein Kind so viel erwachsener ist, als man angenommen hat.«

Das hat sie auf eine gute Formel gebracht, dachte Marian. Keine Hysterie, keine Verurteilung, kein Tadel. einfach >so viel erwachsener..

»War sie sehr oft mit Mister Riccio allein?«

»Ich glaube, ja. Schließlich wohnte er ja hier.«

»Aber Sie sind nie auf den Gedanken gekommen, daß eine derartige Beziehung zwischen beiden bestehen könnte?«

»Nein«, sagte Nora bestimmt. »Nicht im geringsten.« Sie sah Marian an, etwas wie Angst lag in ihrem Blick. »Hat. hat Dani etwas dergleichen gesagt?«

Marian schüttelte den Kopf. »Nein. Dani will überhaupt nichts sagen. Das ist einer der Gründe, warum das Ganze so schwierig ist. Dani will über nichts sprechen.«

Noras Gesicht bekam wieder ein wenig Farbe. »Noch etwas Tee, Miss Spicer?« fragte sie. Ihre Stimme war wieder vollendet höflich.

»Nein, besten Dank.«

Nora goß sich selbst ein. »Was meinen Sie. was wird mit Dani geschehen?«

»Das ist schwer zu sagen. Es hängt ganz und gar vom Gericht ab. Momentan sieht es so aus, als würde man sie nach Perkins schicken - das ist die nordkalifornische Zentrale zur Beobachtung Jugendlicher. Die Psychiater hier bringen nicht genug aus ihr heraus, um einen Rat geben zu können.«

»Aber Dani ist doch keineswegs geisteskrank!«

»Natürlich nicht«, sagte Marian schnell. »Aber sie hat einen Menschen getötet. Das könnte immerhin ein Hinweis auf Paranoia sein.« Sie beobachtete Nora scharf.

»Das ist doch lächerlich! Dani ist ebensoviel oder ebensowenig geisteskrank wie ich!«

Hier könnte die Wahrheit liegen, dachte Marian bei sich. Aber gleich darauf empfand sie etwas wie Schuldgefühl. Es kam ihr nicht zu, solche Urteile zu fällen.

»Ich werde ihr einige Ärzte schicken, die ich selbst für gut halte«, sagte Nora mürrisch.

»Das ist Ihr Recht, Miss Hayden. Und vielleicht ist es ganz nützlich. Vielleicht gewinnt ein Arzt Ihrer Wahl eher Danis Vertrauen.«

Nora stellte ihre Tasse hin. Marian wußte, die Unterhaltung war beendet. »Kann ich Ihnen noch irgendwelche andern Auskünfte geben, Miss Spicer?«

Marian schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, Miss Hayden.«

Sie wollte aufstehen. »Da wäre nur noch eines.«

»Ja, bitte?«

»Kann ich Danis Zimmer sehen?«

Nora nickte. »Ich werde es Ihnen von Charles zeigen lassen.«

Marian folgte dem Diener die geschwungene Marmortreppe hinauf. »Wie geht es Miss Dani, Madam?« fragte Charles über seine Schulter.

»Sie ist gesund.«

Sie langten oben an und gingen durch den Vorraum. »Dies ist Miss Danis Zimmer«, sagte Charles, vor einer Tür stehenbleibend. Er öffnete sie, und Marian trat ein. Als Charles ihr folgen wollte, kam Noras Stimme durch die Haussprechanlage an der Wand: »Charles!«

»Bitte, Madam?«

»Wollen Sie Violet sagen, sie soll Miss Spicer Danis Zimmer zeigen? Ich habe einen Auftrag für Sie.«

»Sofort, Madam.« Der Diener ging zur Tür, als auch schon das farbige Mädchen erschien. »Hast du gehört, was Madam sagte?«

Violet nickte. »Ja, natürlich.«

Charles verbeugte sich vor Marian und ging. Das Mädchen trat vollends ein und schloß die Tür hinter sich. Marian stand in der Mitte des Zimmers und sah sich um.

Es war ein schöner Raum. An der gegenüberliegenden Wand, eine Stufe erhöht, das Bett mit einem von den vier Pfosten getragenen Himmel. Eine Fernsehtruhe mit Radio und Plattenspieler an der andern Wand. Marian brauchte nicht hinzusehen, um zu wissen, daß die Geräte vom Kopfende des Bettes aus bedient werden konnten.

Die Vorhänge waren aus hellgelbem Chintz, die Bettdecke vom gleichen Material. Am Fenster ein Schreibtisch, darauf eine Reiseschreibmaschine und einige Bücher. An Möbeln sonst noch ein Toilettentisch, eine Kommode und mehrere Stühle.

Marian wandte sich an das Mädchen. »Hatte Dani nicht ein paar Bilder oder Illustrationen an der Wand?«

Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Nein, Madam. Miss Dani machte sich nichts aus solchen Sachen.«

»Was ist dort drin?« Marian deutete auf eine Doppeltür in der gegenüberliegenden Wand.

»Das ist der Kleiderschrank. Ihr eigenes Badezimmer ist da drüben die andere Tür.«

Marian öffnete den Schrank. Im gleichen Augenblick ging das Licht darin an. Die Kleider hingen ordentlich aufgereiht, die Schuhe standen auf einem drehbaren Ständer. Sie schloß die Tür und hörte das Klicken, als das Innenlicht wieder ausging.

»Wo hat Miss Dani ihre persönlichen Dinge?«

»Drüben im Toilettentisch.«

Marian öffnete das oberste Fach und sah hinein. Auch hier war alles gut geordnet - Taschentücher und Strümpfe in beson-deren Behältern. Ebenso sah es in den andern Fächern aus. Büstenhalter, Schlüpf fer, Unterröcke. Alles sauber zusammengelegt.

Marian ging zum Schreibtisch und zog eine Schublade auf. Bleistifte, Federn, Papier, alles in bester Ordnung. Wo war hier die Unordnung des normalen Teenagers? Das Zimmer wirkte nicht wie das eines halben Kindes. Sie sah das Mädchen an. »Hält Dani ihr Zimmer immer so?«

Die Zofe nickte. »Ja, Madam. Miss Dani ist sehr ordentlich. Sie mag’s nicht, wenn ihre Sachen herumliegen.«

»Was hat sie da drin?« fragte Marian und wies auf die Kommode. »Die nennt sie ihre Schatztruhe. Sie hält sie immer verschlossen, Madam.«

»Haben Sie einen Schlüssel?« Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Hat ihre Mutter einen?«

»Nein, Madam. Miss Dani hat ihren Schlüssel selbst.«

»Wissen Sie vielleicht, wo er ist?«

Das Mädchen sah Marian einen Augenblick an, dann nickte sie.

»Kann ich ihn bitte haben?«

Violet zögerte. »Das sähe Miss Dani gar nicht gern.«

Marian lächelte. »Gut. Fragen Sie also ihre Mutter.«

Das Mädchen schien noch einen Augenblick zu überlegen, ging dann oben zum Regal am Kopfende des Bettes, steckte die Hand dahinter, holte einen Schlüssel hervor und gab ihn Marian.

Marian schloß die Kommode auf. Hier also waren die Bilder und Fotos. Wenn sie auch nicht an der Wand hingen - Dani hatte sie aufbewahrt. Schnell sah Marian sie durch. Da waren Bilder von ihrem Vater, Vorjahren aufgenommen, noch in Uniform. Und von ihrer Mutter - ein Titelbild der »Life« aus dem Jahr 1944. Mehrere Bilder von ihr selbst allein und mit ihren Eltern. Bilder von einem Boot. Marian konnte den Namen an dem weißen Bug lesen: Dani-Girl.

Das zweite Fach war mit Zeitungsausschnitten über ihre Mutter gefüllt. Dani hatte sie so gut geordnet, daß sie einen chronologischen Bericht von der künstlerischen Karriere ihrer Mutter bildeten.

Die dritte Schublade enthielt ungefähr dasselbe wie die zweite, nur war hier der Gegenstand der Vater. Marian blätterte alles schnell durch. Wieviel Zeit mußte das Kind damit verbracht haben, all dieses Material zusammenzustellen! Vieles ging zurück bis in eine Zeit, in der Dani noch gar nicht geboren war.

Die unterste Schublade schien auf den ersten Blick mit allerlei Kram gefüllt. Ein paar zerbrochene Spielzeuge. Kinderspielzeuge. Ein abgeschabter Teddybär von ausgebleichter Wolle, dem ein Glasauge fehlte. Und ein grünes Lederkästchen. Marian nahm es heraus und öffnete es.

Es enthielt eine einzige Fotografie. Hochglanzpapier. Ein lächelnder, sehr gut aussehender junger Mann. Schräg über eine Ecke des Fotos war mit schwarzer Tusche geschrieben:

Meinem Baby in Liebe! Unterschrieben war es mit Rick.

Als Marian das Foto herausnahm, um es genau zu betrachten, entdeckte sie darunter eine kleine Metall schachtel. Die auffallenden schwarzen Buchstaben darauf sprangen ihr ins Auge:

AMERIKAS ALLERBESTE.

Sie brauchte das Schächtelchen nicht aufzumachen, um zu wissen, was darin war. Sie hatte genug solche Schachteln gesehen. Man bekam sie im ganzen Land in jedem öffentlichen Waschraum, wenn man ein Fünfzigcentstück in einen Automaten warf.

Sally Jennings sah von ihrem Tisch auf, als Dani in das kleine Büro trat. »Setz dich, Dani.« Sie schob ihr ein Päckchen Zigaretten hin. »Ich habe noch ein paar Minuten zu tun. Ich muß nur diesen Bericht fertigmachen.«

Dani nahm eine Zigarette heraus und zündete sie an. Sie sah zu, wie die Feder der Psychologin über das liniierte gelbe Papier flog. Nach ein paar Minuten fand sie es langweilig und blickte aus dem Fenster. Es war spät am Nachmittag. Die grellgelbe Sonne hatte schon ein paar schwach orangene Töne. Plötzlich wünschte sich Dani, draußen zu sein, im Freien.

Welcher Tag war heute eigentlich? Offenbar hatte sie jedes Zeitgefühl verloren. Sie sah auf den Kalender. Mittwoch. Am Samstag war sie gekommen. Also ihr fünfter Tag hier. Sie rückte unruhig auf ihrem Stuhl hin und her. Es kam ihr schon sehr lange vor. Dann schaute sie zum Himmel hinauf. Wie hübsch wäre es, draußen zu sein. Wie sah es wohl auf der Straße aus? Ob viele Leute spazierengingen? Ob viel Verkehr war? Wie hatten sich eigentlich die Bürgersteige beim Gehen an ihren Schuhsohlen angefühlt? Sie wünschte, sie hätte einen Blick auf die Straße werfen können. Aber sie konnte es nicht. Nicht von diesen Räumen aus. Die Fenster waren zu klein und zu hoch oben.

Sie sah wieder auf Miss Jennings. Die schrieb noch immer, mit einer nachdenklichen Falte auf der Stirn. Wie lange sollte sie hier noch sitzen, bis die Psychologin fertig war? Wieder spähte sie nach dem Himmel hinauf. Jetzt schoben sich ganz hoch oben kleine orangene Wölkchen vorbei. Solche Wölkchen hatte sie

einmal in Acapulco gesehen. Am Himmel über den Klippen, wo die Jungens am Abend mit flammenden Fackeln ins Meer sprangen.

Da war ein netter Junge gewesen. Er hatte sie angelacht. Seine weißen Zähne hatten im Dunkeln geblitzt. Und sie hatte zurück-gelächelt. Da war Rick ärgerlich geworden.

»Kokettier nicht so mit diesen Bengels!« hatte er gesagt.

Sie hatte ihn mit dem Blick großäugiger Unschuld angesehen, der ihn immer wütend machte. Sie wußte: Er fand, mit diesem Blick glich sie ihrer Mutter mehr als sonst. »Warum nicht?« hatte sie gefragt. »Er ist doch ein netter Junge?!«

»Du kennst diese Lümmel nicht. Sie sind nicht wie andere Jungen. Sie werden dich belästigen. Sie wissen nicht, daß du noch ein Kind bist.«

Sie hatte zuckersüß gelächelt. »Warum denn nicht, Rick?«

Und dann flogen seine Augen über ihren weißen Badeanzug. Er wurde rot. Sie wußte genau, warum er rot wurde. Sie hatte ihn schon oft dabei ertappt, daß er sie so angesehen hatte. »Warum denn nicht, Rick?«

»Weil du nicht aussiehst wie ein Kind - darum!« sagte er gereizt. »Du siehst nicht aus wie dreizehn.«

»Wie alt sehe ich denn aus, Rick?«

Sie merkte, wie er sie wieder musterte. Er tat es fast unwillkürlich. »Du bist ein großes Mädchen. Man kann dich für siebzehn halten. Vielleicht sogar für achtzehn.«

Sie lächelte ihm zu, dann drehte sie sich wieder nach dem Jungen um, weil sie wußte, es würde Rick noch ärgerlicher machen.

In diesem Augenblick war ihre Mutter gekommen. »Oh, verdammt, Rick. Scaasi verlangt, daß ich heute abend nach San Francisco fliege, um diesen Vertrag zu unterschreiben.«

»Mußt du unbedingt?«

»Ja, ich muß.«

»Gut. Dann geh ich, unsre Koffer packen«, sagte Rick und arbeitete sich aus dem Sand.

»Nein, es ist nicht nötig, daß wir alle abreisen. Du kannst mit Dani hierbleiben. Ich bin morgen zum Lunch wieder zurück.«

»Gut, aber ich begleite dich zum Flughafen.«

Dani stand auf. »Ich komme auch mit, Mutter.«

Und dann war Nora abgeflogen.

Als Dani und Rick aus dem Flughafen kamen, gingen sie an einem Souvenirladen vorbei, an einer dieser Touristenfallen, die alles verkaufen, von billigem Schmuck bis zu Bauernröcken und Blusen. Dani hatte sich im Schaufenster die Röcke angesehen.

»Möchtest du gern einen haben?« hatte Rick gefragt. Sie waren hineingegangen, und er hatte ihr eine Bluse und einen Rock gekauft. Am Abend zum Dinner zog sie beides an und ließ sich das Haar lang bis auf die Schultern fallen, ungefähr im Stil der mexikanischen Pagen.

Sie sah, wie Ricks Augen groß wurden. »Wie gefalle ich dir?« fragte sie. - »Ganz groß, Kleines. aber.«

»Was - aber?«

»Deine Mutter! Ich bin neugierig, was sie dazu sagt.«

Dani lachte. »Mutter wird ärgerlich sein. Mutter hätte es für ihr Leben gern, wenn ich ewig ein Baby bliebe. Aber das nützt ihr nichts.« Sie gingen zum Dinner hinaus, und der Kellner fragte sie, ob sie einen Cocktail wünsche - genau, als wenn sie eine Erwachsene wäre! Später, als das Orchester spielte, bat sie Rick, mit ihr zu tanzen.

Es war wirklich traumhaft. Nicht so wie mit den Jungen in ihrer Schule. Sie liebte Ricks Geruch, das matte Eau de Cologne und dazu das leichte Whiskyaroma in seinem Atem. Fest preßte sie sich an ihn. Wie herrlich war es, die Kraft seiner Arme zu

spüren, wenn er sie hielt. Sie seufzte und bewegte sinnlich die Hüften im Takt der aufreizenden Musik.

Plötzlich machte er einen falschen Schritt, fluchte und zog sich unvermittelt von ihr zurück. »Ich glaube, wir setzen uns lieber.«

Folgsam ließ sie sich zum Tisch zurückführen. Er bestellte noch einen Whisky und goß ihn rasch hinunter, ohne ein Wort zu sagen. Nach ein paar Sekunden war sie es, die sprach: »Du brauchst nicht verlegen zu sein. Ich habe schon öfter gesehen, daß es dir passierte, wenn du mit Mutter getanzt hast.«

Er sah sie sonderbar an. »Manchmal denke ich, du siehst verdammt viel. Zu viel.«

»Ich bin froh, daß dir’s passiert ist. Jetzt weiß ich bestimmt, daß ich erwachsen bin.«

Er wurde rot und sah nach der Uhr. »Elf vorbei. Höchste Zeit, daß du ins Bett kommst.«

Sie lag ausgestreckt auf ihrem Bett und horchte auf die nächtlichen Geräusche, die durch das offene Fenster kamen. Der schwüle tropische Gesang der Vögel und Grillen, das Knacken der Bäume und das Rascheln der Palmen. Dann hörte sie das Telefon in Ricks Zimmer läuten. Nach einer kleinen Weile war die Stille wieder da.

Plötzlich stand sie auf und ging durch ihr Wohnzimmer hinüber zu Ricks Tür. Sie lauschte einen Moment. Dahinter rührte sich nichts. Sie drehte sacht den Türknopf und trat ein. Im Dunkeln sah sie, daß die Tür zum Zimmer ihrer Mutter, gerade gegenüber, offen war. Sie schaute auf Ricks Bett. »Wer hat angerufen?« fragte sie. »Mutter?«

Er drehte sich auf die Seite, die Decke halb heraufgezogen.

»Ja.«

»Was wollte sie denn?«

»Nichts. Sie sagte, daß sie morgen zurückkommt.«

Sie trat näher an sein Bett und blickte auf ihn hinab. »Sie wollte dich bloß kontrollieren. Mutter liebt keine Ungewißheiten. Dein Glück, daß du schon zu Hause warst.«

»Ich kann tun, was ich will«, sagte er gereizt.

»Jaaa.« Sie lächelte. »Natürlich!«

»Meinst du nicht, es ist besser, wenn du wieder ins Bett gehst?«

»Ich bin aber gar nicht müde.«

»Hier kannst du nicht bleiben. Ich hab’ nichts an unter meiner Decke.«

»Das weiß ich«, sagte sie. »Das kann ich sogar im Dunkeln sehen.« Er setzte sich im Bett auf. Nun sah sie, wie sich die Muskeln seiner Arme und seiner Brust bewegten, als er sich aufrichtete. Seine Stimme war heiser. »Sei nicht so unvernünftig. Du bist noch ein Kind.«

Sie kam noch näher und setzte sich auf die Bettkante. »Das hast du nachmittags nicht gedacht, als der Junge mit mir flirten wollte. Da warst du eifersüchtig.«

»War ich nicht. Unsinn.«

»Und als wir nachher getanzt haben, hast du mich auch nicht für ein Kind gehalten.« Sie knöpfte ihren Pyjama auf. Sie merkte, wie sich seine Augen wie magnetisch angezogen auf ihre Brüste hefteten. Sie lächelte. »Sehe ich aus wie ein Kind?«

Schweigend starrte er in ihr Gesicht.

Sie legte ihre Hand auf das Laken. Er fing sie mit festem Griff.

»Was tust du da?« fragte er mit erschrockener Stimme.

»Wovor fürchtest du dich?« Ein herausfordernder Blick kam in ihre Augen. »Mutter wird es nie erfahren.«

Er sah ihr starr in die Augen, als sie seine Hand zu ihrer Brust hinaufzog. »Ich werde dir weh tun«, flüsterte er.

»Ich weiß doch Bescheid. Das ist nur beim erstenmal.«

Er schien kaum fähig, sich zu rühren. »Du bist schlimmer als deine Mutter!«

Sie lachte, und plötzlich schlüpfte ihre Hand unter die Decke. »Sei kein Narr, Rick. Ich bin kein Kind mehr. Ich weiß, daß du mich liebst. Ich hab’s längst gemerkt - aus der Art, wie du mich angesehen hast.«

»Ich seh viele Mädels an«, sagte er.

Ihre Finger begannen ihn zärtlich zu liebkosen.

»Dani!« Miss Jennings Stimme riß sie aus ihren Träumen.

»Dani!«

Sie drehte sich um und sah die Psychologin an. »Ja, Miss Jen-nings?«

Die grauhaarige Frau lächelte. »Du warst aber weit weg! An was hast du gedacht, Dani?«

Dani spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg. »Ich. ich dachte nur, was draußen für ein schöner Tag ist.«

Sally Jennings sah sie an. Dani hatte das Gefühl, daß Miss Jennings irgendwie wußte, woran sie gedacht hatte, und ihre Wangen färbten sich noch dunkler. »Das würden Sie auch denken, wenn Sie die ganze Zeit hier in diesem Haus bleiben müßten.«

Sally Jennings nickte. »Vermutlich ja«, sagte sie nachdenklich. »Aber ich muß nicht. und du mußt.«

»Ich muß nicht lange. Nur bis nächste Woche. Dann komm ich wieder nach Hause.«

»Glaubst du das wirklich, Dani?«

Dani erschrak sichtlich. Zum erstenmal spürte sie, wie ein Zweifel in ihr aufstieg. »Das. das haben mir aile gesagt.«

»Wer - alle?« fragte Miss Jennings gelassen. »Deine Eltern?«

Dani antwortete nicht.

»Offenbar hast du nicht gut zugehört, als Richter Murphy vor Gericht mit dir gesprochen hat. Es ist nicht Sache deiner Eltern. Beim Richter liegt die Entscheidung, was mit dir geschieht. Er kann dich ebenso hierlassen wie nach Perkins zur Beobachtung oder nach Hause schicken. Er allein hat zu entscheiden, was gut für dich ist.«

»Er kann mich nicht hierlassen«, sagte Dani.

»Wie kommst du darauf, Dani? Genügt nicht allein der Grund, daß du hierhergebracht worden bist, um dich auch hierzubehalten?«

Dani sah zu Boden. »Aber ich hab’s doch nicht absichtlich getan«, sagte sie mürrisch.

»Daß du das sagst, genügt noch längst nicht, um Richter Murphy zu überzeugen, daß er dich heimschickt. Jedes Kind, das hierhergebracht wird, sagt dasselbe.« Miss Jennings griff nach einer Zigarette. »Du mußt ihm durch deine Handlungen beweisen, daß du, wenn er dich heimschickt, nicht von neuem ins Unglück kommst.«

Sie blätterte in den Papieren auf ihrem Schreibtisch.

»Ich schließe gerade die Akten eines Mädchens ab, das mehrmals hier gewesen ist. Diesmal schickt der Richter sie weg. Sie hat bewiesen, daß man ihr kein Vertrauen schenken darf.« Sie sah Dani an. »Ich glaube, du kennst sie. Sie ist in dem Zimmer neben dir.«

»Meinen Sie Sylvia?«

Miss Jennings nickte.

»Warum?« fragte Dani. »Sie ist doch ein nettes Mädchen.«

»Vielleicht. Aber sie gerät immer wieder auf die schiefe Bahn.«

»Ich glaube, ihr einziger Fehler ist, daß sie verrückt nach Jun-gens ist.«

Miss Jennings lächelte. »Das ist einer ihrer Fehler«, sagte sie. »Sie treibt sich wahllos mit jedem herum. Jetzt war sie zum drittenmal hier. Jedesmal ist sie mit einem andern Jungen zusammen gefaßt worden, und jedesmal hatte sie den Jungen überredet, einen Wagen zu stehlen, damit sie zusammen irgendwohin fahren könnten. Sie ist nicht nur selbst moralisch verlottert, sondern sie beeinflußt jeden ungünstig, der mit ihr in Berührung kommt.«

»Und was wird mit ihr geschehen?«

»Wahrscheinlich kommt sie in ein Erziehungsheim, bis sie achtzehn ist.«

Dani schwieg.

»Ich habe versucht, ihr zu helfen. Aber sie ließ sich nicht helfen. Sie dachte, sie wüßte alles besser. Aber du siehst, sie hat nicht alles besser gewußt. nicht wahr?«

»Ich glaube, nicht«, gab Dani zu.

Miss Jennings schob die Papiere beiseite und nahm einen an-dern Bogen zur Hand; sie hielt ihn so, daß Dani ihn lesen konnte. »Ich habe einen Bericht von Miss Spicer«, sagte sie und drückte mit dem Knie auf einen Knopf des im Schreibtisch eingebauten Tonbandgeräts. »Sie war heute bei Miss Randolph, und nachher sprach sie mit deiner Mutter.«

»Ja«? sagte Dani höflich.

»Die Lehrer und deine Mitschüler halten offenbar alle sehr viel von dir. Sie sagen, du kommst mit allen gut aus.«

»Oh, das ist nett - danke.«

»Deine Mutter war sehr überrascht, als sie erfuhr, daß du sexuelle Beziehungen zu Mister Riccio hattest.«

Danis Stimme klang halb erstickt vor Zorn. »Wer behauptet das?«

»Es ist doch wahr - oder nicht?«

»Es ist nicht wahr«, entgegnete Dani. »Wer so etwas sagt, ist ein Lügner!«

»So? Und was hast du dann mit diesen Dingern gemacht?« Miss Jennings nahm eine kleine Blechschachtel vom Schreibtisch. »Sie sind in einem Kästchen unter seinem Bild gefunden worden.«

Dani sah sie wütend an. »Das war Violet«, sagte sie zornig. »Violet weiß, wo ich den Schlüssel versteckt habe.«

»Wer ist Violet?«

»Die Zofe meiner Mutter. Sie schleicht immer herum und bespitzelt mich!«

»Du hast meine Frage nicht beantwortet, Dani«, sagte Miss Jennings scharf. »Wenn es nicht Mister Riccio war - wer war es dann?«

»Warum muß es durchaus jemand gewesen sein?« entgegnete Dani. »Bloß weil ich zufällig diese Dinger in meiner Kommode hatte.«

»Du vergißt allerlei, Dani. Zum Beispiel die ärztliche Untersuchung, als du eingeliefert wurdest.« Sie holte einen andern Bogen hervor. »Soll ich dir vorlesen, was die Untersuchung ergeben hat?«

»Das brauchen Sie nicht«, sagte Dani mürrisch. »Das kann beim Reiten passiert sein.«

»Stell dich nicht dümmer, als du bist, Dani. Das ist die älteste Ausrede.« Sie beugte sich vor. »Ich versuche doch, dir zu helfen, Dani. Ich möchte nicht, daß der Richter dich wegschickt und es dir geht wie Sylvia.«

Dani sah sie groß an und schwieg.

»Sag mir lieber, was passiert ist. Hat er dich vergewaltigt?« Sie sah Dani ernst an. »Wenn es so ist, sag mir’s. Vielleicht trägt es dazu bei, daß der Richter besser versteht, was du getan hast. So etwas würde er natürlich sehr in Betracht ziehen, wenn er seine Entscheidung trifft.«

Dani schwieg einen Augenblick. Sie sah Miss Jennings starr in die Augen. »Ja«, sagte sie endlich mit leiser Stimme, »er hat mich vergewaltigt.« Sally erwiderte den Blick schweigend.

»Nun, und?« fragte Dani. »Sie wollten doch durchaus, daß ich das sage?«

Die Psychologin lehnte sich mit einem Seufzer der Enttäuschung zurück. »Nein, Dani. Ich wollte, daß du mir die Wahrheit sagst. Aber du tust es nicht. Du lügst.« Sie drückte wieder auf den unsichtbaren Knopf und stellte das Tonband ab. »Ich kann dir nicht helfen, wenn du mich belügst.«

Dani senkte den Blick. »Ich möchte nicht mit Ihnen darüber sprechen, Miss Jennings. Ich möchte am liebsten überhaupt nicht an irgend etwas denken, das vorher geschehen ist. Ich möchte am liebsten die ganze Geschichte vergessen.«

»So leicht geht das nicht, Dani. Der einzige Weg, dich von dem freizumachen, was dich bedrückt, ist der: es offen darzulegen und den Tatsachen ins Gesicht zu sehen. Dann wirst du verstehen, warum du getan hast, was du getan hast, und dann wirst du selbst dafür sorgen, daß so etwas nicht wieder geschieht.«

Dani blieb stumm.

Die Psychologin läutete nach einer Aufseherin. »Es ist gut, Dani«, sagte sie mit schwerer Stimme. »Du kannst gehen.«

Dani stand auf. »Morgen um dieselbe Zeit, Miss Jennings?«

»Ich glaube nicht, Dani. Ich glaube, wir haben getan, was wir konnten. Es hätte wenig Sinn, weiter darüber zu diskutieren, meinst du nicht auch?«

Dani sah sie an. »Ich glaube, Sie haben recht, Miss Jennings.«

»Natürlich bin ich immer für dich zu sprechen, wenn du es wünschst, Dani.«

»Ja, Miss Jennings.«

Es klopfte an der Glastür. Die Psychologin stand auf. »Alles Gute, Dani.«

»Ich danke Ihnen, Miss Jennings.« Dani wollte zur Tür,

wandte sich aber wieder um. »Miss Jennings?«

»Ja, Dani?«

»Es ist wegen Sylvia«, sagte Dani. »Meinen Sie nicht auch, sie wäre nie ins Unglück gekommen, wenn die Jungens, die sie kannte, eigene Wagen gehabt hätten?«

Miss Jennings unterdrückte ein Lächeln. Keine schlechte Kur gegen manche Formen der Jugendkriminalität! Gebt ihnen alle eigene Wagen! »Nein, das meine ich nicht«, sagte sie und setzte eine ernste Miene auf. »Siehst du, was Sylvia mit den Jungens getrieben hat, war unrecht. Wenn es nicht die Autos waren, die die Jungens stehlen sollten - auf ihren Wunsch! -, so wäre es etwas anderes gewesen. Was Sylvia wirklich tat, war das: Sie sollten ihr beweisen, daß sie ihrer Gunst würdig waren. Sie hatte das Gefühl, wenn die Jungens ein wirkliches Unrecht begingen, dann kam ihr das, was sie selber machte, längst nicht so schlecht vor. Es war einfach ihre Art, ihr eigenes Verhalten zu rechtfertigen.«

»Ach so.«, sagte Dani nachdenklich. Sie sah die Psychologin an. »Vielleicht sehe ich Sie noch, ehe ich weggehe?«

»Jederzeit, wenn du willst, Dani«, sagte Miss Jennings. »Ich bin immer für dich da.«

Die Barbary Coast ist nichts als eine Reihe schmutziger grauer Gebäude, die jetzt größtenteils als Lagerhäuser und kleine Fabriken dienen. Dazwischen hier und da ein Nachtlokal, das um sein Dasein ringt, indem es die Sünde und den Glanz längst vergangener Zeiten feilbietet. Die besten dieser Lokale sind noch die Läden zu ebener Erde, die sich auf Jazz umgestellt haben, zumeist auf modernste Combos oder auf den Stil von Chicago und New Orleans.

Sie sind eine Attraktion für die aficionados und die CollegeJugend, die halb träumend herumsitzen und den fremdklingenden Tönen lauschen, die dort im Namen einer neuen Kunstform produziert werden.

Die schlechtesten Lokale an der Barbary Coast sind traurige Imitationen von Nachtklubs in besseren Gegenden der Stadt. So ein Lokal war der >Money Treec.

Es war fast Mitternacht, als ich vor dem >Money Tree< stehenblieb.

Links und rechts der Tür hing je eine lange schmale Fotografie. Die beiden Bilder waren völlig gleich. Eine üppige, lüstern blickende alte Person in einem schulterfreien, engsitzenden Abendkleid, das für ihre eingeschnürte Figur vier Nummern zu klein war, und mit einem Mund voll prächtig neuer Zähne. Über den Bildern stand mit großen Buchstaben: MAUDE MACKENZIE singt!

Hätte ich mich amüsieren wollen, so wäre dies Bild wohl das

letzte auf der Welt gewesen, was mich hätte anlocken können. Nun, ich war aus anderen Gründen hier. In diesem Laden arbeitete Anna Stradella, und ich wollte mich nach der letzten Nummer hier mit ihr treffen. Sie war Fotografin in diesem >Money Tree<.

»Immer rein, Kumpel!« sagte der Portier. »Die Nummer geht gleich los.«

Ich sah ihn an. »Ja, ich glaube, ich sehe sie mir an.«

Er grinste und blinzelte. »Wenn Sie’s nervös macht, allein im Dunkeln zu sitzen, dann sagen Sie Ihrem Kellner bloß, Max läßt ihm bestellen, er soll was für Sie tun.«

»Danke.« Ich ging hinein.

Wenn die Straße draußen schon dunkel war, so war es innen erst richtig dunkel. Die eigenen Hände sahen aus, als gehörten sie einem Fremden. Das weiße Hemd des Oberkellners war ein heller Schimmer in so viel Schwärze. »Hatten Sie einen Platz bestellt, Sir?«

Ich grinste im stillen. Ich sah genug weiße Tischtücher, um damit im Fernsehen bequem eine ganze Werbesendung für ein Waschmittel machen zu können. »Nein. Schon gut. Ich setz mich lieber an die Bar.«

»Bedaure, Sir«, sagte er höflich, »an der Bar wird nur am Wochenende bedient.«

Sie erlaubten sich allerlei in diesem Ausschank. Das Geschäft schien nicht grade glänzend zu gehen, wenn sie auf diese Art und Weise ihre drei Dollars extra für die Tischwäsche herauszuholen versuchten.

»Ich habe da drüben einen hübschen Tisch frei.«

Er hatte nichts anderes vor sich als eine Reihe hübscher Tische.

Vielleicht zehn von den sechzig vorhandenen waren besetzt. Er hielt meinen Stuhl, während ich mich hinsetzte, dann blieb er

stehen und wartete auf sein Trinkgeld. Ich gab ihm einen Dollar, und er verschwand. Vielleicht war er nicht ganz glücklich damit, aber es war besser als in die hohle Hand gespuckt.

Der Kellner kam und kroch mir beinahe auf den Rücken. Ich bestellte einen Bourbon. Wasser brauchte ich nicht dazuzugießen, sie hatten es anscheinend gleich mit in die Flasche gefüllt. Ich trank einen Schluck und sah mich um. Anna Stradella konnte ich nirgends erblicken.

Ich hatte sie nachmittags angerufen.

»Haben Sie Ihren Bruder gefunden?« wollte ich wissen.

»Noch nicht. Aber ich werde heute abend etwas erfahren.«

»Ich kann Sie später wieder anrufen.«

»Ich komme nachher nicht mehr nach Hause. Vielleicht holen Sie mich lieber von meiner Arbeit ab. Wenn ich dann schon Näheres weiß, können wir vielleicht sofort etwas unternehmen.«

»Okay. Und wo arbeiten Sie?«

»Im >Money Tree<. Das ist ein Nachtlokal in.«

»Ich weiß, wo«, sagte ich. Sie mußte die Überraschung in meiner Stimme bemerkt haben.

»Ich bin Fotografin dort. Ich arbeite für den Inhaber. Von fünf bis acht bediene ich beim Dinner in einem Restaurant am Kai. Von neun an bin ich im >Money Tree<.«

»Um welche Zeit kommt die letzte Nummer?«

»Heute abend sind nur zwei Vorstellungen. Um zehn und um Mitternacht. Die letzte Nummer ist kurz nach eins zu Ende.«

»Ich werde Sie dort abholen.«

»Es ist besser, Sie kommen herein. Wenn ich bis dahin noch nichts erfahren habe, kann ich es Ihnen sagen und brauche Sie nicht lange aufzuhalten.«

»Gut.«

»Und geben Sie dem Portier nicht Ihren Wagen. Das kostet gleich zwei Dollar Service. Es ist alles Nepp dort. Beim nächsten Block ist genug Platz zum Parken.«

»Danke.«

Ich legte auf, um gleich meine frühere Schwiegermutter anzurufen. »Sie weiß noch nicht, wo er ist. Aber ich werde sie spätabends treffen, und wenn sie es dann weiß, bringt sie mich zu ihm.«

»Um die Zeit sind die Morgenzeitungen schon da. Die Annonce wird bereits drinstehen. Und damit weiß er, daß wir zahlen wollen.«

»Was möchtest du also? Was sollen wir tun?«

»Ich will diese Briefe haben. Wenn es sein muß, sag ihm, daß ich zahle. Wir dürfen es nicht riskieren, daß sie in andere Hände kommen.«

»Sie sind bereits in den verkehrten Händen.«

»Dann unternimm nichts, was die Sache noch schlimmer macht.«

»Bestimmt nicht.«

»Was tust du morgen nachmittag?«

»Nichts Besonderes. Ich weiß noch nicht.«

»Nora und Gordon kommen her. Wir müssen bei Gericht unsere Vorschläge für Dani einreichen. Doktor Bonner und die Leiterin von Danis Schule werden auch dasein; ich dachte, du kommst vielleicht gern auch dazu.«

»Um welche Zeit?«

»Um halb vier.«

»Gut. Ich komme.«

»Und läßt du mich wissen, was heute nacht geschieht? Bitte ruf mich an - ganz gleich, wie spät es ist.«

»Ja. Ich rufe dich an.«

Es dauerte noch eine halbe Stunde, ehe Maude Mackenzie erschien. Inzwischen hatten sich noch ein paar Vögel eingefunden,

die gerupft werden wollten. Der Raum war jetzt zu etwa einem Drittel gefüllt.

Maude Mackenzie sah genau aus wie auf den Fotos vor der Tür. Sie kam in weißem Scheinwerferlicht, sah sich im Saal um, überschlug die Zahl der Gäste, setzte sich dann ans Klavier und erklärte, gerade so hätte sie’s gern - für ein kleines, erlesenes Publikum zu singen. In ihrem Alter könne sie die Läden, die so groß sind wie die Zirkusse, nicht mehr recht vertragen.

Das Publikum lachte, aber ich merkte, daß sie schlecht gelaunt war. Sicher arbeitete sie auf Prozente - und wenn es so war, dann gab sie diese Vorstellung praktisch umsonst.

Sie fing sofort mit einem Lied von den guten alten Zeiten an, wie sie sich in einem Planwagen zur Barbaryküste durchgearbeitet hatte. Ich betrachtete den alten Fettkloß - sie schwitzte im Scheinwerferlicht und dachte, wieviel besser es doch gewesen wäre, wenn die Indianer sie erwischt hätten.

»Hätten Sie gern ein hübsches Foto von sich, Sir?«

Ich blickte mich um. Für den Bruchteil einer Sekunde sah Anna Stradella aus, als komme sie direkt aus einem italienischen Film. Eine schwarze Korsage und lange schwarze Netzstrümpfe. Breite Schultern, starker Busen, schmale Taille und breite, einladende Hüften. La dolce vita. Sophia Loren auf die billige Tour.

Ich wollte schon ablehnen, aber sie lächelte. »Lassen Sie mich eine Aufnahme machen!« Und dann flüsterte sie ganz schnell: »Mein Boß paßt auf. Ich muß einen Grund haben, mit Ihnen zu sprechen.«

»Okay«, sagte ich, »aber machen Sie mich recht hübsch!«

Sie lächelte und hantierte mit ihrer Kamera. Hielt sie sich vor ihr Gesicht, stellte sie ein. Dabei beugte sie sich über mich. Nun wußte ich, was die italienischen Mädchen mit der vielen Fettschminke tun. »Drehen Sie Ihren Stuhl so herum«, sagte sie laut und schob mich nach links. Wieder drehte sie am Sucher.

»So ist es besser.«

Sie trat zurück und hob die Kamera ans Gesicht. Das Blitzlicht flammte auf, und ich blinzelte, um die roten und grünen Flecke vor meinen Augen zu vertreiben. Sie kam zu meinem Tisch zurück.

»Ich schreib auf die Rückseite des Fotos, wo Sie mich abholen sollen«, flüsterte sie.

»Haben Sie ihn gefunden?«

Sie nickte und richtete sich auf. Ich sah ihre Augen flackern und spürte den Mann, der vorbeiging, mehr als ich ihn sah. »Sehr gut, Sir. Das Bild wird in fünfzehn Minuten fertig sein.«

Sie wandte sich um und ging fort. Ich blickte ihr ein paar Sekunden nach. Dies war der letzte Beruf, auf den ich getippt hätte, als ich sie heute vormittag im Bestattungsinstitut kennenlernte. Aber schließlich. was weiß man schon?

»Noch einen Drink, Sir?«

Ich nickte. Zum Teufel, es war ohnedies halb Wasser. Der Rest der Vorstellung war genauso schlecht wie das erste Lied. Maude Mackenzie war keine Pearl Williams und keine Belle Barth, aber nicht weniger deutlich. Und den Kunden, die hier waren, schien das zu gefallen. Sie schluckten alles. Also immerhin noch besser als am Mittwochabend vor dem Fernseher.

Es war ein Uhr fünfundvierzig, als ich meinen Wagen unter einer Straßenlampe dort parkte, wo ich sie erwarten sollte. Ich stellte den Motor ab und sah mir das Bild noch einmal an. Wenn man bedachte, wo es aufgenommen war, war es gar nicht einmal so schlecht. Ich drehte es um. Sie hatte mit einem weichen Stift geschrieben, von der Sorte, den Fotografen zum Retuschieren brauchen. Hastig hingekritzelte Worte:

800 Block Jackson St.

Ich legte das Bild neben mich auf den Sitz und steckte mir eine Zigarette an. Sie kam ungefähr zehn Minuten nach mir, mit

einem Taxi, das an der Ecke hinter mir hielt. Als ich die Tür zuschlagen hörte, sah ich in den Rückspiegel.

Sie fand meinen Wagen sofort und kam auf mich zu. Über ihrer Schulter hing an einem langen Lederriemen eine Kamera, die ihr beim Gehen an die Hüfte schlug. Ich machte die Tür auf.

»Nun, was haben Sie gefunden?« fragte ich, sobald sie im Wagen war.

Ihr Blick war bekümmert. »Die Sache gefällt mir nicht, Mister Carey. Renzo ist nicht allein in der Geschichte drin. Vielleicht wäre es besser, wenn wir uns nicht einmischen.«

»Haben Sie herausbekommen, wo er wohnt?« fragte ich ungeduldig. Sie nickte.

Ich ließ den Motor an. »Also fahren wir. Wohin?«

»Renzo hat eine Wohnung über einer Bar. Draußen in der Nähe vom Cliff House.«

Ich schaltete, und wir fuhren los. Ich sah sie an. Ihr Gesicht sah noch immer bekümmert aus. »Warum so geheimnisvoll?«

»Ich sagte Ihnen ja, mein Bruder steckt nicht allein drin. Es sind ein paar gefährliche Leute dabei.«

»Meinen Sie, er hat gedacht, daß er nicht allein fertigbringt, was er sich vorgenommen hatte? Zu groß das Ding für ihn, wie?« fragte ich spöttisch.

»Genau. Er ging zu einem Freund, der auch ein sehr guter Freund von Tony war.«

»Wer ist der Kerl?«

»Charley Coriano.«

Ich sah sie an. Ihr Gesicht war ausdruckslos. Wenn sie recht hatte, steckte der Bruder in einer großen Sache. Charley Coriano stand in dem Ruf, seine Finger in jeder krummen Geschichte in San Francisco zu haben. Natürlich konnte man es ihm nie beweisen, ebensowenig, wie man Mickey Cohen jemals auf etwas Ernsteres als auf Steuerbetrug hatte festnageln können. Aber sein Ruf hing ihm unverändert an. Charley Coriano also.

»Wo haben Sie das erfahren?«

»Bei der Arbeit. Eins der Mädchen hat mir’s erzählt.«

»Woher weiß sie es?«

»Sie ist die Freundin von einem von Corianos Jungens.«

»Und warum hat sie’s Ihnen gesagt?«

Sie sah mich an. »Sie dachte, ich sei mit drin. Die Firma, für die ich arbeite, gehört Coriano.«

»Und wer hat die Briefe? Coriano oder Ihr Bruder?«

»Das weiß ich nicht.«

»Nun, es gibt nur einen Weg, das herauszubekommen.«

»Ich möchte nicht, daß meinem Bruder etwas passiert.«

»Das ist seine Angelegenheit«, sagte ich. »Er hat sich ja seine Freunde ausgesucht, nicht ich.«

Es war lange her, daß ich in diese Gegend gekommen war. Nicht mehr, seit ich mit Dani bei Sutro gewesen war und ihr die Automaten gezeigt hatte - sie war damals noch ein Baby. Ich dachte daran, wie versessen sie darauf war. Ich fuhr in einen offenen Parkplatz und sah mich um.

Nichts hatte sich verändert. Dieselben Würstchenstände und Buden und billigen Bars. Nur kosteten das Bier und die Würstchen jetzt nicht mehr einen Nickel, sondern einen Quarter.

Sie zeigte auf eine Bar. »Wir können zuerst hier nachsehen. Hier ist er nämlich oft.«

Ich ging ihr nach. Es war spät und nicht mehr viel Betrieb in der Bar. Ein paar Hartsäufer hockten vor ihrem Schlummertrunk, ein paar Burschen tranken Bier.

Der Barmann kam zu uns, wischte die Bar mit seinem Tuch ab und sagte: »Hallo, Anna.«

»Hallo, Johnny. War Renzo heute abend hier?«

Seine Augen musterten mich scharf und schnell, dann sah er sie wieder an. »Ja, vorhin. Aber er ist wieder weg.«

»Danke, Johnny.« Sie drehte sich um und wollte gehen, aber er rief sie zurück.

»Tut mir leid - das mit Tony. War ’n netter Kerl. Ich hab’ ihn immer gern gemocht.«

»Danke, Johnny«, sagte sie wieder.

Ich folgte ihr hinaus. »Wohin nun?«

»Diese Gasse hinunter und an der Rückseite des Hauses die Treppe hinauf.«

Ich wollte in die Gasse einbiegen, aber sie legte die Hand auf meinen Arm und hielt mich zurück. »Bitte, lassen Sie uns nicht hingehen«, sagte sie. Sie sah mir in die Augen. »Dieser Barmann hat uns gewarnt.«

»Wie kommen Sie darauf?«

»Er hat mir einen Wink gegeben, als er so von Tony sprach. So freundlich. In Wirklichkeit haßte er Tony. Sie hatten einmal eine Schlägerei. Dabei hat er Tony fast umgebracht. Irgend etwas stimmt nicht.« Ich sah sie fest an. »Gehört dies Lokal auch Coriano?«

Sie nickte. »Vielleicht ist es besser, wir lassen sie die Sache unter sich abmachen.« Sie nahm die Hand nicht von meinem Arm. »Sie sind ein anständiger Mensch. Ich möchte nicht, daß Ihnen etwas geschieht.«

»Es geht hier um die Zukunft meiner Tochter. Sie brauchen nicht mit hinaufzukommen, wenn Sie nicht mögen. Sie können im Wagen warten.«

»Nein«, sagte sie ängstlich; ihre Hand zupfte am Riemen der Kamera. »Ich gehe mit.«

Ich sah sie an. »Warum lassen Sie die Kamera nicht im Wagen? Es hat doch keinen Sinn, das schwere Ding mitzuschleppen.«

»Hier wird alles gestohlen«, sagte sie. »Die Kamera hat mich zweihundert Dollar gekostet.«

Die Treppe war aus Holz. Sie führte an der Außenseite des Gebäudes nach oben. Unsere Schritte hallten hohl wider, als wir hinaufstiegen. Unter einer hölzernen Tür schimmerte Licht. Ich klopfte an. Schlürfende Schritte wurden hinter der Tür hörbar. »Wer ist da?« fragte eine Stimme. Ich sah auf Anna.

»Ich bin’s, Anna«, sagte sie. »Laß mich hinein, Renzo.«

Ich hörte einen unterdrückten Fluch, dann wurde die Tür langsam aufgemacht. »Wie zum Teufel hast du rausgekriegt, wo ich bin?« fragte er grob. Dann sah er mich und wollte die Tür wieder zuschlagen.

Ich stellte meinen Fuß in die Spalte und stieß sie auf. Er taumelte zurück ins Zimmer und starrte mich an. Seine dunklen Augen blinzelten. Er war derselbe gutaussehende Typ wie seine Schwester, aber zu ihm paßte das irgendwie nicht. Er sah zu weichlich aus. Er trug dunkle, enganliegende Hosen und ein Unterhemd.

»Wer ist der Kerl?«

»Das ist Mister Carey, Renzo«, sagte Anna. »Er kommt wegen der Briefe.«

Aus dem Hinterzimmer war eine Mädchenstimme zu hören.

»Wer ist da, Süßer?«

»Meine Schwester und ein Freund.«

»Ein Freund? Ich komm gleich raus.«

»Eilt nicht«, sagte er finster. Er musterte mich. »Von was für Briefen redet sie denn?«

Ich stieß die Tür hinter mir mit dem Fuß zu. »Die Briefe in dem versiegelten Umschlag, den sie Ihnen in der Nacht gegeben hat, als Tony umgebracht wurde.«

»Was die für ’n Stuß zusammenfaselt!« sagte er. »Ich weiß nichts von Briefen.«

Ich sah über seine Schulter eine Zeitung auf dem Tisch liegen, die aufgeschlagene Morgenausgabe des >Examiner<. »Sie wissen schon, was für Briefe ich meine. Genau die, von denen Sie Mrs. Hayden geschrieben haben.« In der Ecke des Zimmers stand eine Schreibmaschine. »Auf dieser Maschine haben Sie ihr geschrieben.«

Aus dem Hinterzimmer kam ein Mädchen. Sie hatte karottenrotes Haar, ihr blauer Kimono war in der Mitte mit einer roten Schärpe zusammengebunden. »Stell mir deine Freunde vor, Süßer.«

Er blickte erst sie und dann mich an. »Ich hab’ keine Briefe auf der Klapperkiste geschrieben«, sagte er.

Ich ging durch das Zimmer und hob die Schreibmaschine auf, steckte sie unter den Arm und wollte wieder zur Tür.

»He!« kreischte das Mädchen, »was wollen Sie mit meiner Schreibmaschine?«

Ich sah Lorenzo an. »Die Polizei kann die Typen prüfen«, sagte ich. »Und wenn ich richtig orientiert bin, stehen auf Erpressung zehn bis zwanzig Jahre Zuchthaus.«

»Ich hab’ dir gleich gesagt, du sollst meine Maschine nicht nehmen«, zeterte das Mädchen.

»Halt den Mund.« Er wandte sich zu mir. »Warten Sie ’n Augenblick«, sagte er. »Wollen Sie kaufen?«

»Vielleicht«, sagte ich, stellte die Maschine hin und sah ihn an.

Ein verschlagener Blick kam in seine Augen. »Schickt Sie die Alte?«

»Woher wüßt’ ich sonst Bescheid, wenn sie mich nicht schickt?«

»Was will sie gutwillig zahlen?«

»Das kommt auf die Ware an, die Sie verkaufen«, antwortete ich. »Katzen im Sack kaufen wir nicht.«

»Sie sind goldrichtig, die Briefe.«

Mir kam plötzlich eine Idee. »Sie sind nicht der einzige, der da was holen möchte«, sagte ich.

Er schien bestürzt. »Sie meinen, da sind noch andere?«

»Ihr Brief war der vierte von der Sorte, den wir bekamen.«

Sein Gesicht verdüsterte sich.

»Woher soll ich wissen, daß Ihre echt sind?« fragte ich. »Ich müßte erst etwas davon sehen.«

»Halten Sie mich für so blöde, daß ich die Briefe hier rumliegen habe? Nee, das Geschäft geht auf Kippe. Meine Partner haben sie gut verwahrt.«

Ich nahm die Schreibmaschine wieder an mich. »Dann werde ich lieber mit Ihren Partnern sprechen, wenn sie mit der Ware rüberkommen.«

»Man sachte!« sagte er. »Hab’ mir doch gleich gedacht, daß so was kommen würde! Für den Fall hab’ ich mir nämlich ein paar saftige Briefe rausgenommen!«

Ich stellte die Maschine hin. »Das klingt schon vernünftiger. Lassen Sie mal sehen.«

Renzo sah das Mädchen an. »Zieh dir was an und geh runter -Johnny soll dir das Kuvert geben, das er von mir hat.«

»Bemühen Sie sich nicht.« Ich sah Anna an, die uns schweigend zugesehen hatte. »Würde es Ihnen etwas ausmachen?«

Sie schüttelte den Kopf. Ihr Bruder fauchte. »Was zahlt er dir, daß du den Laufjungen für ihn machst, Anna? Hoffentlich recht viel, denn deinen Job hast du wohl die längste Zeit gehabt.« »Nichts zahl’ ich ihr, Sie Trottel. Sie will nichts weiter, als Ihnen das Zuchthaus ersparen.«

Anna ging. Renzo wandte sich an mich. »Meinetwegen brauchen Sie nicht rumzustehen. Sie können sich auch setzen und einen kippen.«

»Nein, danke.«

Er ging zum Schrank und holte eine Flasche heraus. »Bring ein bißchen Eis, Baby«, rief er dem Mädchen zu.

»Hol dir’s doch selber«, sagte sie verdrossen.

Renzo zuckte die Achseln. »Weiber!« sagte er verächtlich. Er ging zur Kochnische und öffnete den Kühlschrank, schlug ein paar Würfel aus dem Behälter und tat sie in ein Glas. Dann kam er zurück, goß Whisky darauf und setzte sich mir gegenüber an den Tisch. »Der Tony hatte den Bogen vielleicht raus!«

Ich schwieg.

Er trank. »Alle sind sie auf ihn geflogen. Meine Schwester. Ihre Frau.

Ihre Tochter. Der brauchte keine Nacht auszulassen, wenn er nicht wollte.«

Ich beherrschte mich. Was half es - ich mußte mich an solche Gespräche gewöhnen.

»Ihre Kleine war ganz scharf auf ihn. Warten Sie man, bis Sie die Briefe sehen. Die sind so heiß, daß das Papier knistert! Er muß sie gut angelernt haben - sie hatte ’ne richtige Sucht nach ihm. Und sie hat sich kein bißchen geniert, das haarklein aufzuschreiben. Was sie alles mit ihm machen möchte, wenn sie das nächstemal zusammen sind.«

Ich knirschte mit den Zähnen. Unsinn. Ich war nicht hergekommen, um mir Sonette aus dem Portugiesischen abzuholen.

»Aber Ihre Frau war auch nicht schlecht«, fuhr er fort. »Die rückte allerdings nicht so mit allem raus wie die Kleine. Aber dafür war sie eifersüchtig. In dem einen Brief schreibt sie selber, sie würde ihn glatt umlegen, wenn sie ihn mit ’ner andern erwischt. Na, die Kleine hat ihr die Arbeit abgenommen.«

Ich schwieg noch immer.

»Und meine dämliche Schwester! Sitzt da und wartet, daß Tony zu ihr zurückkommt.« Er lachte. »Er ist nur gekommen, wenn er mal Spaghetti essen und ’n guten alten italienischen Schluck trinken wollte. Wenn ihm das ganze noble Zeug, was er da oben kriegte, zum Halse raushing. Er sagte immer, ab und zu muß der Mensch Fleisch und Kartoffeln essen, Gänseleberpastete und Kaviar können einem verdammt über werden. Men-schenskind, der Tony war vielleicht ’ne Nummer!«

Ich hörte draußen auf der Treppe Schritte. Auch Renzo hörte sie. Er hob sein Glas, als wolle er mit mir trinken. »Viel Glück.«

Ich hörte, wie die Tür hinter mir aufging, aber ich drehte mich nicht um. Dann spürte ich einen scharfen Schmerz am Hinterkopf und stürzte kopfüber in das Dunkel, das vom Boden zu mir heraufstieg.

Vor meinen Augen blitzten allerlei Lichter auf. Eins nach dem andern, und dazwischen fühlte ich, daß ich dahin und dorthin gestoßen wurde. Ich stöhnte und versuchte mich aufzurichten, brachte es aber nicht fertig in dem Nebel um mich herum. Dann gingen immer mehr Lichter aus, und zuletzt war keins mehr da. Bloß der scheußliche Schmerz in meinem Kopf.

Von einem Guß eiskaltem Wasser wachte ich prustend auf. Ich schüttelte den Kopf und schlug die Augen auf. Johnny und Lorenzo standen neben mir. Ich sah an mir selbst hinunter. Splitternackt saß ich auf einem Bett.

Ich hörte Kleidergeraschel und wandte den Kopf, in dem der Schmerz von einer Schädelwand zur andern prallte. Das Mädchen mit dem karottenroten Haar war gerade im Begriff, wieder in ihren Kimono aus der Grant Street zu schlüpfen.

Ich versuchte, den Schmerz so weit zu beherrschen, daß er mir nicht den Schädel sprengte. Ich riß ein paarmal hintereinander die Augen weit auf und kniff sie wieder zusammen. Anscheinend half es. Allmählich begriff ich, was mir passiert war. Ich war ihnen wie ein Gimpel auf den Leim gegangen. Eine saubere Sache, die sie mit mir angestellt hatten.

»Ihre Klamotten sind da drüben auf dem Stuhl«, sagte Renzo. »Wir gehen raus, während Sie sich anziehen.«

Sie gingen und machten die Tür hinter sich zu.

Ich saß auf dem Bett und hörte dumpf ihre Stimmen hinter der geschlossenen Tür. Ich fühlte mich keineswegs so wie in den Geschichten von Mickey Spillane. Nichts von Cloude Nine, nichts von wilden erotischen Träumen. Ich streckte den Hals und drehte den Kopf. Es tat verteufelt weh.

Ich stolperte vom Bett ins Badezimmer, drehte die kalte Dusche an und hielt den Kopf darunter. Der Strahl stach wie Nadeln, aber er wirkte. Langsam ließen die Schmerzen nach. Ich befühlte meinen Hinterkopf. Eine Beule wie ein kleines Ei. Mein Glück, daß ich so einen dicken Schädel hatte.

Nun stellte ich das Wasser auf heiß, dann wieder auf kalt und so weiter, bis Hals und Schultern nicht mehr schmerzten. Mit einem schmutzigen Handtuch - das einzige, das ich finden konnte - trocknete ich mich ab. Und dann zog ich mich an.

Sie saßen um den Tisch und tranken, als ich aus dem Schlafzimmer kam.

»Sie sehn genau aus, als wenn Sie ’n anständigen Schluck gebrauchen können«, sagte Renzo. Er goß etwas Whisky in ein Glas und schob es mir hin.

Ich nahm es und kippte es hinunter. Die Wärme schlug in meinen Magen. Ich fing an, mich besser zu fühlen. »Wo ist Anna?«

»Die hab’ ich nach Hause geschickt«, sagte Renzo. »Sie hat ihre Sache prima gemacht.« Er warf mir ein Foto zu. »Saubere Arbeit, was?«

Ich sah mir das Bild an. Eine Blitzlichtaufnahme. Mit einer Polaroidkamera. In zehn Sekunden ist der Abzug fertig. Erst jetzt fiel mir ein, daß die Kameratasche, die sie trug, als wir herkamen, nicht groß genug war für den Apparat, mit dem sie Aufnahmen im >Money Tree< gemacht hatte.

Das Bild war genau das, was fällig war. Ich war nackt und das Mädchen mit dem Karottenkopf auch. Die Pose war klassisch orientalisch. Ich gab ihm das Bild zurück. »Für meinen Geschmack ist sie ein bißchen zu dürr.«

»Können Sie behalten«, sagte Renzo großzügig. »Wir haben ’n ganzen Film abgeknipst.«

»Na und? Was jetzt?«

»Abwarten! Sitzen bleiben! Wir kriegen noch Gesellschaft.«

Ich steckte das Bild in die Tasche. »Das glaub ich weniger. Mein Bedarf an Jux und Tollerei ist fürs erste gedeckt.«

Ich wollte zur Tür, aber Johnny, der Barmann, stand schnell auf. Ich trat auf ihn zu. »An Ihrer Stelle tät ich die Hände weglassen«, sagte Renzo gleichmütig. »Er war nämlich Leichtgewichtsmeister der Pazifikküste.«

Ich ging vorwärts, und Johnny wollte einen Schwinger landen, für den er gut bis Los Angeles ausgeholt hatte. Ich ging mühelos drunter durch. Man verbringt seine Zeit in einem Lager mit Bauarbeitern nicht, ohne eine gewisse Übung zu bekommen.

Ich ließ ihn seine Faust über meine Schulter wegstoßen und landete einen Judohieb auf seinem Brustbein. Er kippte vornüber, und ich schlug ihm mit der Handkante seitlich gegen den Hals. Es war der beste Hieb, den ich je gelandet hatte. Er ging zu Boden, als hätte er eins mit dem Schlachtbeil gekriegt. Mein alter Trainer von der Luftwaffe wäre stolz auf mich gewesen.

Ich drehte mich um und konnte gerade noch rechtzeitig Renzo abfangen, der auf mich zukam. Ich packte ihn und stieß ihn gegen die Wand. Dort hielt ich ihn fest. Er wand sich. Das Mädchen fing an zu kreischen, als ich meine Hand, die Handfläche flach nach unten, vor seinen Hals hielt. »Also. wo sind die andern Briefe?«

In Renzos Augen stieg die Angst auf. Er schüttelte den Kopf.

Ich klopfte ihm leicht auf den Adamsapfel. Genug, daß er ein bißchen zu würgen hatte. »Wenn ich richtig hart Zuschlag, Freundchen, kannst du dir mit deinem Helden Riccio die Gänseblümchen von unten besehen.«

»Ich hab’ sie nicht«, keuchte er heiser. »Ich hab’ sie Coriano gegeben.« Ich machte eine drohende Bewegung.

»Ehrlich!«

»Her mit den Bildern«, sagte ich.

»Johnny hat sie.«

Die Angst schüttelte Renzo. Ich schlug ihn von der Seite ins Gesicht. Er sackte zu Boden, hockte da und stöhnte. Das Mädel lief zu ihm.

»Renzo, Süßer, hat er dir weh getan?«

Jetzt ging ich zu Johnny. Er fing gerade an, sich wieder zu regen. Ich drehte ihn auf den Rücken, froh, daß ich ihn nicht totgeschlagen hatte. Ich kniete mich neben ihn hin und begann seine Taschen zu durchsuchen. Ich hatte eben die Bilder gefunden, als die Tür hinter mir aufging.

Das erste, was ich sah, als ich mich umdrehte, war die Mündung eines Achtunddreißigers. Direkt auf meinen Bauch gerichtet. Von der Stelle, wo ich stand, sah das Ding aus wie eine Fünfzig-Millimeter-Kanone. Das nächste, was ich sah, war der stämmige kleine Mann dahinter, dessen Knopfaugen fast verschwanden in den Fettwülsten, die sie umgaben.

»Ich möchte diese Bilder haben, wenn Sie nichts dagegen haben«, sagte er. Ich hielt sie ihm wortlos hin.

»Legen Sie sie auf den Tisch und stellen Sie sich an die Wand.« Mit einer Kanone kann man nicht streiten. Ich tat, was

»Und jetzt drehen Sie sich um - die Hände oben an die Wand, den Bauch ran. Sie wissen schon, was ich meine. Genau wie im Fernsehen.« Ich wußte, was er meinte.

Ich hörte, wie er zum Tisch ging. Papier raschelte. »Nun können Sie sich umdrehen, Colonel.«

Ich tat es. »Sie sind Coriano?«

Er nickte. Er sah auf Johnny, dann hinüber zu Lorenzo und lächelte liebenswürdig. »Sie haben sich mit meinen Jungs amüsiert?« fragte er.

»Es war prima Zusammenarbeit«, sagte ich.

»Viel Arsch und kein Grips! Beide! Aber das tut nichts zur Sache. Ich hab’ die Briefe schon an Ihre Ehemalige verscherbelt.«

Er zog sich einen Stuhl heran und setzte sich. »Nichts Persönliches, Colonel, das verstehen Sie doch. Rein geschäftliche Sache.«

Ich sah mir den dicken kleinen Kerl an. Er schien so zufrieden, wie er da saß, daß ich ihn wenigstens noch etwas ärgern wollte.

»Wieviel hat sie Ihnen gegeben?«

Er schlenkerte nachlässig mit dem Revolver herum. »Fünfundzwanzig Mille.«

»Da sind Sie nicht schlecht reingeschliddert. Die alte Dame war bereit, bis hundert zu gehen.«

Er sah mich einen Moment fest an, dann zuckte er die Achseln. »So ist das Leben«, sagte er philosophisch. »Das ist immer mein Pech, wenn ich spekuliere. Kaum habe ich verkauft, klettern die Kurse.«

»Was ist mit den Bildern?«

»Rückversicherung, Colonel. Für mich und die Dame, die

die Briefe gekauft hat.« Er betrachtete die Bilder. »Gut getroffen, finden Sie nicht?«

Ich ging an ihm vorbei zur Tür. Coriano beobachtete mich genau. Renzo und der Karottenkopf ebenfalls. Der einzige, der es nicht tat, war Johnny. Er lag immer noch mit dem Rücken auf der Erde. Ich schüttelte bekümmert den Kopf, als habe ich Mitleid mit ihnen allen, und ging hinaus.

Mein Wagen stand, wo ich ihn stehengelassen hatte. Ich wollte gerade die Tür öffnen, als ich Annas Stimme hörte. »Mister Carey?« Ich stieg ein und setzte mich neben sie.

»Ist Ihnen nichts passiert?«

»Ich glaube, nein«, sagte ich.

»Ich konnte nichts dafür, Colonel Carey.« Sie fing an zu weinen. »Sie haben mich dazu gezwungen. Coriano war in der Bar, als ich runterkam.«

»Sicher, Anna, sicher.« Ich tippte auf die Lederhülle ihrer Kamera, die zwischen uns auf dem Sitz lag. »Sie hatten Ihre Kamera ganz zufällig bei sich?«

»Ja. Coriano sah die Kamera, und dadurch kam er auf den Gedanken. Er sagte, das würde Sie hindern, Lärm zu schlagen und die Polente zu holen. Ich hab’ aber drauf geachtet, daß ich Sie nur geknipst habe, wenn Sie die Augen zu hatten, damit Sie wenigstens beweisen können, daß Sie bewußtlos waren.«

Ich sah sie scharf an. Beweisen, daß ich bewußtlos war? Zum Teufel, ich sah einfach aus wie in höchster Ekstase.

»Ich mußte es tun, Mister Carey«, sagte sie ernst. »Wenn ich mich geweigert hätte, dann hätte Coriano mich nie mehr arbeiten lassen!«

»Schon gut, Anna«, sagte ich. »Nun sagen Sie mir, wo Sie wohnen, und ich fahr’ Sie nach Hause.«

Ich setzte sie vor ihrer Wohnung ab. Als ich fast eine Stunde später in mein Motel kam, blinkte das rote Licht wieder an meinem Telefon. Ich nahm es auf. Ja, die alte Dame hatte gerade angerufen; sie ließ mich bitten, mich sofort bei ihr zu melden. Ich wählte ihre Nummer. Ihre Stimme war hellwach und scharf. »Nun, Luke«, fragte sie, »hast du sie bekommen?«

»Nein.«

»Wie meinst du das?« fragte sie ärgerlich.

»Es war kein Geschäft zu machen. Nora hatte sie schon vor uns gekauft.«

»Nora?« Ihre Stimme klang überrascht.

»Natürlich - wer sonst?«

Sie kicherte. »Das hätte ich mir eigentlich denken müssen. Es hätte Nora freilich nicht gepaßt, wenn wir die Briefe hätten. Nun, wenigstens brauchen wir uns keine Sorgen mehr darum zu machen.«

»O nein!« sagte ich und legte das Telefon auf. Niemand außer mir. Ich hatte grade noch genug Energie, aus meinen Kleidern und ins Bett zu steigen. Es war eine lange Nacht gewesen.

Die Aufseherin kam in die Tür von Danis Zimmer. »Deine Mutter ist da, sie kommt dich besuchen.«

Dani erhob sich von ihrem Bett. »Wo ist sie?«

»Sie wartet in der Kantine.«

Dani folgte der Aufseherin den Gang hinunter und durch die Stahltür. Mit dem Lift fuhren sie zur Kantine hinunter, die zu ebener Erde lag. Es war gegen drei Uhr. Der Raum war fast leer. Ein fremder Mann und Miss Jennings saßen bei ihrer Mutter.

Nora hob die Wange und hielt sie Dani zum Kuß hin. »Hallo!«

Dani schaute erst auf Miss Jennings, dann auf den Fremden. »Hallo, Mutter. Hallo, Miss Jennings.«

Sally Jennings stand auf. »Hallo, Dani!« Sie wandte sich zu den andern. »Sie entschuldigen mich - ich muß wieder in mein Büro.«

Nora und der Fremde nickten. Miss Jennings ging.

»Steh nicht so da, Dani«, sagte Nora unfreundlich. »Setz dich doch.«

Gehorsam setzte sich Dani hin. »Was wollte sie von dir?«

»Sie wollte nichts von mir. Wir wollten mit ihr sprechen.«

»Worüber?« Danis Stimme klang mißtrauisch.

»Über dich. Du scheinst ihnen ziemlich viel Ungelegenheiten zu machen!«

Dani sah ihre Mutter einen Augenblick fest an, dann musterte sie den Fremden. »Wer ist der Mann?« fragte sie kurz.

»Dani!« Noras Stimme klang entsetzt. »Hast du keine besseren Manieren?!«

»Hier nicht«, sagte Dani ungeduldig. »Hier hat man keine Zeit für Manieren. Wer ist er?«

Nora sah ihn vielsagend an. »Dies ist Doktor Weidman, Dani. Ich habe ihn gebeten, dich anzusehen.«

»Wozu?«

»Zu deinem eigenen Besten. Denn anscheinend bekommen sie hier nicht heraus, was eigentlich mit dir ist.«

»Ach so. Willst du noch einen Kopfbohrer zuziehen?«

Jetzt war Nora unverhohlen ärgerlich. »Er ist Psychiater, Dani.«

»Ich mag nicht mit ihm sprechen.«

»Du mußt!« sagte Nora energisch.

»Warum, Mutter? Denkst du, ich bin nicht normal?«

»Was ich denke, spielt keine Rolle, Dani. Wichtig ist, was die andern denken. Sie können dich für lange Zeit wegschicken.«

Dani beobachtete noch immer genau das Gesicht ihrer Mutter. »Für mich ist nur wichtig, was du denkst, Mutter. Glaubst du ernstlich, mit mir stimmt etwas nicht?«

Nora erwiderte ihren forschenden Blick, dann atmete sie tief. »Ich denke das natürlich nicht, Kind«, sagte sie. »Aber.«

»Dann werde ich nicht mit ihm sprechen.«

Der Arzt stand auf. Er lächelte. »Ich glaube nicht, daß Sie Grund zur Besorgnis haben, Miss Hayden. Miss Jennings hat einen ausgezeichneten Ruf, und ich glaube, Sie können sich auf ihr Urteil absolut verlassen.« Er wandte sich an Dani. »Es könnte nicht schaden, kleines Fräulein, wenn Sie Miss Jennings etwas mehr Vertrauen schenkten. Dabei kann Ihnen nichts anderes passieren, als daß sie Ihnen hilft.«

Er machte eine kurze Verbeugung und ging.

Schweigend sahen sie sich an. »Hast du einen Nickel, Mutter? Ich möchte mir ein Coke holen.«

Nora sah sie geistesabwesend an. Dani wußte, daß sie an etwas ganz anderes dachte. Das tat sie immer, wenn sie diese Miene aufsetzte.

»Einen Nickel, Mutter!« wiederholte sie leise.

Nora machte ihre Handtasche auf. »Kannst du wohl eine Tasse Kaffee für mich bekommen?«

»Sicher, Mutter.«

Dani stand auf und ging zur Küchentür. »Hallo, Charley! Kann ich eine Tasse Kaffee für meine Mutter bekommen?«

Ein glänzendes dunkles Gesicht erschien in der Tür. »Klar, kannst du, Dani.«

Dani brachte den Kaffee zum Tisch, dann ging sie sich ihr Coke holen. Nora steckte sich eine Zigarette an. Dani sah sie an, und Nora schob ihr mit einem zögernden Seufzer das Päckchen hinüber. Dani nahm eine Zigarette und zündete sie an.

»Ich dachte, du hältst nichts von diesen Kopfbohrern, Mutter.«

»Ich weiß nicht mehr, wovon ich etwas halten soll.«

Dani sah die Mutter neugierig an. Das sah ihr gar nicht ähnlich. Gewöhnlich hatte Nora über alle Dinge sehr verschiedene Meinungen. Nora nippte an dem Kaffee und verzog das Gesicht.

Dani lachte. »Nicht ganz so wie der Kaffee zu Hause, Mutter.«

»O nein«, sagte Nora. Sie sah ihre Tochter an. »Ist das Essen ebenso schlecht?«

»Nein, das ist ganz ordentlich.«

»Ich habe die Briefe gelesen, die du an Rick geschrieben hast«, sagte Nora leise. »Warum hast du mir nichts davon gesagt?«

Dani spürte, wie ihr das Blut heiß in die Wangen stieg. »Daran hab’ ich nicht gedacht. Ich hatte es vergessen.«

»Hätte sie jemand anders in die Hände bekommen, so wäre das sehr schlimm geworden. Ich. ich wußte nicht, daß. daß das schon so lange ging«, sagte Nora gepreßt.

Dani fühlte, wie sich ihre Kehle zusammenzog. Schweigend sah sie ihre Mutter an.

Nora senkte rasch die Augen. »Wann hat es angefangen?«

»Damals in Acapulco. Erinnerst du dich? Als du nach San Francisco fliegen mußtest? Damals.«

»Das hättest du mir sagen müssen, Dani. Was hat er mit dir gemacht?«

»Er hat nichts mit mir gemacht, Mutter«, sagte Dani fest. »Ich habe ihn verführt.«

Nun stiegen Nora die Tränen in die Augen. »Warum, Dani -warum?«

»Weil ich’s wollte, Mutter. Weil ich es satt hatte, immer das kleine Mädchen zu spielen.«

Sie schwieg, starrte auf ihre Mutter und zog an ihrer Zigarette. »Ich glaube, weiter wäre darüber nichts zu sagen, Mutter. Oder?« Nora schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht.«

Es wäre so vieles zwischen ihnen zu sagen gewesen, aber Da-ni konnte nicht zu ihr sprechen und sie nicht zu Dani - genauso, wie Nora auch mit ihrer Mutter nicht hatte sprechen können. Jede Generation lebt auf ihrer eigenen Insel.

Sie machte noch einen Versuch. »Dani«, sagte sie ernst, »bitte sprich mit Miss Jennings. Vielleicht kann sie dir wirklich helfen.«

»Ich trau mich nicht, Mutter. Mit ihr ist es nämlich so: Man kann nicht einfach aufhören, wann man will. Da führt das eine

Wort zum andern und das andere zum dritten - und ehe man sich’s versieht, hätte sie erfahren, was Freitag nacht wirklich geschehen ist. Und ich will nicht, daß es jemand erfährt - genauso, wie du es nicht willst.«

Nora sah ihre Tochter an. Darauf lief also alles hinaus, dachte sie.

Das einzige, was sie zu teilen hatten, war eine gemeinsame Schuld.

Dani sah hinauf zur Wanduhr. Es war fast drei Uhr dreißig. »Ich muß zurück«, log sie zögernd. »Ich habe Unterricht.«

Nora nickte. Dani stand auf, ging um den Tisch und küßte Nora auf die Wange. Impulsiv schlang Nora die Arme um sie.

»Mach dir keine Sorgen, Mutter. Es wird schon alles gutgehen«, sagte sie leise. Nora lächelte mühsam. »Natürlich, Liebling. Wir sehen uns am Sonntag.«

Sie sah, wie die Aufseherin sich erhob und Dani in den Korridor folgte. Dann schloß sich die Schwingtür hinter ihnen. Sie starrte in ihren Aschenbecher. Ihre Zigarette glimmte noch. Langsam drückte sie sie aus, nahm ihre Handtasche, holte den Spiegel heraus und verbesserte ihr Make-up ein wenig; dann ging sie.

»Deine Mutter ist sehr schön, Dani«, sagte die Aufseherin, als sie zu Danis Zimmer gingen.

Dani schaute die Aufseherin an. Das sagten alle, die ihre Mutter zum erstenmal sahen - und dann musterten sie sie, und sie fühlte fast körperlich, wie enttäuscht sie waren. »Was für ein hübsches Kind«, sagten sie dann meist, aber Dani wußte, was sie dachten.

Sie ging in ihr Zimmer und schloß die Tür. Eine Zeitlang starrte sie auf die zerkratzte, bekritzelte Wand, dann streckte sie sich auf ihr Bett.

Schön und begabt. Das war ihre Mutter. Alles, was sie selbst nicht war. Sie erinnerte sich, wie oft sie sich ins Atelier hinuntergeschlichen hatte, wenn ihre Mutter nicht da war, und versucht hatte, eines der herrlichen Dinge nachzuformen, wie sie ihre Mutter schuf. Aber alles, was sie in die Hand nahm, mißriet ihr kläglich. Schnell warf sie es fort, damit es nur keiner sah.

Plötzlich merkte sie, daß sie lautlos weinte. Als ihr die Tränen versiegten, stand sie vom Bett auf und betrachtete sich in dem kleinen Spiegel. Nora sah sogar schön aus, wenn sie geweint hatte. Mit klaren Augen und blasser, strahlender Haut. Nicht so wie sie selbst, mit verquollenen Augen und rotem, geschwollenem Gesicht. Sie nahm das Päckchen >Wash ’N Dri<, das ihr die Mutter geschickt hatte, und riß ein Blatt ab. Sie drückte es auf ihr Gesicht und genoß das Gefühl der kühlen, mentholduftenden Feuchtigkeit, das ihrer Haut so wohltat.

Sie dachte daran, wie Rick sie immer geneckt hatte, weil sie diese Papiertücher so liebte. Sie trug immer welche bei sich in ihrer Handtasche. Einmal, als sie zusammen gewesen waren und er mit geschlossenen Augen neben ihr auf dem Rücken lag, hatte sie eins genommen, um ihn damit zu erfrischen.

Aber sie hatte ihn kaum damit berührt, als er wie wild auffuhr. »Um Gottes willen, Baby, was machst du da?«

»Ich wollte dich nur wieder frisch machen«, hatte sie gesagt.

Er hatte gelacht und sie wieder über sich gezogen. Sie liebte das leise Kratzen seines Bartes, wenn er ihre Kehle mit den Lippen liebkoste. »Du bist doch ein ganz verrücktes Baby!« hatte er gesagt und sie festgehalten, und dann taten seine Hände all die wundervollen Dinge, die sie nie wieder entbehren wollte.

Sie merkte, daß ihr wieder die Tränen in die Augen kamen, und drängte sie zurück. Es hatte keinen Sinn, jetzt zu weinen. Es war niemand da, der sie trösten konnte. Früher hatte sie immer zu Rick gehen können, wenn ihr so jämmerlich zumute war. Dann hatte er gelächelt, und wenn er sie nur berührte, war aller Kummer verflogen. Aber jetzt nicht mehr.

Sie zählte die Tage nach. Gestern war Sylvia weggebracht worden. Demnach war heute Freitag. Ricks Begräbnis mußte schon vorbei sein. Ob ihre Mutter wohl Blumen hingeschickt hatte?

Wahrscheinlich nicht. Wahrscheinlich nicht, wie sie ihre Mutter kannte. Mutter hatte ihn sicher schon vergessen. Außerdem würde sie tief in ihrem Herzen noch immer viel zu eifersüchtig dazu sein. Sie dachte daran, wie wütend die Mutter gewesen war, als sie sie in Ricks Zimmer gefunden hatte. Sie hatte ihn angeschrien, und ihre Finger hatten häßliche Flecken auf seinen nackten Schultern hinterlassen. Sie hatte gedacht, die Mutter würde ihn umbringen. »Nein, Mutter, nein!« hatte sie geschrien.

Dann hatte die Mutter sie, nackt, wie sie war, den Korridor entlanggeschleift und in ihr Zimmer gestoßen. Dort hatte sie am Boden gekauert und abwechselnd gezittert und geweint, während der Streit zwischen den beiden im ganzen Haus widerhallte.

Nein, sie war überzeugt, daß Mutter ihm keine Blumen geschickt hatte. Aber sie war auch überzeugt, daß Nora Rick noch nicht vergessen hatte. Danis Augen waren trocken und brannten. Sie nahm ein neues >Wash ’N Dri<, tupfte ihr Gesicht damit ab, zerknüllte das Seidenpapier und warf es in den Papierkorb. Plötzlich fühlte sie sich entsetzlich einsam. Als sei das weggeworfene Stückchen Papier ein Band zur Vergangenheit gewesen, ein Band, das jetzt zerrissen war. Nur Rick hatte sich darum bemüht, sie zu verstehen, aber jetzt tat es niemand mehr. Niemand.

Sie begann wieder zu weinen.

Sally Jennings sah hinauf zur Uhr. Ein Viertel vor sechs. Ungeduldig betrachtete sie ihren Schreibtisch. Da lagen so viele Berichte, die hinausgehen sollten. Sie begann sie sorgsam zu ordnen. Vielleicht konnte sie noch einige fertig machen, wenn sie aus dem Theater kam.

Sie hatte lange darauf warten müssen, Karten für dieses Stück zu bekommen - und heute sollte nichts sie davon abhalten, es anzusehen! Wenn sie jetzt nach Hause fuhr, sich umzog und dann wieder herunter zur Stadt kam, hatte sie gerade noch Zeit, ein paar Bissen zu essen, ehe der Vorhang aufging.

Es klopfte an der Tür. »Ja!« rief sie ungeduldig.

Zuerst sah sie nur die weiße Tracht der Aufseherin hinter der Glastür, dann ging die Tür auf, und Dani stand dahinter.

Sie blieb auf der Schwelle stehen. »Miss Jennings«, sagte sie mit dünner, sanfter Stimme, »kann ich Sie sprechen?«

Die Psychologin blickte sie ein paar Sekunden an. Das Kind hatte geweint, das sah man, aber außerdem war ein so verlorener Ausdruck in ihren Augen, den sie früher noch nicht darin gesehen hatte. »Natürlich, Dani.«

Dani sah auf die offene Mappe. »Sie wollten gerade gehen, Miss Jennings. Oh, ich kann morgen früh wiederkommen.«

Sally schloß die Aktentasche und stellte sie hinter den Schreibtisch auf den Boden. »Nein - ich hatte mich gerade entschlossen, noch zu bleiben und heute abend zu arbeiten.«

Dani kam näher. »Ich möchte Sie aber nicht belästigen.«

Miss Jennigs lächelte ihr beruhigend zu - und wenn sie lächelte, sah sie plötzlich sehr jung aus. »Ich mach dir einen Vorschlag: Wir essen zusammen in der Kantine. Ich denke es mir nett, zur Abwechslung jemanden zum Schwatzen zu haben.«

Dani blickte über die Schulter nach der Aufseherin, die noch vor dem Büro wartete. »Meinen Sie. meinen Sie, daß ich das darf?«

Sally Jennings griff zum Telefon und wählte die erste Bewährungshelferin. Sie legte die Hand über das Mundstück. »Ich glaube, es läßt sich schon machen«, sagte sie zu Dani.

Vielleicht war es nicht gerade Erleichterung oder Dankbarkeit, was Sally in Danis Augen sah, aber plötzlich schien es ihr, als sei der verlorene Ausdruck aus dem Kindergesicht verschwunden. Und ebenso plötzlich kam Sally das Theaterstück, das sie schon so lange hatte sehen wollen, gar nicht mehr wichtig vor.

»Daß man einen Menschen nicht auf immer für sich hat, das merkte ich, als mein Vater aufhörte, mich zu besuchen.«

Dani saß Miss Jennings am Schreibtisch gegenüber und sah sie an. Sie waren gerade vom Essen zurückgekommen. »Verstehen Sie, wie ich das meine? Wenn man klein ist, hält man sich für den Mittelpunkt der Welt, und wenn man älter wird, merkt man plötzlich, daß man es nicht ist. Einen Monat lang habe ich jeden Tag geweint. Dann hatte ich mich daran gewöhnt.

Onkel Sam - das ist Mister Corwin - war wirklich nett. Mutter heiratete ihn, nachdem sie von meinem Vater geschieden war. Ich glaube, ich habe ihm irgendwie leid getan. Er nahm mich oft mit spazieren, wie es mein Vater getan hatte. Wir gingen in die Parks und in den Zoo. Einmal nahm er mich sogar zum Segeln mit. Aber er war nicht wie Daddy. Wenn ich bei Daddy war, kam es mir immer vor, als denke er an nichts anderes als an mich. Bei Onkel Sam war das anders. Er gab sich schrecklich Mühe, aber oft war ich doch nur eines der vielen Dinge, an die er zu denken hatte. Aber ich mochte ihn sehr gern. Und eines Tages war auch er weggegangen. Ich erinnere mich an den Tag.«

Dani schwieg und sah auf die qualmende Zigarette zwischen ihren Fingern.

»Sprich nur weiter, Dani«, bat die Psychologin. »Du erinnerst dich an diesen Tag. Was war geschehen, daß du ihn dir besonders gemerkt hast?«

Der blauweiße Wagen mit der zierlichen Aufschrift Miss Randolph ’s School an der Tür bog in die Einfahrt und hielt. Der Fahrer in seiner hübschen grauen Uniform stieg aus und öffnete die Tür. Dani flog förmlich aus dem Wagen, ihr langes schwarzes Haar flatterte hinter ihr her, die weiße Bluse und der blaue Faltenrock leuchteten im Sonnenlicht. Sie lief schnell die Stufen zur Haustür hinauf.

»Ich wünsch Ihnen ein nettes Wochenende, Miss Dani!« rief ihr der Fahrer nach.

»Ich Ihnen auch, Axel!« Sie lächelte ihm von der Haustür aus strahlend zu. Sie warf ihre Bücher auf den Tisch in der Halle und lief, ihr Zeugnis in der Hand, in großen Sprüngen die Treppe hinauf, den Korridor entlang zum Atelier.

Dort riß sie die Tür auf und lief hinein. »Mutter, Mutter«, rief sie, »ich habe einen Einser in Kunst!«

Sie war, das Zeugnis noch hoch in der Hand, bis in die Mitte des Ateliers gelaufen, ehe sie merkte, daß niemand da war. Sie ging zu dem kleinen Zimmer hinter dem Atelier.

Die Tür war zu. Sie klopfte an. »Mutter, Mutter, bist du da drin?« Keine Antwort.

Vorsichtig machte sie die Tür auf und sah hinein. Das Zimmer war leer. Langsam schloß sie die Tür. Sie war betroffen. Um diese Tageszeit arbeitete ihre Mutter sonst immer.

Sie ging zurück ins Foyer, nahm ihre Bücher vom Tisch und wollte die Treppe hinaufgehen. In diesem Augenblick kam Charles aus Onkel Sams Zimmer. »Guten Tag, Miss Dani.«

Sie sah zu ihm auf. »Wo ist Mutter?«

Der Diener machte ein verlegenes Gesicht. »Sie ist ausgegangen, Miss Dani.«

»Hat sie gesagt, wann sie zurückkommt?« Dani hielt das Zeugnis hoch. »Ich hab’ nämlich einen Einser in Kunst. Den möcht ich ihr zeigen.«

»Das ist ja herrlich, Miss Dani«, sagte der Diener freundlich. Dann änderte sich sein Ton. »Madame hat nicht gesagt, wann sie zurückkommt.«

»Oh!« Dani war enttäuscht. Sie wollte in ihr Zimmer gehen, blieb aber stehen und sah sich um. »Lassen Sie mich’s wissen, wenn sie heimkommt, Charles. Ich möchte zu ihr.«

»Natürlich, Miss Dani.«

Mrs. Holman hängte gerade ein paar Kleider in den Schrank, als Dani in ihr Zimmer trat. Ein breites Lächeln erschien auf ihrem Gesicht, als sie das Kind sah. »Da bist du ja. Ich war schon so gespannt. Nun, wie ist’s?«

Dani strahlte. »Was denkst du?«

»Laß mich’s sehen«, sagte die Bonne. »Ich kann’s nicht erwarten.«

Übermütig versteckte Dani das Blatt hinter ihrem Rücken. »Nein, ich zeig’s dir nicht, Nanni, ehe du dein Versprechen hältst.«

»Ich hab’ den Kuchen schon gebacken.«

»Fein - dann darfst du!« Dani hielt ihr das Zeugnis hin.

»Ich muß erst meine Brille holen!« sagte Mrs. Holman. »Ich bin so aufgeregt, daß ich’s gar nicht lesen kann.«

Sie fand die Brille in ihrer Kitteltasche und setzte sie auf. Dann sah sie schnell das Blatt an. »Oh, Dani«, rief sie, »einen Einser in Kunst!«

Sie zog Dani an sich. »Da bin ich aber stolz auf dich«, sagte sie herzlich. Sie küßte Dani auf die Wange. »Und wie stolz wird deine Mutter sein, wenn sie das sieht!«

»Wo ist Mutter denn? Sie war nicht im Atelier.«

Im Gesicht der Bonne erschien jetzt der gleiche Zug von Verlegenheit, der Dani vorhin an Charles aufgefallen war. »Deine Mutter mußte plötzlich beruflich verreisen. Sie wird am Montag wieder dasein.«

»Soooo...?« Die Mutter hatte in letzter Zeit mehrmals am Wochenende ganz unvermutete Reisen gemacht. Dani nahm das Blatt wieder an sich. »Hoffentlich ist sie rechtzeitig zurück, um das Zeugnis zu unterschreiben. Ich muß es Montag wieder abgeben.«

»Sicher wird sie rechtzeitig zurück sein. Aber weißt du, jetzt gehen wir wieder in die Küche und lassen uns von Cookie die Milch und unseren Kuchen geben - was meinst du? Und machen zu dritt eine kleine Party?«

Dani sah die alte Frau an. Sie war enttäuscht. Immer nur Partys mit Nanny. Wie nett hätte es sein können, wenn zur Abwechslung Mutter einmal mit dabeigewesen wäre. »Ich hab’ gar keine Lust auf eine Party, Nanny.«

»Kind, tu jetzt, was ich dir sage.« Die Bonne sprach mit verlegener Strenge. Sie wußte, was Dani dachte.

»Okay.« Das Kind drehte sich um und ging hinaus. In der Halle traf sie Onkel Sam und Charles. Beide trugen ein paar Koffer. »Onkel Sam!« rief Dani und lief auf ihn zu.

Er blieb wartend stehen. Charles ging mit dem Gepäck die Treppe hinunter.

»Ja, Dani?«

»Onkel Sam, ich hab’ ’ne Eins in Kunst!«

»Das ist ja großartig, Dani!«

Aber in Onkel Sams Stimme war etwas so Sonderbares, daß sie aufschaute und in sein Gesicht sah. Er sah müde aus, und sie spürte, daß er traurig war. Sie warf einen Blick auf die Koffer. »Fährst du auch übers Wochenende weg? Wirst du dich mit Mutter treffen, Onkel Sam?«

»Ich fahre weg, ja. aber ich werde mich nicht mit deiner Mutter treffen.«

»Schade! Ich dachte, wenn du sie siehst, könntest du’s ihr gleich sagen.« Er schien an etwas anderes zu denken. »Was sollte ich ihr sagen, Kind?«

»Daß ich eine Eins in Kunst hab’.«

»Aber ich werde sie nicht sehen, Dani.«

»Wirst du am Montag wieder zurück sein?«

Er sah sie eine Weine Weile schweigend an, dann stellte er die Koffer hin. »Nein, Dani - ich werde Montag nicht zurück sein. Ich komme überhaupt nicht zurück.«

»Überhaupt nicht?« fragte sie verwundert.

»Nein. Ich ziehe aus.«

Plötzlich kamen ihr die Tränen in die Augen. Es war genau wie mit Daddy. Eines Tages zog er aus, und nach einer Weile kam er sie auch nicht mehr besuchen. »Warum? Hast du uns nicht mehr lieb, Onkel Sam?«

Er sah die Tränen in ihren Augen und hörte den Kummer in ihrer Stimme. Er nahm ihre Hand. »Das ist es nicht, Dani. Und mit dir hat es überhaupt nichts zu tun. Aber manchmal gehen die Dinge eben nicht so, wie sie gehen sollten. Deine Mutter und ich., wir lassen uns scheiden.«

»So wie Mutter und Daddy?« Er nickte.

»Das heißt., du wirst mich auch nicht mehr besuchen kommen?«

Dani fing an zu weinen. »Niemand kommt mich mehr besuchen.«

Er legte bekümmert den Arm um sie. »Ich käme dich gern besuchen, Dani. Aber ich kann nicht.«

»Warum nicht?« fragte sie. »Susie Colters Mutter ist fünfmal geschieden, und alle ihr Väter kommen sie besuchen. Ich weiß es, weil sie in der Schule neben mir sitzt und mir immer die Geschenke zeigt, die sie ihr mitbringen.«

»Deine Mutter will es nicht.«

»Warum zieht sie nicht selbst aus, wenn sie sich scheiden läßt?« fragte Dani zornig. »Warum ist es immer der Daddy, der ausziehen muß?«

»Ich weiß es nicht, Dani.«

Impulsiv umarmte sie ihn. »Geh nicht weg, Onkel Sam! Du wirst mir so schrecklich fehlen!«

Er lächelte und legte seine Wange an die ihre.

»Du wirst mir auch fehlen, Dani. Aber jetzt sei ein großes Mädchen und laß mich gehen - und ich werd’ dir auch ab und zu ein Geschenk schicken. Das zeigst du dann deiner Freundin, damit sie weiß, sie ist nicht die einzige, die von den Daddys Geschenke bekommt.«

»Gut«, sagte Dani zögernd. Sie küßte ihn. »Aber fehlen wirst du mir doch immer.«

Sam küßte sie wieder und richtete sich auf. Er nahm sein Gepäck. »Nun muß ich mich beeilen.«

Sie folgte ihm die Treppe hinunter. »Gehst du auch nach La Jolla und wirst du auch auf einem Boot wohnen wie mein Daddy?«

Er lachte. »Nein, Dani. Ich werde eine Zeitlang in New York wohnen.«

Ihre Stimme klang enttäuscht. »Schade. Wenn du auf einem Boot wohntest, könnten wir doch mal zusammen segeln!«

Er lachte wieder. »Weißt du, Dani, ich kann nicht so gut segeln wie dein Daddy.«

Dani ging mit bis zur Tür und sah zu, wie Charles das Gepäck in einem Taxi verstaute. Onkel Sam beugte sich noch einmal zu ihr herunter und küßte sie. »Leb wohl, Dani - mach’s gut!«

Sie winkte ihm noch, als das Taxi anfuhr. »Leb wohl, Onkel Sam!« rief sie, und weil ihr nichts anderes einfiel, rief sie ihm nach: »Und amüsier dich gut!«

Nachdenklich ging sie durch das Haus zur Küche. Charles, Cookie und Nanny warteten auf sie. Alle, bis auf Violet, die Zofe ihrer Mutter. Violet war nie im Haus, wenn die Mutter fortfuhr.

»Mutter und Onkel Sam werden sich scheiden lassen«, verkündete sie. »Onkel Sam wird in New York wohnen.«

Mrs. Holman holte die Schokoladentorte und stellte sie auf den Tisch. »Nun. wie gefällt dir unser Kuchen?«

Dani sah ihn an. »Oh, er ist herrlich.« Aber ihre Stimme klang gar nicht begeistert.

»Komm, setz dich an den Tisch, und ich schneide dir ein Stück ab«, sagte Cookie.

Gehorsam setzte sich Dani. Cookie schnitt ein gewaltiges Stück ab und legte es auf Danis Teller, neben ihren Milchbecher. Dann schnitt sie die Torte weiter auf, und alle setzten sich. Dani wußte, jetzt warteten sie, daß sie zuerst kostete, damit sie auch anfangen konnten. Sie nahm mit der Kuchengabel einen großen Bissen und steckte ihn in den Mund. »Oh. sie schmeckt wunderbar«, sagte sie mit vollem Munde.

»Erst schlucken, dann sprechen, Dani!«

Und dann aßen sie alle. »Wirklich, sie schmeckt sehr gut, Mrs. Holman«, sagte Charles. »Aber natürlich sind Ihre Kuchen auch sehr gut, Cookie«, setzte er schnell hinzu. Er wußte, wie rar in diesen Zeiten gute Köchinnen waren.

»Warum lassen sie sich denn scheiden?« fragte Dani plötzlich.

Die Dienstboten tauschten verlegene Blicke. Schließlich war es Mrs. Holman, die ihr antwortete: »Wir wissen es nicht, Kind. Es steht uns nicht zu, etwas davon zu wissen.«

»Vielleicht weil Mutter so hübsch ist und so viele Freunde hat?«

Sie bekam keine Antwort.

»Ich hab’ gehört, daß sich Mutter und Onkel Sam vor ein paar Tagen gestritten haben. Onkel Sam sagte, er ist es satt mit ihren Bettpartnern. Ich wußte ja, daß Onkel Sam und Mister Scaasi Partner sind, aber ich wußte nicht, daß Mutter auch Partner hat. Warum wußte ich denn nichts davon?«

»Das ist nicht unsere Sache, Kind«, sagte Mrs. Holman jetzt streng, »und deine ebenfalls nicht. Du ißt jetzt deinen Kuchen und kümmerst dich um deine eigenen Angelegenheiten.«

Dani schwieg und aß ein paar Minuten, dann sah sie auf. »Onkel Sam hat gesagt, er wird mir Geschenke schicken, damit Susie Colter nicht die einzige ist, die von ihren Daddys Geschenke bekommt.«

Zwei Wochen später wurde sie zehn Jahre alt und bekam eine große Kiste aus New York, ganz voller Geschenke. Onkel Sam hatte Wort gehalten. Ihr Kummer ließ ein wenig nach. Aber sie vermißte Onkel Sam doch sehr.

Als die Schulferien begannen, nahm ihre Mutter sie mit auf eine mondäne Farm am Tahoe-See, um dort den Sommer zu verleben. Mutter sagte, sie müsse es tun, um ihre Scheidung zu bekommen, aber Dani hatte gar nichts dagegen. Sie hatte so viel Spaß dort. Jeden Morgen durfte sie reiten, und jeden Nachmittag waren sie unten am See. Rick war auch dort. Er war der neue Manager ihrer Mutter. Wahrscheinlich war er einer von jenen Partnern, über die sich Mutter und Onkel Sam gestritten hatten, denn sie hatte ihn ab und zu morgens aus dem Schlafzimmer ihrer Mutter kommen sehen.

Aber sie mochte Rick gerne. Ihm machten dieselben Dinge Spaß, die ihr Freude machten. Er ging mit ihr reiten und lehrte sie Wasserski. Und er lachte so oft. Nicht wie Onkel Sam, der nie viel gelacht hatte. Mutter sagte immer, daß Rick geradeso ein Kindskopf sei wie Dani.

Mutter mochte weder reiten noch lange Zeit auf dem Wasser sein. Sie sagte, es sei schlecht für ihre Haut, sie würde zu schnell braun. Statt dessen war sie fast immer in ihrem Zimmer, das sie sich als Atelier eingerichtet hatte. Aber abends zog sie sich elegant an und fuhr mit Rick nach Reno hinein. Dann schlief sie morgens lange. Aber Rick war jeden Morgen zeitig auf und ging mit ihr reiten. Er nannte sie oft >kleiner Reitersmannc.

Damals trug er ein Bärtchen. Einen schmalen Strich, nicht viel dicker als ein Bleistiftstrich, der bis zu den Winkeln seines breiten Mundes reichte. Dani fand ihn sehr hübsch damit. Irgendwie so wie Clark Gable. Eines Tages sagte sie das zu ihrer Mutter, und aus unbegreiflichen Gründen machte es ihre Mutter ärgerlich. Sie befahl Rick, das alberne Ding wegzurasieren.

Dani fing an zu weinen. Sie wußte selbst nicht, warum. »Ra-sier’s nicht ab!« bat sie. »Bitte, tu’s nicht!«

»Hör auf, dich wie eine Närrin zu betragen!« hatte die Mutter sie angeschrien.

Aber Dani wurde ebenfalls wütend und wandte sich gegen ihre Mutter. »Du willst bloß, daß er’s abrasiert, weil ich gesagt hab’, daß es mir gefällt. Du willst nicht, daß jemand mich gern mag oder daß ich jemanden gern habe.« Sie wandte sich an Rick. »Bitte, sag ihr doch, daß du’s nicht abrasierst!«

Rick sah erst sie und dann ihre Mutter an. Er zögerte.

Und dann lächelte ihre Mutter. Es war ein eigentümliches Lächeln - Dani hatte es schon oft auf ihrem Gesicht gesehen, wenn sie sie zwang, etwas zu tun, was sie in Wirklichkeit gar nicht wollte. »Du bist frei, ein weißer Mann und über einundzwanzig, Rick! Du mußt dich schon selbst entschließen, ob du es tun willst oder nicht!«

Rick blieb einen Augenblick unschlüssig stehen, dann machte er kehrt und ging ins Zimmer. Als er ein paar Minuten später wiederkam, war das Bärtchen weg.

Dani starrte ihn groß an. Er sah irgendwie verändert aus. Wo das Bärtchen gewesen war, war jetzt ein komischer heller Strich. Er sah gar nicht mehr wie Clark Gable aus. Sie brach in Tränen aus und lief in ihr Zimmer.

Danach ging Rick nicht mehr mit ihr reiten. Er nahm sie auch nicht mehr im Rennboot mit zum Wasserski. Aber es machte nicht viel aus, weil ihr Aufenthalt hier fast vorbei war. Für den Rest des Sommers schickte die Mutter sie fort in ein Schülerferienheim.

Als es leise an der Tür klopfte, sah Nora von ihrer Arbeit auf. »Herein.«

Die Tür des Ateliers öffnete sich. Mrs. Holman stand verlegen im Türrahmen. »Darf ich ein Wort mit Madam sprechen?« fragte sie zögernd.

Nora nickte. »Natürlich.« Sie legte den Tonklumpen weg und wischte sich die Hände ab.

Die Bonne kam langsam herein. Sie hatte das Atelier nur wenige Male betreten. »Ich würde gern mit Ihnen über Danielle sprechen, Madam.«

Sie warf einen Blick auf Rick, der neben Nora stand.

»Was ist mit ihr?« fragte Nora.

Mrs. Holman sah wieder zu Rick hinüber. Sie konnte sich nicht entschließen zu sprechen. Rick verstand den Wink. »Ich lasse Sie lieber allein.« Er ging ins Nebenzimmer, ließ aber die Tür offen.

»Nun?« sagte Nora.

Die alte Frau war noch immer verlegen. »Danielle wächst heran«, sagte sie endlich.

»Natürlich«, sagte Nora. »Das wissen wir alle.«

»Sie ist kein kleines Kind mehr. Sie wird sehr bald eine junge Dame sein.«

Nora sah sie an und schwieg.

»Was ich meine«, fuhr die alte Bonne fort, und ihre Stimme

klang verlegener denn je, »es ist nicht so leicht, ihr manche Dinge zu erklären.«

»Welche Dinge?« fragte Nora gelangweilt und gereizt. »Ich bin überzeugt, man braucht ihr die. Tatsachen des Lebens nicht zu erklären. Das geschieht sehr klug und geschickt in Miss Randolphs Schule.«

»Das ist es«, sagte Mrs. Holman aufgeregt. »Sie weiß es.«

Nora schüttelte den Kopf. »Natürlich. Sie soll auch darum wissen.«

»Das tut sie«, sagte die alte Frau. »Und sie hat auch Augen.«

Nora schwieg ein paar Sekunden. »Deutlich gesprochen, Mrs. Holman - auf was wollen Sie hinaus?«

Mrs. Holman wich ihrem Blick aus. »Danielle sieht, was hier im Hause vorgeht. Und sie weiß, was sie weiß. Unter solchen Umständen ist es nicht gut für ein Mädchen, solche Dinge in ihrem eigenen Heim zu sehen.«

»Wollen Sie mir vorschreiben, was ich in meinem eigenen Haus zu tun habe?«

Die alte Bonne schüttelte schnell den Kopf. »O nein, Miss Hayden! Ich spreche lediglich von Ihrer Tochter. Die Dinge, die sie sieht, und die Dinge, die sie weiß, sind zuviel, als daß ein Kind wie Dani sie verstehen könnte. Sie macht sich lauter falsche Vorstellungen davon.« Sie sah Nora treuherzig in die Augen. »Miss Hayden, ich weiß nicht mehr, wie ich ihr erklären soll, daß sie in Wirklichkeit nicht sieht. was sie sieht.«

»Das ist, glaube ich, nicht Ihre Sache, Mrs. Holman«, antwortete Nora kalt.

Das Gesicht der alten Frau wurde hart. »Ja und nein, Miss Hayden«, sagte sie. »Aber ich bin Danis Nanny, seit sie geboren worden ist. Ich würde meine Pflicht nicht erfüllen, wenn ich Ihnen verschwiege, wie sehr das alles Dani beeinflußt.«

»Danke, Mrs. Holman.« Noras Stimme wurde noch kälter.

»Aber bitte, denken Sie daran, daß ich Danis Mutter bin, seit ihrer Geburt. Ich bin für sie verantwortlich - nicht Sie!«

Mrs. Holman sah sie an. »Gewiß, Miss Hayden.« Sie drehte sich um und verließ das Atelier. Als sich die Tür hinter ihr schloß, kam Rick aus dem Nebenzimmer.

»Hast du gehört, was sie gesagt hat?« fragte Nora.

Rick sah sie an. »Die Alte muß aus dem Haus.«

»Sie hat in einer Weise recht. Dani wächst heran.« Nora nahm einen Klumpen Ton in die Hand. »Wir müssen vorsichtiger sein.«

»Vorsichtiger?« fuhr Rick auf. »Wie vorsichtig sollen wir noch sein? Versuch’s doch mal, bei Nacht und Nebel aus diesem Haus und in das kleine Apartment über der Garage zu schleichen! Ich wette, die halbe Nachbarschaft weiß schon Bescheid.«

Nora lachte. »Immerhin könntest du etwas weniger Lärm machen, wenn du die Türen schließt.«

»Mach mir’s mal vor! Besonders wenn es regnet und einem die Kleider am Leibe kleben. Ich ertrinke ja immer beinahe.«

Nora legte den Tonklumpen weg. »Ja, wir müssen etwas dagegen tun!« sagte sie.

»Wir könnten doch heiraten«, sagte Rick. »Damit wäre das ganze Theater erledigt.«

»Nein.« Nora sah ihn offen an. »Wir sind nicht für die Ehe geschaffen. Ich habe es zweimal versucht, und es ist beide Male schiefgegangen. Und im Grunde hast du dazu ebensowenig Lust wie ich, Rick.«

Er trat zu ihr und legte den Arm um sie. »Aber wir haben’s noch nicht miteinander versucht, Baby! Vielleicht wäre es etwas ganz anderes!«

Sie schob ihn weg. »Mach dir nichts vor. Keiner von uns ist der Typ, der sich gern bindet. Wir sind von der gleichen Art. Wir lieben beide ab und zu etwas Neues.«

»Ich nicht, Baby. Ich könnte gerade mit dir sehr glücklich sein.«

Sie wich seinem Arm aus. »Und was willst du deinen Freunden sagen, wenn du Dienstag und Donnerstag abend nicht mehr ausgehen kannst? Besonders nicht zu deinem kleinen italienischen Mädchen, der Nachtlokalfotografin, die an ihrem freien Abend Spaghetti für dich kocht? Was willst du ihr sagen -nachdem sie die ganze Zeit darauf wartet, daß du sie endlich heiratest?« Rick sah sie starr an, sein Gesicht war dunkelrot. »Du weißt Bescheid über sie?«

Nora lächelte. »Ich weiß Bescheid über alles, was dich betrifft. Ich bin doch keine Närrin!« Sie zuckte die Achseln und nahm sich eine Zigarette. Sie wartete, bis er ihr Feuer gab, ehe sie weitersprach. »Aber ich nehme es dir wirklich nicht übel. Du kannst tun, was du willst - solange ich bekomme, was ich haben will.«

Jetzt lächelte auch er. »Und solange ich bekomme, was ich haben will. Ist es so recht, Baby?«

Er griff nach ihr, und diesmal wich sie seiner Umarmung nicht aus. Er nahm ihr die Zigarette aus den Lippen und warf sie in einen Aschbecher. Er küßte sie; sein Mund preßte sich hart und brutal auf den ihren.

Sie behielt die Augen offen und sah in sein Gesicht. Er drückte sie gegen einen Tisch, seine Hand fuhr unter ihren Rock.

»Das Fenster«, sagte sie und wies auf die breite Glasfläche, vor der sie standen.

»Zum Teufel, ich kann nicht warten! Laß die Nachbarn vor Neid platzen!«

Charles holte Dani vom Bahnhof ab, als sie aus dem Ferienheim kam. Sie sah sich um. Gewöhnlich kam er mit Mrs. Holman. »Wo ist denn Nanny?«

Charles wich ihrem Blick aus und nahm Danis Handgepäck. »Wußten Sie’s nicht, Miss Dani? Miss Holman ist nicht mehr bei uns.«

Dani blieb plötzlich stehen. »Was - Nanny ist von uns weg?«

Charles war verlegen. »Ich dachte, Sie wüßten es, Miss Dani. Sie hat eine andere Stellung angenommen.«

Danis Gesicht wurde zornig. »Hat Mutter sie weggeschickt?«

»Ich weiß es nicht, Miss Dani. Es passierte, gleich nachdem Sie ins Ferienheim gefahren waren.« Er machte Dani die Wagentür auf.

»Wissen Sie, wo Nanny arbeitet?« Charles nickte.

»Ich möchte, daß Sie mich hinfahren«, sagte Dani gereizt. »Jetzt gleich.«

Charles zögerte. »Ich weiß nicht. Ihre Mutter.«

»Fahren Sie mich, bitte, hin«, wiederholte Dani. »Gleich!«

»Miss Dani, Ihre Mutter wird sehr böse auf mich sein.«

»Ich werde ihr nichts sagen. Fahren Sie!«

Dani stieg hinten ein, und Charles schloß die Tür. Er machte noch einen Versuch, sie von ihrem Entschluß abzubringen. »Miss Dani.«, begann er, als er sich hinter das Steuer setzte.

Plötzlich wurde die Kinderstimme so eisig wie die ihrer Mutter. »Wenn Sie mich nicht hinfahren, werde ich Mutter erzählen, daß Sie es doch getan haben.«

Es war eines der neuen Häuser in Francis Wood. Nanny kam gerade den Weg entlang, sie schob einen kleinen grauen Kinderwagen. Dani sprang aus dem Auto, ehe es noch ganz stand. »Nanny!« rief sie und lief auf Mrs. Holman zu. »Nanny!«

Die alte Frau blieb stehen und blinzelte in die Nachmittagssonne. Sie hielt eine Hand über ihre Augen. »Dani?«

Dann wurde das Bild klar, und sie öffnete beide Arme, um das atemlose Kind aufzufangen. »Dani!« rief sie, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Dani, mein kleines Mädchen!«

Auch Dani weinte jetzt. »Warum hast du mich verlassen, Nanny? Warum hast du mich verlassen?«

Die Bonne küßte ihre Wangen, ihr Gesicht. »Mein Baby!« murmelte sie zärtlich. »Mein kleines Mädchen! Wie groß du geworden bist - und so braun!«

Dani verbarg ihren Kopf an Mrs. Holmans üppigem Busen. »Du hättest mir’s sagen müssen«, schluchzte sie. »Du hättest nicht. einfach so. weggehen sollen!«

Plötzlich verstand Mrs. Holman, was Dani meinte. Sie hob den Blick und sah Charles an, der langsam den Kopf schüttelte.

Intuitiv begriff sie, was er meinte. Sie wandte sich wieder an das Kind.

»Du bist jetzt ein großes Mädchen, Dani. Viel zu groß, um noch eine Nanny zu brauchen.«

»Du hättest mir’s aber sagen müssen!« Danis Tränen flossen noch immer. »Das war nicht recht!«

»Mein Platz ist aber bei wirklichen Babys, Dani. Kleine Babys brauchen mich nötiger.«

»Ich brauche dich auch«, sagte Dani. »Du mußt jetzt mit mir nach Hause kommen.« Nun schüttelte Mrs. Holman langsam den Kopf. »Ich kann nicht, Dani.«

»Warum nicht?«

Mrs. Holman legte die Hand auf den Kinderwagen. »Dieses Baby braucht mich auch«, sagte sie einfach.

»Ich brauche dich aber viel nötiger! Du bist immer bei mir gewesen!«

»Und jetzt ist es Zeit, daß du ohne mich fertig wirst, Kind«, sagte die alte Frau. »Du bist ein großes Mädchen. Was kann ich noch für dich tun, als herumsitzen und zusehen, wie du kommst und gehst? Du kannst selbst auf dich achtgeben. Bist du nicht den ganzen Sommer gut ohne mich ausgekommen? Warum sollte das anders sein - nur weil du wieder zu Hause bist?« - »Aber ich habe dich doch lieb, Nanny!«

Mrs. Holman drückte sie wieder an sich. »Und ich habe dich auch lieb, meine kleine Dani.«

»Dann mußt du jetzt mitkommen!«

»Nein, Dani«, sagte die Bonne. »Ich kann nicht mitkommen. Deine Mutter hatte vollkommen recht. Sie sagte, eines Tages müßte es doch einmal sein.«

»Meine Mutter? Dann hatte ich recht. Sie hat dich fortgeschickt, Nanny!«

»Früher oder später mußte ich doch fort, Dani«, sagte die Bonne traurig. »Du bist nun schon zwölf Jahre. Fast eine junge Dame. Bald werden die Jungens dich besuchen kommen, und du wirst zu Tanzabenden und Partys gehen. Möchtest du dann, daß dir eine alte Nanny am Rockzipfel hängt? Du mußt jetzt dein eigenes Leben führen, Dani.«

»Hat Mutter dich weggeschickt?« fragte Dani hartnäckig.

»Wir haben uns geeinigt, daß es so am besten ist. Deine Mutter war sehr freundlich. Sie hat mir noch ein ganzes Jahr Übergangsgehalt gezahlt.«

»Aber du hättest darüber mit mir sprechen müssen«, sagte Dani. »Denn du warst meine Nanny und nicht Mutters.«

Mrs. Holman schwieg. Gegen Danis Logik kam sie nicht auf. »Ich glaube, du mußt jetzt gehen, Kind. Deine Mutter sorgt sich sonst, wo du so lange bleibst. Außerdem hat sie eine sehr hübsche Überraschung für dich.«

»Ich mach mir nichts aus ihren Überraschungen«, antwortete Dani. »Darf ich dich besuchen kommen? Ab und zu, meine ich. Das heißt. wenn du nicht zu mir kommen darfst?«

Mrs. Holman umarmte sie liebevoll. »Natürlich, Dani. Ich habe jeden zweiten Donnerstag frei. Vielleicht können wir uns dann nach der Schule treffen.«

Dani küßte sie auf die Wange. »Aber du wirst mir so schrecklich fehlen, Nanny!«

»Du mir auch.« Mrs. Holman waren die Tränen nahe. »Und nun mußt du gehen, sonst bekommt Charles Unannehmlichkeiten.«

Langsam ging Dani zum Wagen zurück. Sie blieb auf dem ganzen Heimweg schweigsam. Als sie fast zu Hause waren, beugte sie sich vor zum Chauffeurssitz. »Was für eine Überraschung hat Mutter für mich?«

»Das darf ich Ihnen nicht sagen, Miss Dani. Ich hab’s Ihrer Mutter versprechen müssen, daß ich Ihnen nichts verrate.«

Aber schließlich war es doch Charles, der das Geheimnis verraten mußte, denn ihre Mutter hatte im Atelier eine Besprechung und ließ sagen, sie wolle nicht gestört werden. Dani ging die Treppe hinauf. Charles folgte; als sie in ihr Zimmer abbiegen wollte, sagte er: »Nicht hier, Miss Dani. Hierher bitte!« Er drehte sich um und ging zum andern Ende des Korridors.

Sie folgte ihm. »Ist das die Überraschung?«

Er nickte, als sie vor der Tür eines der früheren Gästezimmer stehenblieben, des größten. Es lag weitab von Danis altem Zimmer und dem Schlafzimmer ihrer Mutter. Mit einer Verbeugung öffnete er die Tür.

»Nach Ihnen, Miss Dani!«

Der Raum war doppelt so groß wie ihr altes Zimmer. Alles war neu darin, vom großen Himmelbett bis zu dem eingebauten Fernsehgerät und dem Plattenspieler. Als Schrank diente, wie bei ihrer Mutter, ein kleiner Nebenraum. Auch ein Bad war eingebaut worden, mit eingelassener Wanne und einer Ankleideni-sche.

»Sie können den Fernseher und das Radio vom Bett aus bedienen!« sagte Charles stolz.

»Sehr hübsch«, sagte Dani ohne jede Begeisterung. Sie sah

sich um. »Wo ist meine Schatztruhe?«

»Sie paßte nicht zu den neuen Möbeln. Ihre Mutter hat sie auf den Boden bringen lassen.«

»Bringen Sie sie herunter.«

»Jawohl, Miss Dani.«

»Was ist aus meinem alten Zimmer geworden?«

»Daraus hat Ihre Mutter ein Büro für Mister Riccio machen lassen. Und Mrs. Holmans altes Zimmer ist jetzt sein Schlafzimmer, Miss Dani.«

»Soooo«, sagte Dani gedehnt. Sie war alt genug, um zu wissen, was das bedeutete. Die Mädchen im Ferienheim flüsterten sich genug darüber zu, was zwischen den männlichen und weiblichen Erziehern vorging, die ihre Zimmer so dicht nebeneinander hatten.

Charles brachte ihr Handgepäck ins Zimmer. Ihr großer Koffer war schon da. »Ich werde Violet schicken, sie soll auspak-ken. Wir haben auf Sie gewartet, weil Sie den Kofferschlüssel haben.«

»Ich brauche keine Hilfe.«

»Natürlich brauchst du Hilfe!« Ihre Mutter sagte es. Sie stand in der offenen Tür. »Du kannst unmöglich alles selbst auspak-ken.«

Dani wandte sich ihr zu. »Ich habe alles selbst eingepackt«, sagte sie.

»Ich brauche Violets Hilfe nicht.«

Nora blickte sie an. Sie wußte, daß etwas nicht in Ordnung war. Sie sah zu Charles hinüber. Er nickte. »Ist das eine Art, deine Mutter zu begrüßen, nachdem du den ganzen Sommer fort gewesen bist? Komm her und laß dich ansehen.«

Sie beugte sich etwas herunter, damit Dani ihre Wange küßte. Gehorsam befolgte Dani den alten Ritus. Charles verließ das Zimmer und schloß die Tür hinter sich.

»Warum hast du Nanny weggeschickt?« fragte Dani, kaum daß das Türschloß zuschnappte.

»Ist das deine erste Frage nach all der Mühe, die ich mir gegeben habe, dies Zimmer für dich einzurichten? Zumindest hättest du mir sagen können, wie es dir gefällt.«

»Es ist sehr nett.« Danis Ton verriet, daß es nichts gab, was ihr gleichgültiger sein konnte.

»Du kannst den Fernseher und den Plattenspieler vom Bett aus bedienen - dort sind die Schalter.«

»Ich weiß. Charles hat’s mir schon gesagt.«

Anscheinend erwartete Dani eine Antwort auf ihre Frage, aber Nora schien ebenso entschlossen, diese Antwort nicht zu geben. »Du bist gewachsen. Du bist fast so groß wie ich. Hast du dich gemessen?«

»Einsvierundfünfzig.«

»Dreh dich um«, sagte Nora. »Laß dich ansehen.«

Gehorsam drehte sich Dani langsam um sich selbst.

»Du bist aber nicht nur gewachsen, du bist ja schon eine junge Dame!«

»Ich trage Büstenhalter Größe drei«, sagte Dani, und in ihrer Stimme klang etwas wie Stolz. »Aber ich habe einen sehr breiten Rücken. Wenn ich so weiter wachse, werde ich nächsten Sommer mindestens Größe vier brauchen, meinte unsere Betreuerin.«

»Über solche Dinge sprechen junge Damen nicht«, sagte Nora gereizt. »Ich schicke dir Violet, sie soll dir auspacken helfen.«

»Ich will Violet nicht«, sagte Dani; ihre Stimme klang wieder mürrisch. »Ich will meine Nanny.«

Noras Geduld war zu Ende. »Also, deine Nanny ist nicht mehr hier. Wenn du dir nicht von Violet helfen lassen willst, mußt du es eben allein machen.«

»Ich brauche niemanden!« antwortete Dani scharf. Ihre Augen wurden feucht. »Warum hast du mir nicht gesagt, daß du Nanny fortschicken willst? Warum hast du mir’s verheimlicht?«

»Ich habe dir nichts verheimlicht«, sagte Nora zornig. »Du bist jetzt ein großes Mädchen, du brauchst keine Amme mehr!«

Dani begann zu weinen. »Du hättest mir’s sagen müssen!«

»Hör jetzt auf, dich wie ein Kind zu betragen! Ich muß dir überhaupt nichts sagen. Ich tue, was ich für richtig halte.«

»Das sagst du immer! Das hast du gesagt, als du Daddy weggeschickt hast. Das hast du gesagt, als du Onkel Sam weggeschickt hast! Jedesmal, wenn du siehst, daß mich jemand lieb hat - lieber als dich! -, dann schickst du ihn weg! Und deshalb hast du’s getan! Bloß deshalb!« - »Halte den Mund!«

Und zum erstenmal in ihrem Leben schlug Nora das Kind ins Gesicht. Danis Hand flog zu ihrer Wange, während sie ihre Mutter mit entsetzten Augen ansah. »Ich hasse dich! Ich hasse dich! Eines Tages wirst du jemanden ebenso liebhaben, wie ich es tue, und dann werde ich ihn von dir wegschicken! Dann wirst du endlich einmal fühlen, wie es ist!«

Nora fiel auf die Knie und wollte Dani umarmen. »Es tut mir leid, Dani«, flüsterte sie. »Es tut mir so leid. Ich wollte es nicht tun!«

Dani sah ihr ein paar Sekunden in die Augen, dann wandte sie sich ab und lief ins Badezimmer. »Geh weg! Laß mich allein!« schrie sie durch die geschlossene Tür. »Ich hasse dich! Ich.«

». hasse dich«, schloß sie leise.

Sally Jennings blickte sie an. Danis Augen waren rotgeweint. Die Tränen hatten auf ihren Wangen graue Spuren hinterlassen. Sally schob ihr ein Päckchen Kleenex hin.

Dani nahm eins und trocknete ihr Gesicht. Sie sah die Psychologin dankbar an. »Ich meinte es nicht so. Wirklich, ich meinte es nicht so. Aber es gab keine andere Möglichkeit, mit meiner Mutter zu sprechen. Wenn ich nicht schrie oder kreischte oder ganz hysterisch wurde, hörte sie mir überhaupt nicht zu.«

Sally nickte. Sie sah auf die Uhr. »Ich glaube, für heute ist das alles, Dani«, sagte sie freundlich. »Geh jetzt und versuche, ein wenig zu schlafen.«

Dani stand auf. »Ja, Miss Jennings, werde ich Sie Montag sprechen können?«

Die Psychologin schüttelte den Kopf. »Leider wird es nicht gehen, Dani. Ich muß im Krankenhaus arbeiten und bin deshalb den ganzen Tag nicht da.«

»Und Dienstag ist die Verhandlung. Da werde ich Sie auch nicht sprechen können.«

Sally nickte. »Das stimmt. Aber sorg dich nicht, Dani, irgendwie werden wir’s schon einrichten.«

Sie sah dem Kind nach, wie es von der Aufseherin den Korridor entlang begleitet wurde. Dann lehnte sie sich auf ihrem Stuhl zurück, griff nach einer Zigarette, steckte sie an und schaltete am Tonband. Sie hatte noch nicht alles beisammen - aber wenigstens genug für einen Ausgangspunkt. Das war das Unangenehmste bei ihrer Aufgabe: Es blieb ihr nie genug Zeit, eine Sache wirklich gründlich durchzuführen.

Ich ging zum Fenster und sah hinaus. Noch lag der Morgennebel schwer auf der Straße. Ich war unruhig. Ich zündete mir eine Zigarette an und betrachtete das Telefon. Vielleicht sollte ich noch einmal versuchen, Elizabeth zu erreichen. Nein, besser nicht. Sie würde nicht antworten. Sie würde das Telefon einfach läuten lassen. Wie idiotisch war ich gewesen. Ich hätte ihr das Bild nicht schicken dürfen! Als ich ihr telefonisch alles erzählt hatte, war Elizabeth ganz ruhig gewesen. »Es ist doch sinnlos«, hatte sie gesagt. »Was kann sich Nora von so etwas erwarten?«

»Ich weiß es nicht. Vielleicht eine Rückversicherung, wie der Mann sagte, oder um es als Damoklesschwert über meinem Haupt zu halten. Und deshalb schicke ich dir das Bild.«

»Nein, schick es mir nicht, Luke. Ich will es nicht sehen. Schaff es dir vom Hals.«

»Das kann ich nicht. Meine einzige Möglichkeit ist, es dir zu schicken. Wenn es nicht so ein Schwindel wäre, täte ich’s nicht. Das weißt du. Ich schicke es eingeschrieben, mit Luftpost. Du brauchst das Kuvert gar nicht aufzumachen. Nur gut aufbewahren!«

»Du verlangst ein bißchen viel. Du weißt genau, ich kann dann der Versuchung doch nicht widerstehen!«

»Also gut, sieh dir’s an, damit du siehst, was für einen Idioten du geheiratet hast.«

Sie schwieg einen Augenblick, dann sagte sie: »Ich hätte dich niemals hinfahren lassen sollen.«

»Jetzt ist’s zu spät, darüber nachzudenken.«

Sie schwieg wieder. »Wie geht es dir, Elizabeth?«

»Gut.«

»Wirklich?«

»Wirklich. Wir warten beide darauf, daß du heimkommst.«

Das war Mittwoch morgen gewesen. Ich gab den Brief auf und rief sie am nächsten Tage an, als sie ihn meiner Berechnung nach bekommen haben mußte. Als ich ihre Stimme hörte, wußte ich sofort, daß ich alles verkehrt gemacht hatte. Es klang, als hätte sie geweint.

»Du mußt sofort nach Hause kommen!«

»Aber Elizabeth«, protestierte ich. »Es sind doch nur noch ein paar Tage bis zur Verhandlung.«

»Das ist mir gleich«, sagte sie. »Du kommst nach Hause!«

»Hast du dir das Bild angesehen?«

»Das Bild hat nichts damit zu tun.«

»Ich hab’ dir doch gesagt, es war eine Falle.«

»Und wenn’s eine Falle war«, schluchzte sie jetzt, »du durftest dabei nicht so verdammt glücklich aussehen!«

»Elizabeth, sei doch vernünftig.«

»Ich bin lange genug vernünftig gewesen. Jetzt bin ich eben eine Frau. Ich will kein Wort mehr davon hören. Schick mir ein Telegramm, wenn du abfährst.«

Dann legte sie auf. Ich rief sofort wieder an. Aber eine Stunde lang kam nur das Besetztzeichen. Sie mußte den Hörer einfach beiseite gelegt haben. Inzwischen wurde ich aus der Halle unten angerufen, daß Miss Spicer auf mich warte; ich ging hinunter.

Wir hatten unsere Unterredung im Café. »Wie geht es Dani?« fragte ich, sobald uns die Kellnerin den Kaffee gebracht hatte.

»Viel besser«, sagte sie. »Sie hat in den letzten Tagen direkt mitgeholfen.« »Das freut mich sehr.«

Sie sah mich an. »Aber sie ist noch immer sehr krank.«

»Warum sagen Sie das?«

»Was sie auch bedrückt - sie hat es tief in sich begraben. Wir finden und finden keinen Grund, warum sie derartig außer sich geriet. Es ist da verschiedenes an Dani, was wir einfach nicht verstehen können.«

»Was, zum Beispiel? Vielleicht kann ich Ihnen helfen?«

»Hatte sie als Kind Wutanfälle oder Temperamentsausbrüche, bekam sie Zustände, wenn ihr etwas verweigert wurde?«

Ich schüttelte den Kopf. »Nicht daß ich wüßte. Gewöhnlich war sie. gerade entgegengesetzt. Wenn sie sich über etwas aufregte, ging sie meistens fort und blieb am liebsten allein. Meistens ging sie in ihr Zimmer. Gelegentlich zu ihrer Nanny. Oder sie tat, als sei überhaupt nichts geschehen. Dann war sie besonders artig, besonders bemüht, lieb zu sein.«

»War das. Ihnen gegenüber?«

Ich lachte. »Ich fürchte, dazu hatte sie nie Gelegenheit. Mich hat Dani immer um den kleinen Finger wickeln können.«

»Also ihrer Mutter gegenüber?«

Ich zögerte.

»Bitte, sagen Sie es mir. Ich möchte nicht, daß Sie denken, ich sei nur neugierig oder wolle Sie gar verleiten, lieblos zu sein. Aber in diesem Stadium ist jede Kleinigkeit, die man mehr weiß, ungeheuer wichtig.«

»Nora hat sie nie gescholten«, sagte ich langsam. »Die Dinge, derentwegen Dani so etwas wie ein schlechtes Gewissen zeigte, waren gewöhnlich keine Fehler, die sie begangen hatte, sondern Unterlassungssünden.«

»Haben Sie und Miss Hayden oft vor dem Kind Streit gehabt?«

Ich sah sie an und lachte. »Unsere Beziehung zueinander war sehr kultiviert - wenigstens in Noras Augen. Wir lebten in einem ständigen kalten Krieg. Es kam niemals zu einem offenen Konflikt.«

»Und warum hörten Sie plötzlich auf, Ihre Tochter zu besuchen?«

»Weil es von mir verlangt wurde.«

»Von Miss Hayden?«

Ich nickte.

»In den Akten steht nichts von irgendwelchen Beschränkungen Ihres Rechts, Dani zu besuchen. Haben Sie sich nicht darauf berufen, als Miss Hayden Ihnen die Besuche untersagte?«

»Ich war nicht in der Lage, etwas zu unternehmen. Ich war ruiniert und mittellos.«

»Was haben Sie also getan?«

Ich sah ihr in die Augen. »Ich habe mich betrunken«, sagte ich offen.

»Sie haben nie versucht, Ihrer Tochter zu erklären, weshalb Sie Ihre Besuche eingestellt haben?«

Ich schüttelte den Kopf. »Was hätte es genützt? Nicht das geringste.«

Miss Spicer schwieg eine kleine Weile, dann sagte sie: »Ich habe gestern mit Ihrer früheren Schwiegermutter gesprochen. Ich nehme an, Sie wissen, was sie mit Dani vorhat?«

»Ja.«

Ich war bei der Besprechung zugegen gewesen. Die alte Dame hatte in der kurzen Zeit, die ihr zur Verfügung stand, wahre Wunder vollbracht. Es mußte sie allerhand gekostet haben. Dani war bereits von einer neuen Schule angenommen, die für ihre Behandlung schwieriger Kinder den allerbesten Ruf besaß, und Dr. Weidman, ein berühmter Jugendpsychiater, der auch mit der Schule in Verbindung stand, war bei der Besprechung ebenfalls dabei und bereit, die Verantwortung für ihre seelische Gesundheit zu tragen. »Billigen Sie diese Pläne?«

»Ich halte sie für außerordentlich gut. Ich möchte annehmen, daß Dani dabei weit besser betreut sein würde, als dies staatli-cherseits geschehen kann.«

»Sie hätten nichts dagegen, daß Dani das Mündel ihrer Großmutter wird?«

»Nein. Es scheint mir, im Gegenteil, die einzig praktische Lösung. Mrs. Hayden ist ein Mensch von ungewöhnlichem Verantwortungsgefühl. Sie würde Sorge tragen, daß Dani alles bekommt, was sie braucht.«

»Davon bin ich auch überzeugt«, sagte Miss Spicer trocken. »Aber das hat Danis Mutter auch getan, wenn es stimmt, was Sie mir gesagt haben.« Ich verstand, was sie meinte. Nora hatte Dani alles gegeben, was sie zu brauchen schien, und hatte doch nichts verhindert.

»Mrs. Hayden ist in der Lage, Dani viel mehr Zeit zu widmen. Sie hat nicht so viele andere Interessen wie Nora.«

»Natürlich wissen Sie, Colonel, daß Ihre Tochter keine Jungfrau mehr ist. Aller Wahrscheinlichkeit nach hatte sie ein Verhältnis mit dem Mann, den sie getötet hat.«

»Das konnte ich mir denken«, sagte ich offen.

»Miss Hayden behauptet, sie habe nichts davon gewußt.«

Darauf hatte ich nichts zu sagen.

»Wir haben den Eindruck, daß Dani fast jeder Begriff für sexuelle Moral fehlt. Und nach allem, was wir bisher feststellen konnten, hat ihr Miss Hayden kein gutes Beispiel gegeben.«

»Ich glaube, das ist uns allen klar«, sagte ich. »Das ist auch einer der Gründe, warum ich es für weit besser halte, wenn Dani in Zukunft bei ihrer Großmutter lebt.«

Sie sah mich an. »Das könnte wahr sein. Aber wir sind dennoch ziemlich besorgt. Wenn die alte Dame nicht in der Lage gewesen ist, ihre eigene Tochter auf die richtige Bahn zu lenken - wieviel Erfolg kann sie dann wohl bei ihrer Enkelin haben?« Sie trank ihren Kaffee aus. »Vielleicht wäre es für das Mädchen am besten, wenn man es ganz und gar von ihrer bisherigen Umgebung trennen würde.«

Sie stand auf. »Ich danke Ihnen herzlich, Colonel, daß Sie mir Auskunft gegeben haben.«

In der Halle blieb sie noch einen Augenblick stehen. »Ich hätte noch zwei Fragen, die mich beschäftigen.«

»Und die wären?«

»Warum hat Dani ihn getötet, wenn sie ihn doch liebte?«

»Und die zweite?«

»Wenn sie ihn getötet hat. warum findet sich nirgends, wo wir auch suchen, ein Beweis, daß Dani ein so ungezügeltes Temperament besitzt? Ein Temperament, das in Totschlag ausarten konnte?« Sie sah mich einen Augenblick unschlüssig an. »Wenn wir nur mehr Zeit hätten!«

»Was würde das helfen?«

»Wir müssen die Ursache finden, wenn wir eine Behandlung vorschlagen sollen. Die Zeit arbeitet gegen uns. Wir empfehlen eine Behandlung und hoffen, daß wir recht haben. Aber wenn wir den Grund nicht aufdecken können, müssen wir vorschlagen, daß das Kind nach Perkins geschickt wird, zu einer bis ins tiefste gehenden Beobachtung. Wir müssen sichergehen.«

»Wie sind Ihre Erfolge durchschnittlich?«

Sie sah zu mir auf und lächelte plötzlich. »Überraschend gut. Ich wundere mich selbst immer wieder darüber.«

»Vielleicht sind Sie doch besser, als Sie von sich denken.«

»Ich hoffe es«, sagte sie ernst. »Mehr um der Kinder als um unseretwillen.«

Ich begleitete sie zum Ausgang, dann ging ich wieder auf mein Zimmer und rief Elizabeth an. Das Telefon läutete und läutete. Keine Antwort. Schließlich gab ich es auf und ging über die Straße zu >Tommy’s Joint< und ließ mir als Dinner eine große Bockwurst mit Bohnen und einen Krug Bier geben.

Am Sonntag fuhr ich zum Jugendgewahrsam. Dani schien in viel besserer Verfassung.

»In dieser Woche hat mich Mutter zweimal besucht. Du hast sie gerade verpaßt. Sie sagte, sie werden alles so arrangieren, daß ich bei Großmutter wohnen darf, wenn ich herauskomme. Sie war beide Male mit Dr. Weidman hier. Kennst du ihn, Daddy?«

»Ich habe ihn kennengelernt.«

»Er ist ein Kopfbohrer. Mutter mag ihn anscheinend.«

»Wie kommst du darauf?«

Sie grinste etwas schüchtern. »Er ist Mutters Typ. Du weißt, was ich meine. Redet ’ne Menge und sagt nichts. Kunst und all der Krampf.«

Ich lachte. »Wie wär’s mit einem Coke, Dani?«

»Gute Idee!«

Ich gab ihr zwei Zehner und sah ihr nach, wie sie zum Automaten ging. Nur wenige Tische waren besetzt. Es sah hier eigentlich mehr nach einer Schule an einem Elterntag aus als nach einer Haftanstalt. Nur die Aufseherinnen an den Türen und die Gitter vor den hochgelegenen Fenstern verrieten, was es war. Dani kam wieder und stellte die Cokes auf den Tisch.

»Willst du einen Strohhalm, Daddy?«

»Nein, danke. Ich trinke meines gleich so.« Ich hob die Flasche an den Mund und trank einen Schluck.

Sie sah mich über ihren Strohhalm an. »Wenn ich das tue, sagt Mutter, es ist ordinär.«

»Deine Mutter ist Expertin, was das Ordinäre betrifft«, sagte ich unbesonnen.

Sofort bereute ich es. Wir schwiegen eine Weile.

»Trinkst du immer noch so wie früher, Daddy?« fragte Dani plötzlich.

Ich sah sie überrascht an. »Warum fragst du das auf einmal, Dani?«

»Weil ich mich gerade an etwas erinnere«, sagte sie. »Wie du immer gerochen hast, wenn du zu meinem Bett kamst und mich herausnahmst. Es ist nicht wichtig. Ich dachte nur gerade dran, weiter nichts.«