Wurde es dann aber Zeit, schlafen zu gehen, dann fand ich eine Entschuldigung - eine Arbeit, die man mir noch in letzter Minute aufgehalst hatte. Ich ging in mein Arbeitszimmer, trank rasch ein paar Glas Bourbon und ließ ihr Zeit, hinaufzugehen und einzuschlafen, so daß sie gar nicht wußte, ob ich an ihrer Tür gewesen war oder nicht.
Falls Nora daran etwas merkwürdig fand, so sagte sie nie ein Wort darüber. Die Zeit verging, und Nora schien mit dem Stand der Dinge zufrieden zu sein. Sie war in ihre Arbeit vertieft, und mehrmals wöchentlich ging sie zu Treffen mit anderen Künstlern oder zu Dinners. In anderen Nächten arbeitete sie in ihrem Atelier, so daß ich gar nicht wußte, ob sie heraufkam in ihr Zimmer oder gleich in dem kleinen Kabinett schlief, das sie sich unten eingerichtet hatte.
Gewohnheit ist tödlich. Nach einiger Zeit schien es mir, als sei dies so, wie es immer gewesen war und immer sein würde. Wie gar nichts.
Was ich nicht wußte, war, daß sich Nora in ihrer eigenen, sonderbaren, traumerfüllten Welt vor mir fast ebenso sehr fürchtete wie ich mich vor ihr.
Sie erinnerte sich der Schmerzen. Der schrecklichen, reißenden Schmerzen in ihrem Leib, als das Baby auf die Welt kam. Der Schmerzen und der grellweißen Lampen an der grünen Decke des Entbindungszimmers. Jede Farbe war klar und deutlich. Das rote Blut auf den weißen Gummihandschuhen des Arztes. Der schwarze Knopf auf dem silbergrauen Metallbehälter neben der Schwester. Immer waren diese Dinge in ihren Träumen. Sogar darin war sie nicht wie andere Menschen. Sie träumte in Farben. Der Arzt flüsterte ihr ins Ohr: »Beruhigen Sie sich, Mrs. Carey, unterdrük-ken Sie die Schmerzen. In ein paar Minuten ist es vorbei.«
»Ich kann nicht!« versuchte sie zu schreien, aber es kam kein Ton über ihre Lippen. »Ich kann nicht, es tut zu weh.« Sie spürte, wie ihr die Tränen aus den Augenwinkeln rannen. Sie wußte, wie die Tränen aussehen mußten, wenn sie ihr über die Wangen rannen. Wie kleine funkelnde Diamanten.
»Sie müssen, Mrs. Carey«, flüsterte der Arzt wieder. Sie sah die blauroten Äderchen an seinen Nasenflügeln, als er sich über sie beugte.
»Ich kann nicht!« schrie sie wieder. »Ich kann die Schmerzen nicht aushalten! Um Gottes willen, tun Sie etwas, sonst werde ich wahnsinnig. Zerschneiden Sie das Kind und holen Sie es in Stücken heraus! Es soll mir nicht mehr weh tun!«
Sie spürte den Stich einer Nadel in ihrem Arm. In jäher Angst sah sie auf zu dem Arzt. Ihr fiel ein, daß er katholisch war und nach katholischer Lehre das Kind retten müsse und die Mutter notfalls sterben lassen. »Was tun Sie?« schrie sie auf. »Bringen Sie mich nicht um! Bringen Sie das Kind um! Ich will nicht sterben!«
»Keine Angst«, sagte der Arzt ruhig. »Keiner stirbt.«
»Das glaube ich Ihnen nicht!« Sie versuchte sich aufzurichten, aber es preßten sich Hände auf ihre Schultern und drückten sie herunter.
»Ich muß sterben. Ich weiß es. Ich muß sterben!«
»Zählen Sie von zehn rückwärts, Mrs. Carey«, sagte der Arzt gelassen. »Zehn. neun.«
»Acht, sieben, sechs.« Sie blickte in sein Gesicht. Es sah auf einmal aus wie ausgefranst. Wie im Film, wenn ein Bild aus dem Brennpunkt rutscht. »Acht, sieben, sechs, vier, sieben, drei, vier.«
Dann kam das Dunkel. Das sanfte, rollende Dunkel.
Ein Geräusch aus dem Atelier neben dem kleinen Kabinett, in dem sie schlief, weckte Nora. Sie richtete sich schnell auf. »Sind Sie es, Charles?«
Schritte näherten sich der Tür. Sie ging auf, und Sam Corwin trat ein. Es war fast zehn Uhr. Erst kurz vor fünf war sie auf das Bett gefallen, zu müde, um auch nur ihren Overall auszuziehen. »Was tust du hier - schon so früh?« fragte sie.
Sam steckte sich eine Zigarette an. »Ich habe eine große Neuigkeit für dich.«
Sie stand verdrossen auf und fuhr sich mit den Fingern durch ihr Haar.
Es fühlte sich fettig und schmutzig an. »Was denn?«
»Deine Skizze für die United Nations hat Beifall gefunden. Es wird die einzige Statue auf dem Platz der United Nations in New York sein, die von einer Frau ist.«
Dire Müdigkeit war wie weggeblasen, sie war mit einemmal in bester Stimmung. »Wann hast du es erfahren?«
»Vor einer Stunde. Scaasi hat mich von New York angerufen. Ich bin sofort hergekommen.«
Eine Welle von Triumph durchflutete sie. Sie hatte recht gehabt. Sogar Luke mußte das jetzt zugeben. Sie schaute Sam an. »Hast du es schon jemandem erzählt?« Er schüttelte den Kopf. »Nein. Aber es wird noch am Vormittag offiziell bekanntgegeben.«
Sie ging ins Atelier. »Ich will es Luke erzählen, ehe er es auf anderm Weg erfährt.«
»Nun«, sagte Sam, »nachmittags kommt es bestimmt schon über die New Yorker Sender.«
»Dann wollen wir es ihm jetzt sagen.«
Sam folgte ihr durch den Gang zur Halle. Charles kam gerade die Stufen herunter.
»Ist Mister Carey schon fort, Charles?«
»Ja, Madam. Er ist kurz nach acht gegangen, mit dem Baby und Miss Holman.«
»Er hat sie mitgenommen?« rief Nora überrascht. »Wozu denn, um Himmels willen?«
»Er sagte etwas. heute sei sein großer Tag, Madam. Die erste Häusergruppe wird nämlich fertig, und da gibt es eine kleine Feier. Er hat hinterlassen, Sie möchten doch hinauskommen, falls Sie Zeit haben.«
»Danke, Charles. Er hat etwas davon gesagt, richtig. Ich hatte es nur vergessen.«
Der Diener nickte, trat zur Seite und ließ sie vorbei. Sam folgte ihr hinauf in ihr Zimmer und schloß die Tür. »Du wußtest gar nichts davon. oder?« Sie schwieg.
Er sah sich im Zimmer um. Jetzt erst fiel ihm auf, daß es nicht mehr das Zimmer war, das sie mit Luke geteilt hatte. »Was bedeutet das? Auf einmal getrennte Zimmer? Ist etwas nicht in Ordnung zwischen dir und Luke?«
»Nein, nein, es ist alles in Ordnung.«
»Einen Augenblick mal«, sagte er. »Ich bin nämlich Sam, dein alter Freund, vergiß das nicht. Zu mir kannst du offen sprechen.«
Plötzlich weinte sie an seiner Brust. »O Sam, Sam«, schluchzte sie, »du ahnst nicht, wie schrecklich alles ist! Er ist krank. Der Krieg hat ihn ruiniert. Er ist nicht normal!«
»Ich verstehe kein Wort.«
Jetzt redete sie überstürzt, als könne sie die Worte nicht länger zurückhalten. »Du weißt doch von seiner Verwundung, nicht wahr? Und die. die treibt ihn zu allen möglichen irrsinnigen Sachen!«
»Zum Beispiel?«
»Ach, du weißt doch. Zu perversen Sachen. Er zwingt mich, sie zu tun. Weil sie das einzige sind, was ihn noch reizt. Ohne sie ist er beinahe impotent. Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll. Manchmal denke ich, ich verliere den Verstand!«
»Ich wußte von einer solchen Verwundung ja noch gar nichts. Hast du ihm gesagt, er soll zum Arzt gehen?«
»Ich habe ihn so darum gebeten! Aber er hört einfach nicht auf mich. Er sagt, ich solle mich um meine eigenen Angelegenheiten kümmern. Er will von mir nichts anderes, als daß ich ein Kind nach dem andern kriege, bloß als Beweis, daß er ein Mann ist!«
Nora löste sich aus seinem Arm und holte sich eine Zigarette aus der Schachtel auf dem Tisch. Sam reichte ihr ein Streichholz. »Er tut nichts als lauter Dinge, die mich kränken sollen. Er weiß genau, daß der Arzt gesagt hat, wir sollen Dani nicht mit hinausnehmen. Sie ist erkältet. Und gerade deshalb nimmt er sie mit, in den ganzen Schmutz und die Nässe und die Kälte, bloß um mich damit zu kränken.«
»Nun, und. was wirst du tun?«
Sie sah ihn an. »Ich werde hinfahren und sie holen. Sie ist mein Kind, und ich lasse ihr von niemandem etwas zuleide tun, auch von ihm nicht.« Instinktiv spürte sie, daß Sam doch noch irgendwelche Zweifel hatte. »Du glaubst mir wohl nicht?«
»Ich glaube dir.«
»Vielleicht wirst du mir glauben, wenn ich dir verschiedenes zeige!«
Sie führte ihn durch das Bad in Lukes Zimmer. Dramatisch öffnete sie die Tür des Nachtkästchens neben seinem Bett. »Da!«
Seine Augen folgten ihrem ausgestreckten Finger. Zwei volle und eine halbgeleerte Flasche Bourbon standen im oberen Fach. Sam sah Nora erstaunt an.
»Er trinkt jeden Abend. Er trinkt, wenn er mich haben will. Und dann trinkt er wieder, bis er halb von Sinnen einschläft.«
Sie stieß die Tür zu. Sam folgte ihr in ihr Zimmer. Schweigend und prüfend sah er sie an. »So kannst du nicht weiterleben«, sagte er dann.
»Was kann ich sonst tun?«
»Du kannst dich von ihm scheiden lassen.«
»Nein.«
Wieder stiegen die unklaren Zweifel in ihm auf. Plötzlich schien ihm das alles zu gut arrangiert, allzu nahtlos zusammenzupassen. »Und warum nicht?«
»Das weißt du so gut wie ich. Mutter hält nichts von Scheidungen, und es würde sie schrecklich aufregen, wenn der Name unserer Familie durch die Gerichtssäle gezerrt wird.«
»Und?«
Sie erwiderte seinen Blick. »Mein Kind! Ich habe zu viele Kinder gesehen, die seelisch verkümmert waren durch ein zerrüttetes Elternhaus! Nein, das möchte ich nicht für meine kleine Dani!«
Er wußte nicht, ob er ihr glauben sollte. »Gut, ich werde mit dir auf das Baugelände hinausfahren«, sagte er plötzlich.
Überrascht sah ihn Nora an. Sie hatte sich so in ihre dramatische Szene hineingesteigert, daß sie ganz ihre Absicht vergessen hatte. »Um dich und das Kind zurückzubringen«, sagte er.
Sie lächelte ihm zu. Er glaubte ihr also. Jetzt wußte sie es. Und warum sollte er ihr nicht glauben? Die Wahrheit war offenkundig genug. Sie legte ihm die Hand auf den Arm. »Sam. ich danke dir! Und nun geh hinunter und trink eine Tasse Kaffee, während ich mich anziehe. In ein paar Minuten komme ich auch.«
Dani hielt einen Ball. Ihre dunklen Augen blitzten. Sie jauchzte vor Vergnügen, als ich sie losließ und sie in Mrs. Holmans ausgestreckte Arme glitt. Als ich sie wieder nahm, drehte und wendete sie sich und strebte zurück, um diesen wunderbaren kleinen Flug noch einmal zu erleben. Ich lachte und hob sie wieder hoch. »Halten Sie sie eine Sekunde so, Colonel!« rief einer der Fotografen und hob seine Kamera. »Das gibt eine reizende Aufnahme!«
Dani hielt still - sie posierte für das Bild, als habe sie in den ganzen acht Monaten ihres Lebens nichts anderes getan.
Die Kamera klickte, und ich ließ Dani wieder herunter. Dann brachte ich sie hinüber zu der Schaukel.
Ich schnallte sie auf den kleinen Sitz und schaukelte. Sie gurgelte vor Freude. In der hellen Sonne glühten ihre Bäckchen wie Rosen, und sie sah in ihrem warmen blauen Winteranzug aus wie eine kleine Puppe. Wir waren auf dem Spielplatz, den ich hinter einem der Modellhäuser angelegt hatte, um zu zeigen, wieviel Raum hier für ein Leben im Freien sei.
Befriedigt sah ich die Straße entlang. Überall parkten Wagen, und unsere Verkäufer hatten alle Hände voll zu tun, um die neuen Häuser zu zeigen. Sehr unterschiedlich waren die neuen Häuser gar nicht. Aber - und das war das wichtige - sie wirkten ganz verschieden. Der Grundriß war überall der gleiche, die gängige T-Form mit einem ausbaufähigen Dachgeschoß, wenn der Käufer sich vergrößern wollte. Aber dadurch, daß ich mich
darauf beschränkt hatte, nur vier Häuser auf den Morgen zu bauen, konnten wir jedem Haus eine andere Lage geben, und so entstand das, was man im Baugewerbe einen »Kundenfänger« nennt.
Auch der Preis war richtig - 13900 Dollar. Fragen Sie mich nicht, warum wir nicht einfach 14000 nahmen - auch das war eine der Praktiken dieses Gewerbes. Wahrscheinlich ließen gerade diese zehn Dollar das Haus billig erscheinen. Im übrigen aber waren sie auch tatsächlich billig.
Im Kaufpreis waren Luftheizung und Garage eingeschlossen. Das war wenig im Vergleich zu den Häusern, die näher an der Stadt lagen und drei- bis fünftausend mehr kosteten. Und obwohl wir aufgrund der städtischen Bebauungsvorschriften durch die Straße und die Zufahrten fünfundzwanzig Morgen verloren hatten, blieb uns ein klarer Reinverdienst von fünfzehnhundert an jedem Haus.
Dani lachte laut, als ich die Schaukel noch höher schwingen ließ. Ich wußte genau, was sie empfand. Das war ihre Welt.
Ich sah an der Schaukel vorbei. Die Planierraupen waren beim nächsten Bauabschnitt schon wieder an der Arbeit. Morgen kamen dann die Bagger und hoben die Fundamente aus. Dann waren die Betonmischer an der Reihe. Und dann würden Häuser emporwachsen, wo kurz zuvor nur Ödland gewesen war. Ja, es war auch meine Welt.
Jemand legte mir die Hand auf den Arm. Hinter mir hörte ich Noras Stimme: »Es macht dir wohl so viel Spaß, daß du nicht einmal deine Frau begrüßen kannst, Luke?«
Überraschte drehte ich mich um. Ich hatte zwar durch Charles Nachricht hinterlassen, aber nicht damit gerechnet, daß Nora kommen würde. Bisher hatte sie keinerlei Interesse an meinem Projekt gezeigt. »Das ist aber eine nette Überraschung, Nora!«
Wie durch ein Zauberwort erschienen plötzlich wieder alle Reporter und Fotografen, die sich nach und nach an der Bar gesammelt hatten - unser Wohnwagenbüro war als Bar eingerich-tet -, auf der Bildfläche. Ich machte mir nichts vor. Die Attraktion war Nora. Nora Hayden war immer eine Sensation. Besonders in ihrer Vaterstadt.
»Was führt dich her?« fragte ich.
Unsere Blicke begegneten sich. »Sam war so freundlich, mich her auszufahren, damit ich Dani nach Hause bringen kann.«
»Nach Hause. warum denn? Sie amüsiert sich doch herrlich!«
»Du weißt, daß sie noch erkältet ist.« Sie hielt die Schaukel auf und begann den Sicherheitsgurt aufzuschnallen.
Sam kam zu uns. Er hatte uns mit merkwürdiger Miene beobachtet. »Erkältet?« fragte ich Mrs. Holman. »Sie haben mir nichts davon gesagt, daß Dani erkältet ist.«
Mrs. Holman sah erst auf mich, dann auf Nora und schließlich zu Boden. Sie murmelte etwas Unverständliches. Ich konnte nicht hören, was sie sagte. Dani wollte nicht weg. Sie wand sich in Noras Armen und strampelte.
Einer der Fotografen sagte lächelnd zu Nora: »Kinder sind reizend, solange man sie nicht hindert, genau das zu tun, was sie mögen.«
Noras Gesicht wurde erst dunkelrot und dann weiß. Ein Bild von ihr selbst, mit einem schreienden Kind auf dem Arm - das war eine Vorstellung, ganz und gar nicht nach ihrem Geschmack, ganz und gar nicht so, wie sie sich die Szene gedacht hatte. Mütter haben nur reizende Kinder in reizenden Posen auf dem Arm. Sie hielt Dani noch fester und wollte mit ihr von der Schaukel weggehen. Dani schrie, so laut sie konnte.
Nora drehte sich um und warf sie in den Arm der Kinderschwester. »Bringen Sie sie sofort in Mister Convins Wagen.«
Dann wandte sie sich zu mir. »Da siehst du, was du angerichtet hast«, sagte sie wütend. »Aber du bist ja nicht glücklich, wenn du mich nicht in peinliche Situationen bringen kannst!«
Ich sah aus dem Augenwinkel die Blicke der Reporter, die sich herandrängten. Ich wußte nicht, wieviel sie von dieser Szene gehört hatten - aber ich wollte ihnen keine neue Gelegenheit geben. »Es tut mir leid«, sagte ich leise, »ich wußte nicht, daß Dani erkältet ist.«
»Und du läßt sie auf der kalten Erde spielen, in all dem Schmutz und der Nässe! Ich gehe sofort mit ihr zum Arzt.«
Ich merkte, daß es mit meiner Beherrschung zu Ende ging. Aber ich behielt wenigstens meine Stimme in der Gewalt. »Treib es nicht zu weit, Nora. Du überspielst es - kein Mensch glaubt dir das.« Ich war absolut unvorbereitet auf den Blick blanken Hasses, mit dem sie mich daraufhin ansah. Sie sagte kein Wort, aber dieser Blick verriet mir, daß die schlimmen Dinge zwischen uns zu weit gediehen waren, als daß sie jemals wieder gut werden konnten.
Aber wir standen so, daß uns jeder sehen konnte. Ich mußte dafür sorgen, daß wir einigermaßen gut abschnitten - sowohl um Noras als um meiner selbst willen. Ich zwang mich zu einem Lächeln. »Da du gerade hier bist, könntest du dich doch ein bißchen umsehen. Wie gefallen dir die Häuser?«
»Ich habe keine Zeit«, sagte sie verächtlich. »Ich muß erst einmal Dani nach Hause bringen und mich dann fertig machen -ich fliege nach New York.«
Diesmal hatte sie mich völlig überrumpelt. »Nach New York?«
»Ja. Mein Entwurf für die United Nations ist angenommen. Sie haben mich aufgefordert, hinzukommen und alles zu besprechen.«
Das war allerdings eine Neuigkeit. Sogar diese Reporter hier, die sonst nur etwas von der Bauerei verstanden, erfaßten das. Sie drängten sich mit Fragen heran. Einen Augenblick später war Nora von ihnen umringt - mitten in einer regelrechten Pressekonferenz. Als ich hinüberging zu der Planierraupe, mit der es irgendeine Schwierigkeit gab, war sie entspannt und lächelte glücklich, wieder im Mittelpunkt der Szene zu stehen.
Auch mir war leichter. Wenigstens waren wir aus der peinlichen Situation gerettet. Aber das währte nur bis zum nächsten Morgen - bis zu der Minute, als ich die Zeitungen las. Ich war auf dem Baugelände, als der Telefonanruf kam und einer der Arbeiter mich holte.
Es war Stan Barrows, der Immobilienagent, der die Verkäufe besorgte. Er flüsterte ins Telefon, als sei er darauf bedacht, daß ihn niemand hörte. »Du mußt sofort zur Valley National Bank, Luke. Dicke Luft!«
»Wieso?« fragte ich. Die Bank hatte die Hypotheken. »Sie können sich doch über nichts beklagen. Wir brauchen weniger, als im Kostenplan vorgesehen.«
»Ich kann nichts sagen. Geh sofort hin, Luke!«
Das Telefon war still. Ich wollte ihn noch einmal anrufen, unterließ es aber. Wenn er mir mehr sagen wollte, hätte er es sicher schon getan. Ich ging hinaus zu meinem Wagen.
Sie waren alle da, als ich in das Zimmer des Präsidenten der Bank eintrat. Sie wußten nicht, daß ich überraschter war, sie alle hier zu sehen, als sie über mein Kommen. Ich blickte mich im Zimmer um. Meine Schwiegermutter, George Hayden, Stan Barrows, außerdem der Bankpräsident und der Vizepräsident, der die Hypothekenabteilung leitete.
»Ich wußte nicht, daß hier eine Sitzung ist«, sagte ich. »Jemand hat vergessen, mich zu benachrichtigen.«
Sie machten verlegene Gesichter, aber niemand wollte zuerst sprechen. Nach ein paar Sekunden entschloß sich der Vizepräsident dazu. »Haben Sie die Morgenzeitungen gelesen, Luke?«
»Nein«, sagte ich, »es war noch dunkel, als ich zur Arbeit ging, und auf den Berg kommen sie erst später.«
»Nun. dann lesen Sie dies bitte.« Er hielt mir ein zusammengefaltetes Blatt des »Chronicle« hin. Ich sah auf die rotan-gestrichene Stelle. Daneben war ein Bild von Nora.
NORA HAYDEN BEKOMMT EINEN AUFTRAG FÜR DIE UN
Ich sah auf. »Das ist sehr nett«, sagte ich, »aber ich weiß nicht recht, was das mit uns zu tun hat?«
»Lesen Sie nur weiter.«
Ich tat es. Die ersten beiden Absätze waren nichts. Sie sprachen von dem Preis. Aber dann die drei nächsten.
Anläßlich der Eröffnung der Carey-Siedlung - eines großangelegten Bauvorhabens unter Leitung ihres Gatten, des ehemaligen Kriegshelden Colonel Carey - sagte Nora Hayden mit ihrer gewohnten Offenheit ihre Meinung über die modernen amerikanischen Einfamilienhäuser, ihre Besitzer und diejenigen, die sie bauen:
»Der amerikanische Bauunternehmer behandelt den amerikanischen Hausbesitzer und seine Hausfrau geradezu schändlich! Unkünstlerisch und phantasielos, wie er ist, verwandelt er das amerikanische Heim in einen vernichtend eintönigen und geschmacklosen Steinwürfel, und zwar aus rein egoistischen, wirtschaftlichen Gründen, weil dies ihm einen größeren Profit bringt. Jedes Haus sieht genauso aus wie das andere, es fehlt ihm jeder individuelle Charakter, und jede Frau, die sich beschwatzen läßt, in einer dieser Kekskisten zu wohnen, hat es sich nur selbst zuzuschreiben.«
Auf die Frage, ob sich dieses Urteil auch auf die Carey-Siedlung beziehe, antwortete sie: »Schließen Sie daraus, was Sie wollen. Ich selbst jedenfalls würde nicht einmal als Leiche in einem so geschmack- und stillosen Kasten liegen wollen, geschweige denn darin leben!«
Miss Hayden beabsichtigt, nachmittags nach New York zu fliegen, um mit dem UN-Kunstausschuß ihr geplantes Werk zu besprechen.
Ich fühlte, wie es sich in meinem Magen zusammenzog, während ich den Artikel las. Ich warf das Papier auf den Tisch. »Das muß ein Irrtum sein. Ich werde Nora veranlassen, ihn sofort richtigzustellen.«
»Das hilft nichts«, sagte George Hayden. »Der Schaden ist bereits angerichtet.«
»Was für ein Schaden?« fragte ich gereizt. »Der normale Hauskäufer liest solchen Quatsch überhaupt nicht.«
»Da irrst du dich, Luke«, sagte Stan Barrows ruhig. »Unser Bestellbuch wies gestern abend siebenundvierzig Aufträge und neunzehn Interessenten auf. Heute um zehn Uhr waren nur noch elf Aufträge und drei Interessenten übrig. Ich habe jeden der Abgesprungenen persönlich angerufen. Natürlich wollte keiner den Grund nennen, aber alle gaben sie zu, daß sie den Artikel gelesen hatten.«
»Ich werde diese verdammte Zeitung dafür haftbar machen!«
»Aus welchem Grund?« fragte George Hayden verächtlich. »Sie hat nichts weiter getan, als die Worte deiner Frau zitiert.«
Ich gab ihm keine Antwort. Er hatte recht. Ich ließ mich auf einen Stuhl fallen und griff nach einer Zigarette. »Wenn wir den Namen der Siedlung ändern. Vielleicht ging es, wenn nur mein Name wegfällt.«
»Das bezweifle ich, Luke. Das ganze Projekt ist vom Tode gezeichnet.« Wortlos steckte ich meine Zigarette an. Mit dem Rauch zerflog mein Traum in der Luft.
»Sie müssen unsere Lage verstehen, Luke«, sagte der Präsident der Bank. »Wir haben fast eine Million Dollar in dieses Projekt gesteckt, und die müssen wir schützen. Wir müssen die
Gelder kündigen.«
»Geben Sie mir die Chance, sie anderswo zu plazieren?«
»Natürlich - aber ich bezweifle, daß jemand sie übernehmen wird. Wir haben mindestens ein Dutzend anderer Banken angerufen, um das Risiko zu verteilen. Wir waren die einzige Bank, die mit hunderttausend drinbleiben wollte.«
Ich wandte mich an meine Schwiegermutter, die bis jetzt geschwiegen hatte. »Was hältst du davon? Du weißt, was das bedeutet. Wir verkrachen, und deine dreihunderttausend sind hin.« Sie sah mich fest an. »Manchmal ist es besser, einen Verlust in Kauf zu nehmen und rechtzeitig auszusteigen. Wir könnten das Zehnfache verlieren bei dem Versuch, eine hoffnungslose Situation zu retten.«
Ich sah mich im Kreise um. »Ich kann es einfach nicht glauben, daß das ganze Projekt auffliegen soll wegen ein paar hingeworfener Bemerkungen.«
Wieder nahm meine Schwiegermutter das Wort. »Vielleicht wären sie nicht so entscheidend gewesen, wenn nicht gerade deine eigene Frau sie gesagt hätte.«
Der Einwurf war nicht zu widerlegen. »Ich kann mich nicht daran erinnern, daß du auch nur einmal imstande gewesen wärst, sie an etwas zu hindern, was sie sich in den Kopf gesetzt hatte.«
»Wie dem auch sei, Luke. In diesem Fall hat deine Frau gesprochen, nicht meine Tochter. Im Bereich deiner Verantwortlichkeit.«
»Sie ist kein Kind«, sagte ich zornig. »Sie weiß, was sie sagt.«
»Dennoch bist du der Verantwortliche.« Diesmal war die alte Dame hartnäckig.
»Wie konnte ich sie hindern?« fragte ich. »Sollte ich sie vielleicht einsperren?«
»Es ist zu spät, über Dinge zu streiten, die bereits geschehen sind.« George sagte es. »Ich habe etwas Derartiges befürchtet.
Deshalb wollte ich, daß du wartest, bis du bessere Karten in der Hand hattest.«
»Warum warten?« fragte ich. »Die Idee war gut. Sie ist es noch. Aber darauf scheint es jetzt nicht mehr anzukommen. Ihr habt ja alle euren Entschluß bereits gefaßt.«
Ich stand auf und wollte zur Tür.
»Luke!« Es war die Stimme meiner Schwiegermutter.
»Ja?«
»Mach dir nicht zu viele Gedanken darüber. Ich werde zusehen, daß du dein Geld herausbekommst.«
Ich sah sie scharf an. »Ich habe jedes Recht auf das Haus, das du uns geschenkt hast, abgelehnt. Ich habe die Aktien von Hayden & Caruthers, die du mir angeboten hast, nicht angenommen. Wie kommst du darauf, daß ich ein Trinkgeld dieser Art akzeptieren würde?«
Ihre blauen Augen wurden kalt und hart, aber - das muß ich dem alten Mädchen lassen - ihre Stimme blieb völlig unverändert. »Sei nicht töricht, Luke. Es gibt immer wieder eine neue Chance.«
»Danke, nein - ich danke wirklich!« sagte ich bitter. »Du meinst doch, daß ich jederzeit zu Hayden & Caruthers zurückgehen kann, wenn ich verspreche, ein braves Kind zu sein und zu tun, was man mir sagt?«
Sie antwortete nicht, aber ihre Lippen wurden zu einem dünnen, harten Strich.
»Nochmals, danke!« Ich lächelte spöttisch. »Dies ist nicht das erstemal, daß ich brennend abgestürzt bin. aber es ist allerdings das erstemal, daß mich meine eigenen Leute abschießen.«
Ich sah mich um. Alle schwiegen und starrten mich an. »Ich werde überleben. Ich bin damals durchgekommen. und ich werde auch diesmal durchkommen.«
»Luke!« Jetzt war Mrs. Haydens Stimme hart und zornig.
»Wenn du jetzt so zu dieser Tür hinausgehst, wirst du nie wieder eine andere Chance haben. Das kann ich dir versichern.«
Plötzlich war ich müde. »Es hat keinen Sinn, daß wir uns etwas vormachen, Mutter Hayden«, sagte ich finster. »Wir wissen beide, daß die einzige Chance, die ich jemals hatte, die war, genau das zu tun, was ihr wünschtet, Nora und du. Und ich weiß jetzt, was für ein Narr ich war, als ich glaubte, ich könnte lernen, nach diesem Rezept zu leben.«
Ich schloß die Tür hinter mir. In einer Bar trank ich etwas. Dann ging ich nach Hause, um Nora gründlich meine Meinung zu sagen. Aber diese Möglichkeit war vorbei. Als ich heimkam, war sie schon fort, nach New York.
Ich ging hinauf in Danis Zimmer. Sie saß in ihrem Bettchen und sah mir entgegen. Ich trat zu ihr, nahm sie hoch und drückte sie fest an mich. Plötzlich spürte ich, daß mir die Tränen über die Wangen liefen. Ich preßte meinen Mund sanft auf den weichen kleinen Kinderhals.
»Danimädchen«, flüsterte ich, »ich fürchte, dein Vater ist ein Pechvogel!«
An dem Tag, an dem sie ein Jahr alt wurde, erfolgte die Einleitung des Konkursverfahrens.
Mit kreischenden Bremsen war mein Leben zum Stillstand gekommen. Man wandert durch die Tage, aber man könnte geradesogut ein Geist sein. Die Menschen sehen einen nicht. Man berührt sie nicht. Sie berühren einen nicht. Es ist fast, als sei man überhaupt nicht da, und das wäre vielleicht recht angenehm bis auf das eine: daß man so verdammt viel sieht.
Man sieht das breite gelbe Band, das sich wie eine Schlange -man hatte nie gewußt, daß sie da war - durch alle Gefühle zieht. Furcht ist nicht immer eine physische Angelegenheit. Sie hat viele Gesichter. Manchmal beginnt sie damit, daß man einem andern seine Lügen abkauft. Und dann findet man sich bald durch dieses gelbe Band geknebelt, das man selbst akzeptiert hat.
Noras Mutter hielt ihr Versprechen. Mein Name war Dreck. Alle Türen fand ich verschlossen, und nach einer Weile hörte ich auf, auch nur einen Versuch zu machen. Tagsüber hatte ich wenigstens Dani.
Ich war es, mit dem sie im Park laufen lernte. Ich hörte ihr Lachen im Zoo und am Klippenhaus, wo sie nach den Seelöwen Ausschau hielt, die nie kamen. Aber ihr schönstes Vergnügen war, Nickel in die Schlitze der Automaten von Sutros altem »Kristallpalast« zu stecken.
Da war ein Automat, den sie besonders liebte. Er zeigte eine Farm und einen Farmer, der eine Kuh molk, während seine Frau die Hühner fütterte und die Windmühle sich drehte. An ihrem
zweiten Geburtstag sahen wir uns das sechsmal nacheinander an.
Nachts - nachts gab es immer Bourbon, der den häßlichen Geschmack der Enttäuschung wegspülte. An den Wochenenden, an denen Nora meist zu Hause war, fuhr ich nach La Jolla und beschäftigte mich mit meinem Boot. Es war das einzige, was ich bei meinem Bankrott nicht verloren hatte. Diese Wochenenden waren auch die einzige Zeit, in der ich mich einigermaßen brauchbar fühlte. Ich hatte immer etwas zu tun - zu streichen, zu kalfatern, zu reparieren. Manchmal gingen die beiden Tage vorbei, ohne daß ich einen Tropfen trank. Aber wenn ich am Montagabend zu Hause saß, hatte ich die Flasche wieder neben mir.
Der Mann, der den Bourbon-Whisky erfunden hat, sollte eigentlich einen Orden bekommen. Scotch schmeckt wie Medizin, Gin riecht wie Parfüm und Korn versäuert den Magen. Aber Bourbon tut nichts von alledem. Er ist mild und glatt und beruhigend. Von Bourbon-Whisky wird man nicht betrunken. Er füllt nur die Löcher und Risse aus, bis man sich wieder groß und stark fühlt. Und man schläft leichter ein.
Aber auch der Bourbon konnte meine Augen nicht verschließen. Ich sah zuviel, verdammt. immer noch. Wie in der Nacht, als ich nicht schlafen konnte und um drei hinunterging, um mir noch eine Flasche zu holen.
Als ich am Fuß der Treppe war, kam Nora herein und schloß die Haustür hinter sich. Wir standen da und sahen uns an, maßen einander wie zwei Fremde, die versuchten, sich an irgendeinen undeutlichen Eindruck zu erinnern.
Ich wußte, wie ich aussah, mit ungekämmtem Haar, zerknittertem Pyjama und schief zugebundenem Bademantel. Nicht sehr ansprechend. Besonders mit den nackten Füßen.
Aber Nora. Es war fast, als sehe ich sie zum erstenmal. Sie hatte den Moschusgeruch der Erotik an sich. Ihr Gesicht war bleich, und unter ihren dunkelblauen Augen lagen die matten, durchsichtigen lila Ringe, die sie immer nachher hatte, bis der Schlaf sie wieder auslöschte. Ich brauchte ihr nicht zu sagen, daß ich Bescheid wußte. Aber dieses Wissen in ihren Augen war mehr, als ich ertragen konnte. Ich wandte mich schweigend ab.
In ihrer Stimme war lächelnder Spott. »Wenn du den Whisky suchst - ich habe Charles gesagt, er soll eine Kiste Bourbon in dein Arbeitszimmer stellen.«
Ich gab keine Antwort.
»Denn du suchst doch Bourbon, nicht wahr?«
Ich blickte auf. »Ja.«
»Das dachte ich mir.« Sie ging an mir vorbei zur Treppe. Als sie halb oben war, drehte sie sich um und sah zu mir herunter. »Vergiß nicht, das Licht abzuschalten, wenn du heraufkommst.«
Ich ging in das Arbeitszimmer, nahm eine Flasche Bourbon und dachte an die tausend Dinge, die ich ihr hätte sagen müssen und nicht gesagt hatte. Ich spürte die gelbe Schlange in meinem Innern und versuchte, sie in Bourbon zu ertränken. Meine Tochter braucht mich, sagte ich mir. Sie braucht jemanden, der sie liebt und mit ihr zu Sutros Automaten geht, der sie sich freuen läßt an Sonnenschein und Wasser und all den andern Dingen, an die ihre Mutter niemals denkt. Ich nahm die Flasche mit und streckte mich aufs Bett.
Als ich den dritten Schluck genommen hatte, hörte ich das Türschloß leise schnappen. Ich sah zum Badezimmer hinüber. Die Tür war offen. Ich wollte schon aufstehen, ließ es aber. Statt dessen griff ich wieder zur Flasche.
Ich trank schnell, löschte die Lampe und streckte mich wieder aus, ich konnte aber nicht schlafen. Ich ertappte mich dabei, daß ich im Dunkeln lag und auf ein Geräusch aus ihrem Zimmer lauschte. Ich brauchte nicht lange zu warten.
Das Licht im Bad ging an und fiel in mein Zimmer, als sie kam. Sie stand im Türrahmen und wußte, daß ich sah, daß sie nichts unter ihrem hauchdünnen Neglige trug. Sie sprach leise. »Bist du wach, Luke?«
Ich richtete mich auf, ohne zu antworten.
»Ich hatte die Tür aufgeschlossen«, sagte sie.
Ich schwieg noch immer.
Sie trat ans Fußende meines Bettes und betrachtete mich. Plötzlich bewegte sie die Achseln, und das Neglige fiel herab.
»Ich erinnere mich. sagtest du nicht einmal, du möchtest nicht der Zweite sein?« In ihrer Stimme war ein leichter Klang von Verachtung. »Bist du noch immer dieser Meinung?«
Ich nahm eine Zigarette. Meine Hand zitterte.
Die Verachtung in ihrer Stimme wurde schärfer. »Ich hatte einmal gedacht, du bist ein Mann. Aber jetzt sehe ich, ich habe mich geirrt. Du hast deine Männlichkeit verloren, als du deine Uniform auszogst.«
Ich zog an meiner Zigarette, der Rauch brannte in meiner Lunge. Ich spürte den Schweiß in meinen geballten Fausten. »Geh lieber in dein Zimmer, Nora«, sagte ich mit belegter Stimme.
Sie setzte sich auf den Bettrand und nahm mir die Zigarette aus der Hand. Sie hielt sie an ihre Lippen, tat einen raschen Zug und gab sie mir zurück. Ich roch das matte Parfüm ihres Lippenstifts.
»Vielleicht hilft es dir, wenn ich dir erzähle, was ich heute abend getan habe.«
»Treib’s nicht zu weit, Nora!« sagte ich heiser.
Sie achtete überhaupt nicht auf das, was ich sagte. Sie beugte sich über mich, bis ihr Gesicht dicht an dem meinen war. Ich fühlte ihre kleinen warmen Brüste, die sich auf meinen Pyjama preßten. »Es war nämlich nur einmal«, flüsterte sie höhnisch. »Aber es war ganz toll! Nun, du kennst mich ja. Nur einmal -das ist wie ein chinesisches Essen. Eine Stunde später bin ich wieder hungrig.«
Jetzt schoß die rote Wut in mir hoch. Mehr konnte ich nicht ertragen. Ich packte sie bei den Schultern und schüttelte sie wild. Ein seltsam erregter Blick trat in ihre Augen, und ich spürte ihre Hand warm und drängend an mir. »Jetzt mußt du mich lieben, Luke, schnell!«
»Nora!« Ich warf mich über sie.
Es war vorbei, fast ehe es begonnen hatte. Ich lag da und fühlte mich elend und schal und zu nichts tauglich. Ich starrte sie an, während sie ihr Neglige vom Boden aufhob. Mit kaltem Triumph in den Augen sah sie auf mich herunter.
»Manchmal frage ich mich, weshalb ich nur glaubte, du wärst als Mann genug für mich«, sagte sie verächtlich. »Sogar ein Schuljunge kann das besser als du!« Die Tür schlug hinter ihr zu, und ich griff wieder nach der Flasche. Aber diesmal betäubte nicht einmal der Bourbon das schale Gefühl in meinem Magen.
Ich war auf dem Boot in La Jolla, als über das Radio die Nachricht kam, die Roten hätten die Grenze in Korea überschritten. Ich lief, was ich konnte, den Kai hinunter zum Telefonautomaten und rief Jimmy Petersen in Washington an. Wir waren im Pazifik in einer Staffel gewesen. Nach dem Krieg war er dabeigeblieben und jetzt Brigadegeneral bei der Luftwaffe.
»Ich habe eben die Nachrichten gehört«, sagte ich, als er an den Apparat kam. »Kannst du einen guten Mann brauchen?«
»Klar - aber wir haben jetzt Düsenjäger. Du müßtest umgeschult werden, und ich weiß auch nicht, ob du deinen alten Rang bekommst.«
»Zum Teufel mit dem Rang, Pete. Wann soll ich kommen?«
Er lachte. »Geh morgen früh zum Presidio und sprich bei Bill Killian vor. Bis dahin hab’ ich etwas für dich ausgemacht.«
»Ich werde pünktlich dort sein - mit allen Orden und Ehrenzeichen, Pete. Und. ich dank dir sehr!«
»Du wirst mir vielleicht weniger danken, wenn du nachher bloß Captain bist.«
»General«, sagte ich aufrichtig, »ich werde dankbar sein, und wenn ich als Gemeiner wieder eingestellt werde.«
Ich ging zum Boot zurück, wo Dani in ihrem tragbaren Reise-bettchen schlief. Sie war damals fast drei Jahre und schlug die Augen auf, als ich sie samt Bett und Zubehör aufhob. »Wohin woll’n wir, Daddy?« fragte sie schläfrig.
»Wir müssen nach Hause, mein Süßes. Daddy hat was Wichtiges zu tun.«
»Fein, Dad«, flüsterte sie und schloß wieder die Augen.
Ich schnallte das Bettchen im Auto auf den Sitz neben mir und warf meine Koffer hinten hinein. Ich sah nach der Uhr. Fast acht. Wenn nicht zuviel Verkehr war, konnte ich gegen vier Uhr morgens in San Francisco sein.
Dani schlief den ganzen Weg, ohne einmal wach zu werden. Es war so gut wie kein Verkehr. In Noras Studio brannte das Licht noch, als ich Dani um drei Uhr dreißig hinauftrug und in ihr Bett legte. Ich ging sofort in mein Zimmer, aber dann fiel mir das Licht im Atelier ein. Wenn ich es ihr morgen früh doch erzählen mußte, dachte ich, konnte ich es ebensogut gleich tun, da sie noch da war. Ich ging die Treppe hinunter und in ihr Atelier. Die Lampen brannten, aber das Atelier war leer.
»Nora!« rief ich.
Ich hörte Geräusche aus dem kleinen Kabinett nebenan, ging hinüber und machte die Tür auf. Ich wollte nochmals ihren Namen sagen, aber da verschlug es mir die Stimme.
Sie lagen beide noch auf dem Bett, grotesk in ihrer Umarmung erstarrt. Nora war die erste, die sich faßte. »Raus!« schrie sie.
Mir war, als sei mein Kopf neun Meilen über den Wolken. Das war der Gipfelpunkt. Ich wurde hin- und hergerissen zwischen dem Zorn, die Wahrheit so unerwartet vor Augen zu haben, und dem wilden Wunsch, zu lachen über die verrückte Situation. Mein Zorn behielt die Oberhand.
Mit einem Satz war ich beim Bett und zog den Burschen am Genick von ihr weg. Ich riß ihn herum und versetzte ihm einen Kinnhaken. Er fiel rückwärts durch die offene Tür und krachte in eine Statue. Beide gingen mit einem Lärm, der Tote hätte aufwecken können, zu Boden.
Ich wollte ihm nach, aber irgend etwas hielt mich zurück. Ich sah ihn mir an. Furcht und Schuldbewußtsein machten ihn hilflos. Der da war nicht mehr als ein Junge. Mein Arm sank herab. Charles kam ins Atelier, er band noch seinen Bademantel zu. Hinter ihm sah ich die Köchin und das Hausmädchen aufgeregt hereinstarren.
Ich ging wieder ins Kabinett, las die Kleider des Bengels auf und warf sie hinaus ins Atelier. »Charles«, sagte ich, »befördern Sie diese dreckige kleine Laus an die Luft!«
Ich machte die Tür hinter mir zu und wandte mich zu Nora. Ihr Gesicht war bleich vor Wut und Haß. »Du ziehst dir besser etwas an. Du siehst wie eine Pennyhure aus, wenn du nichts anhast als das Bettlaken!«
»Warum hast du die Dienstboten wecken müssen? Wie soll ich ihnen je wieder gegenübertreten?«
Ich starrte sie an. Sie war nicht erschrocken, daß ich sie mit diesem jungen Bengel im Bett erwischt hatte. Das einzige, was ihr Sorgen machte, war, was die Dienstboten denken sollten. Ich schüttelte den Kopf. Ich lernte immer etwas Neues. Aber plötzlich schien ich die Antwort auf jede Frage zu kennen.
»Darüber brauchst du dir nicht den Kopf zu zerbrechen, Nora«, sagte ich beinahe freundlich. »Du hast ohnedies niemanden hinters Licht geführt. Niemanden als mich.«
»Du hast mir nie getraut. Du hast die Geschichten über mich gehört, und du hast sie geglaubt.«
»Da irrst du dich, Nora. Ich habe bisher keine einzige von diesen Geschichten gehört, noch immer nicht. Weißt du nicht, daß der Ehemann der letzte ist, der so etwas erfährt?«
»Was hast du denn von mir erwartet? Du bist ja nie mehr zu mir gekommen, seit Dani geboren ist.«
Ich schüttelte den Kopf. »Hör auf, Nora. Es hat keinen Sinn. Jetzt nicht mehr.« Sie fing an zu weinen.
»Auch das hilft nichts, Nora. Es berührt mich nicht mehr. Auch Tränen helfen da nichts.«
Sie versiegten so plötzlich, wie sie gekommen waren. »Bitte, Luke«, sagte sie. »Es soll nicht wieder vorkommen.« Sie stieg aus dem Bett und kam zu mir.
Ich lachte. »Darin hast du recht, Nora. Mir wird’s nicht wieder passieren. Ich gehe weg.«
»Nein, Luke, nein!« Sie warf die Arme um meinen Hals und klammerte sich an mich. »Ich will alles, alles wiedergutmachen! Ich schwöre es dir, Luke.«
Ich schob sie fort. Ihre Augen waren groß und voller Angst. »Was willst du denn tun?«
Plötzlich flammten alle Kränkungen und Schmerzen in mir auf. »Etwas, das ich schon längst hätte tun sollen!«
Mein Handrücken traf sie hart ins Gesicht, sie taumelte durch das halbe Zimmer, fiel über das Bett und dann zu Boden. Ich war draußen, ehe sie wieder aufstehen konnte.
Ich ging durchs Atelier in den Flur. Ich sah die Gesichter der Dienstboten, die mich anstarrten. Charles kam gerade von der Haustür zurück, als ich die Treppe erreichte. Der arme alte Bursche konnte mir nicht ins Gesicht sehen.
Die Ateliertür sprang auf. Nora stürzte in die Halle, splitternackt. »Du Hurensohn!« schrie sie. »Ich werde der ganzen Welt erzählen, was du bist. Du bist ja nicht einmal ein Mann. Du bist ein Homosexueller, ein Schwuler, ein Impotenter!«
Ich sah Charles an. »Passen Sie auf sie auf, Charles. Und wenn Sie es für nötig halten, rufen Sie einen Arzt.« Er nickte schweigend. Sie kreischte noch Schimpfworte, als ich schon oben war. An der Tür des Kinderzimmers stand Mrs. Holman mit großen Augen. »Schläft Dani?« fragte ich.
Sie nickte, noch ganz bleich.
Ich ging ins Kinderzimmer. Wirklich, Dani schlief - das Baby, das sie war! Ich küßte sie auf die Wange. Ich dankte Gott für den Schlaf der Unschuld.
In Korea hatte ich dasselbe Glück wie während des Krieges. Ich fand mich leicht mit den Düsenjägern zurecht und flog neun Einsätze; zwei migs holte ich herunter, ehe sie mich erwischten. Aber der Krieg war nicht so gewaltig, daß sie mich noch in den Generalstab geholt hätten, als ich aus dem Lazarett kam. Also gab man mir die Entlassungspapiere und schickte mich heim.
Als ich in San Francisco ankam, erhielt ich einen sensationellen Empfang. Der einzige Mensch, der im Flughafen auf mich wartete, war ein Gerichtsdiener.
»Colonel Carey?«
»Ja.«
»Entschuldigen Sie«, sagte er, drückte mir ein Papier in die Hand und eilte davon wie eine Ratte, hinter der ein Terrier her ist. Ich öffnete das Schreiben und las es. Es war vom gleichen Tag datiert - vom 20. Juli 1951. Nora Hayden-Carey gegen Luke Carey. Eine Scheidungsklage, eingereicht von der Klägerin, Mrs. Carey. Die Gründe: seelische Grausamkeit, böswilliges Verlassen und Vernachlässigung der Unterhaltspflicht.
»Willkommen daheim!« sagte ich zu mir selbst und schob das Schreiben in die Tasche. Es geht eben nichts über das herrliche Gefühl, wieder in der trauten Heimat zu sein.
Dritter Teil: Colonel Careys Geschichte
Das Wochenende
Erst gegen Mittag kam ich vom Jugendgewahrsam ins Motel zurück. In Chicago war es jetzt etwa zwei Uhr. Sicher wartete Elizabeth schon darauf, von mir zu hören.
Plötzlich zitterten mir die Hände. Ich mußte etwas trinken. Direkt vom Lift ging ich durch die Halle hinüber zur Bar und bestellte mir einen Jack Daniels. Nur einen.
Ich trank ihn rasch aus und begab mich in mein Zimmer.
Ich warf mein Jackett über einen Stuhl, setzte mich auf den Bettrand und meldete mein Gespräch an. Dann band ich meinen Schlips ab und legte mich auf mein Bett, während ich auf die Verbindung wartete.
Sogar durch den Draht klang ihre Stimme warm: »Hallo!«
»Elizabeth!« sagte ich.
»Luke?« Es klang ein wenig besorgt. »Wie geht’s dir, Luke?«
Ich brachte die Worte kaum aus meiner Kehle. »Gut, Elizabeth - ich bin alright.«
»Ist es sehr schlimm?« fragte sie ruhig.
»Schlimm genug«, sagte ich. »Nichts ist verändert.« Ich zog die Zigaretten aus meiner Tasche. »Nora haßt mich noch immer.«
»Du hattest doch wohl nicht erwartet, daß sich das ändert -oder doch?«
Ich zündete die Zigarette an. »Ich glaube nicht. Nur.«
»Nur. was?«
»Ich wünschte, ich könnte etwas mehr tun. Schon damit Dani weiß, wie gern ich ihr helfen möchte.«
»Du bist jedenfalls da, nicht wahr?«
»Ja, aber.«
»Dann mach dir keine Kopfschmerzen darüber«, sagte sie ruhig. »Dani weiß es. Für sie ist es das wichtigste zu wissen, daß sie nicht allein ist.«
Das brachte mich zu den Tatsachen zurück. »Und wie steht’s mit dir? Fühlst du dich nicht allein?«
Sie lachte. »Ich bin nicht allein. Unser kleiner Freund hat mir Gesellschaft geleistet.«
»Ich wünschte, du wärst hier.«
»Vielleicht nächstesmal. Du wirst auch ohne mich deine Sache gut machen.«
»Ich liebe dich«, sagte ich.
»Und ich liebe dich, Luke. Und nächstesmal melde ein R-Gespräch an. Wir bekommen die Rechnung nicht vor dem Ersten.«
»Gut, mein Schatz.«
»Leb wohl, Luke.«
Die Anspannung hatte nachgelassen. So wirkte Elizabeth immer auf mich. Ich schloß die Augen und dachte zurück, wie es damals - vor langer, langer Zeit - auf dem Boot gewesen war; das erstemal. Als ihr Chef das Boot gechartert hatte.
Wir waren in Santa Monica an Land gegangen, und der alte Herr hatte sich ein Taxi nach Los Angeles genommen. Elizabeth war auf dem Boot geblieben - ihr Chef hatte gemeint, sie solle doch zum Wochenende bleiben.
Wir nannten uns alle beim Vornamen, und als der alte Herr im Taxi fortgefahren war, fragte ich Elizabeth: »Ich habe einen
Freund hier, bei dem ich übernachten kann, wenn Ihnen das lieber ist.«
»Wäre es Ihnen angenehmer, Luke?« In ihrer Stimme war keinerlei falsche Koketterie.
»Ich habe doch bloß den Gentleman spielen wollen.«
»Das weiß ich.« Sie sah mich an, ihre blauen Augen waren klar. »Wenn ich irgendwelche Zweifel hätte, Luke, hätte ich nicht eingewilligt, an Bord zu bleiben.«
»Eine nette Bemerkung! Sie trägt Ihnen eine Einladung zum Dinner ein«, sagte ich lachend.
»Das soll ein Wort sein - wenn ich bezahlen darf.«
»Huhu! Ich bestehe darauf. Sie sind mein Wochenendgast.«
»Das ist nicht fair. Ich habe Ihnen hundert Dollar von Ihrem Charter heruntergehandelt.«
»Das lassen Sie nur meine Sorge sein«, sagte ich unnachgiebig.
Sie sah meine Miene und legte mir die Hand auf den Arm. »Nun, wenn es Ihnen so viel bedeutet. Aber warum?«
»Ich hatte eine Frau, die es so einrichtete, daß sie die Rechnungen bezahlte. Das hat mir gelangt, für immer.« Sie zog rasch ihre Hand zurück. »Ach so«, sagte sie. »Gut, ich hoffe nur, Sie haben viel Geld mit. Wir Schweden haben einen gesegneten Appetit.«
Wir gingen in die Fischküche am Coast Highway zwischen Malibu und Santa Monica, und sie hatte nicht zuviel gesagt! Sogar ich schaffte die riesigen Portionen nicht. Aber sie aß die ihre bis zum letzten Bissen. Nachher saßen wir bei unserm Kaffee, schauten durch die großen Scheiben auf die Brandung, die sich an den Klippen unter dem Fenster brach, und unterhielten uns. Es war sehr gemütlich, und der Abend ging so schnell vorbei, daß es nach elf wurde, als wir zum Boot zurückkehrten.
»Ich bin todmüde«, sagte sie seufzend, als wir den Kai entlanggingen. »Ich bin so viel Seeluft gar nicht mehr gewohnt.«
»Ja, sie macht einen müde«, sagte ich. Ich betrachtete sie in dem ungleichmäßig gelben Licht der einzigen Bogenlampe am Ende des Kais. »Sie legen sich jetzt zu Bett. Und wenn’s Ihnen recht ist, gehe ich noch eine Weile zum Strand hinunter, einen Freund besuchen.«
Sie sah mich einen Augenblick lang sonderbar an, dann nickte sie.
»Gut, gehen Sie nur. Und schönen Dank für das Dinner.«
Ich grinste. »Das war nur eine Generalprobe. Morgen kommt das richtige. Matte Beleuchtung. Damasttischtuch, Musik.«
»Danke für die Voranzeige. Ich werde den ganzen Tag fasten.« Sie stieg hinunter ins Boot und verschwand in der Kabine. Ich wartete einen Augenblick, dann machte ich kehrt und ging zurück. Ich trat in die Tür der ersten Bar, die ich fand, und beschäftigte mich mit meinem Freund Jack Daniels.
Ich betrank mich, und es war sicher schon nach drei, als ich vom Kai ins Boot jumpte. Ich gab mir solche Mühe, leise zu sein, daß ich über ein Tau stolperte, das aufgeschossen an Deck lag, und höchst geräuschvoll hinschlug. Viel zu müde, um noch in die Kabine zu gehen, schlief ich gleich ein, wo ich hingefallen war.
Am Morgen weckten mich das Aroma von Kaffee und der Geruch von gebratenem Schinken. Ich setzte mich auf, ehe ich noch bemerkte, daß ich in meiner Koje lag, mit nichts als meinen Shorts bekleidet. Ich rieb mir mit den Händen über meinen brummenden Schädel. Ich konnte mich an nichts erinnern.
Elizabeth mußte mich gehört haben, denn sie kam von dem kleinen Herd in der Kombüse herüber und brachte mir ein Glas Tomatensaft. »Hier, trinken Sie das.« Ich sah sie zweifelnd an. »Trinken Sie nur. Das brennt den Nebel weg.«
Automatisch schluckte ich das Zeug hinunter. Sie hatte recht.
Es brannte den Nebel weg - aber sauber! Es brannte auf den Zähnen, in der Kehle, am Magenrand, überall. Ich schnappte nach Luft. »Was ist das? Dynamit?«
Sie lachte. »Eine alte schwedische Katerkur. Tomatensaft, Pfeffer, Worcester-Sauce, Tabasco und Aquavit. Mein Vater sagte immer: Es kuriert oder es bringt einen um.«
»Ihr Vater hatte recht. Es ist ein rascher Tod. Wo haben Sie den Aquavit her?«
»Aus derselben Quelle, wo Sie gestern Ihren Freund getroffen haben. Es ist die nächste von hier aus, nicht wahr?«
Ich nickte.
»Ihr Freund führt keinen schlechten Tropfen!«
»Ich bin außer Übung«, verteidigte ich mich. »Ich habe praktisch vier Tage lang nichts getrunken. Wie haben Sie mich zu Bett gebracht?«
»Das war kein Kunststück. Mein Vater wog fast zwei Zentner - er war einsfünfundneunzig groß -, und ich habe ihn oft zu Bett gebracht. Heute war’s genau wie in der guten alten Zeit.« Sie nahm mir das leere Glas aus der Hand. »Hungrig?«
Vor einer Minute wäre mir schon bei dem Gedanken, etwas essen zu müssen, speiübel geworden. Jetzt hatte ich plötzlich Heißhunger. Ich nickte.
»Dann setzen Sie sich an den Tisch.« Sie ging wieder in die Kombüse. »Frühstück im Bett ist bei der Bedienung nicht eingeschlossen. Wie mögen Sie die Eier?«
»Am liebsten Spiegeleier. Zwei Stück.« Ich stieg aus der Koje und in meine Hosen. »Warten Sie einen Augenblick«, protestierte ich. »Sie sollen doch nicht kochen!«
Aber die Eier waren schon in der Pfanne. Es gab heiße Brötchen mit Butter, Marmelade und Orangengelee, vier Eier und ein halbes Pfund Schinken, dazu eine Kanne dampfenden Kaffee. Ich aß wie ein Scheunendrescher, als sie ihre Tasse brachte,
sich eingoß und sich zu mir setzte. Sie zündete sich eine Zigarette an.
Ich stippte den letzten Rest des letzten Eis mit dem Rest des letzten Brötchens auf und lehnte mich mit einem Seufzer zurück.
»Das war gut!« sagte ich.
»Ich mag’s gern, wenn ein Mann tüchtig ißt.«
»Nun, da sind Sie an einen Professional geraten.« Ich goß mir noch einmal Kaffee ein. »Das ist’n richtiger Kaffee!«
»Danke.«
Ich steckte mir eine Zigarette an und trank schluckweise meinen Kaffee. Ich fühlte mich so wohl und gesund wie lange nicht.
»Sie haben eine Tochter?« Ich nickte.
»Wie alt ist sie?«
»Acht.«
»Heißt sie Nora?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Dani. Abkürzung von Danielle. Nora war meine Frau.«
»Ach so.«
»Warum fragen Sie danach?«
»Sie sprachen ständig von ihnen, als ich Sie zu Bett brachte. Die beiden fehlen Ihnen sehr, nicht wahr?«
»Meine Tochter fehlt mir sehr«, sagte ich barsch. Ich stand auf. »Warum gehen Sie nicht hinaus und schnappen frische Luft? Ich wasche das Geschirr.«
»Sie nehmen Ihren Kaffee mit an Deck. Das Geschirrwaschen ist übers Wochenende meine Sache.«
Ich ging hinauf und setzte mich auf einen Angel stuhl. Der Morgennebel zog hinaus auf die See. Es würde ein heißer Tag werden. Ich hatte meine Tasse gerade ausgetrunken, als sie heraufkam.
Ich wandte mich um. »Wollen Sie heute an den Strand?«
»Warum an einen überfüllten Strand, wenn wir unser eigenes Boot nehmen und einen ganzen Ozean für uns allein haben können?«
»Bitte - Sie haben gechartert«, sagte ich aufstehend. »Ich gehe an Land und besorge ein paar Bissen zum Lunch.«
Sie lächelte. »Dafür habe ich schon gesorgt. Auch für zwölf Flaschen Bier, wenn die Sonne zu heiß wird.«
Ich ging nach vom, um loszuwerfen.
Der Morgen hielt, was er versprochen hatte. Die Sonne stach und drang so tief in die Knochen, daß selbst die Abkühlung im kalten, grünen Wasser nicht lange vorhielt. Ihr schien das wenig auszumachen.
Sie lag lang ausgestreckt auf dem Deck und sog sich voll Sonne. Fast eine Stunde lang hatte sie sich nicht gerührt. Ich lag auf der Bank hinter dem Steuerrad unter der Persenning, denn ich hatte keine Lust, bei lebendigem Leibe zu schmoren.
Ich schob meine Mütze so weit aus dem Gesicht, daß ich etwas sehen konnte. »In der Kabine ist etwas Sonnenöl, wenn Sie es brauchen.«
»Danke, nein - ich bekomme keinen Sonnenbrand, ich werde gleich braun. Aber ein Bier könnte ich vertragen. Ich bin ganz ausgedörrt.«
Ich griff in den Kühler, holte zwei Flaschen heraus, machte sie auf und trat hinaus in die Sonne. Es war wie in einem Hochofen. Sie rollte sich herum, setzte sich auf und griff nach der beschlagenen Flasche. Sie hielt sie an den Mund und trank durstig. Ein paar Tropfen rannen aus ihrem Mundwinkel auf ihre braune Schulter. Unwillkürlich sah ich hin. Bikinis und Bierflaschen.
Sie war ein hochgewachsenes Mädchen, mindestens einszweiundsiebzig, und ihr Körper paßte zu ihrer Größe. Man weiß automatisch: Wenn man eine solche Frau hat, so hat man alles, was man braucht, und es gibt dann keine andere Frau auf dieser Erde, die einen irritieren könnte.
Sie fuhr sich mit dem Handrücken über das Gesicht. Dann sah sie, wie ich sie anstarrte. Sie lachte. »Meine Mutter sagte immer, ich sei ein unappetitlicher Trinker. Wie mein Vater.«
Sie legte beide Hände hinter sich flach aufs Deck und stützte sich rückwärts auf, das Gesicht in die Sonne haltend. »Gott, ist das schön. Sonne und Meer. Ich hatte nie gedacht, daß mir die See so sehr fehlen würde.«
Ich mußte mich zwingen, nicht mehr hinzusehen. Zum erstenmal in meinem Leben empfand ich die Wirkung der »großen Blonden«. Bis jetzt hatte ich sie eigentlich nur im Film erlebt oder als Tänzerinnen in Las Vegas. Aber als ich jetzt eine lebendige so dicht vor mir hatte, begriff ich verschiedenes.
»Wenn Ihnen das Wasser so sehr fehlt«, sagte ich, »warum sind Sie dann in einem Nest wie Sandsville hängengeblieben?«
Sie hatte der Sonne wegen die Augen geschlossen. »Ich war mit meinem Mann nach Phoenix gekommen. Er war Pilot in der Air Force. Er raste mit seiner Maschine mit über neunhundert Sachen in eine Felswand. Als alles vorbei war, habe ich diese Stellung angenommen. Seitdem bin ich dort.«
»Verzeihen Sie, das wußte ich nicht.« Ich sah hinaus über das Wasser. Manche Männer haben kein Glück. Kein einziges Mal. »Wie lange ist das her?« fragte ich.
»Vier Jahre. Sie waren auch Flieger, nicht wahr, Luke?«
»Ich war. Früher einmal. Aber zu einer Zeit, als Sie noch sehr jung waren.«
»So alt sind Sie doch gar nicht.«
»Ich bin sechsunddreißig und gehe auf die siebzig zu.«
»Das macht der Suff, daß Sie sich so fühlen. Meinem Vater ging’s ebenso.« Sie brach ab, als sie sah, wie ich sie anstierte.
Sie schlug die Augen nieder. »Verzeihen Sie. das ist mir so herausgefahren.«
»Wie alt sind Sie?«
»Vierundzwanzig.«
»Mit vierundzwanzig ist alles leicht.«
»Meinen Sie?« fragte sie, und wieder trafen sich unsere Blik-ke. »So leicht, wie mit zwanzig Witwe zu sein?«
»Jetzt muß ich >verzeihen Sie< sagen.«
»Schon gut.«
Ich trank einen Schluck von meinem Bier. »Woher wissen Sie, daß ich Flieger war?«
»Ich wußte schon sehr lange von Ihnen. Deshalb war ich gekommen. um Sie zu suchen.«
»Mich?«
»Sie waren doch Johnnys großer Held. Ein glänzender Kampfflieger.
Mit fünfundzwanzig Colonel. Johnnys heißester Wunsch war, so zu sein wie Sie. Und deshalb mußte ich kommen, um mit eigenen Augen zu sehen, wie er gewesen wäre. wenn er’s überlebt hätte.«
»Und jetzt?«
»Jetzt brauche ich nicht mehr darüber zu grübeln. Ich glaube, ich werde es nie erfahren. Johnny hatte nicht die geringste Ähnlichkeit mit Ihnen.«
»Warum sagen Sie das?«
»Als ich Sie gestern zu Bett brachte, haben Sie geweint. Ich kann mir Johnny nicht weinend vorstellen, wenigstens nicht mehr, als er älter war als sechs. Er war rasch und aggressiv und manchmal rauh und ungeduldig. Sie sind das genaue Gegenteil. Innerlich empfindsam und weich.«
»Ich war nie ein richtiger Held«, sagte ich. »Der Krieg zwingt einen oft, etwas zu sein, was man gar nicht ist - wenn man ihn überleben will. Und ich war Fachmann im Überleben.« Ich lachte trocken. »Obwohl ich nicht begreifen kann, was, zum Kuk-kuck, ich durchaus noch erleben wollte.«
Sie sah mich sehr fest an. »Ich glaube, das Überleben bedeutet eines Tages sehr wenig, wenn man sein Leben damit verbringt, sich in einem Whiskyfaß zu verstecken.«
Ich sah ihr tief in die Augen. Sie waren klar und stolz und wichen den meinen nicht aus. Ich seufzte. »Ich fürchte, ich habe das verdient.«
Dann sah ich auf die Uhr. »Sie haben gerade noch Zeit zu einem Kopfsprung, ehe wir den Anker einholen.«
Mit meinem Bier ging ich hinunter in die Kabine. Dort war es etwas kühler. Ich nahm einen Schluck aus der Flasche und stellte sie vor mich auf den Tisch. Durch die offene Luke hörte ich das Wasser aufspritzen, als sie hineinsprang.
Das Telefon neben meinem Bett riß mich zurück in die Gegenwart.
Langsam schüttelte ich die Wärme der Erinnerung ab.
»Ja?« murmelte ich.
»Colonel Carey?«
»Ja.«
»Hier ist Harris Gordon.«
Jetzt war ich hellwach. »Ja, Mister Gordon?«
»Es tut mir leid, daß ich erst so spät anrufen kann. Ich hatte alle Hände voll zu tun.«
Ich sah nach der Uhr. Ich hatte den ganzen Nachmittag geschlafen. »O bitte - es macht nichts.«
»Wäre es Ihnen recht, wenn wir unsere Verabredung auf morgen vormittag verlegen? Heute ist Samstag, und meine Frau hat ein paar Leute eingeladen.« »Selbstverständlich.«
»Morgen früh um neun?«
»Gut«, sagte ich. »Ich treffe Sie im Foyer.«
Ich legte den Hörer auf, ging zum Fenster und sah hinaus. Die Dämmerung kam, die Neonlichter blitzten auf. San Francisco an einem Samstagnachmittag. und ich hatte in meiner alten Heimatstadt nichts zu tun. Also steckte ich mir eine Zigarette an, lehnte mich wieder im Bett zurück und dachte weiter nach über Elizabeth und mich.
Elizabeth trug an jenem Abend ein einfaches weißes Kleid. Das Haar fiel ihr auf die Schultern herab wie gesponnenes Gold, und die sonnenbraune Haut sah dagegen wie Milchschokolade aus. Die Wochenendlöwen verdrehten sich die Hälse nach ihr. Sie sind in Südkalifornien schöne Frauen gewöhnt, besonders in der Gegend von Malibu, wo oft gefilmt wird. Aber an Elizabeth war etwas, das alle Augen anzog.
Der Maître d’hôtel verstand etwas von seinem Fach: Wenn er eine Attraktion sah, so nutzte er sie. Er gab uns ein Eckfenster, das auf die See hinausging, wo uns jeder sehen konnte. Dann schickte er eine Flasche Champagner herüber und die Geigen.
Elizabeth sah mich lächelnd an. »Sie müssen hier ja eine gewaltige Nummer haben!«
»O nein, das gilt nicht mir.« Ich hob mein Glas. »Es gilt Ihnen. Tatsächlich hab’ ich Dusel, daß er sich nicht an mich erinnert. Das einzige Mal, das ich hier war, wurde ich wegen Trunkenheit rausgeworfen.«
Sie lachte. »Er wird seine gute Meinung ändern, wenn er mich essen sieht.«
Nach einer Weile verschwanden die Geigen, und die Tanzkapelle spielte. Ich sah Elizabeth an, und als sie nickte, gingen wir auf die Tanzfläche. Ich legte den Arm um sie, und wo meine Hand das Fleisch ihres nackten Rückens berührte, spürte ich die Kraft unter dieser glatten Haut.
Ich machte ein paar ungeschickte Schritte bei dem Versuch,
den Rhythmus der Musik zu finden. »Es ist schon lange her.«
»Bei mir auch.« Dann aber legte sie ihr Gesicht an meine Wange, und nun war alles ganz leicht.
Ich war erstaunt, als das Orchester zusammenpackte und ich auf meine Uhr sah: drei Uhr vorbei. Seit langem war mir kein Abend so schnell vergangen. Ich zahlte die Rechnung und legte ein großes Trinkgeld für den Maître dazu, weil er so nett zu uns gewesen war. Der Duft der Blumen stieg zu uns auf, als wir vom Berg hinunter in die sternklare kalifornische Nacht gingen. »Wollen wir zu Fuß zum Wasser hinuntergehen?«
Sie nickte und schob ihren Arm unter den meinen. Wir gingen den Weg, der sich hinter dem Restaurant an dem kleinen Motel vorbeiwand, das auf den Strand hinaussah. Die Nacht war sehr still. Kein Laut kam von der Autostraße herüber. »Ich könnte Sie fragen, ob Sie die Meerjungfern aufsteigen sehen«, sagte ich.
»Ich bin wild auf alle Seegeschichten.«
Ich lachte, als wir weiter am Strand entlanggingen, bis wir zu einem Felsen kamen. Wir setzten uns und schauten hinaus auf das Wasser. Wir sprachen kein Wort. Es war nicht nötig. Die Nacht war von einem eigenartigen Frieden erfüllt.
Ich warf meine Zigarette weg und sah der Funkenspur nach, die sie auf ihrem Weg ins Wasser zurückließ. Wir saßen dicht beieinander, sahen zu, wie sich die Brandung auf dem Sand brach, berührten einander nicht und waren uns doch sehr nahe. Sie wandte mir ihr Gesicht zu. »Luke!«
Ich küßte sie. Kein Händedruck, keine heiße Umarmung - nur unsere Lippen begegneten sich und kosteten sich und erzählten einander von alledem, was uns vorher geschehen war. Wie einsam wir gewesen waren und was wir uns von der Zukunft wünschten.
Nach einer Weile löste sie ihren Mund von meinem und legte den Kopf an meine Schulter. So saßen wir eine lange Weile.
Dann seufzte sie ein wenig und hob den Kopf. »Es wird spät, Luke. Ich bin müde. Komm, wir wollen zum Boot.«
In dem Taxi, das uns nach Santa Monica brachte, waren wir sehr still. Nur unsere Finger sprachen, obwohl sie ganz ruhig ineinander verschlungen waren. Wir stiegen vom Kai ins Boot. Vor der Kabine blieben wir stehen. Ihre Stimme war leise und ruhig.
»Ich bin kein Typ für Wochenendromanzen, Luke. Wenn ich einmal einen Weg einschlage, meine ich den ganzen Weg, auf lange Zeit. Ich bin keine einsame Witwe, die eine Lücke in ihrem Leben ausfüllen will. Ich möchte nicht als Feuerlöscher benützt werden, um eine Fackel auszumachen.«
Ich sah ihr in die Augen. »Ich verstehe dich.«
Sie schwieg einen Augenblick, als prüfe sie die Wahrheit in mir. »Ich hoffe es«, flüsterte sie. »Ich wünsche es mir.« Sie legte den Arm um meinen Hals und drückte ihren Mund auf den meinen. »Laß mir ein paar Minuten Zeit, ehe du hereinkommst.«
Sie verschwand in der Kabine. Ich zündete mir eine Zigarette an. Plötzlich zitterten meine Hände, und ich hatte Angst. Ich wußte nicht, wovor ich Angst hatte, aber sie war da. Ich sah mich nach einem Drink um, aber es war nichts da als ein paar Flaschen Bier. Ich machte eine auf und trank sie schnell aus. Sie war nicht mehr kalt, aber mir war besser, als ich getrunken hatte. Ich warf die Zigarette ins Wasser und ging in die Kabine.
Sie lag in meiner Koje und hatte die Decke bis zum Kinn heraufgezogen, das goldgesponnene Haar über mein Kissen gebreitet. »Dreh das Licht aus, Luke. Ich bin ein bißchen schüchtern.«
Ich machte es aus. Durch das Bullauge fiel das Licht vom Kai herein auf ihr Gesicht. Ich warf schnell meine Kleider ab, kniete neben der Koje nieder und küßte sie.
Ihre Arme schlangen sich um meinen Hals. »Luke. Luke!«
Ich hob den Kopf und zog langsam die Decke weg. Jetzt hatte sie die Augen offen und beobachtete mich. Nach einer kurzen Stille fragte sie: »Bin ich dir schön genug, Luke?«
Ihre Brüste waren voll und stolz, ihre Taille war sehr schmal unter den Rippen ihres schön gewölbten Brustkorbs, ihr Bauch flach mit einer ganz leichten Rundung zu der schwellenden Kurve ihrer Hüften. Ihre Schenkel kräftig und ihre Beine lang und gerade.
Wieder erfüllte ihre Stimme das Schweigen. »Ich möchte gern schön für dich sein.«
Ich küßte ihre Kehle. »Du bist meine goldene Göttin.«
Ihre Arme schlossen sich fester um mich. »Halte mich, Luke. Liebe mich, Luke.«
Die Leidenschaft stieg in mir hoch. Ich küßte ihre Brüste. Sie stöhnte leise, und ich spürte, wie ihr Körper unter mir warm wurde. Dann war nichts mehr da als das harte Pochen meines Herzens und das Brausen in meinem Hirn. Und plötzlich schlugen der viele Whisky und die verfluchte Hurerei, in die ich geflohen war, auf mich zurück.
»Nein. nein!« schrie ich auf. Ich fühlte, wie ihre Arme, die mich hielten, in Schrecken und Überraschung starr wurden.
»Bitte nicht!« - Aber es war vorbei.
Einen Augenblick lag ich ganz still, dann setzte ich mich langsam auf und griff nach einer Zigarette. »Es tut mir leid, Elizabeth, es tut mir so leid. Ich hätte es wissen sollen. Ich glaube, ich tauge zu nichts mehr. Ich bin nicht einmal mehr ein anständiger Liebhaber.«
Ich saß auf dem Rand der Koje und starrte auf den Fußboden. Ich wagte nicht, sie anzusehen. Ein paar Sekunden schwieg sie, dann griff sie hoch und nahm mir die Zigarette aus dem Mund. Sie legte sie weg und hob mit der anderen Hand mein Gesicht. Ihre Stimme war still und sanft. »Das also hat sie dir angetan, Luke? Hat sie dich so kaputtgemacht?«
»Ich habe mich selbst kaputtgemacht«, sagte ich bitter. »Ich sagte dir’s ja eben - ich bin ein armseliger Liebhaber.«
Sie zog meinen Kopf herunter auf ihre warme Brust und streichelte mich zärtlich. »Das bist du nicht, Luke«, flüsterte sie. »Dein Unglück ist. du liebst zu sehr.«
Als ich am Morgen aufwachte, war sie fort. Auf ihrem Platz lagen ein Brief und vier Hundertdollarnoten. Ich öffnete den Umschlag mit zitternden Fingern.
Lieber Luke,
bitte vergib mir, daß ich Dich auf diese Art verlasse. Ich weiß, es wird nicht fair aussehen, aber ich weiß in diesem Augenblick nicht, was ich anderes tun könnte. Jeder Mensch trägt sein eigenes Kreuz und muß seinen eigenen Kampf auskämpfen. Ich habe meinen Kampf gekämpft, als Johnny starb. Du stehst noch mitten in deinem Kampf, Luke.
Sollte die Zeit kommen, daß Du ihn so weit gewinnst und stark genug bist, aus Deinem Versteck herauszukommen und der Mann zu sein, der Du in Wirklichkeit bist, dann können wir vielleicht doch zusammen die lange Reise machen. Denn das ist es, was ich mir sehnlichst wünsche - das heißt natürlich, wenn Du es auch möchtest. Ich weiß, ich bin nicht sehr logisch - aber ich kann nie sehr logisch sein, wenn ich weine.
Alles Liebe Elizabeth
Drei Monate lang versuchte ich zu vergessen, was sie mir geschrieben hatte. Dann wachte ich eines Morgens in einer Arrestzelle auf und alles war weg. Das Boot, mein Kredit, das bißchen Selbstachtung, das mir geblieben war - alles war weg. Ich bekam dreißig Tage Zwangsarbeit, als ich die Geldstrafe nicht bezahlen konnte.
Am Ende der dreißig Tage, als ich meinen Anzug wiederbekam, fand ich ihren Brief noch in meiner Tasche. Ich nahm ihn heraus und las ihn wieder, dann sah ich mich im Spiegel an. Zum erstenmal seit langer Zeit waren meine Augen klar. Wirklich klar. Ich konnte mir wieder selbst in die Augen sehen.
Ich dachte an Elizabeth und wie schön es wäre, sie wiederzusehen. Aber nicht so wie jetzt. Ich wollte mich ihr nicht zeigen, solange ich wie ein Landstreicher aussah. Also nahm ich eine Stelle als Bauarbeiter bei einer Baufirma an, und als das Vorhaben sieben Monate später fertig war, hatte ich mich schon zum Hilf spolier heraufgearbeitet, hatte sechshundert Dollar in der Tasche und einen alten Wagen, der immerhin mir gehörte.
Ich setzte mich hinein und machte eine Nonstopfahrt nach Phoenix. Dort erfuhr ich, daß sie nach Tucson gezogen war, wo ihr Chef gerade ein neues Projekt in Angriff nahm. Am selben Spätnachmittag war ich in Tucson. Das Büro lag draußen vor der Stadt an der Autobahn, und das erste, was ich sah, als ich auf den Parkplatz fuhr, war ein Schild:
BAULEITER GESUCHT
Ich machte die Bürotür auf und ging hinein. Im Vorzimmer saß ein dunkelhaariges Mädchen. Sie blickte auf. »Ja, bitte?«
»Draußen steht, daß Sie eine Arbeitskraft brauchen.«
Sie nickte. »Das stimmt. Haben Sie Erfahrung?«
»Ja.«
»Bitte setzen Sie sich. Miss Andersen wird gleich dasein.«
Sie nahm das Telefon auf und flüsterte etwas hinein. Dann gab sie mir ein Formular. »Füllen Sie das aus, während Sie warten.«
Ich war gerade fertig, als das Telefon summte und das Mädchen auf eine zweite Tür wies.
Elizabeth sah nicht auf, als ich eintrat. Sie war mit einem Aufrechnungsbogen beschäftigt. »Sie haben Erfahrung?« fragte sie, ohne den Blick zu heben.
»Ja, Madam.«
Sie sah noch immer auf den Bogen. »Welcher Art?«
»Aller Art, Madam.«
»Aller Art?« wiederholte sie ungeduldig. »Das ist nicht sehr deutlich.« Sie sah auf, und die Worte blieben ihr in der Kehle stecken. Sie schien schmaler geworden zu sein, die Backenknochen standen mehr heraus. »Aber das ist nicht der Grund, warum ich hergekommen bin, Madam«, sagte ich, ihre Augen beobachtend. »Der wirkliche Grund ist. Ich bin hergekommen, weil ich die eine suche, die einmal gesagt hat, sie würde gern eine weite Reise mit mir machen.«
Ein paar sehr lange Sekunden sah sie auf zu mir, dann war sie im Nu aus ihrem Sessel und um den Schreibtisch herum und in meinen Armen. Ich küßte sie, und sie weinte, und immer wieder sagte sie meinen Namen: »Luke. Luke. Luke.«
Die Tür am andern Ende des Büros ging auf. Der alte Herr, ihr Chef, kam herein. Er sah uns und wollte sich zurückziehen, dann warf er uns einen zweiten Blick zu und räusperte sich.
Er griff in die Tasche, holte seine Brille heraus, betrachtete mich gründlich und räusperte sich wieder. »Also Sie sind’s!« sagte er. »Höchste Zeit, daß Sie kommen. Da wird Elizabeth endlich aufhören, Trübsal zu blasen, und wir kommen weiter mit unserer Arbeit.«
Er stapfte hinaus, schloß die Tür hinter sich, und wir sahen uns an und lachten. Und als ich sie lachen hörte, wußte ich, daß immer alles besser sein würde, wenn ich sie bei mir hatte. Immer - sogar jetzt, wo ich in San Francisco war und sie in Chicago in einer einsamen Nacht auf mich wartete.
Harris Gordon war bereits im Foyer, als ich am nächsten Morgen um neun Uhr herunterkam. Wir gingen ins Café, wo noch alle Tische leer waren. Natürlich, Sonntag morgen.
Die Kellnerin brachte uns Kaffee, ich bestellte mir kleine Buchweizenkuchen mit Würstchen. Gordon schüttelte den Kopf. »Ich habe schon gefrühstückt.«
Als die Kellnerin gegangen war, fragte ich: »Was wird nun geschehen?«
Er nahm sich eine Zigarette. »In einer Hinsicht haben wir Glück. Wir brauchen nicht vor ein Schwurgericht.«
»Nicht?«
»Nein«, antwortete er. »Nach kalifornischem Gesetz wird ein Jugendlicher, der ein Verbrechen begangen hat, nicht so abgeurteilt wie ein Erwachsener. Das trifft ganz besonders zu für Falle von Jugendlichen unter sechzehn Jahren.«
»Aber wie entscheiden sie dann bei einem Kind über Schuld und Strafe?«
»Wieder ist hier das Gesetz auf unserer Seite. Für Kinder gibt es so etwas wie eine Strafe überhaupt nicht. Nach kalifornischem Gesetz ist ein Kind nicht verantwortlich für seine Handlungen, auch dann nicht, wenn eine Schuld feststeht. Der Jugendliche kommt vielmehr vor das Jugendgericht, das über die bestmögliche Lösung hinsichtlich der Rehabilitation und der schließlichen Wiedereinordnung in die Gesellschaft entscheidet.« Er lächelte. »Habe ich mich allzu juristisch ausgedrückt?«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich verstehe. Bitte, sprechen Sie weiter.«
Die Kellnerin brachte mein Frühstück. Gordon wartete, bis sie wieder ging, und fuhr dann fort: »Das Gericht muß darüber befinden, in wessen Obhut die Interessen und das Wohlergehen des Kindes am besten gewahrt sind. Ob - je nach Lage des Falles - die Vormundschaft einem Elternteil übertragen wird oder beiden Eltern, ob es zu Pflegeeltern gegeben wird oder in ein Erziehungsheim wie Los Guilicos oder, falls nötig, auch in eine klinische oder psychiatrische Behandlung. Das alles aber erst nach vollständiger Untersuchung des Falles. Sollte das Jugendgericht entscheiden, Dani in Gewahrsam zu behalten, ist es möglich, daß sie zum California Youth Authority Reception Center in Perkins kommt, für eine gründliche tiefenpsychologische und psychiatrische Untersuchung.«
»Und was bedeutet das alles?«
»Eines bedeutet es mit Sicherheit«, antwortete er schnell, »und zwar folgendes: Sollten Sie daran denken, die Vormundschaft zu bekommen, dann vergessen Sie das so schnell wie möglich. Das Gericht läßt auf keinen Fall zu, daß das Kind an einen Ort außerhalb Kaliforniens kommt.«
Wir musterten einander. Zumindest kannte ich jetzt meine Situation. Man würde mir niemals die Vormundschaft über Dani geben, wie sonst auch alles ausging. Ich nahm mich zusammen: »Also ich bekomme Dani nicht. Wer dann?«
»Offen gesagt, ich bezweifle, daß das Gericht sie jemals an Nora zurückgibt. Es bleiben drei Möglichkeiten - ihre Großmutter oder Pflegeeltern, die das Gericht aussucht, oder Los Guili-cos. Ich denke, die Pflegeeltern können wir streichen. Danis Großmutter kann ihr bessere Chancen bieten.«
»Es handelt sich also entweder um die alte Dame oder eine Anstalt?« fragte ich. Er nickte.
Ich aß meinen letzten Bissen und bestellte mir noch einen Kaffee.
»Und was meinen Sie - wie wird es ausgehen?«
»Soll ich Ihnen meine ehrliche Meinung sagen?«
Ich nickte.
»Dann steht es für Los Guilicos und Mrs. Hayden wie zehn zu eins.«
Ich schwieg eine Weile. Der Gedanke, Dani monate-, ja vielleicht jahrelang hinter Gittern zu wissen, war mir unerträglich. »Und wie kann man das Gericht dazu bringen, uns diese eine Möglichkeit zu geben?«
Gordon sah mich fest an. »Wir müßten beweisen, daß wir Da-ni all das angedeihen lassen können, was sie in einer Anstalt hätte. Das bedeutet: strenge Aufsicht, guten Unterricht, religiöse Erziehung, Psychotherapie und, wenn nötig, Analyse. Und ständigen Kontakt mit dem Bewährungshelfer, dem sie zugeteilt wird.«
»Warum das, wenn Dani bei ihrer Großmutter ist?«
»Weil ihr nur die Vormundschaft anvertraut wird. Dani verbleibt unter Aufsicht des Jugendgerichts, bis das Gericht völlig davon überzeugt ist, daß es keine sozialen Schwierigkeiten mehr mit ihr gibt.«
»Wie lange wird das dauern?«
»Nach meinen bisherigen Erfahrungen würde sie unter Gerichtsaufsicht stehen, bis sie mindestens achtzehn ist.«
»Das ist eine lange Zeit für einen Menschen, der wie unter einem Mikroskop leben soll. Auch für ein so junges Mädchen.«
Er sah mich kritisch an. »Sie hat einen Menschen getötet«, sagte er. »Das bleibt.«
Das war deutlich genug. Sogar für mich. »Was kann ich tun, um irgendwie zu helfen?«
»Ich glaube, es ist wichtig, daß Sie in San Francisco bleiben, bis die Verhandlungen bei Gericht abgeschlossen sind.«
»Das ist unmöglich«, antwortete ich. »Solche Prozesse hören nie auf!«
»Es ist kein Prozeß im üblichen Sinn, Colonel. Es gibt da keine Geschworenen, die verurteilen oder freisprechen können, sondern nur eine Verhandlung mit nur einem Richter, und geladen werden nur die betroffenen Personen. Nicht einmal die Polizei und der Staatsanwalt des Distrikts sind zugelassen, falls sie nicht eigens zum Erscheinen aufgefordert werden, um besondere Fragen über das Wohlergehen und die Führung des Kindes zu beantworten. Der ganze Fall muß rasch abgeschlossen werden. Das Gesetz schützt das Kind vor unnötiger Haft. Wenn ein Kind mehr als fünfzehn Tage in Verwahrung gehalten wird, ohne daß eine Verhandlung stattfindet, muß es entlassen werden.«
»In klaren Worten«, fragte ich, »wie lange?«
»Der Hafttermin wird am Dienstag stattfinden. Die eigentliche Verhandlung eine Woche später. Eine Woche von Dienstag an - also rund zehn Tage.«
»Zehn Tage!« Ich war außer mir. »Meine Frau muß jeden Tag niederkommen! Warum müssen wir bis Dienstag auf die Verhandlung warten?«
»Weil die Bestimmungen es so vorschreiben, Colonel«, erklärte Gordon geduldig. »Der Hafttermin ist für Dienstag angesetzt, weil das der Tag ist, an dem der Richter die Fälle minderjähriger Mädchen verhandelt. Die endgültige Verhandlung wird eine Woche später angesetzt, wie ich Ihnen schon sagte, weil die Bewährungshelfer Zeit haben müssen, den Fall von allen Richtungen zu untersuchen. Und diese Überprüfung ist für uns ebenso wichtig wie für das Gericht. Denn von dem Bericht des Bewährungshelfers hängt es im allgemeinen ab, wie der Richter entscheidet. Ist der Bericht nicht hinreichend überzeugend, ordnet der Richter an, daß das Kind zur weiteren Beobachtung nach Perkins kommt. Unsere Aufgabe ist es also, den Bewährungshelfer und das Gericht zu überzeugen, daß dem Staat und Dani am besten damit gedient ist, wenn sie in die Obhut ihrer Großmutter gegeben wird.«
»Wozu brauchen Sie dann aber mich? Ich kann doch nicht das mindeste tun, jemanden zu überzeugen, daß Dani am besten zu der alten Dame kommt.«
»Da bin ich nicht Ihrer Meinung, Colonel. Sie können nämlich sehr viel tun, wenn Sie nur darauf hinweisen, daß dies auch Ihrer Meinung nach das beste für das Kind wäre.«
»Ja«, sagte ich spöttisch, »mein Wort ist sehr schwerwiegend! Sie können sich für mein Wort nicht ein Glas Bier kaufen, wenn Sie nicht gleichzeitig Ihren Quarter zücken.«
Er sah mich an. »Sie unterschätzen sich, Colonel. Ihr Wort gilt sehr viel. Die Öffentlichkeit kann nicht so schnell vergessen, was Sie für unser Land getan haben.«
»Wollen Sie den alten Brei vom Kriegshelden wieder aufwärmen?«
»Aber gründlich! Er wirkt bereits in unserem Interesse.«
»Wie meinen Sie das?«
Gordon winkte der Kellnerin und bat um die Morgenzeitungen. Als sie auf dem Tisch lagen, deutete er auf ein Bild auf dem ersten Blatt und die Schlagzeilen dazu.
Das Bild war von mir - ich hatte den Arm um Dani gelegt und führte sie in den Jugendgewahrsam. Die Schlagzeile war kurz:
KRIEGSHELD KOMMT ZUR VERTEIDIGUNG SEINER TOCHTER
»Anständig, nicht wahr? Die Zeitungen sind bereits auf unserer Seite. Es steht kein Wort davon drin, daß Sie unbeherrscht auf die Reporter losgegangen sind. Sonst wird jeder gekreuzigt, der so etwas tut. Sie aber nicht.«
Ich sah ihn fragend an.
»Die Menschen, die sich mit dem Schicksal Ihrer Tochter zu beschäftigen haben, sind menschlich. Auch der Richter liest die Tageszeitungen - und ob er es zugibt oder nicht: er wird durch sie beeinflußt.«
Gordon lehnte sich in seinen Stuhl zurück. »Wenn Ihr Hierbleiben eine finanzielle Frage ist, wird Mrs. Hayden - sie hat es mir gesagt - gern einspringen.«
»Meine Finanzen haben nichts damit zu tun. Ich sagte Ihnen bereits, daß meine Frau in diesen Tagen ein Kind erwartet.«
»Die öffentliche Meinung kann leicht über Nacht umschlagen«, fuhr Gordon fort. »Augenblicklich herrscht überall viel Sympathie für Sie und Ihre Tochter. Wenn Sie wegfahren, ehe die Frage geregelt ist, in wessen Obhut Dani kommt, könnte man in der Öffentlichkeit daraus vielleicht den Schluß ziehen, daß Ihre Tochter unverbesserlich ist und selbst in Ihren Augen nicht wert, daß man alles für sie tut.« Ich sah ihn scharf an. Klug war er, das mußte man ihm lassen. Er hatte mich fast überzeugt. Ich sah keinen Ausweg.
»Denken Sie daran, Colonel: Ob Dani die nächsten vier Jahre ihres Lebens in einem staatlichen Erziehungsheim verbringt oder zu Hause bei ihrer Großmutter, hängt großenteils von Ihrer Entscheidung ab.«
»Mit einemmal liegt alles in meiner Verantwortung!« entgeg-nete ich zornig. »Warum hat das Gericht das nicht damals bedacht, als es Nora die Vormundschaft übertrug? Das Gericht hatte Beweismaterial genug, um zu wissen, wie Nora ist. Wo war denn damals die Gerechtigkeit? Und wo war die alte Dame, als dieser Kerl in Noras Haus lebte? Sie muß doch gewußt haben, was da vor sich ging. Sie war ja nicht plötzlich blind! Warum hat sie nichts unternommen, um Dani wegzuholen, ehe das alles passierte? Ich war ja nicht einmal hier. Ich durfte mich ja nicht sehen lassen. Ich war ja nicht gut genug, mich meiner
Tochter auf zehn Schritt Entfernung zu nahem. Man hatte ja sogar bestritten, daß ich ihr Vater bin. Und jetzt sagen Sie, es hängt alles von meiner Entscheidung ab?!«
Gordon sah mich eine Weile schweigend an. Ich glaube, in seinen Augen war ein Schimmer von Verständnis. Er sprach sehr ruhig. »Zugegeben, daß alles wahr ist, was Sie sagen, Colonel, so ändert es doch nichts an dem derzeitigen Tatbestand. Wir stehen jetzt nicht einer bitteren Vergangenheit gegenüber, sondern sehr bitteren Tatsachen der Gegenwart.« Er rief nach der Rechnung. »Treffen Sie keine überstürzten Entscheidungen, Colonel. Warten Sie mindestens bis Dienstag, bis nach dem Hafttermin, ehe Sie einen Entschluß fassen.«
Er stand auf. »Vielleicht fällt es Ihnen leichter, wenn Sie morgen zu der Verhandlung vor dem Untersuchungsrichter kommen.«
»Vor dem Untersuchungsrichter? Wird Dani dabeisein?«
Gordon schüttelte den Kopf. »Nein. Aber ihre Aussage wird verlesen. Und Nora wird dort ebenfalls ihre Aussage machen.«
»Was wird dadurch bewiesen?«
Er zuckte die Achseln. »Vielleicht nichts, was wir nicht schon wissen. Aber die Verhandlung könnte Sie davon überzeugen, wie wichtig es ist, daß Sie hierbleiben.«
Während er das Restaurant verließ, bestellte ich mir noch eine Tasse Kaffee. Es hatte keinen Sinn, schon jetzt zum Haus der alten Dame zu gehen. Nicht, ehe ich Dani gesehen hatte.
Noras Jaguar stand auf dem Parkplatz des Jugendgewahrsams, als ich vorfuhr. Ich war gerade ausgestiegen und wollte zum Eingang, als mich Charles’ Stimme anhielt. »Colonel!«
Ich drehte mich um. »Hallo, Charles!«
»Würden Sie mir einen Gefallen tun, Sir? Ich habe ein paar Pakete mit, die ich im Auftrag von Miss Hayden für Miss Dani abgeben soll.«
»Wo ist Miss Hayden?«
Charles wich meinem Blick aus. »Sie ist. sie fühlt sich heute nicht recht wohl. Doktor Bonner riet ihr, im Bett zu bleiben und zu ruhen.
Sie ist sehr aufgeregt.«
»Das kann ich mir vorstellen«, sagte ich trocken. »Gut. Ich nehme die Pakete mit.«
»Vielen Dank, Colonel.« Er machte die Wagentür auf und nahm einen kleinen Handkoffer und zwei Pakete heraus. Das eine sah aus wie eine große Schachtel Konfekt.
»Wollte man sie Ihnen nicht abnehmen?«
»O doch, Sir. Aber man sagte mir, daß Sie herkommen und daß es doch netter für Miss Dani wäre, wenn Sie die Sachen ihr selbst geben.«
Ich wollte zum Eingang gehen, doch Charles blieb neben mir. »Würden Sie mir gestatten zu warten, Sir, bis Sie wiederkommen? Ich möchte so gern wissen, wie es Miss Dani geht.«
»Natürlich, Charles. Ich sehe mich nach Ihnen um, wenn ich zurückkomme.«
»Vielen Dank, Sir. Ich bleibe im Wagen.«
Er kehrte um und ging zum Parkplatz, während ich in das Gebäude trat. Am Eingang saß wieder die Grauhaarige. Sie lächelte, als sie mich sah. »Ich habe Ihren Besucherschein schon bereit, Colonel Carey.«
»Ich danke Ihnen.«
Sie sah den Koffer und die beiden Pakete. »Darf ich, Colonel? Es ist Vorschrift hier.« Zuerst wußte ich nicht, was sie meinte. Dann verstand ich es. Sie nannten es zwar nicht Gefängnis, aber es herrschten doch wohl dieselben Regeln.
Sie öffnete zuerst den Koffer. Obenauf lagen ein paar Blusen und Röcke. Sie nahm sie heraus und legte sie auf den Tisch. Darunter zwei Sweater, Strümpfe, Unterwäsche, zwei Paar Schuhe und ein Stoß Taschentücher. Sie befühlte alles sorgsam und lächelte mir zu, als sie es wieder in den Koffer legte. Dann kamen die beiden Pakete dran. Ich hatte recht geraten. Das eine war eine Schachtel Konfekt. Das andere enthielt Bücher - sogenannte Jungmädchenlektüre.
Die Frau sah mich entschuldigend an. »Anscheinend ist alles in Ordnung. Sie können sich nicht vorstellen, was die Leute hier alles einzuschmuggeln versuchen.«
»Ich verstehe.«
Sie gab mir ein Papier und deutete auf eine Tür. »Dort durch bis zum Ende des Korridors. Dann eine Treppe hoch - an der Wand ist ein Zeichen, wie Sie weitergehen müssen. Sie kommen zu einer geschlossenen Pforte. Zeigen Sie der diensttuenden Aufseherin Ihren Schein. Sie bringt Sie zu Ihrer Tochter.«
»Danke vielmals.«
Die Korridore waren blitzsauber, die Wände mattgrün gestrichen, wie im Krankenhaus. Ich ging eine Treppe hinauf und kam in einen Korridor, der genauso war wie der, aus dem ich eben kam. Eine Tafel an der gegenüberliegenden Wand: ZU den räumen der Mädchen. Ich ging weiter, bis zu einem Gitter. Es war aus sehr starkem Draht und reichte vom Boden bis zur Dek-ke. In der Mitte befand sich eine Tür aus dem gleichen starken Drahtgitter und mit Stahlrahmen.
Ich wollte sie aufmachen, aber sie war verschlossen. Ich rüttelte; das Klirren hinter dem Gitter hallte im leeren Korridor wider. Jetzt öffnete sich eine Tür. Eine große Negerin kam herbeigeeilt, noch damit beschäftigt, die weiße Tracht zuzuknöpfen. »Ich komme gerade erst zum Dienst«, entschuldigte sie sich.
Ich reichte ihr meinen Schein. Sie las ihn schnell und nickte. Aus einer Tasche ihrer weißen Tracht holte sie einen Schlüssel und schloß auf. Ich trat ein. Hinter mir schloß sie wieder zu.
Wir gingen den Korridor entlang, der in einen großen Aufenthaltsraum mündete. Einige Stühle standen herum; an der einen Seite, an der Fensterwand, weit vom Gang abgerückt, ein Tisch und noch ein paar Stühle. Um den Tisch saßen ein paar Mädchen und hörten Radio. Zwei Mädchen, eine Weiße und eine Negerin, tanzten miteinander Rock ’n’ Roll.
Die Mädchen sahen auf, als wir hereinkamen. In ihren Gesichtern stand eine seltsam uninteressierte Neugier, die schnell verschwand, als sie sahen, daß ich nicht zu ihnen gekommen war.
»In welchem Raum ist Dani Carey?« fragte die Aufseherin.
Sie sahen sie verständnislos an.
»Das neue Mädchen.«
»Ach so, die Neue.« Es war das farbige Mädchen, das antwortete. »Sie ist in zwölf.«
»Warum ist sie nicht hier draußen bei euch? Habt ihr sie nicht aufgefordert?«
»’türlich haben wir sie aufgefordert. Aber sie wollte nicht,
Miss Matson. Sie wollte in ihrem Zimmer bleiben. Sie ist noch zu schüchtern, glaube ich.«
Die Matrone nickte, als wir den Raum verließen. Wir kamen in einen anderen Korridor mit vielen dicht nebeneinanderliegenden Türen. Vor einer blieb die Aufseherin stehen und klopfte. »Du bekommst Besuch, Dani.«
»Okay«, sagte Dani von drinnen.
»Ich lasse Sie wissen, wenn Ihre Besuchszeit um ist«, sagte die Aufseherin zu mir.
»Danke«, sagte ich, als sie fortging.
»Daddy!« rief Dani und warf sich in meine Arme.
»Hallo, Baby!« Ich ließ die Pakete fallen und drückte Dani an mich.
Jetzt stand die Tür ganz offen, und ich konnte in Danis Zimmer sehen. Es war klein und schmal, mit zwei Feldbetten an den beiden Längswänden. Hoch oben in der Außenwand ein kleines Fenster. Auf einem der Betten saß eine junge Frau, die aufstand, als ich eintrat.
»Das ist Miss Spicer, Daddy«, sagte Dani. »Miss Spicer, das ist mein Vater.«
Die junge Frau streckte mir die Hand hin. »Es freut mich, Sie kennenzulernen, Colonel Carey«, sagte sie. Ihr Händedruck war fest und freundlich. »Ich bin Marian Spicer - die Bewährungshelferin, der Dani zugeteilt ist.«
Ich starrte sie an. Irgendwie hatte ich mir bei dem Ausdruck »Bewährungshelfer« so etwas wie einen Mann mit einem harten, strengen Gesicht vorgestellt. Diese Frau hier war jung, nicht älter als vielleicht achtundzwanzig, mittelgroß, mit braunem Haar, das lockig ihr Gesicht einrahmte, und lebhaften braunen Augen. Ich glaube, sie sah mir meine Überraschung an, denn ihr Lächeln verstärkte sich. »Guten Tag, Miss Spicer.«
Anscheinend war sie diese Reaktion gewöhnt, denn sie ging nicht darauf ein. Sie sah auf die Pakete. »Ich sehe, dein Vater hat dir etwas mitgebracht. Ist das nicht nett?«
Dani sah mich fragend an. Ich wußte, daß sie den Koffer erkannte. »Deine Mutter schickt sie dir«, sagte ich.
Wie ein Schleier senkte es sich über Danis Augen. »Kommt Mutter nicht?«
»Nein. Sie fühlt sich nicht recht wohl.«
Der Schatten in ihrem Blick wurde tiefer. Ich konnte nicht mehr hinsehen. »Ich habe sie auch nicht wirklich erwartet, Daddy«, sagte sie leise.
»Doktor Bonner hat ihr gesagt, sie soll im Bett bleiben. Ich weiß, wie gerne sie.«
Dani unterbrach mich. »Woher weißt du das, Daddy? Hast du sie denn gesehen?«
Ich schwieg.
»Sie hat sicher Charles geschickt, und der hat dir die Sachen gegeben. War es nicht so, Daddy?« Ihre Augen sahen mich herausfordernd an, ob ich wohl widersprechen würde.
Ich nickte. Sie wandte sich mit fast zorniger Geste ab.
»So, Dani, ich gehe jetzt, solange du deinen Vater hier hast. Später komme ich wieder«, sagte Miss Spicer ruhig.
Dani ging zum unteren Ende des Bettes und setzte sich mit abgewendetem Gesicht. Ich sah mich nochmals im Zimmer um. Es maß etwa zweieinhalb mal drei Meter. Außer den beiden Betten waren nur noch zwei kleine Kommoden am Fußende der Betten und ein Stuhl vorhanden. Die Wände waren einst grün gewesen, dann aber ohne viel Erfolg cremefarben gestrichen worden. Sie waren dicht bekritzelt. Ich sah genauer hin: meistens Jungennamen oder Daten für Verabredungen, dann und wann eine Telefonnummer. Dazwischen hier und da ein paar obszöne Worte, wie man sie an den Wänden öffentlicher Toiletten findet. Ich sah auf Dani. Von der jungen Dame, die gestern früh die Treppe herunterkam, war nichts mehr geblieben. Statt ihrer saß da ein kleines Mädchen auf dem Feldbett. Ihr einziges Make-up war ein wenig blasser Lippenstift, und statt der toupierten Frisur hatte sie das Haar mit einem Gummiband zum Pferdeschwanz zusammengebunden. Mit Bluse und Rock sah sie sogar noch jünger als vierzehn Jahre aus.
Ich griff nach einer Zigarette. - »Gib mir eine, Daddy.«
Ich sah sie erstaunt an. »Ich wußte nicht, daß du rauchst.«
»Du weißt eine Menge Dinge nicht, Daddy«, sagte sie ungeduldig.
Ich gab ihr eine Zigarette und Feuer. Ja - sie rauchte. Ich sah es daran, wie sie inhalierte und den Rauch dann noch einmal durch die Nase ziehen ließ.
»Weiß deine Mutter, daß du rauchst?« fragte ich.
Sie nickte und sah mich wieder herausfordernd an.
»Ich halte das für gar nicht gut. Du bist noch so jung.«
Sie schnitt mir schnell das Wort ab. »Fang jetzt nicht mit diesem väterlichen Ton an. Dafür ist es zu spät.«
In einer Hinsicht hatte sie recht. Zu lange war ich nicht bei ihr gewesen, zu viele Jahre. Ich wechselte das Thema. »Willst du dir nicht ansehen, was dir deine Mutter schickt?«
»Ich weiß schon, was Mutter mir geschickt hat«, entgegnete sie. »Konfekt, Bücher, Kleider. Dasselbe Zeug, das sie mir immer schickt, wenn ich weg bin. Schon seit dem ersten Sommer, als sie mich in ein Ferienheim gesteckt hatte.«
Plötzlich standen ihre Augen voller Tränen. »Ich glaube, sie denkt, das hier ist auch nichts anderes als wieder einmal so ein Heim. Sie hat mir immer etwas geschickt, sicher. Aber sie hat mich nie besucht, nicht einmal am Elterntag.« Ich hätte sie gern an mich gezogen und beruhigt, aber irgend etwas in ihrer steifen, graden Haltung hielt mich zurück. Es war sicher besser, wenn ich sie jetzt nicht anrührte. Nach ein paar Minuten hörte sie auf zu weinen.
»Warum bist du denn nie gekommen, um mich zu besuchen, Daddy?« fragte sie mit schüchterner Stimme. »Hattest du mich gar nicht mehr lieb?«
Der Untersuchungsrichter und die Geschworenen hatten ihre Plätze bereits eingenommen, als ich am nächsten Morgen in den kleinen überfüllten Gerichtssaal trat. Nur vom waren noch ein paar für die Zeugen reservierte Sitze frei. Harris Gordon bemerkte mich, als ich hinten im Saal stand, er erhob sich und winkte mir. Ich ging nach vorn. Er wies auf den Platz neben Nora. Jeder andere wäre mir lieber gewesen, aber ich spürte, wie scharf die Reporter uns beobachteten, und setzte mich.
»Charles sagte mir, daß er dich gestern gesprochen hat. Wie geht es Dani?« fragte mich Nora.
Ihr Gesicht war blaß. Sie hatte ganz wenig Make-up aufgelegt und war sehr einfach angezogen. »Dani war enttäuscht, daß du nicht kommen konntest«, sagte ich.
»Ich war selbst enttäuscht! Aber der Arzt wollte nicht, daß ich aus dem Hause ging.«
»Das habe ich gehört. Geht es dir jetzt besser?«
Sie nickte. »Etwas besser wenigstens.«
Ich sah weg, mit einem bitteren Geschmack im Mund, wie früher so oft. Es gab nichts, was Nora wirklich ändern konnte, nichts, was auch nur an sie herankam, nicht einmal jetzt. Was auch geschah - sie hatte immer dieselben kleinen höflichen Redensarten bereit, die kleinen Lügen, die sorgfältigen Umwege um die Wahrheit. Sie war gestern sowenig krank gewesen wie ich selbst. Ein leichter Hammerschlag von dem erhöhten Tisch, hinter dem der Untersuchungsrichter saß. Plötzlich war alles
still. Der erste Zeuge wurde aufgerufen - der medizinische Sachverständige. Als erfahrener Zeuge berichtete er schnell und sachlich. Bei der Sektion der Leiche von Anthony Riccio habe er festgestellt, daß der Tod durch einen gewaltsam herbeigeführten Riß der großen Aorta eingetreten sei. Verursacht habe den Riß ein scharfes Instrument. Nach seiner Schätzung müsse der Tod auf keinen Fall später als fünfzehn Minuten nach dieser Verletzung erfolgt sein - vermutlich bereits nach viel kürzerer Zeit.
Der nächste Zeuge war ebenfalls ein Mediziner, der Polizeiarzt. Mit der gleichen Erfahrung wie der andere sagte er aus, daß er vom Polizeipräsidium telefonisch zum Tatort beordert worden sei und den Verstorbenen bereits tot vorgefunden habe. Außer einer oberflächlichen Untersuchung, wie sie zur Ausstellung des Totenscheins erforderlich war, habe er nichts getan und nur noch veranlaßt, daß der Tote ins Leichenschauhaus geschafft wurde. Er trat ab. Der Gerichtsdiener rief den nächsten Zeugen auf: »Doktor Alois Bonner.«
Ich blickte auf, als sich Dr. Bonner am anderen Ende der Zeugenbank erhob. Es war lange her, seit ich ihn das letztemal gesehen hatte. Er war kaum verändert. Immer noch das schöne graue Haar, immer noch das vornehme und gewichtige Auftreten, das ihm die reichste Praxis in San Francisco eingebracht hatte.
Er legte den Eid ab und setzte sich in den Zeugenstand.
»Doktor Bonner«, sagte der Untersuchungsrichter, »erzählen Sie dem Gericht mit Ihren eigenen Worten genau, was sich am letzten Freitagabend ereignet hat.«
Dr. Bonner wandte sich an die Geschworenen. Seine wie Honig dahinfließende Krankenzimmerstimme rollte klangschön durch den häßlichen Gerichtssaal.
»Ich verließ gerade meine Sprechstunde, als ein wenig nach acht Uhr das Telefon läutete. Es war Miss Haydens Diener Charles, der mich informierte, es habe ein Unglück gegeben. Ich sollte bitte sofort herüberkommen.
Da meine Praxis nur einen Block von Miss Haydens Haus entfernt ist, war ich schon fünf Minuten nach dem Anruf dort. Ich wurde unverzüglich in Miss Haydens Atelier geführt, wo ich Mister Riccio auf dem Boden liegend vorfand, den Kopf in Miss Haydens Schoß. Sie hielt ein blutbeflecktes Tuch an seine Seite. Als ich fragte, was geschehen sei, sagte Miss Hayden mir, Mister Riccio sei erstochen worden. Ich kniete neben ihm nieder und nahm das Tuch fort. Es war eine große, häßliche Wunde, die stark blutete. Ich legte das Tuch zurück und fühlte Mister Riccios Puls. Er war schwach und unregelmäßig. Da ich sah, daß er heftige Schmerzen hatte und schnell verfiel, öffnete ich meine Tasche, um ihm eine Morphiumspritze zu geben. Aber bevor ich es tun konnte, war er bereits tot.«
Er sah den Untersuchungsrichter an.
Dieser erwiderte ein paar Sekunden lang seinen Blick, dann wandte er sich an einen Mann, der neben dem Gerichtsstenographen saß. »Haben Sie irgendwelche Fragen, Mister Carter?«
»Carter gehört zur Staatsanwaltschaft des Distrikts«, flüsterte Gordon, als der Mann aufstand und nickte.
»Doktor Bonner, hat der Verstorbene während Ihrer Untersuchung vor seinem Tod etwas gesagt, eine Bemerkung gemacht?«
»Ja, das hat er getan.«
»Was hat er gesagt?«
»Er hat zweimal den gleichen Satz gesagt: >Sie hat mich erstochen..««
»Als Mister Riccio diese Bemerkung machte, Doktor Bonner, hatten Sie da eine Vermutung, wen er meinte?«
»Zu diesem Zeitpunkt nicht«, antwortete der Arzt bestimmt.
Ich sah mit einem halben Blick Gordons Augen befriedigt aufblitzen und wußte nun, daß er bereits mit dem guten Doktor gesprochen hatte.
»Waren noch andere Personen im Atelier außer Miss Hayden
und dem Verstorbenen, als Sie eintraten?«
»Miss Haydens Tochter war ebenfalls da«, antwortete Bonner.
»Blieb sie die ganze Zeit dort, während Sie sich mit dem Verstorbenen beschäftigten?«
»Ja.«
»Danke sehr, Doktor Bonner.« Der Stellvertreter des Distriktsanwalts ging zurück zu seinem Stuhl und setzte sich.
»Sie können abtreten, Doktor Bonner«, sagte der Untersuchungsrichter. »Ich danke Ihnen.«
»Inspektor Gerald Myrer«, rief der Gerichtsdiener.
Ein gutgewachsener, gediegen gekleideter junger Mann mit militärischem Haarschnitt erhob sich am Ende der Bank. Er trat vor, wurde vereidigt und setzte sich.
»Bitte, geben Sie den Geschworenen Ihren Namen und Ihren Beruf an.«
»Inspektor Gerald Myrer von der Polizei in San Francisco, Morddezernat.«
»Und nun berichten Sie uns bitte von Ihren Maßnahmen in dem vorliegenden Fall am Abend von Mister Riccios Tod.«
Der Inspektor zog ein kleines Notizbuch aus der Tasche und schlug es auf. »Der Anruf kam gegen 8 Uhr 25 im Morddezernat an, und zwar von dem Funkwagen, der als erster die Meldung aufgenommen hatte. Wir trafen um 8 Uhr 37 im Haus von Miss Hayden ein. Zwei Funkwagen waren bereits dort. Der Polizist an der Tür meldete nur, daß drinnen im Atelier ein Mann ermordet worden sei. Ich ging unverzüglich hinein. Der Verstorbene lag auf dem Fußboden. Anwesend waren im Atelier Miss Hayden und ihre Tochter Dani Carey, Doktor Bonner, der Diener Charles Fletcher; außerdem Mister Harns Gordon, der Anwalt. Er war, wie mir der Beamte an der Tür sagte, wenige Minuten vor mir gekommen. Ich begann sofort mit der Vernehmung.« Er räusperte sich und sah sich im Gerichtssaal um. »Die Verneh-mung ergab, daß Miss Hayden und ihre Tochter die beiden einzigen im Raum Anwesenden waren, als Mister Riccio die Verletzung beigebracht wurde, die seinen Tod zur Folge hatte. Aus der Vernehmung Miss Haydens und ihrer Tochter entnahm ich, daß die Tochter den Verstorbenen mit einem Bildhauermeißel angegriffen hatte, und zwar während eines heftigen Streits zwischen Miss Hayden und dem Verstorbenen. Der Bildhauermeißel wurde auf dem Fußboden in der Nähe des Toten gefunden. Ich ließ ihn zur Prüfung ins kriminaltechnische Institut schicken.«
»Verzeihen Sie die Unterbrechung, Inspektor Myrer«, sagte der Untersuchungsrichter. »Können Sie uns jetzt etwas über das Ergebnis dieser Untersuchung mitteilen?«
Der Inspektor nickte. »Ja, das kann ich. Das kriminaltechnische Institut berichtete mir, daß das Blut auf dem Meißel zur Blutgruppe 0 gehört, was mit der des Toten übereinstimmt. Auf dem Griff des Meißels waren dreierlei Fingerabdrücke festgestellt worden - von Miss Hayden, ihrer Tochter und dem Verstorbenen. Einige Fingerabdrücke waren verschmiert und überdeckt, aber es waren ausreichend einzelne Abdrücke da, um einwandfrei zu sichern, daß jede dieser drei Personen den Griff angefaßt hatte.«
»Danke, Inspektor. Bitte fahren Sie fort.«
»Nachdem ich die Vernehmung beendet hatte, nahm ich die Tochter, Danielle Carey, mit zum Polizeipräsidium. Der Anwalt, Mister Gordon - ich erwähnte schon, daß er anwesend war -, begleitete uns. Im Präsidium diktierte Miss Carey dem Polizeistenographen ein Protokoll, das ihr in Mister Gordons Gegenwart vorgelesen und dann von ihr unterschrieben wurde. Dann brachte ich sie dem Gesetz entsprechend in den Jugendgewahrsam, wo ich sie der Bewährungshelferin vom Dienst übergab. Auch dorthin begleitete uns Mister Gordon.«
»Haben Sie eine Kopie der Aussage bei sich?«
»Ja, Sir.«
Der Untersuchungsrichter wandte sich an die Geschworenen. »Nach den Gesetzen des Staates Kalifornien darf kein Jugendlicher vor ein Gericht gestellt werden, von dem er möglicherweise wegen eines Verbrechens verurteilt werden kann. Das einzig zuständige Gericht ist das Jugendgericht. Da wir hier nur die Aufgabe haben, die physische Ursache für den Tod des Verstorbenen festzustellen, darf den Geschworenen die Aussage verlesen werden, die die betreffende Jugendliche gemacht hat.«
Er wandte sich wieder an den Inspektor: »Würden Sie uns bitte die Aussage vorlesen, Inspektor Myrer?«
Inspektor Myrer zog einen zusammengefalteten Bogen aus seiner Brusttasche. Er faltete ihn auseinander und begann zu lesen:
Aussage der Jugendlichen Danielle Carey:
Mein Name ist Danielle Nora Carey. Ich lebe bei meiner Mutter, Nora Hayden, in San Francisco. Ich war oben in meinem Zimmer und bereitete mich auf die Semesterprüfung vor, als ich Stimmen hörte, die aus dem untenliegenden Atelier meiner Mutter kamen. Ich wußte, daß meine Mutter und Rick schon den ganzen Tag über etwas gestritten hatten. Gewöhnlich blieb ich in meinem Zimmer, wenn sie sich stritten, denn es war immer sehr aufregend. Aber dieser Streit war den ganzen Tag immer heftiger geworden, und ich fing an, mich um meine Mutter zu ängstigen. Schon früher einmal, als sie sich stritten, hatte Rick sie geschlagen. Sie konnte drei Tage nicht ausgehen, weil sie ein zugeschwollenes Auge hatte und meine Mutter sich nicht damit in der Öffentlichkeit sehen lassen wollte.
Ihre Stimmen wurden immer lauter. Dann meinte ich, meine Mutter schreien zu hören, und Rick schrie: »Ich bringe dich um!«, und dann lief ich aus meinem Zimmer hinunter ins Atelier. Ich ängstigte mich sehr um meine Mutter, und als ich die Tür des Ateliers öffnete, sah ich, daß Rick ihren Arm gepackt hatte und nach hinten drehte und sie rückwärts über einen Tisch zwingen wollte. Ich ergriff den Meißel, der auf dem Tisch neben der Tür lag, und lief auf die beiden zu. Ich schrie Rick an, er solle meine Mutter loslassen. Er ließ auch ihren Arm los und wandte sich zu mir um, trat einen Schritt auf mich zu und sagte, ich solle mich zum Teufel scheren. Ich vergaß, daß ich den Meißel in der Hand hatte, und stieß ihn mit der Faust in den Bauch.
Eine Sekunde stand er still, dann legte er die Hände an den Bauch und sagte: »Herr im Himmel, Dani, warum mußtest du so etwas Idiotisches tun?« Dann sah ich den Meißel, der zwischen seinen Händen steckte, und sah das Blut, das ringsherum herausquoll. Ich rannte an ihm vorbei zu meiner Mutter und schrie: »Das hab ’ ich nicht gewollt!« Meine Mutter stieß mich beiseite und lief zu Rick. Er drehte sich zu ihr, zog den Meißel heraus und gab ihn ihr in die Hand. Das Blut spritzte aus Rick heraus, und meine Mutter ließ den Meißel auf den Boden fallen. Rick tat einen Schritt auf sie zu, dann fiel er hin. Ich konnte es nicht mehr ansehen und bedeckte mein Gesicht mit meinen Händen und fing an zu schreien.
Dann kamen Charles und Violet herein, und Violet schlug mich ins Gesicht, und ich hörte auf zu schreien. Dann kam Doktor Bonner und sagte mir, daß Rick tot ist. Ich glaube, das ist alles, außer daß ich es wirklich nicht hatte tun wollen.
Ich habe die vorstehende Aussage durchgelesen, die ich aus eigenem Willen und Entschluß gemacht habe, und füge hinzu, daß sie ein wahrer und getreuer Bericht der darin beschriebenen Ereignisse ist.
Der Polizeiinspektor sah die Geschworenen an. Er sprach noch mit derselben flachen, ausdruckslosen Stimme: »Es ist natürlich unterzeichnet mit Danielle Nora Carey.«
Der Untersuchungsrichter wandte sich an den Stellvertreter des Distriktsanwalts. »Haben Sie irgendwelche Fragen, Mister Carter?«
Carter schüttelte den Kopf.
»Danke, Inspektor. Sie können abtreten.«
Der Gerichtsschreiber stand auf, als der Inspektor an ihm vorbeiging. »Nora Hayden.«
Ich erhob mich, als Nora an mir vorbei in den Gang trat. Ihr Gesicht war bleich und gefaßt, ihre Lippen fest zusammengepreßt. Zum erstenmal sah ich eine gewisse Ähnlichkeit zwischen ihr und ihrer Mutter. Sie hielt sich sehr gerade, mit vorgestrecktem Kinn. Sie trat sozusagen mit fliegenden Fahnen auf. Sie legte den Eid ab und ging in den Zeugenstand. Harris Gordon setzte sich neben den Vertreter der Distriktsanwaltschaft. Die Stimme des Untersuchungsrichters war mitleidig und sanft. »Bitte, sagen Sie den Schöffen, was Sie von den bereits geschilderten Ereignissen wissen, Miss Hayden.«
Sie sprach leise, aber ihre Stimme trug. Zumindest bis zu den Schöffen und den ersten Sitzreihen. Aber ich spürte, wie sich die Leute hinter mir anstrengten, sie zu verstehen.
»Mister Riccio und ich hatten uns gestritten. Er war mehrere Jahre lang mein Manager gewesen, aber ich war mit seiner Arbeit nicht mehr zufrieden und hatte ihm gekündigt. Er wollte sich nicht mit der Kündigung abfinden. Die Auseinandersetzung darüber dauerte den ganzen Tag an. Endlich kam er am Abend, während ich arbeitete, in mein Atelier und wurde sehr beleidigend. Ich forderte ihn auf, mich in Frieden zu lassen: Ich könne so nicht arbeiten und mich nicht konzentrieren, und das würde dem Werk schaden, an dem ich gerade arbeite. Da packte er mich bei den Schultern, schüttelte mich heftig und rief, er lasse sich mit solchen Ausflüchten nicht abspeisen. Ich versuchte ihn wegzustoßen, aber er ergriff meinen Arm und bog ihn nach hinten, so daß ich sehr schmerzhaft rückwärts über den Tisch fiel. Dann ging die Tür auf. Dani kam hereingestürzt und schrie ihn an. Er drehte sich nach ihr um und sagte ihr, sie solle hinausgehen. Ich sah, daß sie auf ihn einschlug. Ich weiß noch, wie über-rascht ich darüber war. Ich hatte noch nie erlebt, daß Dani jemanden schlug. Sie war immer sehr ruhig, ein gutes Kind, still und selbstbeherrscht. Wenn man sie nicht sah, wußte man gar nicht, daß sie im Hause war. Dann drehte sich Mister Riccio wieder um, und ich sah das Blut. Dani rannte an ihm vorbei auf mich zu, sie schrie, das habe sie nicht gewollt. Ich forderte sie auf, zur Seite zu gehen, während ich Mister Riccio zu helfen versuchte. Ich begriff noch immer nicht, was geschehen war, bis ich den Meißel in seiner Hand sah. Er. er gab ihn mir und. und er war naß von Blut. Ich ließ ihn fallen. Mister Riccio begann umzusinken, ich wollte ihn noch auffangen, aber da lag er schon auf dem Boden.«
Die Tränen kamen ihr in die Augen. Sie schluckte, versuchte zu sprechen, aber die Stimme versagte ihr. Sie begann zu weinen. Aber sehr damenhaft. Das Taschentuch sanft an die Augen drückend. Im Saal war es ganz still, bis der Untersuchungsrichter mit seiner ruhigen, wohlwollenden Stimme sagte: »Bitte, geben Sie Miss Hayden ein Glas Wasser.« Der Schreiber goß ein Glas Wasser ein und brachte es Nora. Sie nippte zierlich.
»Würde Ihnen eine kurze Pause erwünscht sein, Miss Hay-den?« fragte der Untersuchungsrichter.
Nora sah ihn dankbar an. »Ich. ich glaube nicht. Es. es geht schon wieder. Vielen Dank!«
»Lassen Sie sich Zeit, Miss Hayden.«
Nora nahm noch ein Schlückchen Wasser und begann wieder zu sprechen. Ihre Stimme klang mühsam und schwach, war aber noch gut verständlich. »Dani schrie, und der Diener kam ins Atelier. Ich bat ihn, den Arzt zu rufen, während ich die Polizei benachrichtigte. Dann ging ich zu Mister Riccio und versuchte ihn etwas besser zu betten.« Wieder kamen ihr die Tränen in die Augen. »Aber ich konnte nichts tun. Niemand konnte ihm mehr helfen. Ich wußte, daß Dani nicht die Absicht gehabt hatte, ihn zu verletzen. Es war ein unglücklicher Zufall. Dani kann keiner
Fliege etwas zuleide tun.«
Sie schwieg einen Augenblick. Man konnte sehen, wie sie um Fassung rang. Dann hob sie den Kopf und sah die Geschworenen offen an. »Ich glaube, es war alles meine Schuld«, sagte sie tapfer. »Ich hätte ihr eine bessere Mutter sein sollen! Aber ich fürchte, das müßte sich jede Mutter sagen!« Das war die Spitzenleistung. Unter den Geschworenen waren fünf Frauen; sie weinten alle mit ihr.
Nora wandte sich wieder an den Untersuchungsrichter. »Ich. ich glaube, das ist alles, was ich zu sagen habe.«
Er räusperte sich ergriffen. »Haben Sie noch irgendwelche Fragen, Mister Carter?« sagte er dann.
Mr. Carter erhob sich. »Miss Hayden, Sie sagten uns, daß Sie den Diener beauftragten, den Arzt anzurufen, während Sie die Polizei benachrichtigten und dann versuchten, Mister Riccio zu Hilfe zu kommen. Ist das richtig?«
Nora nickte. »Ja.«
»Aber als Inspektor Myrer eintraf, war Ihr Anwalt, Mister Gordon, bereits da. Wann haben Sie ihn angerufen?«
»Nachdem ich die Polizei benachrichtigt hatte, glaube ich. Ich war so aufgeregt, daß ich es wirklich nicht genau sagen kann.«
Ob Carter wohl merkte, daß Nora log? Soweit ich Nora kannte, war ich davon überzeugt, daß sie selbst sich dessen nicht bewußt war. Offenbar entschloß sich Carter, es ihr durchgehen zu lassen.
»Wie waren Ihre Beziehungen zu Mister Riccio?«
»Er war mein Manager«, antwortete Nora.
»Aber er lebte bei Ihnen im Haus, nicht wahr?«
»Ja.«
»Ist das in Ihrem Beruf so üblich?«
»Das weiß ich nicht. Aber in meinem Fall war es eine Not-wendigkeit. Es war eine Arbeit, die mehr Zeit in Anspruch nahm als die übliche Arbeitszeit.«
»Wollen Sie damit sagen, daß Sie und Mister Riccio eine sehr viel persönlichere Beziehung hatten als die rein geschäftliche, Miss Hayden?«
Gordon sprang auf. »Ich erhebe Einspruch! Die Frage gehört nicht zur Sache und ist für die Untersuchung des Falles unwesentlich.«
»Einspruch genehmigt.«
»Hatten Sie und Mister Riccio jemals die Absicht zu heiraten?« fragte der Vertreter des Distriktsanwalts.
»Einspruch! Ich ersuche das Gericht ehrerbietigst, dem Vertreter des Distriktsanwalts aufzugeben, daß er sich auf die Fragen beschränkt, die für diese Untersuchung wesentlich sind.«
»Genehmigt«, sagte der Untersuchungsrichter. Seine Stimme klang ärgerlich, als er sich an Carter wandte: »Beschränken Sie Ihre Fragen auf das zur Sache Gehörige.«
Carter sah Nora an. »Haben Sie gesehen, daß Ihre Tochter den Meißel ergriffen hat, mit dem sie angeblich Mister Riccio verwundete?«
»Nein.«
»Haben Sie ihn in ihrer Hand gesehen, als sie zustieß?«
»Nein.«
»Wußten Sie, daß ein solcher Meißel auf dem Tisch neben der Tür lag?«
»Ich glaube, ja.«
»Lassen Sie diesen Meißel gewöhnlich dort liegen? Sie müssen doch sicherlich gewußt haben, daß ein so scharfes Instrument möglicherweise gefährlich sein konnte?«
»Ich ließ den Meißel stets dort liegen, wo ich zufällig mit ihm gearbeitet hatte. In diesem Fall lag er auf dem Tisch, weil ich
dort an einer Rosenholzfigur gearbeitet hatte.« Jetzt sprach sie mit fester Stimme. »Es war mein Atelier. Außer diesem Meißel habe ich noch viele andere Werkzeuge, die zu meinem Handwerk gehören, auch eine Acetylen-Lötlampe. Ich bin Bildhauerin und nur an dem interessiert, was ich schaffe, nicht aber daran, Buch über meine Werkzeuge zu führen! Ich habe niemals eins meiner Werkzeuge als eine mögliche Gefahr betrachtet. Meine Werkzeuge sind die Grundvoraussetzungen meiner Kunst.«
»Keine weiteren Fragen«, sagte Carter und setzte sich.
Nora kam erhobnen Hauptes aus dem Zeugenstand. Ihre Kunst war ihr Schild, und sie trug ihn so vor sich her, daß nichts in der Welt an sie herankommen konnte. Hinter diesem Schild war sie sicher.
Nun war noch ein Zeuge zu vernehmen - Charles. Seine Aussage beschränkte sich lediglich auf die Bestätigung der bisherigen. Vermutlich war das der Grund, daß Violet nicht aufgerufen wurde. Der Untersuchungsrichter gab den Fall an die Geschworenen weiter.
Sie waren keine fünf Minuten draußen. Dann verkündete der Obmann den Spruch: »Die Geschworenen haben festgestellt, daß der verstorbene Anthony Riccio infolge eines Stiches mit einem scharfen Instrument zu Tode kam, das sich in den Händen der Jugendlichen Danielle Nora Carey befand und das sie in berechtigter Verteidigung ihrer Mutter gebraucht hat.«
Im Saal entstand Unruhe und Stimmengewirr. Ich drehte mich um und sah, wie sich die Reporter zur Tür drängten, als der Untersuchungsrichter mit dem Hammer aufklopfte. Ich trat beiseite, um Nora und Gordon vorbeigehen zu lassen. Sie begaben sich zur Tür. Blitzlichter flammten auf. Ich beschloß zu warten, bis die Fotografen fort waren, und setzte mich wieder hin. Der Saal war jetzt fast leer. Ich sah über den Gang hinweg eine junge Frau sitzen, die sich in einem kleinen Buch Notizen machte. Sie
klappte es zu, sah zu mir herüber und nickte. Automatisch nickte ich zurück, noch ehe ich sie erkannte. Dann wußte ich, daß es die Bewährungshelferin war.
Ja»stand auf. »Guten Tag, Miss Spicer.«
»Guten Tag, Colonel Carey«, sagte sie ruhig.
»Haben Sie Dani heute morgen schon gesehen?« Sie nickte.
»Wie geht es ihr?«
»Nun. sie fühlt sich noch ein wenig verloren. Aber das wird vergehen, wenn sie sich daran gewöhnt hat.« Sie stand auf. »Ich muß jetzt fort.«
»Natürlich«, sagte ich und trat zur Seite.
Sie ging schnell den Gang entlang. Dani wird sich daran gewöhnen, hatte sie gesagt. Als sei das etwas Gutes. Sich daran zu gewöhnen, daß man im Gefängnis ist.
Als ich zum Ausgang schritt, waren die Korridore bereits leer. Die helle Sonne fiel mir in die Augen, so daß ich Harris Gordon nicht sah, ehe er direkt vor mir stand. »Nun, Colonel Carey? Was meinen Sie?«
Ich kniff die Augen zusammen und sah ihn an. »Nun, ob es sich nun Verhandlung nannte oder nicht - sie haben es recht gut verstanden, Dani den Strick zu drehen.«
»Totschlag in Notwehr ist noch lange kein Mord«, sagte er, indem er sich mir anschloß.
»Ja«, antwortete ich trocken. »Auch kleine Begünstigungen werden dankbar angenommen.«
»Dort drin ist etwas nicht erwähnt worden, was Sie, glaube ich, doch wissen müßten«, sagte er.
Ich sah ihn an. »Und das wäre.?«
»Was Dani gesagt hat, als sie im Polizeirevier ihre Aussage unterschrieben hat.«
»Warum ließen Sie sie diese Aussage überhaupt machen?«
»Ich hatte keine Wahl, sie bestand darauf. Und als ich sie hindern wollte zu unterschreiben, beharrte sie ebenfalls darauf.«
Ich schwieg einen Augenblick. »Und was hat sie dann gesagt?« fragte ich dann.
Er sah mich lange an. >»Werde ich jetzt in die Gaskammer müssen?< Und dann weinte sie. Ich sagte ihr, kein Mensch denke auch nur an die Gaskammer, aber sie wollte mir nicht glauben. Je mehr ich sie beruhigen wollte, um so erregter wurde sie. Ich rief vom Präsidium aus Doktor Bonner an, und er gab ihr eine Spritze. Er fuhr sogar mit uns zum Jugendgewahrsam hinaus, aber auch das half nichts. Dani wurde immer erregter. Hauptsächlich deshalb haben sie sie die Nacht über in meine Obhut gegeben. Aber sie schrie und weinte und schluchzte noch immer, bis ihre Großmutter daran dachte, ihr das einzige zu sagen, das sie schließlich beruhigte.«
»Und was war das?«
»Daß Sie herkommen«, sagte er. »Daß Sie nicht zulassen werden, daß man ihr etwas zuleide tut.«
Vierter Teil: Handelt von Dani
Als Dani noch sehr klein war und nicht gern allein im Dunkeln blieb, sah sie oft aus ihrem Bettchen zu mir auf und sagte mir ihrer dünnen kleinen Stimme: »Daddy, dreh doch die Nacht aus!« Dann knipste ich in ihrem Zimmer ein mattes Lämpchen an, und sie schlief glücklich und geborgen ein in einer ihr vertrauten Welt.
Ich wünschte, es wäre jetzt auch so leicht gewesen. Aber jetzt konnte ich kein Lämpchen anknipsen, um >die Nacht auszudre-hen<; davon hatte mich die Verhandlung vor dem Untersuchungsrichter gründlich überzeugt.
Ich sah Gordon nach, wie er in seinen Wagen stieg und davonfuhr. Dann machte ich kehrt, blickte noch einmal auf das Gerichtsgebäude und ging hinüber zum Parkplatz in der Golden Gate Avenue, wo ich meinen Wagen gelassen hatte.
Unaufhörlich ging mir der alte Kinderreim durch den Kopf: Humpty Dumpty saß auf dem hohen Wall, Humpty Dumpty tat einen tiefen Fall...
Zum erstenmal wußte ich, wie den Mannen des Königs zumute gewesen sein mußte, als sie sahen, daß sie Humpty Dumpty nicht wieder heilmachen konnten. Sie hätten ihn eben von Anfang an besser behüten und nicht fallen lassen sollen. Jetzt standen sie da wie die Narren. Auch ich hätte Dani nicht fallen lassen sollen. Vielleicht war es meine Schuld. Ich dachte daran, wie ich gestern nachmittag im Jugendgewahrsam bei ihr in dem engen Zimmer gesessen und versucht hatte, ihr zu erklären,
warum ich sie nie besucht hatte. Auch wenn es die Wahrheit war
- das wußte ich -, klang es dennoch unglaubhaft.
Und Dani war ein Kind, trotz der Zigaretten, die sie so kundig rauchte. Was glaubte sie? Ich wußte es nicht. Ich spürte nur, wie brennend gern sie mir glauben, mir ganz vertrauen würde. Aber sie war nicht ganz sicher, ob sie es konnte. Ich war schon einmal fortgegangen, und ich konnte wieder fortgehen.
Das sprachen wir beide nicht aus. Mit keinem Wort. Aber es war da, es lag unter der Oberfläche ihrer Gedanken, ihrer Handlungen. Sie war zu alt, um es auszusprechen, und zu jung, um es vor mir zu verbergen. Es gab so viele Dinge, die wir uns zu sagen hatten, so vieles, was wir voneinander nicht wußten und was uns umzulernen zwang. Und wir hatten einfach zuwenig Zeit.
Die unausgesprochenen Worte lasteten auf uns wie eine unsichtbare Wolke, als wir uns verabschieden mußten. »Ich komme dich morgen besuchen.«
»Nein. In der Woche sind keine Besuche erlaubt. Aber ich sehe dich am Dienstag, Miss Spicer sagte mir, daß für Dienstag eine Verhandlung angesetzt ist.«