»Ich weiß.«

»Wird Mutter dort sein?«

Ich nickte. »Und deine Großmutter auch.« Ich beugte mich nieder und küßte sie. »Und du bist mein braves Kleines und machst dir keine Gedanken!«

Plötzlich schlang sie die Arme um meinen Hals. Sie preßte ihr Gesicht gegen meine Wange. »Jetzt fürchte ich mich vor gar nichts mehr, Daddy«, flüsterte sie leidenschaftlich. »Jetzt, da du wieder nach Hause gekommen bist!«

Erst draußen im Tageslicht begriff ich richtig, was sie gemeint hatte. Aber ich war nicht nach Hause gekommen, um zu bleiben. Ich war nur zu Besuch gekommen.

Es war vier, als ich in mein Motel zurückkehrte. Das rote

Licht am Telefon blinkte unablässig auf - ein Zeichen, daß eine Nachricht für mich da war. Es würde so lange weiterblinken, bis ich die Vermittlung anrief. Ich tat es; ich nannte meinen Namen und meine Zimmernummer.

»Mrs. Hayden hat angerufen. Es sei unbedingt wichtig, daß Sie sie sofort anrufen, wenn Sie zurückkommen.«

»Danke.« Ich legte den Hörer einen Augenblick auf, dann wählte ich die Nummer, die die Vermittlung mir genannt hatte. Ein Mädchen meldete sich, dann kam die alte Dame ans Telefon.

»Bist du allein?« fragte sie leise und vorsichtig.

»Ja.«

»Es ist unbedingt nötig, daß wir uns sprechen.«

»Worüber?«

»Das möchte ich am Telefon nicht sagen. Aber glaube mir, Luke, es ist sehr wichtig, sonst hätte ich dich nicht angerufen.« Ein gezwungener Ton kam in ihre Stimme. »Könntest du zum Dinner kommen? Ich sorge dafür, daß wir allein sind.«

»Um welche Zeit?«

»Wäre dir sieben recht?«

»Gewiß, ich komme.«

»Ich danke dir, Luke.«

Ich legte das Telefon auf und begann mich auszuziehen. Eine heiße Dusche sollte mir die Steifheit aus den Muskeln vertreiben. Ich überlegte, was die alte Dame wohl wünschte. Wenn sie Sorgen hatte, ob ich morgen vor Gericht für sie Partei ergreifen würde, so war das überflüssig. In diesem Punkt blieb mir keine andere Wahl.

Obwohl der Abend nur etwas kühl war, brannte ein helles Feuer im Kamin, als das Mädchen mich in die Bibliothek des großen Hauses führte. Die alte Dame saß in einem Armsessel vor dem Feuer.

»Nimm dir etwas zu trinken, Luke.«

»Danke.« Ich ging zum Büfett, goß einen kleinen Schuß Bourbon über ein paar Eiswürfel und füllte das Glas mit Wasser. Ich trank meiner früheren Schwiegermutter zu. »Auf dein Wohl!«

»Danke, Luke.«

Der Whisky war voll und süffig. Wie lange hatte ich mir keinen solchen Bourbon leisten können. Ich trank in kleinen Schlucken. Es hatte keinen Sinn, ihn hinunterzugießen. »Nun, was wünschst du?« fragte ich.

Die alte Dame sah zu mir auf. »Ist das Mädchen fort?«

Ich nickte. - »Bitte überzeuge dich, daß die Tür fest zu ist.«

Ich tat es. Niemand war im Nebenzimmer. Ich kam wieder zum Kamin. »Warum so geheimnisvoll?«

Schweigend nahm sie ihre Handtasche auf und öffnete sie. Sie zog einen Brief heraus und reichte ihn mir. Er war an sie adressiert. Ich sah sie fragend an.

»Bitte, lies ihn.«

Ich stellte mein Glas weg und faltete den Brief auf. Er war mit Maschinenschrift auf einfachem weißem Papier geschrieben.

Sehr geehrte Mrs. Hayden,

Sie kennen mich nicht, aber ich bin lange Zeit Tonys Freund gewesen. Vor einigen Wochen übergab er mir ein Paket mit Brief en, die sehr wichtig sind, wie er mir sagte. Ich sollte sie für ihn aufheben. Er sagte mir auch, daß er eine Menge Ärger mit Ihrer Tochter hatte, und wenn die Zeit zu einer Abrechnung käme, würden diese Briefe ihm dafür bürgen, daß er alles erhält, was ihm zukommt. Als ich Samstag morgen in den Zeitungen las, was ihm passiert war, öffnete ich das Paket und las die Briefe durch. Sie waren sowohl von Ihrer Tochter wie von Ihrer Enkelin, die letzten nicht älter als zwei Monate. Sie würden für die

Polizei sehr aufschlußreich sein und noch viel interessanter für die Zeitungen, da beide ein Verhältnis mit Tony hatten. Aber Tony ist nun tot, und ich bin der letzte, der allen Beteiligten mehr Ungelegenheiten machen möchte, als sie sowieso haben. Sollten Sie also Interesse an diesen Briefen haben, so geben Sie bis spätestens Donnerstag folgendes Inserat im >Examiner< auf: KOMM ZURÜCK. ALLES VERZIEHEN. TANTE CÄCILIA. Ich werde mich dann mit Ihnen in Verbindung setzen, ehe ich mit jemand anderem verhandle. Aber vergessen Sie nicht: keine Rechtsanwälte und keine Polizei - sonst ist nichts zu machen.

Der Brief trug keine Unterschrift. Ich sah Mrs. Hayden an.

»Nun, was hältst du davon?« fragte sie.

»Es kann ein Verrückter sein. Ich habe öfter gehört, daß Geisteskranke solche Briefe schreiben.«

»Das glaube ich nicht, Luke. Ich habe Nora angerufen und sie gefragt, ob sie Briefe an Riccio geschrieben hat. Ihre Antwort war, das ginge mich nichts an. Dann fragte ich sie, ob sie wüßte, daß auch Dani ihm geschrieben hat. Sie wurde sehr ärgerlich und legte einfach auf.«

»Typisch für Nora. Sobald etwas kommt, wofür sie nicht gradestehen will, drückt sie sich. Glaubst du, daß etwas dran ist an diesen Briefen?«

»Vielleicht nicht«, sagte sie. »Aber ich möchte auf keinen Fall ein solches Risiko laufen.«

»Ich halte es für ein übles Erpressungsmanöver. Selbst wenn du bezahlst, was sie fordern, weißt du nie, ob sie nicht Briefe behalten haben, um weiter zu kassieren. Ich würde die Sache der Polizei übergeben.«

»Hat nicht schon genug in den Zeitungen gestanden? Möchtest du noch mehr von der Art?«

Ich sah sie groß an. »Hast du nicht schon mehr als genug getan, um den guten Namen der Haydens zu schützen?« antwortete ich sarkastisch. »Glaubst du, es gibt etwas auf der Welt, was Nora noch anrüchiger machen könnte, als sie bereits ist? Denkst du, die Leute sind so dumm, daß sie nicht wüßten, was sie in ihrem Hause treibt?«

»Nein. Die Leute sind nicht dumm. Aber du bist dumm, Luke.« Ärgerlich schob sie den Brief wieder in ihre Tasche. »Ich habe kein Interesse mehr daran, was über Nora gesagt oder gedruckt wird. Denn ich kann nichts daran ändern, und, ehrlich gesagt, mir liegt nicht mehr so viel daran, daß ich’s versuchen würde. Aber vielleicht hast du den Brief nicht richtig gelesen.«

»Doch, ich habe ihn gelesen.«

»Hast du nicht gelesen, daß auch Briefe von Dani dabeisein sollen und daß sie ebenfalls in Riccio verliebt war?« fragte die alte Dame gereizt.

»Ich habe es gelesen, aber nicht sonderlich beachtet. Denn schließlich ist Dani noch ein Kind.«

»Dann bist du also noch dümmer, als ich meinte. An Jahren mag Dani ein Kind sein, aber hast du sie denn richtig angesehen? Sie ist körperlich voll erwachsen - war es schon mit etwas mehr als elf Jahren. Sie ist in allem und jedem wie ihre Mutter. Nora hatte ihren ersten sexuellen Verkehr mit knapp dreizehn Jahren und ihre erste Abtreibung, als sie kaum fünfzehn war. Ehe sie dich heiratete, hatte sie mindestens zwei andere Liebhaber, von denen ich wußte.«

Ich starrte sie an. »Das wußtest du alles?«

Sie senkte die Augen. »Ich wußte es«, gestand sie mit leiser Stimme. »Aber ich hoffte, daß es vergangen und vergessen sein würde, wenn sie dich heiratet. Daß sie erwachsen wird und sieht, was für eine Närrin sie gewesen war.«

»Aber du bist immer für sie eingetreten. Du hast sie noch immer beschützt.«

»Ich bin ihre Mutter«, sagte die alte Dame einfach. Ich spürte ihre stolze Würde. »Tatsächlich habe ich mich nie so sehr um den Namen Hayden gekümmert. Es ging um meine Tochter. Und auch jetzt ist es nicht der Name, um den es mir geht. Es ist Dani. Ich möchte nicht, daß sie verurteilt wird, ohne eine Chance zu haben. Ich will nicht, daß sie wie ihre Mutter wird. Ich möchte ihr helfen.«

»Nora behauptet, daß ich nicht einmal Danis Vater bin.«

»Ich weiß, was Nora gesagt hat. Ich glaube, ich bin jetzt alt genug, um die Wahrheit hinzunehmen. Ich möchte wissen, ob du es bist.«

Ich stellte mein Glas hin. »Da bin ich überfragt.«

Ihr Blick ließ mich nicht los. »Ich glaube, selbst Nora weiß nicht, ob du Danis Vater bist oder nicht.«

Ich schwieg.

»Du siehst also«, sagte sie leise, »es kommt ganz auf dich an. Es hängt davon ab, was du für Dani empfindest.«

Ich nahm mein Glas wieder auf und trank einen Schluck. Die Eiswürfel waren geschmolzen, und der feine Geschmack des Whiskys verlor sich im Wasser. Offenbar fiel es immer wieder auf mich zurück. Harris Gordon hatte am Samstag dasselbe gesagt, vielleicht ein bißchen anders, aber im wesentlichen dasselbe. Entweder war ich ihr Vater, oder ich war es nicht.

Ich ging zum Büfett und goß etwas Whisky in mein Glas. Ich dachte an das Baby, das ich geliebt hatte, ehe ich wußte, was Nora eines Tages von mir sagen würde. Ich dachte an das Kind, mit dem ich in La Jolla auf dem Boot spielte, nachdem Nora geltend gemacht hatte, daß ich nicht der Vater sei. Ich wußte, daß ich das Kind genauso geliebt hatte wie das Baby. Und noch jetzt ebenso liebte wie damals.

Ich wandte mich wieder meiner früheren Schwiegermutter zu. »Ich glaube, es gehört mehr als ein Akt der Natur dazu, aus einem Mann einen Vater werden zu lassen«, sagte ich dazu. »Es muß ein Akt der Liebe sein.«

Ihre hellen alten Augen glänzten. »Das einzig Notwendige ist der Akt der Liebe. Die anderen Dinge zählen alle nicht wirklich.« Ich nahm einen kleinen Schluck aus meinem Glas und stellte es hin. »Also, was wollen wir wegen des Briefes unternehmen?«

»Ich habe das Inserat bereits aufgegeben. Es erscheint Donnerstag. Heute ist Montag. Das gibt uns Zeit genug herauszufinden, wo die Briefe sind und wer sie hat.«

»Zwei Tage. Morgen und Mittwoch. Heute ist es zu spät, und morgen werden wir ein gut Teil des Tages im Gericht sein. Ich weiß nicht einmal, wo ich einhaken könnte. Ich weiß überhaupt nichts von Riccio. Nicht einmal, wer seine Freunde waren.«

»Sam Corwin wird es wissen.«

»Sam?« fragte ich verwundert. An Sam hatte ich überhaupt nicht gedacht. Seltsam, daß ich ihn so ganz vergessen konnte. Etwa ein Jahr nach unserer Scheidung hatte er Nora geheiratet. Ich sah ihn dann mehrmals im Haus, wenn ich Dani von ihren Besuchen bei mir zurückbrachte. Er war immer höflich und liebenswürdig.

»Ja, Sam. Der arme Sam. Er wußte, wie Nora ist, als er sie heiratete, aber er glaubte, er könne sie ändern. Als sie aber Ric-cio kennenlernte, hat es sogar Sam aufgegeben. Riccios wegen hat sich Sam scheiden lassen und dabei auch eine saubere Teilung des gemeinsamen Vermögens durchsetzen können.«

»Dann muß Sam etwas gegen sie in der Hand gehabt haben?«

»Er hatte gegen beide etwas in der Hand.«

Die Tür hinter ihr öffnete sich. Das Mädchen trat ein. »Das Dinner ist angerichtet, Madam.«

Wir standen auf. Die alte Dame sah mich lächelnd an. »Willst du mir bitte den Arm reichen, Luke?«

Ich lächelte zurück. »Es ist mir eine Ehre.«

Zum erstenmal näherte ich mich dem Haupteingang des Gebäudes. Der Parkplatz war überfüllt, ich hatte meinen Wagen ein paar Blocks entfernt abstellen müssen. Ich ging den geschwungenen Weg hinauf, der von der Straße zum Hauptportal führte. Ein Gärtner im Arbeitszeug beschnitt gerade die gepflegten Hecken, die den Weg säumten. Er sah auf, als ich vorbeiging. Von der Morgensonne hatte er große Schweißtropfen auf der Stirn. Ich betrachtete die Glastüren. Sie trugen in schönen Buchstaben die Aufschrift:

STAAT KALIFORNIEN KREIS SAN FRANCISCO

Jugendgericht

Bewährungs-Abt.

Kalifornisches Jugendamt

Ich ging hinein und kam in eine große Halle voller Reporter und Fotografen. Ein paar Blitzlichter flammten auf, einige Reporter drängten sich an mich heran. Aber sie waren längst nicht so zudringlich wie neulich.

»Können Sie uns etwas über die Pläne zur Verteidigung Ihrer Tochter sagen, Colonel Carey?«

Ich schüttelte den Kopf. »Nein, das kann ich nicht. Soweit ich weiß, kommt nach den Gesetzen dieses Staates kein Jugendlicher vor ein ordentliches Gericht. Hier findet heute lediglich

eine erste Verhandlung über die Vormundschaft statt.«

»Werden Sie versuchen, die Vormundschaft über Ihre Tochter zu bekommen?«

»Das zu entscheiden, ist Sache des Gerichts. Meiner Ansicht nach ist das wichtigste, daß den Interessen meiner Tochter so gut wie nur irgend möglich gedient wird.«

»Haben Sie Ihre Tochter gesehen?«

»Ich habe sie Sonntag nachmittag besucht.«

»War ihre Mutter auch mit?«

»Nein, ihre Mutter war krank.«

»Hat ihre Mutter sie überhaupt schon besucht?«

»Ich weiß es nicht. Aber ich weiß, daß sie Pakete von ihrer Mutter bekommen hat.«

»Wissen Sie auch, was darin war?«

»Kleider, Bücher, Konfekt.«

»Über was haben Sie mit Ihrer Tochter gesprochen?«

»Über nichts Besonderes. Was Vater sich so mit Töchtern unterhalten, glaube ich.«

»Hat sie Ihnen Genaueres über die Ereignisse von Freitag nacht erzählt?«

Ich sah den Mann scharf an, der die Fragen stellte. »Nein, davon haben wir überhaupt nicht gesprochen.«

»Haben Sie irgend etwas erfahren, das mehr Licht auf die ganze Angelegenheit wirft?«

»Nein. Ich weiß nichts als das, was ich gestern bei den Vernehmungen der Zeugen vor dem Untersuchungsrichter erfahren habe. Ich glaube, die meisten von Ihnen waren ebenfalls dort. Wenn Sie jetzt so freundlich wären, mich durchzulassen.«

Sie traten beiseite und ließen mich vorbei.

Das Jugendgericht lag an der linken Seite der Vorhalle. Ich folgte dem Pfeil einen Korridor entlang und um eine Ecke. Ein weiterer Pfeil wies auf eine abwärtsführende Treppe, die zu einem verglasten Warteraum führte. Durch diesen Warteraum erreichte man das Jugendgericht. Ich öffnete die Tür.

Vor mir lag ein kleiner Saal mit einem Podium am entgegengesetzten Ende. Vor dem Pult des Richters ein langer Tisch mit mehreren Stühlen. Etwas seitlich davon, zwischen dem großen Tisch und dem Richterpult, ein kleiner Tisch mit einem Stuhl. Die Wände in jenem Braun und Gelb der Amtsräume gestrichen. In der Längswand vier große Fenster. Den Rest des kleinen Saals nahmen Stühle und Sitzbänke ein.

Während ich mir das alles anschaute, trat ein Mann aus einer der Türen hinter dem Richterpult. Er blieb stehen, als er mich sah.

»Bitte, wird hier der Fall Dani Carey verhandelt?« fragte ich.

»Ja, aber Sie sind zu früh hier. Das Gericht kommt nicht vor neun. Sie können draußen im Vorzimmer warten. Sie werden aufgerufen.«

»Danke sehr.«

Im Warteraum waren mehrere Bänke. Ich sah nach der Uhr. Acht Uhr fünfunddreißig. Ich steckte mir eine Zigarette an.

Ein paar Minuten später kam ein Mann herein. Er blickte mich an, zündete sich ebenfalls eine Zigarette an und setzte sich. »Der Richter noch nicht da?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Verdammt!« sagte er. »Das kostet mich wieder ’n halben Tageslohn. Kostet’s mich jedesmal, wenn ich hierher muß. Sie nehmen meinen Fall immer erst spät dran.«

»Haben Sie ein Kind hier?«

»Tja.« Er warf den Kopf zurück. Die Asche seiner Zigarette fiel auf sein schmutziges Arbeitshemd. Er beachtete es nicht.

»Sie haben meine Tochter hier. Sie ist nichts wie ’ne Hure, weiß Gott, das ist sie. Ich habe ihnen gesagt, das nächstemal, wenn sie sie aufgreifen, sollten sie sie gleich dabehalten. Aber nein, sie holen mich jedesmal her!«

Er musterte mich. »Sie, Mister, Sie sehen mir so bekannt aus. hab’ ich Sie schon mal hier getroffen?«

»Nein. Ich bin zum erstenmal hier.«

»Na, Freundchen, da können Sie was erwarten! Die lassen Sie nämlich egalweg wiederkommen, bis Sie sich bereit erklären, Ihr Früchtchen wieder nach Hause zu nehmen. So machen sie’s nämlich mit mir. Sie ist noch’n Kind mit ihren fünfzehneinhalb, sagen sie. Ich soll ihr ’ne Chance geben, sagen sie. Na ja, das tut man dann auch, und was passiert? Zwei Tage später wird sie in ’nem Hotel gefaßt, wo sie für alle Besucher da ist, für fünf Dollar pro Stück! Da nehmen die Polypen sie dann mit - und ich bin wieder mal hier!«

Er schielte durch seinen Zigarettenrauch. »Hab’ ich Sie nicht doch schon mal hier gesehen?«

Ich schüttelte den Kopf.

Er starrte mich weiter an, dann schnippte er mit den Fingern und sagte: »Jetzt weiß ich’s. Ich hab’ Ihr Bild in den Zeitungen gesehen. Sie sind der Bursche, dem seine Tochter den Liebsten ihrer Mutter kaltgemacht hat.« Ich schwieg.

Er beugte sich zu mir vor und flüsterte vertraulich: »Ist sie nicht auch so ’n Stückchen? Was die Mädels doch heutzutage anstellen! Hat er die Kleine auch vernascht? Würde mich gar nicht wundern! Die Zeitungen sagen ja bloß die Hälfte!«

Ich fühlte, wie sich meine Fauste ballten. Ich zwang mich, meine Finger zu strecken. Es hatte keinen Sinn, wütend zu werden. An so etwas würde ich mich gewöhnen müssen. Ich spürte einen scharfen Stich in meinem Herzen. Auch Dani würde sich daran gewöhnen müssen. Und das war viel schlimmer.

Zwei Frauen kamen herein. Sie sahen aus wie Mexikanerinnen und schwatzten aufgeregt auf spanisch. Als sie uns bemerkten, verstummten sie plötzlich, gingen zu einer Bank und setzten sich. Die jüngere war sichtlich in andern Umständen.

Einen Augenblick später kam eine Farbige herein, dann folgten ein Mann und eine Frau. Ihr Gesicht war geschwollen und verfärbt, ein blaues Auge hatte sie auch. Der Mann wollte sie am Arm zu einer Bank führen, aber sie schüttelte seine Hand ärgerlich ab und setzte sich an die Wand, ohne den Mann anzublik-ken. Die Negerin sprach zu der einen Mexikanerin. »Was meinen Sie - kriegen Sie Ihre Kleine zurück, Herzchen?«

Die schwangere Frau machte die typische Geste des Nichtwissens. »Ich weiß nicht«, sagte sie mit etwas spanischem Akzent.

»Die Fürsorge will sie nämlich lieber drin lassen, Herzchen. Klar! Wenn sie drinbleibt, kostet sie’s bloß vierzig Dollar Unterhalt. Wenn Sie sie mit nach Hause nehmen, müssen sie Ihnen siebzig monatlich zahlen. Alles bloß ’ne Geldfrage!«

Die Schwangere zuckt die Achseln. Sie sagte auf spanisch etwas zu der anderen Frau und nickte dabei in heftiger Zustimmung. Die Frau mit dem blauen Auge weinte still vor sich hin.

Immer mehr Leute kamen die Treppe herunter. Bald waren alle Bänke besetzt. Wer keinen Platz mehr fand, blieb im Korridor vor dem Warteraum. Fünf Minuten vor neun erschien Gordon Harris mit Nora und ihrer Mutter. Ich stand auf und ging ihnen entgegen.

Harris Gordon sah sich um. »Sieht ziemlich voll aus.«

»Das kann man wohl sagen. Offenbar sind wir nicht die einzigen, die Sorgen haben«, sagte ich.

Er sah mich sonderbar an. »Menschen mit Sorgen stehen selten allein da. Warten Sie hier. Ich suche den Schreiber und frage ihn, wann der Richter uns ungefähr drannehmen kann.«

Er verschwand im Korridor. Ich wandte mich an Nora. »Nun, wie geht dir’s heute?« fragte ich höflich.

Ihre Augen durchforschten mein Gesicht, sie wußte nicht, ob es sarkastisch gemeint war. »Oh, danke. Ich bin nach Hause gegangen und den ganzen Tag im Bett geblieben nach dem, was ich gestern bei dem Verhör mitgemacht habe. Ich war restlos erledigt.«

»Das kann ich verstehen. Es war nicht leicht für dich.«

»Habe ich’s richtig gemacht? Ich wollte nicht mehr sagen, als was ich absolut sagen mußte. Ich konnte mich überhaupt nur mit größter Mühe zu der Aussage zwingen - aber ich mußte doch, nicht wahr?«

»Natürlich. Es blieb dir keine Wahl.«

Gordon kam zurück. »Wir werden nicht lange warten müssen«, sagte er. »Wir sind der dritte Fall auf seiner Liste. Die beiden ersten werden knapp fünfzehn Minuten dauern, meinte der Gerichtsschreiber.«

Ich zündete mir eine Zigarette an und lehnte mich gegen die Wand. Die Tür zum Gerichtssaal öffnete sich. Ein Name wurde aufgerufen. Ich drehte mich um und sah die beiden Mexikanerinnen aufstehen. Die Tür schloß sich hinter ihnen. Es war genau neun Uhr.

Sie waren höchstens zehn Minuten drin. Die schwangere Frau weinte, als sie herauskam. Der Schreiber rief einen andern Namen. Es war der Mann, der gleich nach mir gekommen war.

Auch er brauchte keine zehn Minuten. Als er herauskam, machte er ein sehr befriedigtes Gesicht. Auf dem Weg zur Treppe blieb er vor mir stehen. »Diesmal behalten sie sie drin! Ich hab’ ihnen gesagt, meinetwegen können sie den Schlüssel wegschmeißen!« Ich antwortete nicht. Er stampfte die Treppe hinauf. Ich hörte hinter uns die Stimme des Schreibers. »Carey!«

Wir gingen durch das Wartezimmer in den Sitzungssaal. Der Schreiber wies uns unsere Plätze an. Wir saßen an dem Tisch vor dem Pult des Richters. Der Schreiber musterte uns gelangweilt. »Sind Sie zum erstenmal hier?«

Wir nickten.

»Der Richter ist einen Augenblick hinausgegangen. Er wird gleich wiederkommen.« Er hatte kaum zu Ende gesprochen, als die Tür hinter ihm aufging. »Alles erhebt sich und grüßt das Gericht!« rief der Schreiber. »Ich gebe bekannt, daß das Jugendgericht des Staates Kalifornien, Kreis San Francisco, unter dem ehrenwerten Richter Samuel A. Murphy jetzt hier tagt.«

Der Richter war ein hochgewachsener Mann Anfang Sechzig. Sein Haar war weiß und dünn, die Augen hinter den horngefaßten Gläsern blau und durchdringend. Er trug einen zerdrückten braunen Anzug, ein weißes Hemd und einen rotbraunen Schlips. Der Richter setzte sich, nahm ein Blatt Papier vom Pult und nickte dem Schreiber zu. Dieser stand auf und ging zu einer Tür auf der rechten Seite. Er öffnete sie: »Danielle Carey.«

Dani kam herein und blickte sich zögernd um. Dann sah sie uns und kam auf uns zugelaufen. Nora erhob sich halb von ihrem Stuhl, und schon hielten sie sich in den Armen.

Dani weinte. »Mutter, Mutter - wie geht’s dir, Mutter?«

Ich konnte nicht verstehen, was Nora murmelte. Ich sah einen Augenblick weg. Sogar ich spürte es. und dabei glaubte ich nicht einmal die Hälfte von dem Theater, das Nora immer machte. Eine andere Gestalt erschien in der Tür - Miss Spicer, die Bewährungshelferin. Sie blieb stehen und beobachtete Nora und Dani.

Ich schaute zum Richter hin. Auch er beobachtete die beiden. Ich hatte das Gefühl, daß es ein wichtiger Augenblick war und daß der Richter ihn sehr sorgfältig vorbereitet hatte.

Auf der gleichen Seite des Saals ging eine andere Tür auf. Ein uniformierter Beamter trat ein, braunhaarig und mittelgroß. Sein blau und goldenes Achselstück trug die Abzeichen des Sheriffamtes von San Francisco. Er schloß die Tür und blieb mit dem Rücken daran gelehnt stehen.

Dani war von Nora zu ihrer Großmutter gegangen. Sie küßte

sie. Dann kam sie zu mir, und nun leuchteten ihre Augen. Sie küßte mich auf die Wange. »Mutter ist gekommen, Daddy! Mutter ist gekommen!«

Ich sah sie lächelnd an. »Ich sagte dir’s ja, daß sie kommt.«

Jetzt trat Miss Spicer zum Tisch. »Komm, Dani, setz dich neben mich.«

Dani tat es. Sie sah Harris Gordon an. »Hallo, Mister Gor-don.«

»Hallo, Dani.«

Der Richter räusperte sich. »Es handelt sich hier um eine ganz unformelle Verhandlung. Nur damit ich weiß, wer Sie sind, nennen Sie mir bitte Ihre Namen.«

»Darf ich es tun, Euer Ehren?« fragte Gordon.

Der Richter nickte. »Ja, bitte, Mister Gordon.«

»links von mir Nora Hayden, die Mutter des Mädchens. Rechts von mir Frau Cecilia Hayden, die Großmutter mütterlicherseits. Neben ihr Colonel Luke Carey, der Vater Danielles.«

»Und Sie treten als Anwalt des Kindes auf?«

»Ja, Euer Ehren«, sagte Gordon, »und zugleich als Rechtsberater der Familie.«

»Gut. Ich nehme an, Sie sind alle bereits mit Miss Marian Spicer bekannt - sie ist die Bewährungshelferin, der dieser Fall zugeteilt ist.«

»Jawohl, Euer Ehren.«

»Dann können wir, glaube ich, anfangen.« Er nahm wieder das Papier zur Hand. »Am letzten Freitagabend nahm die Polizei entsprechend Paragraph 602 des Kalifornischen Jugendgerichtsgesetzes die Jugendliche Danielle Cecilia Carey in Gewahrsam und übergab sie der Bewährungshelferin in Verwahrungshaft. Grund dazu war die Tatsache, daß besagte Jugendliche einen Rechtsbruch im Staat Kalifornien begangen hat, einen Totschlag. Seitdem befindet sich die Jugendliche - mit Ausnahme

der ersten Nacht, in der sie der Obhut des Anwalts Harris Gordon übergeben wurde, weil der Arzt dies im Interesse der Gesundheit und des Wohlergehens der Jugendlichen für nötig hielt

- im Jugendgewahrsam in Haft, wie dies dem Gesetz entspricht.

Wir sind hier, um einen Antrag zu behandeln, den uns die Bewährungsabteilung unterbreitet hat; die Bewährungsbehörde wünscht die Jugendliche in Gewahrsam zu behalten, bis sie alle Umstände richtig überprüft hat, die dazu geführt haben, daß die Jugendliche vor Gericht gestellt werden mußte.«

Der Richter legte das Papier nieder und sah Dani an. Seine Stimme war sanft und freundlich. »Obwohl das alles sehr juristisch klingt, Danielle, ist dies keine Schwurgerichtsverhandlung, und du hast kein Strafverfahren gegen dich zu gewärtigen. Du bist hier, weil du ein Unrecht, ein sehr großes Unrecht begangen hast, aber wir sind nicht hier, um dich zu bestrafen. Wir wollen dir helfen, so gut wir können, daß du niemals mehr etwas Schlechtes tust. Verstehst du das, Danielle?«

Danis Augen in dem weißen Gesicht waren groß und angstvoll. »Ich glaube, ja«, sagte sie zögernd.

»Das freut mich, Danielle. Es ist wichtig für dich, daß du folgendes begreifst: Wenn du auch nicht als Verbrecherin bestraft wirst für das, was du getan hast, so kannst du doch gewissen Konsequenzen nicht entgehen, die sich aus deinem Unrecht ergeben. Ich bin gesetzlich verpflichtet, dich über diese möglichen Konsequenzen zu unterrichten und dir zu sagen, welche Rechte du vor diesem Gericht hier hast. Kannst du mir folgen?«

»Ja, Sir.«

»Das Gericht kann dich von deiner Familie trennen und dich in einem staatlichen Jugendheim oder einem Erziehungsheim unterbringen, bis du großjährig bist. Oder dich in eine Klinik zur Beobachtung schicken. Es kann dich auch zu Pflegeeltern geben, wenn es nach dem Ermessen des Gerichts für dich nachteilig wäre, dich zu deinen nächsten Angehörigen oder einem an-deren Verwandten zurückzuschicken. Es kann dich jederzeit, solange du unter der Gerichtsbarkeit des Jugendgerichts stehst, unter Bewährungsaufsicht nehmen, so daß du, gleichviel, bei wem du lebst, in Verbindung mit deiner dir zugeteilten Bewährungshelferin stehen mußt, bis dich das Gericht davon befreit oder du großjährig bist. Aber ich möchte, daß du das eine nicht vergißt: Was dieses Gericht auch entscheidet, soll keinerlei Strafe sein, sondern nur eine Maßnahme in deinem eigensten Interesse. Verstehst du das, Danielle?« Dani nickte. Sie blickte vor sich hin auf die Tischplatte. Ich sah, wie ihre Hände nervös zuckten.

»Während der Verhandlung vor diesem Gericht«, fuhr der Richter fort, »hast du natürlich volles Anrecht auf einen Rechtsberater. Du hast das Recht, Zeugen für dich zu benennen, und das Recht, jeden Zeugen ins Kreuzverhör nehmen zu lassen, den du für voreingenommen und gegen deine Interessen eingestellt hältst. Verstehst du das, Danielle?«

»Ja, Sir.«

»Ich bin ferner verpflichtet, dir zu sagen, daß deine Eltern das gleiche Recht auf einen Anwalt, auf Zeugen und Kreuzverhör haben.«

Er machte eine kurze Pause.

»Und jetzt wollen wir den Antrag der Bewährungsbehörde besprechen. Miss Spicer, wollen Sie uns bitte die Gründe darlegen, warum Sie das Gericht ersuchen, diese Jugendliche in Gewahrsam zu behalten?«

Die Bewährungshelferin erhob sich. Sie sprach mit ruhiger, klarer Stimme. »Wir haben zwei Gründe für unseren Antrag, Euer Ehren. Der erste: Die Art der Handlung, die das Kind begangen hat, deutet auf eine emotionale Störung hin, die viel tiefer liegt, als dies eine vorläufige psychologische und psychiatrische Untersuchung aufdecken konnte. Im Interesse des Wohlergehens und des seelischen Gleichgewichts benötigen wir eine zusätzliche Zeitspanne, um diese Untersuchungen sehr viel gründlicher vornehmen zu können. Der zweite Grund: Wir brauchen Zeit, um uns über die Umgebung und das Familienleben des Kindes zu informieren, wenn wir einen angemessenen Rat für seine zukünftige Behandlung und Betreuung geben sollen.«

Sie setzte sich.

Der Richter wandte sich an uns. »Haben Sie Einwendungen gegen diesen Antrag?«

Harris Gordon erhob sich. »Nein, Euer Ehren. Wir haben das größte Vertrauen zu der Erfahrung und Urteilskraft der Bewährungsabteilung und ebenso zu deren Fähigkeit, alle Faktoren dieses Falles richtig abzuwägen und die entsprechende Entscheidung zu treffen.« Die Stimme des Richters klang ein wenig belustigt. Er wußte natürlich, daß Gordon gar nichts anderes sagen konnte und keinerlei Wahl hatte. Solche Anträge wurden immer angenommen. »Wir danken Ihnen für Ihr Vertrauen, Mister Gordon, und hoffen, uns dessen würdig zu erweisen.«

Er sah einen Augenblick zu Boden, dann fuhr er fort: »Das Gericht hat entschieden, daß der Antrag der Bewährungsabteilung in Sachen der Jugendlichen Danielle Nora Carey angenommen wird; ferner, daß sie zum zeitweiligen Mündel dieses Gerichts erklärt wird, bis endgültige Entscheidungen getroffen werden. Ich setze den Termin für eine vollständige Verhandlung des Falles auf heute in einer Woche an. Ich erwarte, daß alle Anwesenden zu diesem Termin hier wieder erscheinen, und wünsche, daß mir dann sämtliche Beweise und die Ergebnisse der Ermittlungen, soweit sie zur Sache gehören, vorgelegt werden. Ich erwarte ebenso, daß mir alle Vorschläge für eine Vormundschaft des Kindes und sein künftiges Wohlergehen schriftlich mindestens vierundzwanzig Stunden vor der angesetzten Verhandlung unterbreitet werden.« Er schwieg und klopfte mit seinem Hammer abschließend auf sein Pult.

Dann blickte er auf Dani, und seine Stimme war sanft und freundlich, ganz anders als bei seinen offiziellen Worten. »Das bedeutet, daß du wieder in den Jugendgewahrsam zurückkehrst, Danielle, solange dein Fall nachgeprüft wird. Sei ein gutes Mädchen und gib dir Mühe, Miss Spicer und allen dort zu helfen, dann ist es viel leichter und besser für uns alle. Verstehst du das, Danielle?«

Dani nickte.

Er sah die Bewährungshelferin an. »Führen Sie Danielle und ihre Eltern in mein Zimmer, ehe Sie sie wieder in den Gewahrsam bringen, Miss Spicer.«

Sie nickte und stand auf. Auch wir erhoben uns. »Vielen Dank, Euer Ehren«, sagte Gordon.

Der Richter nickte. Wir folgten Miss Spicer durch die Tür hinter dem Podium.

Die Amtsräume des Richters bestanden aus zwei kleinen Zimmern, das kleinere war das seines Schreibers, das größere gehörte ihm selbst. Miss Spicer brachte uns in das größere Zimmer. Die eine Wand war mit Bücherregalen bedeckt, an den anderen hingen Fotografien und gerahmte Diplome. Ein hübscher Schreibtisch und ein paar Stühle vervollständigten die Einrichtung.

»Bitte, nehmen Sie doch Platz«, sagte Miss Spicer taktvoll. »Ich muß auf einige Minuten in mein Büro. Ich komme bald wieder.«

Als sich die Tür hinter ihr schloß, wandte sich Nora an Dani. »Du siehst schmal aus. Und warum trägst du nicht das hübsche Kleid, das ich dir geschickt habe? Was meinst du, was das auf den Richter für einen Eindruck macht! Er muß denken, uns liegt so wenig an dir, daß du dich nicht einmal anständig anziehen kannst! Wo hast du denn dieses scheußliche Zeug her? Ich habe es noch nie an dir gesehen.«

Ich beobachtete Dani. Ein merkwürdig duldsamer Zug kam in ihr Gesicht. Sie wartete, bis Nora ihre Vorwürfe beendet hatte, dann sagte sie mit leicht sarkastischem Tonfall: »Ich bin hier nicht in Miss Randolphs Schule, Mutter. Ich muß tragen, was alle Mädchen tragen. Wir bekommen diese Kleider dort.«

Nora sah sie groß an. »Ich bin überzeugt, wenn du darum gebeten hättest, dürftest du deine eigenen Kleider tragen! Denn wahrscheinlich geben sie diesen Mädchen solche Kleider nur, weil die meisten keine eigenen haben.«

Dani schwieg. Ich nahm eine Zigarette heraus. Sie sah mich an. Ich warf sie ihr zu. Sie fing sie geschickt auf.

»Dani!« rief Nora schockiert.

»Oh, sei doch still, Nora!« Mrs. Haydens Stimme klang gereizt. »Du kannst jetzt mit deinem Theater aufhören - es ist kein Publikum da! Du weißt doch, daß sie raucht. Ich habe dich oft genug ersucht, es ihr zu verbieten. Du hast stets geantwortet, daß du nichts dabei findest.«

Sie sah Dani an. »Komm her, Kind.«

Dani tat es. »Ja, Großmutter?«

»Wirst du gut behandelt, Kind?«

»Ja, Großmutter.«

»Bekommst du genug zu essen?«

Dani lächelte. »Mehr als genug. Aber ich bin nicht hungrig.«

»Du mußt ordentlich essen, Dani, damit du bei Kräften bleibst. Es geht nicht, daß du zu alledem auch noch krank wirst.«

»Nein, Großmutter, ich werde bestimmt nicht krank.«

»Soll ich dir irgend etwas schicken?«

Dani schüttelte den Kopf. »Nein, danke, Großmutter.«

Die alte Dame küßte sie auf die Stirn. »Und du tust, was der Richter sagt! Sei ein gutes Kind und hilf selbst, wo du kannst -dann kommst du sicher in kürzester Zeit wieder nach Hause.«

Dani sah zu ihr auf und nickte. Ein seltsames Wissen war in ihren Augen - als wisse sie viel besser als die alte Dame, was mit ihr geschehen werde. Aber sie sagte nichts.

Statt dessen kam sie zu mir. »Hast du das Boot in La Jolla noch, Daddy?«

»Nein, Dani.«

»Wie schade. Ich würde schrecklich gern wieder einmal mit dir hinausfahren.« »Vielleicht geht es eines Tages, Dani. Wenn du hier herauskommst.«

Sie nickte, aber ich merkte, daß sie auch dies nicht glaubte. »Eine der Aufseherinnen hat mir erzählt, daß sie ein Bild von deiner Frau gesehen hat, in der Zeitung. Sie sagt, sie ist sehr hübsch.«

Sie sah mir in die Augen. »Und in der Zeitung steht, daß sie nicht mit hergekommen ist, weil sie ein Baby erwartet, Daddy.«

»Das stimmt, Dani.«

»Wann denn?«

»Sehr bald«, antwortete ich. »Der Arzt meint, es sei besser, wenn sie jetzt nicht reist.«

Plötzlich flog ein Lächeln über ihr Gesicht. »Dann ist’s also wahr, was in der Zeitung steht? Ach, da freue ich mich aber!«

»Es ist wahr.« Ich gab ihr Lächeln zurück. »Dachtest du, sie hätte einen anderen Grund gehabt, nicht mitzukommen?«

Dani warf einen schnellen Seitenblick auf Nora. Nora beschäftigte sich, sichtlich gelangweilt von unserer Unterhaltung, mit ihrem Lippenstift. »Ich weiß nicht recht«, sagte Dani leise. »Zuerst dachte ich, sie ist nicht mitgekommen, weil sie mich zu sehr haßt.«

Ich lachte. »Wie kommst du auf so eine Idee?«

Wieder blickte sie rasch zu Nora hinüber. »Ich weiß nicht - es war bloß so ein Gedanke.«

Die Tür ging auf. Miss Spicer kam zurück. Durch die offene Tür sah ich draußen eine Aufseherin. »Du mußt jetzt gehen, Dani. Komm mit.«

»Okay«, antwortete Dani. Sie drückte ihre Zigarette in einem Aschenbecher aus und küßte mich. »Adieu, Daddy.«

Sie küßte ihre Großmutter und ging dann zu Nora. Nora umarmte sie und sah ihr in die Augen. »Du weißt, daß ich dich liebe, Dani, nicht wahr?« Dani nickte.

»Mehr als jeder andere?«

Dani nickte wieder.

»Wie sehr, Liebling?«

Ich merkte, daß es ein Spiel war, das sie schon viele Male gespielt hatten. Ob es für Nora wirklich etwas bedeutete oder nicht, das vermochte ich nicht zu sagen.

»Am allermeisten, Mutter.«

Nora sah mich an, um sich zu vergewissern, daß ich die Antwort gehört hatte. Dani drehte sich um und schaute mich mit erschrockenen Augen an. Es muß schon etwas auf sich haben mit dieser sogenannten Telepathie, ich war überzeugt, sie wußte, warum ich lachte. Sie küßte ihre Mutter. »Adieu, Mutter.«

Auch Nora sah mich an. Sie war rot geworden - und wütend. Sie wollte etwas sagen, biß sich aber auf die Lippen und schwieg.

»Da Sie gerade alle hier sind«, sagte Miss Spicer, nachdem sich die Tür hinter Dani geschlossen hatte, »könnten wir vielleicht gleich unsere Verabredungen festlegen. Das würde alles beschleunigen.« Sie ging hinter den Schreibtisch und setzte sich. »Dürfte ich morgen nachmittag zu Ihnen hinauskommen, Miss Hayden?«

»Donnerstag wäre besser«, sagte Nora. »Da sind die Dienstboten nicht da, und wir wären allein. Wir hätten Zeit, alles zu besprechen.«

»Es wäre zweckdienlicher, wenn die Dienstboten da sind«, erwiderte Miss Spicer. »Ich möchte gern auch mit ihnen über Dani sprechen, Miss Hayden.«

Nora sah Gordon an. »Ich weiß nicht.« Sie zögerte. »Ich bin nicht sehr entzückt von der Idee, meine Angelegenheiten mit den Dienstboten zu besprechen. Mir scheint, sie haben bereits Grund genug zum Klatschen. Und von ihnen können Sie auch nicht viel erfahren.« »Es ist meine Aufgabe, soviel wie möglich über Ihre Tochter zu erfahren, Miss Hayden. Sie können meiner vollsten Diskretion versichert sein.«

Nora sah wieder fragend auf Gordon. Er nickte. Sie wandte sich zu der Bewährungshelferin: »Könnten Sie nicht morgen vormittag kommen?«

»Nachmittag wäre besser. Am Vormittag habe ich eine Rücksprache in Miss Randolphs Schule.«

»Also gut, Mittwoch nachmittag«, sagte Nora mürrisch. »Um zwei Uhr.«

»Zwei Uhr - das paßt gut.« Miss Spicer sah Noras Mutter an. »Wäre Ihnen Mittwoch recht?«

Die alte Dame nickte.

»Ist morgens neun Uhr zu früh?«

»Ich bin eine Frühaufsteherin«, antwortete Mrs. Hayden.

Miss Spicer wandte sich zu mir. »Und wann würde es Ihnen passen, Colonel?« - »Jederzeit. Sie brauchen nur zu bestimmen.«

»Ich kenne Ihre Pläne nicht, Colonel Carey«, sagte sie. »Ihre Frau erwartet ein Kind. Ich wußte nicht, ob Sie nach Chicago zurückkehren und erst wieder zur Verhandlung herkommen wollten. Ich kann mich ganz danach richten, wie es Ihnen am besten paßt.«

Ich hatte absichtlich gewartet, bis die Verhandlung vorüber war, in der Hoffnung, mein Bleiben würde sich als unnötig erweisen. Aber es hatte keinen Sinn, noch länger zu warten. Ich wußte nun, daß ich hierzubleiben hatte. Ich mußte nachmittags Elizabeth anrufen und ihr sagen, daß ich nicht wie verabredet zurückkommen könne.

»Ich werde hier sein, Miss Spicer«, sagte ich. »Sie brauchen mir nur. die Zeit zu nennen.«

»Ich danke Ihnen, Colonel Carey. Freitag nachmittag um vier Uhr in Ihrem Motel?«

»Gut.«

»Dann können wir jetzt gehen?« fragte Nora.

»Nur noch eins, Miss Hayden.«

»Ja?«

»Der Richter hat mich beauftragt, Ihre Erlaubnis einzuholen: Wir brauchen Einsicht in die Akten des Scheidungsprozesses zwischen Ihnen und Colonel Carey.«

Nora explodierte. »Das ist einfach lächerlich!« rief sie. »Ich sehe keinen Grund zu dieser Herumschnüffelei in meiner Vergangenheit. Ich bitte Sie - Dani war noch ein Baby, als die Scheidung erfolgte!«

»Das Gericht ist berechtigt, sich jede Information zu beschaffen, die für das Wohl Ihrer Tochter von Wichtigkeit ist. Ich glaube, Sie sollten uns Ihre Zustimmung geben. Sie müssen wissen, daß wir die Einsicht unter Strafandrohung erzwingen können. Wäre es nicht einfacher, wenn Sie uns helfen?«

»Drohen Sie mir, meine Tochter so lange zu behalten, bis Sie diese Akten bekommen?« fragte Nora schneidend.

Miss Spicer war nicht im mindesten eingeschüchtert. Sie sah Nora ruhig an. »Ich drohe überhaupt nicht, Miss Hayden«, sagte sie gelassen. »Ich erinnere Sie nur an die Macht des Gerichts. Wenn Ihnen das Wohl Ihrer Tochter auch nur im mindesten am Herzen liegt, werden Sie alles tun, um mitzuhelfen. Drücke ich mich korrekt aus, Mister Gordon?«

»Jawohl, Miss Spicer.« Gordon wandte sich zu Nora. »Dani ist zeitweiliges Mündel des Gerichts. Das bedeutet, das Jugendgericht hat absolute Macht über sie. Ich würde Ihnen raten, Ihre Einwilligung zu geben.«

»Ich dachte, Sie wären mein Anwalt«, sagte Nora zornig. »Aber Sie haben bisher nichts anderes getan, als dem Richter zugestimmt. Und nun geben Sie dieser. dieser Frau recht! Muß ich hier stehen und mich derartig demütigen lassen? Müssen wir in diesem idiotischen Gericht bleiben? Was verstehen die hier davon, wie man mit Menschen unseresgleichen umgeht, nachdem sie nur an die Sorte gewöhnt sind, die sie sonst hier haben? Können wir nicht an eine höhere Instanz appellieren oder dergleichen?«

»Dani ist minderjährig. Es gibt nur ein einziges Gericht, vor dem sie nach dem Gesetz erscheinen darf - dieses Jugendgericht hier.«

Nora sah ihn an, ihre Augen blitzten vor Zorn. »Wenn es so ist, wozu, zum Teufel, brauchen wir Sie dann?«

»Ich habe mich Ihnen nicht angeboten, Miss Hayden«, sagte Gordon ruhig. »Sie haben mich gerufen. Ich werde Ihre Vertretung jederzeit niederlegen, wenn Sie es wünschen.«

Nora sah ihn einen Augenblick an, dann wandte sie sich ab. »Ach, zum Teufel mit alledem! Tun Sie, was Sie wollen. Ich schere mich einen Dreck darum!«

Sie stürmte hinaus und knallte die Tür hinter sich zu.

Gordon wandte sich an die Bewährungshelferin. »Ich möchte mich für meine Klientin entschuldigen. Diese ganze schreckliche Angelegenheit hat sie völlig außer Fassung gebracht.«

»Ich verstehe, Mister Gordon.«

»Ich habe eine Abschrift der Scheidungsakten in meinem Büro. Wenn es Ihnen beliebt, zu irgendeiner Zeit vorbeizukommen, werde ich sie für Sie bereithalten.«

»Besten Dank, Mister Gordon.« Miss Spicer stand auf. »Ich glaube, das ist alles für heute.«

Wir gingen zur Tür. Zuerst die alte Dame, dann Gordon und ich. Die Bewährungshelferin rief mich zurück. »Colonel Carey, darf ich Sie noch einen Augenblick bemühen?«

Ich kehrte um und trat zu ihr. »Ja, Miss Spicer?«

Sie lächelte ein wenig. »Ich bin froh, daß Sie hierbleiben, Colonel. Ich bin überzeugt, Dani ist darüber sehr glücklich. Sie hat sich große Sorgen gemacht, ob es Ihnen wohl möglich sein wird.«

»Es ist das wenigste, was ich tun kann. Sogar einem völlig Fremden würde es wohl schwerfallen, ein Kind in solchen Stunden zu enttäuschen.«

Sie sah mich einen Augenblick sonderbar an, dann senkte sie die Augen. »Wahrscheinlich, Colonel.«

Im Fond ihres Wagens wartete meine ehemalige Schwiegermutter auf mich und winkte mir zu. Ich ging zu ihr. »Wo ist Nora?« fragte ich.

»Fort«, antwortete sie. »Sie war schon weggefahren, als ich herauskam.« Sie blickte die Straße entlang. »Wo hast du geparkt?«

»Ein paar Blocks weiter unten.«

»Steig ein. Ich bringe dich hin.«

Ich stieg ein. Der große Rolls-Royce schob sich majestätisch in den Straßenverkehr. »Hast du Sam Corwin angerufen?«

»Nein. Ich wollte es nachmittags tun.« Ich sah finster zum Fenster hinaus.

»Du bist deprimiert«, bemerkte sie etwas gezwungen. »Hat Miss Spicer dir etwas gesagt, das wir nicht hören sollten?«

Ich sah sie an. »Nein. Aus welchem Grund sollte sie? Sie sagte nur, daß Dani froh sein wird, wenn sie erfährt, daß ich bleibe.«

»Ach so. Und weiß es deine Frau schon?«

»Nein.«

»Meinst du, es wird sie aufregen?« Die alte Dame wartete meine Antwort nicht ab. »Wie dumm ich bin! Natürlich muß es sie aufregen. Mich hätte es bestimmt aufgeregt. Ein Baby zu erwarten, das jeden Tag kommen soll, und allein zu Hause zu sein.«

Der große Rolls fuhr an die Bordschwelle. Das war nicht das einzige, dachte ich. Zum Beispiel die Frage, ob ich genug Geld hatte, um zu bleiben.

»Kann ich dir irgendwie behilflich sein? Vielleicht könnte ich mit ihr sprechen und ihr sagen, wie wichtig dein Hierbleiben ist.«

Ich schüttelte den Kopf. »Nein, danke. Ich bin sicher, daß Elizabeth es versteht.«

Ich öffnete die Tür und stieg aus. Die alte Dame lehnte sich vor: »Bitte, ruf mich heute abend an. Laß mich wissen, ob du etwas erfahren hast.«

»Ja, ich rufe dich an.«

Ich sah ihren Wagen fortfahren, stieg in den meinen und fuhr zurück zum Motel.

Es war genau Mittag, als ich das Gespräch durchbekam.

»Hallo«, sagte ich, »hast du schon gegessen?«

»Natürlich«, antwortete sie. »Nun, wie ist alles gegangen?«

Ich fing an, ihr von der Verhandlung vor dem Untersuchungsrichter zu erzählen, aber sie unterbrach mich. »Das habe ich gerade alles in der Zeitung gelesen. Was hat man über Dani entschieden?«

Ich faßte mich, so kurz ich konnte. Dann berichtete ich ihr die Sache mit den Briefen. Als ich damit fertig war, schwieg sie.

»Elizabeth - hörst du mich?« fragte ich.

»Natürlich höre ich dich.« Ihre Stimme war sehr leise.

»Geht es dir gut?«

»Mir geht’s gut«, sagte sie, »nie im Leben ist mir’s bessergegangen. Ich nehme an, du wirst bis nächste Woche dort bleiben?«

Ich holte tief Atem. »Ich würde gern bleiben, wenn du einverstanden bist.«

»Was meinst du, was du dort noch ausrichten kannst?«

»Wenn ich jetzt wegfahre, wird Dani denken, ich lasse sie wieder im Stich.«

»Aber du hast sie doch nie im Stich gelassen«, sagte Elizabeth. »Hast du ihr das nicht erklärt?«

»Natürlich habe ich es ihr erklärt. Aber sie ist noch ein Kind. Ich glaube nicht, daß sie es auch nur halb verstanden hat.« Ich griff nach einer Zigarette. »Sie verläßt sich auf mich.«

»Das tue ich auch«, sagte Elizabeth. »Kannst du dir vorstellen, wie mir zumute ist? Wenn alle Nachbarn mich anglotzen und fragen, was du machst? Sie lesen die Zeitung, genau wie ich. Sie wissen, daß du sie jeden Tag siehst.«

Ich wußte, wen sie meinte. »Das ist doch einfach dumm!«

»Meinst du?« fragte sie. »Bist du dir sicher, daß Dani der einzige Grund ist, daß du dort bleibst?«

»Natürlich bin ich mir sicher«, antwortete ich ärgerlich. »Zum Teufel, was für einen anderen Grund sollte ich haben?«

»Danis wegen würden dir diese Briefe nicht so viel Sorgen machen«, sagte Elizabeth. »Du hast mir doch gesagt, daß man ihr ohnedies nicht viel anhaben kann. Das Gesetz schützt sie. Aber du, du willst Nora schützen. Dessen würdest du dir selbst bewußt werden, wenn du dir nur Zeit nähmst, ehrlich mit dir selber zu sein.«

Ich hörte, wie die Verbindung am anderen Ende des Drahts abbrach. Ich rief schnell die Vermittlung und sagte, ich sei unterbrochen worden. Dann hörte ich das Telefon wieder läuten. »Hallo.« Es klang, als habe sie geweint.

»Elizabeth«, sagte ich, »es tut mir leid. Ich werde es so einrichten, daß ich nach Hause komme.«

»Nein, das wirst du nicht.« Ich hörte, wie sie schluckte. »Du wirst dort bleiben, bis diese ganze verdammte Geschichte erledigt ist!« - »Aber.« protestierte ich.

»Nein. Nein, du bleibst dort und schaffst dir alles endlich einmal von der Seele! Wenn du heimkommst, will ich nicht, daß dich noch irgend etwas ständig bedrückt. Ich will einen normalen Ehemann zurückbekommen, nicht das schuldbeladene Gespenst des Mannes, der du in La Jolla warst.«

»Aber was ist mit dem Geld?« fragte ich.

»Keine Sorge«, sagte sie. »Deine Pension ist gerade gekommen. Das sind hundertvierzig Dollar, genug für eine Woche zu leben. Und wenn’s sein muß, kann ich jederzeit ein paar Hunderter für meinen Ring bekommen.«

»Elizabeth.« sagte ich. Es verschlug mir fast die Stimme.

Ich hörte sie hart schlucken.

»Elizabeth«, sagte ich. »Ich liebe dich.«

Die Scaasi-Corwin-Galerie hatte ein eigenes Haus in der Post Street, nicht weit von Gumps. Ein schmales, altmodisches Gebäude, halb erdrückt von zwei größeren, mit einer nagelneuen Front aus Klinkern. Der Eingang war eine schwere Tür mit Kristallglasscheiben, direkt neben einem kleinen Schaufenster, das wie ein Bilderrahmen in die Steine eingefügt war. Im Schaufenster stand wie ein Juwel auf blauem Samt eine kleine abstrakte Figur aus Bronze, rot und golden schimmernd in bernsteinfarbenem Scheinwerferlicht. Daneben der Name des Künstlers in kleinen schwarzen Buchstaben auf einer weißen Karte. An den dicken Kristallglasscheiben war in diskreter goldener Schrift zu lesen:

SCAASI - CORWIN TOKIO, SAN FRANCISCO, NEW YORK, PARIS

Ich trat ein. Ein junger Mann mit einem sauber gestutzten Van-Dyck-Bärtchen kam auf mich zu und fragte in einem Akzent, der zu seinem englisch geschnittenen Anzug paßte: »Womit kann ich Ihnen dienen, Sir?«

»Ich bin mit Mister Corwin verabredet.«

»Wenn Sie den Lift linker Hand nehmen, Sir. Die Büros sind im vierten Stock.«

»Danke.« Ich ging zum Lift.

Wie durch Zauber ging die Tür auf, als ich mich näherte. »Vierter Stock bitte.«

»Vierter Stock«, wiederholte der Page, während er die Tür schloß. »Danke, Sir.« Ich sah ihn an und schämte mich sofort meines billigen Anzugs von der Stange. Sogar dieser Liftboy trug einen englisch geschnittenen Anzug.

Ich trat hinaus in einen üppig ausgestatteten Empfangsraum. Hinter dem Pult saß ein zweiter van Dyck.

»Mister Corwin erwartet mich.«

»Dir Name, Sir, wenn ich bitten darf?«

»Luke Carey.«

Er nickte. »Danke. Wenn Sie bitte Platz nehmen wollen. Ich sehe nach, ob Mister Corwin frei ist.«

Ich setzte mich und griff nach einer Zeitschrift, die auf einem nierenförmigen Tisch vor einer Couch lag. Es war eine Nummer der >Realites<. Große Klasse. Aber französisch. Also konnte ich mir nur die Bilder ansehen. Ich blätterte. Ein Bild von Brigitte Bardot auf einem Boot in St. Tropez. Ich betrachtete es. Eine Illustrierte, die ein Bild von Brigitte im Bikini zeigte, konnte nicht ganz schlecht sein. Ein Schatten fiel über das Blatt. Ich sah auf.

»Colonel Carey?« fragte die attraktive junge Blondine. Ich nickte. »Mister Corwin läßt bitten. Bitte, kommen Sie mit.«

Ich stand auf. Dieses Mädchen wußte, wie sie aussah, wenn sie vor einem herging, und sie verstand etwas daraus zu machen. Sie war das einzig Erfreuliche, was ich den ganzen Tag über gesehen hatte. Sie war noch erfreulicher als das Bild von Brigitte.

»Danke sehr«, sagte ich, als ich durch die Tür ging, die sie aufhielt.

Sams Büro war wie der Empfangsraum, nur noch üppiger. Kirschholztäfelung. Zwei sehr farbige Matisses; ein schlehenäu-giger Modigliani in wundervollem Mandelblütenton; ein Picasso, von dem ich zuerst vermutete, man habe ihn verkehrt herum aufgehängt. Und Noras Bronze >Die Frau im Netz<, mit der sie den Eliofheim-Preis gewonnen hatte; sie stand auf einem kleinen Podest in einer Ecke, von oben hell angestrahlt.

Sam kam aus einer Tür auf der andern Seite des Zimmers mit ausgestreckter Hand auf mich zu: »Luke!«

Ich nahm seine Hand.    Ich hatte die Art gern,    wie er    einem die

Hand gab. Fest, aber    nicht überfreundlich    oder    gar    über

schwenglich. Das gefiel mir. »Wie geht’s dir, Sam?«

»Recht gut. Man läßt ein bißchen Haare, aber das ist alles.« Er musterte mich. »Du siehst gut aus, Luke.«

»Das gute Leben«, sagte ich. »Das und die richtige Frau.«

»Das freut mich.« Er ging um seinen Schreibtisch herum und setzte sich. »Bitte, nimm    Platz, Luke.«

Ich ließ mich in einen    Sessel ihm gegenüber nieder.

»Ich habe einen furchtbaren Schreck bekommen, als ich das von Dani hörte.«

Ich sagte nichts, aber ich glaubte es ihm.

»Ich mochte die Kleine gern«, sagte er. »Sie war ein süßes Ding, als sie klein war. Es tut mir leid, daß ihr so etwas passieren mußte. Immerhin, es war immer, als ob so etwas fällig wäre.«

»Warum war es so?«

Er zuckte die Achseln. »Nora.«

»Kanntest du Riccio?« fragte ich.

»Ja.« Sein Lächeln geriet etwas schief. »Ich war derjenige, der sie miteinander bekannt gemacht hat.«

»Wie kam denn das?«

Er lachte. »Du hast doch draußen meine >jungen Männer< gesehen?« »Die van Dycks und die englischen Sakkos?«

»Genau.«

»Nicht leicht zu übersehen. Ich sage dir, ich war froh, als ich nachher deine Sekretärin erblickte!«

Er lachte wieder. »Es ist Scaasis Idee. Bei uns hier sind es meistens Frauen, die Kunst kaufen. Und da funktioniert so etwas gut.«

»Was hat das mit Riccio zu tun?«

»Als ich vor fünf Jahren diesen Laden hier aufmachte, war er mein >junger Mann< Nummer eins. Er war ausgezeichnet. Die Frauen beteten ihn an.«

»Mitsamt dem Van-Dyck-Bärtchen?«

»Es gibt die künstlerische Note«, sagte er. »Eine Art soignier-ter Beatniks.« - »Ich verstehe.«

»Auch Nora fiel er auf«, sagte Sam trocken. »Er trug Hosen nach italienischem Schnitt - eng in Hüften und Gesäß, wie ein Ballettänzer. Nora hat ihn mit den Augen verschlungen.« Er öffnete ein Kästchen mit Zigaretten, das auf seinem Schreibtisch stand, und schob es mir hin. »Und du weißt ja, wie das geht. Wie im Kinderland. >Was unsre Nora will, kriegt unsre Nora auch.<«

Seine Augen sahen mich ehrlich an. »Nur hat Nora diesmal mehr bekommen, als sie gewollt hat, glaube ich.«

»Erklär mir das genauer, ich bin ein bißchen dumm«, sagte ich und nahm eine Zigarette. »Wie meinst du das?«

»Er war ebenso gemein wie sie. Mit jeder ins Bett, die ihm unter die Finger kam. Ein paarmal gab es Ärger mit Kunden, aber er wußte sich immer rechtzeitig herauszuwinden.«

»Warum hast du ihn behalten?«

»Weil er gut war. Der beste Verkäufer, den wir je hatten. Und er verstand seinen Kram.« »Wie bist du auf ihn gestoßen?«

Sam sah mich an. »Warum fragst du so genau nach Riccio?«

»Ich möchte etwas über ihn wissen«, antwortete ich. »Anscheinend weiß niemand Näheres. Ich dachte mir, wenn ich allerlei erfahre, könnte man vielleicht das Gericht überzeugen, daß es letzten Endes nicht schade um ihn war.«

»Ich verstehe.« Er nickte langsam. »Nicht ganz fair. Aber es könnte von Nutzen sein.«

»Das denke ich auch. Was weißt du über ihn? Hatte er besondere Freunde, an die du dich erinnern kannst?«

Er dachte nach, dann nahm er das Telefon. »Bitte die Personalakte über Tony Riccio.«

Einen Augenblick später kam Sams Sekretärin herein. Sie legte den Ordner vor Sam hin, sah mich an und ging hinaus. Ich bemerkte, wie Sams Augen ihr folgten.

»Gesund«, sagte ich. »Gesund und normal. Ich glaube, den Schock, daß du schwul geworden wärst, hätte ich nicht überlebt.«

Er lachte und schlug den Ordner auf. »Tony hat für Arlene Gateley gearbeitet, ehe er zu mir kam. Sie hat ihn mit hergebracht.«

»Arbeitet sie noch für ihn?«

»Sie ist seit zwei Jahren tot. Flugzeugunglück.«

»Oh. Und hatte er Freunde?«

»Ich kann mich an keine erinnern. Er war nur auf Weiber aus. Ich habe nie bemerkt, daß er mit einem Mann auch nur kameradschaftlich verkehrte.«

»Und was ist mit seiner Familie?«

»Die lebt hier in San Francisco. Sein Vater hat einen Fischstand am Kai. Ich glaube, seine Brüder besitzen ein Boot.«

»Hast du ihre Adresse?« Er zog einen Block heraus und schrieb die Adresse auf. Ich nahm den Zettel.

»Ich wünschte, ich könnte mehr für dich tun.«

»Da ist noch etwas.«, sagte ich, »aber ich weiß nicht, ob du darüber sprechen willst.«

»Was ist denn?«

»Nora und Riccio. Mrs. Hayden sagte mir, du hättest sie bei der Scheidung zu einer Vermögensteilung gezwungen. Wie hast du das fertiggebracht?«

Er zögerte einen Augenblick. »Ich wußte, was vorging. Es war nur eine Frage der Zeit, wann ich die Fotos bekam. Sie zeterte, aber sie mußte sich dazu entschließen.«

»Hast du die Bilder noch?«

Er schüttelte den Kopf. »Ich gab sie ihr, als das Urteil rechtskräftig war. Ich wollte keins behalten. Ich hatte genug Erinnerungen an sie.« Ich schwieg.

Er sah mich an. »Es war ein völlig korrektes Abkommen. Ich habe nichts angerührt, was wirklich ihr gehörte. Wir teilten nur, was wir gemeinsam verdient hatten.«

»Ich maße mir doch kein Urteil an, Sam!«

»Ich hoffe nur, du kannst etwas tun, Luke. Ich kann Dani als kleines Mädchen nicht vergessen. Sie war eine Zeitlang wie verloren, als du dich nicht mehr um sie kümmertest.«

Ich sah ihn erstaunt an. »Das lag nicht an mir. Nora hat es erzwungen.«

»Das wußte ich nicht«, sagte er überrascht. »Nora sagte mir bloß, du hättest dich eines Tages einfach entschlossen, nicht mehr zu Dani zu kommen.«

»Das ist echt Nora«, sagte ich.

»Weißt du, ich hatte mir eingebildet, ich wüßte alles, aber.« Er drückte seine Zigarette aus und nahm eine andere. »An die eine Szene muß ich immer wieder denken.«

»Was für eine?«

»Es war vor ungefähr fünf Jahren. Dani war fast zehn und sagte irgend etwas von einer Geburtstagsparty, die sie sich wünschte. Das brachte Nora hoch. Sie sagte dem Kind, es solle endlich aufhören, sein Alter zu betonen; Dani sei alt genug, um zu begreifen, wie peinlich es für ihre Mutter sein müsse, wenn sie herumliefe und prahlte, wie alt sie sei. Dani begriff überhaupt nichts, sondern sah sie an und fragte: >Aber Mami, willst du denn nicht, daß ich groß werde?< Nora wollte antworten, dann merkte sie, daß ich sie beobachtete. Sie lief davon und ließ Dani mit einem verständnislosen, verletzten Ausdruck in ihrem Kindergesicht stehen.«

Er zog an seiner Zigarette. »Ich glaube ehrlich, daß Nora auf Dani eifersüchtig war. Auf ihre Jugend, ihr Heranwachsen. Auf alles. Aber ich konnte nichts dagegen tun. Nora gab mir immer wieder zu verstehen, daß ich nicht Danis Vater sei und kein Recht habe, mich einzumischen.«

Er blickte einen Augenblick auf die Schreibtischplatte, dann sah er mich fragend an. »Ich glaube, du wunderst dich, daß ich sie trotz allem, was ich von ihr wußte, geheiratet habe?«

»Ich habe manchmal darüber nachgedacht.«

»Vielleicht wirst du es nicht verstehen«, sagte er ruhig. »Ich war Kunstkritiker an einer Kleinstadtzeitung. Gleichviel, was man sagt, in Kunstdingen ist San Francisco eine Kleinstadt. Ich hatte etwas Großes entdeckt. Das passiert einem vielleicht einmal im Leben, wenn man viel Glück hat. Aber nur dann. Ich habe Nora Hayden entdeckt, und wie sie menschlich auch sein mag - auf ihrem Gebiet ist sie etwas ganz Großes. Was sie künstlerisch tut, ist die Wahrheit. So sehr die Wahrheit, daß sie gar nicht darüber nachdenkt, wie sie all ihre Wahrheit nur in ihre Arbeit steckt und ihr nichts für sie selbst als Mensch oder für einen andern Menschen übrigbleibt. Ich wußte, daß sie so war. Aber ich dachte, ich könnte sie ändern. Ich dachte, ich würde sie dazu bringen, etwas von der Wahrheit, die ich in ihrer Kunst erkannte, auf ihr eigenes Leben zu übertragen. Aber ich hatte unrecht, absolut unrecht. Ich hatte nicht gesehen, daß die einzige Wahrheit, deren sie fähig ist, in ihrer Arbeit verankert ist. Nichts anderes und kein anderer zählt für sie. Ja, und dann war da noch etwas.«

»Was war das, Sam?«

Er sah mich an. »Ich habe sie geliebt«, sagte er einfach. Dann lächelte er grimmig. »Aber du siehst, wohin die Liebe geführt hat. Ich habe nichts davon behalten als ein paar Bilder an der Wand und einige Skulpturen. Aber du - du hast etwas. Gleichviel, wie schlecht es augenblicklich für dich aussieht, du wirst immer etwas haben, woran du zeigen kannst, wohin deine Liebe geführt hat.«

Ich wußte, was er meinte. Ich stand auf. »Du bist mehr als gut zu mir gewesen, Sam«, sagte ich.

Auch er erhob sich. »Ich würde Dani gern eine Kleinigkeit schicken. Meinst du, das wäre richtig?«

»Sie wird sich bestimmt darüber freuen, Sam.« Er streckte mir die Hand hin. »Und sag ihr alles Liebe von mir, Luke.«

»Gern, Sam«, sagte ich. »Danke.«

Die Post Street wimmelte von Leuten, die ihre Nachmittagseinkäufe machten. Nach dem kühlen, gedämpften Licht in der Galerie schlug mir die Sonne schmerzhaft auf die Augen. Ich fühlte, wie mir der Schweiß aus der Haut trat, und strebte einer kühlen Bar zu. Ich bestellte eine Flasche Bier. Ein paar Touristen kamen herein und blieben neben mir stehen. Auch sie bestellten sich Bier.

»Herrgott, ist das heiß!« sagte der eine und hob das schäumende Glas an seinen Mund. »Aber stell dir bloß vor, wieviel heißer es noch für die armen Kerle da draußen sein muß, auf dem Felsen mitten in der Bucht! Ich wette, sie würden ihre Seele geben für ein kaltes Bier an einem solchen Tage!«

Ich sah sie an und dachte an den Felsen, von dem sie sprachen. Alcatraz. Mit dem Zuchthaus darauf. Es gab noch andere Felsen. Meine Tochter war auch auf so einem Felsen. Und sie war doch noch ein Kind. Was mochte sie wohl tun, um sich in dieser Sommernachmittagshitze abzukühlen? Und was mochte Miss Spicer über sie erfahren haben? Wahrscheinlich Dinge, die ich nicht wußte. Nicht wissen konnte.

Marian Spicer erkannte die Schuhe, ehe sie noch die Stimme hörte. Sie waren so blank geputzt, daß sie fast ihr Gesicht darin spiegeln konnte, und sie wußte, wenn der Fuß sich hob, würde sich das Leder ein wenig verschieben, so daß darunter die weiße Baumwolle der Socken vorkam. Sie hob den Blick von den Notizen, die sie vor sich auf dem Tisch ausgebreitet hatte.

»Ah! Wie gut wäre es, wenn die holde Maid Marian herauskäme, um mit Robin Hood zu spielen. möglichst in einer schattigen Schlucht des Sherwoodwaldes!«

Sie lachte. »Setzen Sie sich, Red, ehe Sie Ihren Kaffee vergießen. Gut, daß ich Sie kenne und Ihren Unsinn nicht übelnehme!«

Er stand lachend vor ihr, die blauen Augen blinzelnd, das rote Haar zerzaust wie immer. Er hielt zwei Tassen Kaffee, in jeder Hand eine. »Sie sahen so aus, als ob Sie auffüllbedürftig wären!« sagte er und stellte eine Tasse vor sie hin. - »Danke!«

Er sah sich in der Kantine um. Sie war fast leer. »Es muß etwas geschehen! Die Arbeitnehmer machen zuwenig Gebrauch von den Segnungen ihrer Kaffeepause!«

An einem andern Tisch saß eine Bewährungshelferin mit einem Mädchen und seiner Mutter. Das Mädchen war etwa fünfzehn, schwanger und mürrisch. Die Mutter redete das Blaue vom Himmel herunter, die Bewährungshelferin nickte geduldig.

Marian konnte erraten, was die Frau sagte. Sie hatte allzuoft dieselben Worte gehört. »Ich wußte nichts davon. Ich ahnte

überhaupt nichts. Meine eigene Tochter. Es waren diese Flittchen, mit denen sie.«

Es war immer dasselbe. Die Kinder gerieten ins Unglück, und die Eltern waren höchst erstaunt. Immer. Natürlich hatten sie es niemals kommen sehen. Sie waren immer zu sehr mit andern Dingen beschäftigt gewesen. Manche von ihnen begründeterweise, manche nicht. Aber das Resultat war immer dasselbe -das Jugendgericht.

»Wo sind Sie den ganzen Tag gewesen?« fragte sie, während sie ihre Notizen zu einem sauberen Bündel ordnete.

Red schlürfte geräuschvoll seinen Kaffee. »Na, was meinen Sie? Natürlich hab’ ich diesen verflixten Lausebengel gesucht.«

Marian wußte, wen er meinte - einen Sechzehnjährigen. Seine Eltern hatten ihn in eine Schule mit militärischer Zucht und Ordnung gesteckt, um einen Mann aus ihm zu machen, nachdem ihn die Polizei vor sechs Monaten aus dem Wasser gefischt hatte. Vier Tage später kam ein Anruf, daß er aus der Schule verschwunden sei.

»Nun, und haben Sie ihn gefunden?«

»Gefunden habe ich ihn. Genau dort, wo ich ihn vermutete. In der Männertoilette einer Bar am Nordstrand.«

»Aber ich verstehe nicht, daß Sie dazu vier Tage gebraucht haben?«

»Wissen Sie, wie viele solcher Kaschemmen dort sind?« fragte er entrüstet. Dann sah er, daß sie lächelte, und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Sie hätten das Früchtchen sehen sollen, als ich ihn fand! Er trug noch seine Schuluniform. Sie sah aus, als habe er vier Tage darin geschlafen. Als er mich entdeckte, spielte er völlig verrückt. Stieß um sich und brüllte und kratzte. Ich mußte einen Streifenwagen kommen lassen, um ihn herzubringen.« Er sah Marian an und grinste übermütig. »Aber auch dabei hab’ ich gar nicht so schlecht abgeschnitten heute. Ich bekam fünf unsittliche Anträge - einen sogar von einer Frau! Da draußen will das was heißen. Sie muß mich für wirklich pervers gehalten haben.«

»Haben Sie seine Eltern benachrichtigt?«

Red nickte. »Sie werden morgen hier sein.« Er zuckte die Achseln.

»Ja, so ist das Leben. Die Jungens wollen partout Mädchen sein.«

»Der arme Junge.« Das war einer von den Fällen, die niemand gern übernahm. Man fühlte sich dabei so völlig nutzlos. Man konnte nichts wirklich Positives tun. Das einzige war, so einen Jungen den Psychiatern zu übergeben. Und oft genug war auch das zwecklos, denn selbst die konnten nicht helfen.

»Und Sie, emsiges Bienchen? An welchem Fall arbeiten Sie? An der Hayden-Geschichte?«

»Das Mädchen heißt Carey.«

»Weiß ich. Aber alle Zeitungen nennen es den Fall Hayden. Nach der Mutter, die ja das Augäpfelchen unserer Stadt ist.« Er nahm wieder geräuschvoll einen Schluck Kaffee. »Wie steht’s mit der Kleinen?«

Marian sah ihn nachdenklich an. »Ich weiß nicht recht. Es ist mir noch nicht gelungen, sie einigermaßen zu durchschauen. Sie paßt so gar nicht zu dem, was ich bei den meisten anderen Kindern hier kennengelernt habe.«

Er zog fragend eine Augenbraue hoch. »Sie macht sogar Ihnen zu schaffen, meinen Sie? Haben Sie schon die ersten Befunde?«

Sie nickte.

»Lassen Sie mich sehen.«

Sie beobachtete ihn, als er die oberste Seite las. Es war der Bericht des Arztes, der Dani untersucht hatte. Jedes Mädchen, das hier eingeliefert wurde, kam zunächst zu einer ärztlichen Untersuchung, ehe ihr ein Zimmer zugewiesen wurde. Dani war bereits am Samstag beim Arzt gewesen, während die psychometrische Bewertung erst am Montag vorgenommen werden konnte, weil die dafür zuständige Abteilung über das Wochenende geschlossen war.

Marian hatte das Gefühl, daß bei der ganzen Sache irgendein sehr wichtiger Faktor fehlte, aber sie konnte nicht feststellen, wo und was. Nun, Red war wirklich tüchtig. Er war seit vielen Jahren Bewährungshelfer. Vielleicht fiel ihm etwas auf, das ihr weiterhelfen konnte. Er hatte den ärztlichen Bericht fertiggelesen und sah sie etwas zynisch an. »Na, wenigstens ist die Kleine normal. Freut mich«, sagte er.

Sie wußte, was er meinte. Der Riß des Hymens ist vollständig, die Narbe gut verheilt und unbestimmbaren Datums. Es sind jedoch Reizmerkmale an den Vaginalwänden und eine leichte Schwellung der Klitoris vorhanden, die auf die Wahrscheinlichkeit gesteigerter sexueller Aktivität in allerletzter Zeit noch kurz vor der Untersuchung hinweisen.

»Ich glaube allmählich, daß es in San Francisco keine Jungfrau über vierzehn gibt.« Er sah Marian an und lachte. »Rein historisch gesprochen, Marian - waren Sie mit vierzehn noch Jungfrau?«

»Schluß mit Ihren Witzen, Red. Und lassen Sie sich durch Ihren Beruf nicht Ihre Weltanschauung trüben. Die netten Jugendlichen kreuzen nämlich hier überhaupt nicht auf.«

»Wer war es? Der Bursche, den sie umgelegt hat?«

Marian sah ihn an. »Sie sagt es nicht. Sobald jemand sie danach fragt, klappt sie zu wie eine Auster. Spricht nicht, sagt nichts mehr. Lesen Sie den psychometrischen Befund und urteilen Sie selbst.«

Sie sah, wie er verdutzt die Brauen hochzog, als er in die Mitte der Seite kam. Ihr war es nicht anders gegangen.

»Die Kleine hat einen I. Q. von 152!«

»Stimmt genau, Intelligenzquotient 152. Wir haben es mit einer ungewöhnlichen Intelligenz und Auffassungsgabe zu tun. Darum ist es so schwer, das Folgende zu verstehen. Lesen Sie es.«

Schweigend las er weiter. Er überflog die nächsten Seiten schnell und legte dann den Bericht auf den Tisch. »Sie spielt Katze und Maus mit uns. Ich verstehe das nicht. Warum?«

»Genauso geht es mir. Haben Sie gelesen, was sie der Psychiaterin am Schluß ihrer Sitzung sagte? Daß sie durchaus zugibt, unrecht getan zu haben, daß ihr klar ist, sie hätte es nicht tun dürfen, daß sie bereit ist, alles mit uns durchzusprechen, was dieses Unrecht betrifft, aber daß sie kein Interesse daran hat, über mehr als dies zu sprechen.

Ihr Leben außerhalb dieses Komplexes sei ihre eigenste private Angelegenheit, und sie fühle sich nicht verpflichtet, etwas darüber auszusagen, da es nichts mit der begangenen Tat zu tun hat.«

»Sie spuckt ziemlich große Töne.«

Marian nickte. »Sie hat sich während des Wochenendes wieder gefangen. Zu schade, daß wir nicht mit ihr sprechen konnten, als sie Samstag eingeliefert wurde. Damals war sie aufgeregt und nervös.«

»Meinen Sie, jemand hat sie auf diese Tour gebracht?«

»Der einzige, den die gesprochen hat, war ihr Vater. Dem würde so etwas gar nicht einfallen. Für ihn ist sie noch ein kleines Mädchen. Er hat sie zum letztenmal gesehen, als sie acht Jahre alt war, und wenn er auch erfaßt hat, daß sie größer geworden ist, so ist ihm, glaube ich, noch nicht aufgegangen, daß sie auch älter ist als damals.«

»Wie ist er überhaupt?«

»Er scheint sehr sympathisch zu sein und sehr feinfühlig.«

»Bei diesen Kriegsleistungen?« Reds Stimme klang ungläubig.

»Ja, das ist paradox. Aber mir tut der arme Kerl leid. Man sieht an seiner Kleidung, daß er es pekuniär nicht leicht hat, und doch ist er von Chicago hierhergekommen, um zu sehen, ob er ihr nicht helfen kann. Seine Frau ist dort geblieben, sie erwartet jeden Tag ein Baby, und er ist natürlich hin und her gezerrt. Er möchte gern das Richtige tun, aber er weiß selbst nicht, was das Richtige ist.«

»Und wie ist Miss Hayden?«

»Nora Hayden weiß, was sie will. Sie vergißt es keine Sekunde. Sie mag eine bedeutende Künstlerin sein, aber sie ist auch eine regelrechte Hure. Das arme Kind tut mir leid, daß es so viele Jahre mit ihr zusammen leben mußte. Es war bestimmt nicht leicht für das Mädchen.«

»Ich glaube, Sie mögen Miss Hayden nicht.«

»Wahrscheinlich nicht. Aber das ändert nichts an dem Grundproblem. Wie kommen wir an das Kind heran? Wie bringen wir Dani zum Sprechen?«

»Manchmal ist es am besten, wenn man diese jungen Dinger ganz in Ruhe läßt. Vielleicht begreift sie, wenn sie uns besser kennenlernt, daß wir ihr zu helfen versuchen, und dann wird sie zutraulicher werden.«

»Ein gutes Rezept, wenn wir mehr Zeit hätten. Aber Murphy hat uns nur eine Woche gegeben. Ich habe das Gefühl, man hat ihm von oben her nahegelegt, die Angelegenheit möglichst schnell zu erledigen, und er will keinesfalls über die gesetzmäßige Frist von fünfzehn Tagen hinausgehen.«

Sie griff nach ihrer Tasse. Der Kaffee war kalt geworden, aber sie trank ihn trotzdem. »Ich habe den merkwürdigen Eindruck, daß wir bei diesem Fall noch nicht einmal in der Nähe der Wahrheit sind. Nach der überlegenen Selbstbeherrschung, die Dani an den Tag legt, kann ich mir einfach nicht vorstellen, daß sie zu einem Mord fähig ist.«

»Wer sollte es sonst getan haben? Was denken Sie? Die Mutter?«

»Es käme mir jedenfalls wahrscheinlicher vor.«

»Aber dagegen sprechen alle Beweise. Sie haben doch die Aussagen gelesen. Und Sie waren bei der ersten Verhandlung vor dem Untersuchungsrichter und haben alles mit angehört. Es deutet doch alles auf dieses Mädchen hin.«

»Das ist es gerade. Ungefähr so, wie wenn ich nach Hause komme und finde jedes Stück haargenau auf seinem Platz. Dann weiß ich, daß etwas nicht stimmt. Es ist zu ordentlich. Außerdem gibt es für den ganzen Vorgang nur eine Zeugin.«

Sie nickte.

Red sah sie eine Weile sehr nachdenklich an. »Lassen Sie sich von dem Umstand, daß Sie die Mutter nicht mögen, nicht beeinflussen. Dies Gefühl habe ich nämlich bei fast jedem meiner Falle, wenn ich sehe, wie töricht und stumpf die Eltern sind. Ich möchte immer lieber ihnen die Schuld geben als den Kindern. Aber das geht nicht.«

Er stand auf, ging zur Küchentür und kam mit weiteren zwei Tassen Kaffee zurück. »Wo ist das Mädchen jetzt?«

»In der Psychologischen. Vielleicht kommt die Jennings heute mit ihr ein bißchen weiter.«

»Sally Jennings ist prima. Wenn sie die Kleine nicht zum Sprechen bringt, schafft’s niemand anders.«

»Ich hoffe sehr auf Sally. Inzwischen muß ich meine Rundreise antreten. Richter Murphy möchte, daß ich die Scheidungsakten der Eltern einsehe. Ich gehe jetzt zu ihrem Anwalt und hole sie mir.« Marian schob ihren Stuhl zurück. »Wie geht’s Anita und den Jungens?«

»Wie immer. Anita möchte eine Halbtagsarbeit annehmen, um etwas mitzuverdienen. Aber ich habe ihr gesagt: Nur über meine Leiche! Ich sehe hier zuviel davon, was mit den Kindern passiert, deren Mütter Halbtagsarbeit machen.«

Sie nickte teilnehmend. Manchmal fragte sie sich, wie manche ihrer verheirateten Kollegen mit ihrem Gehalt auskommen konnten. Sie verstand recht gut, warum Reds Schuhe immer mindestens zwei Monate zu spät zur Reparatur kamen.

Er seufzte. »Stevie, das ist der älteste, plagt uns andauernd -er möchte einen Motorroller. Er sagt, all die Buben in der Schule haben welche.«

»Und wollen Sie ihm einen schenken?«

»Wenn ich einen gebrauchten finde, für fünfzig Pipen. »Er sah hinunter auf den Tisch. »Ich weiß, ich mach mir selbst was vor. Es gibt nämlich keine für das Geld.«

»Vielleicht haben Sie Glück, Red.«

»Drücken Sie mir den Daumen! Aber manchmal habe ich Angst.«

»Angst? Wie meinen Sie das?«

»Stevie ist ein guter Junge. Aber ich denke an all die Dinge, die er nicht kriegen kann. Sie wissen, wie ich’s meine. Vielleicht ist es nicht gut, daß wir hier so vieles kennenlernen.« Sie nickte.

»Manchmal wache ich mitten in der Nacht auf«, sagte Red, »weil ich träume, daß ich im Dienst bin, und es wird ein Junge hereingebracht. es ist Stevie. Wenn ich ihn dann frage, warum und wieso, sagt er zu mir: >Was hast du erwartet, Paps? Daß ich mein Leben lang glaube, der Mond ist aus grünem Käse?««

Sie sah ihn einen Augenblick an. Natürlich, daran litten sie alle.

Sie sahen zuviel - und sie fühlten zuviel. Freundschaftlich legte sie ihm die Hand auf die Schulter. »Heute war ein langer, heißer Tag, Red. Warum machen Sie nicht für den Nachmittag Schluß und gehen nach Hause?«

Er ergriff ihre Hand und klopfte sie dankbar.

»Wozu?« fragte er und lächelte. »Damit sich Anita halb tot sorgt, ob ich krank bin oder etwas passiert ist?«

Das gerahmte Diplom an der Wand über dem kleinen, übervollen Schreibtisch in der ebenfalls kleinen Glaszelle war das eines Magisters Artium in Psychologie, ausgestellt von der Universität Wisconsin. Der Name auf dem Diplom - geschrieben in schöner Fraktur - war Sally Jennings. Das Datum Juni 1954.

Sally Jennings war achtunddreißig gewesen, als sie das Diplom bekam. Davor lagen fünfzehn Jahre praktischer Arbeit als Bewährungshelferin, in denen sie weiter sparte und studierte. Als sie das nötige Geld beisammen hatte, nahm sie zwei Jahre Urlaub und kam mit dem Diplom zurück. Dann dauerte es noch zwei Jahre, bis eine Stelle in ihrer jetzigen Abteilung frei wurde.

Sie hatte ein noch jugendliches Gesicht, angegrautes Haar, ein gelassenes, sympathisches Auftreten und ein echtes Gefühl für die Kinder, die zu ihr kamen. Meistens spürten sie das und faßten Vertrauen zu ihr. Nur manchmal kam eins, das ihrer sonst so unwiderstehlichen Anziehungskraft widerstand. Und zu diesen wenigen gehörte offenbar Dani.

Sally Jennings blickte über den Schreibtisch hin auf Dani. Diese saß schweigend mit gefaßtem Gesicht vor ihr, die Hände manierlich auf dem Schoß gefaltet. Sally hatte schon vorher bemerkt, daß das Kind gutmanikürte Fingernägel hatte. Das deutete ebenfalls auf Selbstbeherrschung. Sie griff nach einer Zigarette und spürte, wie Danis Augen ihrer Bewegung folgten.

»Möchtest du gern eine Zigarette, Dani?« fragte sie höflich und hielt ihr die Schachtel hin.

Dani zögerte.

»Es ist schon in Ordnung, Dani. Hier drin darfst du rauchen.«

Dani nahm die Zigarette und ein Streichholz. »Danke, Miss Jennings.«

Die Psychologin zündete sich ihre Zigarette an und lehnte sich in ihren Stuhl zurück. Sie blickte in den Rauch, der sich langsam zur Decke hinaufzog. »Ich sehe gern zu, wie der Rauch aufsteigt«, sagte sie beiläufig. »Ähnlich wie die kleinen Wolken am Himmel, die alle möglichen Formen und Gestalten annehmen.«

»So ein ähnliches Spiel hatten die Mädchen in Miss Randolphs Schule. Wir nannten es Schnellsehen.« Sally beobachtete Dani. In den Augen des Kindes war ein Schimmer von Heiterkeit. »Sie würden sich wundern, was manche Mädchen da sahen - manchmal wirklich ganz ausgefallene Dinge.«

»Du verstehst allerlei von Psychologie für dein Alter.«

»Ich habe viel darüber gelesen. Einmal dachte ich sogar daran, selbst Psychologin zu werden, aber dann habe ich es mir doch anders überlegt.«

»Warum, Dani? Ich könnte mir vorstellen, daß du etwas leisten könntest.«

»Ich weiß nicht. Vielleicht, weil mir die Vorstellung nicht gefiel, meine Nase in anderer Leute Seele zu stecken. Oder vielleicht nur, weil ich überhaupt nicht spionieren mag. Überhaupt nicht.«

»Meinst du, daß ich spioniere?«

Dani sah sie offen an. »Das gehört doch zu Ihrem Beruf, nicht wahr?« fragte sie unverblümt. »Sie müssen doch herausfinden, warum ich spinne, nicht wahr?«

»Das ist nur ein Teil meiner Aufgabe, Dani. Der kleinste Teil. Die Hauptsache ist, einen Weg zu finden, wie ich dir helfen kann.«

»Wenn ich aber keine Hilfe haben möchte?« »Ich glaube, wir brauchen alle Hilfe, ob wir uns das selbst eingestehen oder nicht.«

»Brauchen Sie Hilfe?« fragte Dani.

»Freilich. Es gibt Stunden, da ich mir sehr hilflos vorkomme.«

»Gehen Sie dann zu einem Psychologen?«

Sally Jennings nickte. »Ich gehe seit einigen Jahren zur Analyse. Seit der Zeit, als ich merkte, daß ich mehr über mich selbst wissen muß, wenn ich meinen Beruf richtig ausüben soll.«

»Wie oft gehen Sie hin?«

»Mindestens einmal wöchentlich. Manchmal sogar öfter, wenn ich Zeit habe.«

»Meine Mutter sagt, nur richtig kranke Leute gehen zum Analytiker. Sie sagt, Analyse ist ein Ersatz für die Ohrenbeichte bei den Katholiken.«

Sally Jennings sah Dani an. »Hat deine Mutter in allen Dingen recht?«

Dani erwiderte den Blick, antwortete aber nicht.

Die Psychologin sah die Wand in Danis Augen aufsteigen. Sie wechselte schnell das Thema. »Der Arzt, der dich untersucht hat, sagt, daß du über Brustschmerzen klagst. Hast du diese Schmerzen schon lange?«

Dani nickte stumm.

»Wie lange schon?« Dani zögerte.

»Nun, damit stecke ich nicht meine Nase in deine Seele, Da-ni«, sagte Sally Jennings lächelnd. »Das ist eine rein medizinische Frage.«

»Bedeutet es irgend etwas Schlimmes?« fragte Dani mit erschrockener Stimme.

Sally sah, wie Danis Hände unwillkürlich nach ihrem Busen griffen, und hatte Gewissensbisse, daß sie da eine alte Angst des

Kindes angerührt hatte. »Nein, gar nichts Schlimmes. Aber die Ärzte möchten immer gern wissen, aus welchem Grund etwas weh tut.«

»Als ich anfing, mich zu entwickeln, habe ich meine Brust gebunden. Dann fing es an, weh zu tun, und ich hörte damit auf. Aber es hat immer weiter weh getan.«

Sally lachte. »Wie kommst du um Himmels willen auf so etwas Kind? Das ist doch schrecklich altmodisch. Das tat schon seit Jahren kein Mädchen mehr.«

»Ich hatte einmal gehört, was meine Mutter zu einer ihrer Bekannten sagte: Die Japanerinnen täten das immer, weil sie dann jung aussehen und nicht so schnell erwachsen wirken.«

»Ja. wolltest du denn nicht erwachsen werden, Dani?«

»Natürlich wollte ich«, erwiderte Dani schnell.

»Warum hast du es dann getan?« wiederholte Sally. Das Kind antwortete nicht. »Vielleicht, weil du dachtest, du tust deiner Mutter einen Gefallen?«

Sie las die Wahrheit ihrer Vermutung in Danis plötzlich großen Augen. Jetzt mußte sie hart bleiben. »Das war doch der Grund, nicht wahr, Dani? Du hast deine Brüste eingeschnürt, bis sie weh taten, weil du dachtest, es wäre deiner Mutter lieb, wenn du nicht so schnell erwachsen wirst. Warum dachtest du das, Kind? Hat deine Mutter dir einmal gesagt, sie fühlte sich alt dadurch, daß du heranwächst?«

Plötzlich weinte Dani und verbarg das Gesicht in den Händen.

Vorsichtig nahm die Psychologin ihr die Zigarette aus den Fingern und drückte sie im Aschenbecher aus. »Die meisten Mütter freuen sich gar nicht so sehr darüber, daß ihre Kinder erwachsen werden, Dani. Sie freuen sich, solange sie klein sind, weil sie sich dann wichtiger und notwendiger und auch jünger fühlen.«

»Meine Mutter liebt mich«, schluchzte Dani zwischen ihren Fingern. »Meine Mutter liebt mich.«

»Natürlich liebt sie dich, Dani. Aber Liebe allein verhütet nicht, daß sogar eine Mutter manchmal einen Fehler macht.«

Dani sah auf. Die hellen Tränen standen noch in ihren Augen. »Ich. ich möchte nicht mehr sprechen, Miss Jennings. Darf ich wieder in mein Zimmer gehen?«

Sally betrachtete sie einen Augenblick, dann nickte sie. »Natürlich, Dani.« Sie drückte auf einen Klingelknopf. »Morgen sprechen wir weiter.«

Durch die Glaswand ihres Zimmers sah sie Dani mit der Aufseherin den Korridor entlanggehen. Sie seufzte tief. Es war schwer gewesen. Aber immerhin hatte sie einen kleinen Fortschritt gemacht. Vielleicht würde sie morgen mehr erfahren.

Durch die geschlossene Tür von Danis Zimmer drang die Musik des Fernsehgeräts. Unbewußt bewegten sich ihre Füße im Takt. Nach ein Paar Minuten überließ sie sich der Verlockung und ging hinaus in den Korridor. Hier war die Musik lauter; sie folgte ihr in den großen Aufenthaltsraum, wo die Mädchen sich vor dem Gerät versammelt hatten.

Die Musik setzte aus, und das glatte, ausdruckslose Gesicht von Dick Clark erschien auf dem Bildschirm. Seine Stimme klang lässig aus dem Lautsprecher. »Willkommen bei der amerikanischen Plattenparade. Um unserer heutigen Session gleich den richtigen Start zu geben, nehmen wir als erstes eine Platte unseres einmaligen Chubby Checkers. Er singt uns sein unsterbliches >Let’s Twist Again<!«

Dani stand und schaute bezaubert zu, wie sich die Kamera zurückzog, um eine volle Tanzfläche freizugeben. Die meisten der Jungen trugen Sportjacken, die Mädchen waren ebenso zwanglos gekleidet. Nach einem Augenblick der Stille, während sie erwartungsvoll dastanden, kam der Anfang dröhnend aus dem Lautsprecher. Das heiser-rhythmische Lied des Sängers erfüllte den Raum:

Let’s twist again -

Lak’ we did last sum-muh -

Let’ twist again -

Lak’ we did last ye-uh.

Mehrere Mädchen taten sich paarweise zusammen und fingen an, vor dem Gerät zu tanzen. Am entgegengesetzten Ende des großen Raums saß eine Aufseherin; auch sie bewegte die Füße im Takt.

»Kannst du Twist, Dani?«

Dani sah sich um. Es war das Mädchen, das bei den Mahlzeiten neben ihr saß. Sie nickte. »Ja, Sylvia.« Das Mädchen lächelte. »Was meinst du - wollen wir’s ihnen mal vormachen?«

Dani lächelte. »Ich mach mit, Sylvia.«

Die beiden Mädchen stellten sich in rundschultriger Haltung hin und setzten undurchdringliche Gesichter auf, während sie den Rhythmus aufnahmen. Als sie dann vorwärts und rückwärts wirbelten, scheinbar auf einer kleinen Stelle festgeleimt, sahen sie einander keinmal ins Gesicht. Jede hielt die Augen auf ungefähr die Knie der Partnerin gesenkt.

Nach ein paar Minuten, in denen jede die Twistkünste der anderen abschätzte, fingen sie an zu sprechen.

»Du bist gut«, sagte Sylvia.

»Aber nicht so gut wie du.«

»Ich tanze schrecklich gern«, sagte Sylvia. »Und das werd’ ich auch einmal. Tänzerin. Berufstänzerin.«

»Könntest du jetzt schon!«

Sylvia lächelte stolz. Sie war etwas größer als Dani, vielleicht ein Jahr älter, mit braunem, fast blondem Haar und blauen Augen. »Komm, wir wollen ein paar Variationen probieren.«

»Okay.«

»Hully-Gully.«

Dani lachte und paßte sich Sylvias Schritten an.

»Jetzt den Madison.« Sylvia drehte sich, und Dani umkreiste sie, dann drehte sich Dani um Sylvia.

Sylvia lachte laut. »Du, jetzt geben wir ihnen den Rest mit dem Watusi!«

Mit den fast primitiven Schritten eines Urwaldtanzes bewegte sich Sylvia jetzt. Dani folgte ihr, bis die Musik anschwoll und schließlich abbrach, während der letzte Klagelaut des Sängers mit dem letzten Ton verklang.

Die beiden Mädchen standen still, atmeten schwer und sahen sich an. »Das war fast zuviel«, sagte Sylvia.

»Aber fein«, antwortete Dani.

Die Musik kam wieder. Sylvia sah Dani fragend an. »Noch mal?« fragte sie.

Dani schüttelte den Kopf. »Die Zigaretten sind mir auf die Puste geschlagen. Diesmal seh ich zu.«

Sylvia lächelte. »Ich hab ’n Extragroschen für ein Coke. Ich lad dich ein.«

»Fein, danke.« Dani hätte selbst ein Coke kaufen können, aber das wäre nicht höflich gewesen. Sie würde das nächste bezahlen.

Sylvia ging zum Automaten und holte sich ein Coke. Auf einem Tisch standen in einem Becher ein paar Strohhalme. Sie steckte zwei in die Flasche und kam zurück. »Komm, wir setzen uns dorthin.«

Sie setzten sich so, daß sie den Bildschirm sehen konnten, und tranken ihr Coca-Cola. Nun kam eine Werbesendung. Ihre Augen folgten dem Ansager mit weit größerer Aufmerksamkeit als dem Programm selbst.

»Diese Kaugummireklame ist das Letzte!«

Doch dann war Dick Clark wieder da und die Musik. »Warst du heute wieder bei unseren Hirnbohrern?« fragte Sylvia.

Dani nickte.

»Wer hat dich bearbeitet? Die Jennings?«

»Ja.«

»Sie ist nicht so schlimm, mit der kann man reden. Aber der Alte, der Boß! Der ist wie ’n Gespenst, wenn er einen mit seinen Fischaugen ansieht.«

»Ich kenn ihn nicht«, sagte Dani.

Ein Weilchen sahen sie den Tänzern auf dem Bildschirm zu. Die Kamera kam dicht an ein tanzendes Paar heran. Der Junge war groß und hübsch, sein Haar nach der letzten Mode geschnitten. Das Mädchen trug einen lockeren Sweater mit Rock. Sie bemerkten, daß ihnen die Kamera folgte, und spielten sich ein bißchen auf.

»Der Junge sieht wirklich schnieke aus. Erinnert mich an meinen Freund!«

»Er ähnelt Fabian, finde ich«, sagte Dani.

»Mein Freund ist das reinste Double von Fabian«, sagte Sylvia stolz. »Das hat mich gleich umgeschmissen! Ich finde, Fabian ist der Mann!«

»Mir gefallen Rickie und Frankie Avalon besser. Die können singen. einfach ganz groß!«

»Das kann Elvis auch. Aber ich rede gar nicht vom Singen. Fabian kann alles. Er braucht mich bloß anzusehen, da schmelz ich wie Butter an der Sonne.« Sie sah Dani an. »Du hast doch ’n Freund?«

»Nein.«

»Aber du hattest einen?«

Dani schüttelte den Kopf. »Eigentlich nicht. Keinen festen.«

»War der denn nicht dein Freund, den du.?«

Dani schüttelte den Kopf.

»Ich dachte, er war dein Freund gewesen. Weil sie dich nämlich zu uns gesteckt haben. Die Jungfern kommen in ein anderes Haus. Du meinst, es war ’n anderer?«

»Ich möchte nicht davon sprechen.«

Sylvia lehnte sich zurück. »Ich hab’ Sehnsucht nach meinem Freund.«

»Wo ist er denn?«

Sylvia zeigte mit dem Daumen auf die Fenster. »Da drüben -in der Jungensabteilung.«

»Was macht er denn da?«

»Man hat uns zusammen geschnappt«, sagte Sylvia. »Richie hatte sich ’n Wagen geborgt, weil wir ’ne Fahrt machen wollten. Wir fuhren rauf zum Golden-Gate-Park. Da haben uns die Polypen eben geschnappt.«

»Versteh ich nicht. Warum wollten sie was von euch?«

Sylvia lachte. »Sei nicht so’n Schaf. Ich sagte doch, Richie hatte sich den Wagen gepumpt. Außerdem war’s zwei Uhr nachts. Und wir waren auf dem Rücksitz und. na, du weißt schon, was wir machten.« Sie trank den Rest der Coke aus. »Menschenskind, es war wirklich traumhaft, du weißt schon was?« Sie seufzte. »Das Dach von der Limousine offen, der Mond, die Radiomusik. Wir waren| grade. na ja. als sie uns faßten. Mensch, das war vielleicht ’ne Pleite!«

»Ich hol uns noch ’n Coke«, sagte Dani. Als sie zurückkam, bewunderte Sylvia einen jungen Sänger, der als Gast auftrat.

»Der singt ja gar nicht richtig«, sagte Sylvia. »Er bewegt bloß die Lippen zur Musik.«

»Woher weißt du das?«

»Du siehst doch kein Orchester, oder? Außerdem hallt seine Stimme so sehr. Das geht bloß in ’nem Schallplattenstudio.« Sie betrachtete einen Augenblick die Großaufnahme des Sängers. »Aber hübsch ist er - natürlich nicht so himmlisch wie Fabian. Hast du heute Post gekriegt?«

Dani schüttelte den Kopf. »Nein, aber ich hab’ auch keine erwartet.«

»Die andern haben Post gekriegt. Und ich hab’ einen Brief von Richie erwartet, aber keinen bekommen. Er hat gesagt, er schreibt mir jeden Tag.« Jetzt klang ihre Stimme besorgt. »Meinst du, die alten Spitzel behalten meine Post ein?«

»Nein, das glaube ich nicht.«

»Wenn ich morgen nichts von ihm höre, sterb ich glatt!«

»Sorg dich nicht, Sylvia, du wirst schon von ihm hören«, sagte Dani tröstend. Schweigend blieben die beiden Mädchen sitzen und teilten sich ihr Coke.

Ich kam gerade vor dem großen Mittagsverkehr zum Hafen hinüber. Die Verkäufer sortierten emsig ihre Ware, legten die aufgebrochenen Krebse verlockend auf die Eisstückchen, schmückten die Bretter ihrer Karren mit bunten Glasbechern voll gekochten rosa Garnelen. Ganze Berge von frischem Brot und Brötchen waren aufgestapelt, und über allem hing das schwere Aroma des Fischmarkts.

Ich ging am Tarantino vorbei auf das Meereskundemuseum zu. Die Fischerboote waren zur Nacht vertäut, sie wiegten sich leise auf der Dünung. Am Kai befanden sich noch mehr Stände. Einer, fast in der Mitte des Blocks, war mit einer ausgebleichten Persenning zugedeckt. Darauf stand mit großen Buchstaben: RICCIO.

Ich blieb stehen. Ein Mann, der am nächsten Stand mit geschickten Händen Krebse auslegte, sagte aus dem Mundwinkel: »Die ha’m heute zu.«

»Wissen Sie, wo ich sie finden kann?«

Er ließ seine Krebse und kam zu mir. »Sind Sie ’n Reporter?«

Ich nickte.

»Die sind im Bestattungsinstitut. Morgen früh ist die Beerdigung. Sind Sie hergekommen, um die Familie auszufragen?«

»Gewissermaßen. ja.«

»Der Bursche hat nichts getaugt«, sagte er. »Schon als Junge ist er nie hergekommen, um mal am Stand auszuhelfen. Wollte

sich nicht die Hände schmutzig machen mit dem Fischzeug wie seine Brüder. Hielt sich für was Besseres. Ich hab’ dem Vater immer gesagt, es wird ’n schlimmes Ende mit ihm nehmen.«

»Welches Institut ist es denn?«

»Mascogani.«

»Und wo ist das?«

»Wissen Sie, wo Bimbo ist?« Ich nickte.

»Von Bimbo grade über die Straße, etwa ’n Block weiter unten.«

»Danke.« Ich ging den Block hinauf zu meinem Wagen. An der Jackson Street, in der Nähe des Begräbnisinstituts, fand ich einen Parkplatz. Es war ein Gebäude mit weißer Stein- und Marmorfront. Ich öffnete die Tür und ging hinein.

In der dämmerigen, sanft beleuchteten Vorhalle blieb ich stehen, bis sich meine Augen an das Licht hier gewöhnt hatten. Dann ging ich zu der verglasten Namenstafel an der Wand. Sofort trat ein schwarzgekleideter Mann zu mir.

»Kann ich Ihnen behilflich sein, Sir?« fragte er mit gedämpfter Stimme.

»Riccio?«

»Bitte, folgen Sie mir.«

Ich ging hinter ihm her zum Lift. Er drückte auf einen Knopf. Die Tür öffnete sich. »Ich weiß nicht, ob die Familie noch oben ist. Sie sind vielleicht zu Tisch gegangen. Aber Sie können sich ja in das Buch eintragen, das gleich neben der Tür liegt in Raum A.« - »Danke.«

Die Tür des Lifts klappte zu. Als sie wieder aufging, trat ich hinaus. Raum A lag gerade gegenüber auf der andern Seite des Flurs.

Ich schaute zur offenen Tür hinein. Durch einen Bogen am andern Ende des Raums sah ich den Sarg unter einer Blumendecke. Meine Schritte waren auf dem schweren Teppich nicht zu

hören, als ich zum Sarg trat. Ich blieb daneben stehen und blickte auf den Toten.

Dies war also der Mann, den meine Tochter getötet hatte. Auf den ersten Blick schien er nur zu schlafen. Die Leichenbestatter hatten ihre Sache gut gemacht.

Er war ein schöner Mann gewesen. Das dichte schwarze Haar bildete in der Mitte der hohen Stirn eine kleine Spitze. Die Nase war gerade und kräftig, der Mund energisch, wenn auch sogar jetzt noch ein wenig zu sinnlich. Die Wimpern lang wie bei einem Mädchen. Ich spürte eine Regung von Mitleid. Er konnte nicht viel über Dreißig gewesen sein.

Ich hörte einen Seufzer hinter mir, fast ein Schluchzen. Erschreckt wandte ich mich um.

In einer Ecke saß ein alter Mann auf einem kleinen gradlehni-gen Stuhl, direkt neben dem Bogen. Ich hatte ihn nicht bemerkt, als ich hereinkam, obwohl ich direkt an ihm vorbeigegangen sein mußte. Er sah zu mir auf, seine schwarzen Augen glitzerten im Kerzenlicht.

»Ich bin der Vater«, sagte er. »Kannten Sie meinen Sohn?«

Ich schüttelte den Kopf und ging zu ihm hin. »Mein Beileid, Mister Riccio«, sagte ich.

»Grazie«, sagte er mit schwerer Stimme. Seine müden Augen durchforschten mein Gesicht. »Mein Tony war gar nicht so schlecht, wie sie jetzt alle sagen. Er konnte bloß nicht genug kriegen.«

»Ich kann mir’s denken, Mister Riccio. Niemand ist so schlecht, wie die Leute immer sagen.«

Hinter dem Bogen waren jetzt Stimmen zu hören. »Papa - mit wem sprichst du da?« fragte die eine.

Ich drehte mich um. Unter dem Bogen standen ein junger Mann und eine junge Frau. Der Mann sah dem Toten im Sarg sehr ähnlich, obwohl seine Züge derber erschienen. Die Frau war in Schwarz - in jenem Schwarz, das offenbar nur die Italienerinnen bei Trauerfällen immer bei der Hand haben. Über dem Haar trug sie einen Spitzenschal, ihr Gesicht war von melancholisch müder Schönheit.

»Das ist mein anderer Sohn, Steve«, sagte der Alte. Er sprach ein ungeschicktes Englisch mit stark italienischem Akzent. »Und das ist Tonys fidanzata Anna Stradella.«

Der junge Mann sah mich bestürzt an. »Papa!« sagte er hart, »weißt du, wer dieser Mann ist?«

Der Alte schüttelte den Kopf.

»Der Vater von diesem Mädchen! Du darfst nicht mit ihm sprechen! Du weißt doch, was der Anwalt gesagt hat.«

Der alte Mann schaute mir forschend ins Gesicht. Dann wandte er sich zu seinem Sohn. »Was geht’s mich an, was der Anwalt sagt. Ich hab’ dem Mann ins Gesicht gesehen, wie er beim Sarg gestanden hat. Ich sah denselben Kummer drin, den ich in meinem Herzen hab’.«

»Aber Papa«, protestierte der junge Mann, »der Anwalt hat doch gesagt, wenn wir klagen wollen, dürfen wir nicht mit ihm sprechen. Das könnte für uns schlecht sein.«

Mr. Riccio hob die Hand. »Halt!« sagte er fest und mit erstaunlicher Würde. »Später können sich die Anwälte streiten. Jetzt sind wir ganz gleich, er und ich. Zwei Väter, denen ihre Kinder Kummer und Schande gemacht haben.«

Er sprach wieder zu mir. »Setzen Sie sich, Mister Carey. Vergeben Sie meinem Steve. Er ist noch jung.«

Der junge Mann machte ärgerlich kehrt und ging davon. Das Mädchen blieb und beobachtete uns. Ich zog zwei Stühle von der Wand herüber und stellte ihr einen hin. Sie zögerte einen Augenblick, dann setzte sie sich. Ich nahm auf dem andern Platz.

»Mein Beileid, Miss Stradella.«

Sie nickte, ohne zu antworten. Die Augen standen dunkel in dem weißen Gesicht.

»Ihre kleine Tochter?« fragte Mr. Riccio. »Was macht sie?«

Ich wußte nicht, was ich antworten sollte. Wie hart mußte es klingen, wenn ich sagte >es geht ihr gute, während sein Sohn hier ein paar Schritte vor uns im Sarge lag?

Er begriff mein Gefühl. »Das arme kleine Ding«, sagte er leise. »Sie ist nicht viel mehr als ein Kind.« Er sah mir wieder ins Gesicht.

»Warum sind Sie gekommen, Mister Carey?«

»Um etwas über Ihren Sohn zu erfahren.« Seine Augen weiteten sich. »Nein, nicht um Schlechtes über ihn zu hören«, fügte ich rasch hinzu. »Sondern um mehr von meiner Tochter zu wissen, Mister Riccio.«

»Schämen Sie sich nicht, Mister Carey«, sagte er freundlich. »Es ist nur richtig, daß Sie Ihrer Tochter helfen wollen.«

»Ich danke Ihnen, daß Sie mich verstehen, Mister Riccio.«

»Also - was möchten Sie wissen?«

»Hatte Ihr Sohn Freunde, die ihm nahestanden?«

Er zuckte die Achseln. »Freunde? Anna, die er heiraten wollte, wäre gern seine Freundin gewesen. Seine Brüder Steve und John wären gern seine Freunde gewesen. Aber er wollte von ihnen nichts wissen. Er wollte ein feiner Herr sein.« Der Alte lächelte bitter, seine Augen umwölkten sich bei der Erinnerung. »Als Tony ein kleiner Bub war, hat er oft zu mir gesagt: >Pop, Pop, sieh mal dort raus, weg vom Hafen, da oben hin, nach Nob Hill. Da oben werd’ ich eines Tages wohnen. Da oben riechst du nichts mehr von den Fischen.<

Ich hab’ gelacht. >Tony<, hab’ ich gesagt, >geh und mach deine Schularbeiten. Spiel Baseball wie ’n guter Junge. Vielleicht wirst du dann einmal so wie die Brüder Di Mag und kaufst deinem Pop ’n großes Restaurant am Kai. Hör auf zu träumen.<

Aber Tony hat immer weiter geträumt. Als er fertig war mit der Schule, hat er nicht Baseball gespielt wie die Brüder Di Mag. Ein Künstler wollte er sein! Er ließ sich ’n Bart wachsen und saß im Kaffeehaus herum. Er kam jeden Abend spät heim und schlief jeden Morgen lange. Er fuhr nicht mit dem Boot raus wie seine Brüder. Seine Hände waren ihm zu zart. Als er zwanzig war, kriegte er ’n Job bei ’ner Kunsthändlerin. Bei ’ner dicken Dame. Ein Jahr später kriegte er einen anderen Job. In ’nem großen Laden diesmal. In der Nähe von Gumps.

Und eines Tages kommt er mit ’ner feinen Dame zu meinem Stand. Hübsch war sie. >Das ist die Frau von meinem Boß<, sagt er. Sie essen Garnelen und knacken Krebse und lachen wie zwei Kinder. Dann gehn sie weg. Kurz darauf les ich in der Zeitung, sie lassen sich scheiden, der Boß und die Frau. Ich mach mir Sorgen um meinem Tony seinen Job, aber eines Tages kommt er runter zu meinem Stand mit ’nem funkelnagelneuen Wagen. Teuer. Kein amerikanischer, ’n ausländischer.

>Pop<, sagt er, >ich hab’s geschafft. Jetzt arbeit ich für den Boß seine Frau. Sie ist ’ne große Nummer. Geld wie Heu. Und weißt du, wo ich wohne?<

>Nein<, sag ich, >wo wohnst du denn, Tony?<

Da zeigt er rauf zum Berg. >Genau da oben, Pop<, sagt er. >Auf dem Nob Hill, wie ich’s immer gewollt hab’. Und weißt du, was noch stimmt, Pop? Da oben riechst du keinen Fisch mehr.<«

Der Alte sah hinüber zu dem Sarg, dann wieder zu mir.

»Von dort aus kann Tony den Fisch auch nicht riechen. Von dort aus kann er gar nichts mehr riechen, mein Tony.«

Ich blieb noch ein Weilchen schweigend sitzen, dann stand ich auf. »Es war sehr gütig von Ihnen, daß Sie mit mir gesprochen haben, Mister Riccio. Verzeihen Sie mir, daß ich Sie in. in einer solchen Stunde gestört habe.«

Er sah zu mir auf und nickte, aber schon waren seine Augen weit fort. Er blickte wieder auf den Sarg, und seine Lippen bewegten sich stumm. »Ich werde auch für Ihre Tochter beten«, sagte er. »Wie für meinen Sohn.«

Ich trat zu dem Mädchen. »Miss Stradella.«:

Sie warf einen Blick auf den Alten, aber der schaute wieder zum Sarg. Plötzlich wurden die Augen in ihrem Gesicht lebendig. »Warten Sie draußen auf mich«, flüsterte sie.

Ich sah sie eine Sekunde erstaunt an, dann nickte ich und ging hinaus. Im Vorraum kam ich bei dem jüngeren Sohn vorbei. Er starrte mich an, als ich vorbeiging, und trat dann in den Aufbahrungsraum.

Ich wartete nicht auf den Lift, sondern ging die Treppen zur Straße hinunter.

An den Wagen gelehnt, wartete ich. Sie kam auf die Straße und sah sich suchend nach mir um. »Miss Stradella!« rief ich.

Schnell kam sie zum Wagen. Als sie vor mir stand, drehte sie sich um und sah noch einmal zurück nach dem Bestattungsinstitut. »Es ist besser, wenn wir uns in den Wagen setzen. Steve und sein Vater müssen jeden Augenblick herauskommen. Ich möchte nicht, daß sie uns miteinander sprechen sehen.« Ich öffnete die Wagentür. Sie stieg ein. Ich machte die Tür zu, ging um den Wagen auf die andere Seite, setzte mich hinein und startete den Motor.

»Wohin?«

»Irgendwohin«, sagte sie nervös. »Irgendwohin. bloß weg von hier!«

Ich lenkte meinen Wagen in den Verkehr. Wir ließen den Embarcadero hinter uns. Eine gute halbe Meile fuhren wir, ehe sie wieder sprach. Ihre Stimme war hart und gezwungen. »Sie wollten sich nach den Briefen umtun?«

Überrascht sah ich sie an. So leicht hatte ich’s mir nicht vorgestellt. »Haben Sie sie?« fragte ich. Sie antwortete nicht.

»Erpressung ist ein schmutziges Geschäft«, sagte ich. »Sie können dafür mehr Jahre aufgebrummt kriegen, als Sie noch zu leben haben.«

»Ich hab’ die Briefe nicht, Mister Carey«, sagte sie. »Aber ich weiß, wer sie hat.« Dann stiegen ihr die Tränen in die Augen. »Der Teufel soll Tony und seine arme Seele holen«, sagte sie zornig. »Ich hätte nie auf ihn hören dürfen. Ich hätte diese verfluchten Briefe gleich verbrennen sollen, als er sie mir gegeben hat.«

Ich fuhr den Wagen an die Bordschwelle und stellte den Motor ab. »Wer hat sie?«

Sie betupfte sich die Augen mit ihrem Taschentuch. Sie sah mich nicht an. »Mein Bruder.«

»Wo ist er? Ich möchte mit ihm sprechen.«

Sie sah mich noch immer nicht an. »Ich weiß nicht. Ich habe sie ihm Freitag abend gegeben. Seitdem habe ich ihn nicht gesehen.«

»Sie haben sie ihm gegeben?«

»Ja. Er hat sie mir abgeschwindelt. Er kam um halb elf in meine Wohnung und sagte, Tony schicke ihn, er wolle die Briefe haben. Natürlich hab’ ich sie ihm gegeben. Ich war froh, sie wieder los zu sein. Dann um elf hörte ich am Fernseher die Nachrichten - und da wußte ich, was er damit vorhatte.«

»Woher wußten Sie das?«

Sie sah mich an. »Lorenzo war genau wie Tony. Immer mit einem Auge nach der fetten Beute schielend. Er war in meiner Wohnung, als mir Tony die Briefe gab. Er hörte auch, was Tony darüber sagte. Ich wollte sie gleich verbrennen, aber Tony ließ mich nicht. >Diese Briefe sind unsere Versicherungspolice<, sagte er. >Wenn ich diese Alte erst einmal loswerde, dann sind die Briefe meine Garantie dafür, daß wir bis an unser Ende genug zu leben haben.< Tony konnte mich zu allem überreden. Darin war er ganz groß. Und immer war’s >der große Wurf<. Morgen. Und Geld. Als er anfing, für Ihre Frau zu arbeiten, sagte er, es sei nur eine Frage der Zeit. Er könne sie nicht ausstehen. Ihm würde schon übel, wenn er sie anfassen müßte. Aber sie sei verrückt nach ihm. Aber wenn’s soweit wäre, dann würde auch das Geld dasein. Immer das Geld. Zu mir in meine Wohnung kam er immer nur, um von ihr weg zu sein.«

»Haben Sie die Briefe gelesen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Er gab sie mir in einem großen braunen Kuvert. Es war versiegelt.«

»Hat er jemals zu Ihnen etwas von meiner Tochter gesagt?«

»Nein. Halt, warten Sie. ja doch. Einmal. Vielleicht vor einem Jahr. Er sagte, die Kleine würde schnell groß, und wenn die Mutter nicht aufpaßte, wäre mit einemmal ’ne richtige Schönheit in der Familie. Und das würde der Alten gar nicht passen.«

»Etwas anderes hat er nie gesagt?«

»Nein, weiter nichts.«

»Weiß außer Ihnen und Ihrem Bruder noch jemand etwas von den Briefen? Tonys Brüder?«

»Tony und seine Brüder standen sich wie Hund und Katze. Sie hielten ihn für einen Taugenichts, und er meinte, sie seien bloß arme Luder. Ihnen hätte er so was nie erzählt.«

Ich zündete mir eine Zigarette an.

»Hat Lorenzo Sie angerufen?« fragte sie.

»Nein. Er hat meiner früheren Schwiegermutter einen Brief geschrieben. Daß er die Briefe gelesen hat, und wenn sie sie haben wollte, müsse sie ihm viel dafür zahlen.« Ich sah sie an. »Wo wohnt Ihr Bruder? Vielleicht treffen wir ihn zu Hause an?«

Sie lachte. »Denken Sie, das hätte ich nicht längst versucht? Ich bin dort gewesen. Seine Wirtin sagte, er ist Freitag noch spätabends ausgezogen. Sie weiß nicht, wohin.«

»Hat er eine Freundin?«

Sie schüttelte den Kopf. »Er läuft mit vielen herum, aber ich kenne keins seiner Mädchen. Als meine Mutter vor zwei Jahren starb, ist Renzo ausgezogen. Ich sehe ihn nur, wenn er Geld braucht.«

»Sie leben allein?« fragte ich. Sie nickte, plötzlich fing sie an zu weinen. »Ich dachte immer, Tony würde eines Tages heimkommen.«

Er ist heimgekommen, dachte ich, aber nicht so, wie sie es gehofft hatte. »Es tut mir aufrichtig leid, Miss Stradella.«

»Das braucht es nicht. Ich weine nicht um Tony. Das war schon lange vorbei. Ich wußte es, wenn’s auch sein Vater nicht wußte. Jetzt wird Steve sich vielleicht offen mit uns aussprechen. Das hat er nicht mehr gewagt, solange Tony lebte.«

Ich dachte an den düsteren jungen Mann, den ich im Bestattungsinstitut gesehen hatte. Ich hatte gleich gedacht, daß vielleicht irgendeine Bindung zwischen ihm und ihr bestand, weil er sie so beschützend am Arm gehalten hatte. »Sicher wird er das tun.«

Sie trocknete ihre Augen. »Was werden Sie jetzt wegen Renzo unternehmen?«

»Nichts«, sagte ich, »wenn ich ihn finde und die Briefe bis Donnerstag wiederbekomme.«

»Und wenn das nicht klappt?«

Ich sprach so hart ich konnte. »Am Donnerstag wird Mrs. Hayden mit ihm verhandeln. Wenn sie sich treffen und er ihr die Briefe gegen Geld übergeben will, werde ich mit der Polizei dort sein.« Sie saß einen Augenblick ganz still und dachte nach. »Wo kann ich Sie morgen nachmittag erreichen?«

»Ich werde sicher unterwegs sein müssen. Besser, ich rufe Sie an, Miss Stradella.«

»Okay.« Sie zog ein kleines Notizbuch aus ihrer Handtasche, schrieb eine Telefonnummer auf, riß das Blatt aus und gab es

mir. »Das ist meine eigene Nummer. Rufen Sie mich dort um vier an. Ich werde versuchen, Renzo für Sie zu finden.«

»Was denkst du, Sally?« fragte Marian Spicer, während sie die beiden Kaffeekännchen für Miss Jennings und sich auf den Schreibtisch stellte. »Ist das Kind wirklich gestört?«

Die Psychologin nahm einen Schluck Kaffee. »Natürlich ist sie gestört. Wenn sie’s nicht wäre, hätten wir sie nicht hier. Jedoch wieweit, das ist schwer zu sagen. Wenn du mich fragst, ob sie schwer gestört ist, ob sie Anlagen zu Paranoia zeigt, so würde ich nein sagen. Nein, meines Erachtens nicht. Wenigstens keine, die ich bis jetzt hätte entdecken können. Natürlich besteht immer die Möglichkeit, daß sie sich später zeigen.«

»Sie spricht noch immer nicht?«

»Nicht viel. Eins habe ich allerdings erfahren.«

Marian sah sie fragend an.

»Viel ist es nicht. Aber zumindest ein Punkt, an dem man ansetzen kann. Dani scheint es bitter nötig zu haben, sich zu vergewissern, daß ihre Mutter sie liebt.«

»Das deutet auf ein gewisses Schuldgefühl ihrer Mutter gegenüber hin.«

Die Psychologin lächelte. »Aber, aber Marian! Du weißt viel zuviel, um tatsächlich solche Schlüsse zu ziehen. Ein gewisses Schuldgefühl den Eltern gegenüber ist unvermeidlich.«

»Ich meine Schuldgefühl. aus einem ganz besonderen Grund.«

»In Wirklichkeit meinst du, daß sich Dani schuldig fühlt, weil

sie ihrer Mutter den Liebhaber weggenommen hat?«

»Ja. Zuerst sexuell, dann physisch. durch den Tod.«

Sally Jennings zündete sich eine Zigarette an und trank noch einen Schluck Kaffee. »Ein Teil davon stimmt natürlich. Aber das ist neuen Datums und nicht unbedingt schlüssig. Wir suchen etwas Grundlegendes, etwas, das tief in Dani begraben ist - etwas, das sie ungern wissen lassen möchte. Wenn wir das aus ihr herausbringen können, dann hätten wir wenigstens eine Ahnung, welchen Weg wir einzuschlagen haben.«

»Richter Murphy hat veranlaßt, daß ich Einblick in die Scheidungsakten ihrer Eltern nehmen konnte.«

»So?« Sally zog die Brauen hoch. »Und was hast du darin gefunden?«

»Nicht viel. Du weißt ja, wie diese Dinge laufen. Alles wird bestens zurechtfrisiert, ehe sie vor Gericht kommen. Aber eins war auffallend: Als der Termin fast vorbei war, versuchte Danis Mutter, Colonel Carey jede Möglichkeit zu nehmen, das Kind zu sehen.«

»Das ist eigentlich nicht ungewöhnlich. Jeder Teil der Eltern ist auf den andern eifersüchtig.«

»Aber sie gab einen Grund an, der wirklich die Höhe war: Sie hat behauptet, Colonel Carey sei überhaupt nicht Danis Vater.«

Sally dachte einen Augenblick nach.

»An was denkst du, Sally?«

»Nicht daran. Das überrascht mich nicht. Mich kann nichts mehr überraschen, wenn zwei Eltern sich vor dem Scheidungsrichter auseinandersetzen. Ich denke darüber nach, ob Dani etwas davon weiß.«

»Hältst du es für möglich?«

»Kinder verstehen es, auch die bestgehüteten Geheimnisse herauszubringen. Wenn sie es weiß, sind wir vielleicht auf einer

völlig falschen Spur.« Sally blickte die Bewährungshelferin an. »Wenn sie nur nicht so verkrampft wäre. Dann wüßte ich wenigstens, was ich vorschlagen könnte.«

»Und wenn sie nicht spricht.«

»Die Antwort auf diese Frage kennst du so gut wie ich, Marian. Dann muß ich sie auf neunzig Tage nach Perkins zur Beobachtung schicken.« Marian schwieg.

»Etwas anderes kann ich gar nicht tun. Wir dürfen keinerlei Risiko laufen. Wir müssen sicher sein, daß das Kind nicht wirklich gestört ist, keine Anlage zu echter Geisteskrankheit zeigt, ehe wir es wieder in ein Leben zurücklassen, das auch nur einigermaßen einem normalen Dasein gleicht.«

Marian hörte die Enttäuschung in Sallys Stimme. »Vielleicht wird es nicht nötig sein, Sally. Vielleicht wird sie heute nachmittag wenigstens anfangen zu sprechen.«

»Ich hoffe es«, sagte Sally mit Nachdruck. »Wann gehst du zu Danis Mutter?«

»Heute nachmittag. Und nun muß ich mich beeilen.«

Am Nachmittag folgte Marian dem Diener durch die große Halle, an einer herrlich geschwungenen Marmortreppe vorbei durch einen Flur, der zu einem anderen Flügel des Hauses führte. Was für ein schönes Haus, dachte sie, wie anders als die Behausungen, in die ihre Nachforschungen sie gewöhnlich führten. Alles hier deutete auf einen sicheren künstlerischen Geschmack der Menschen, die hier wohnten.

Am Ende des Ganges öffnete der Diener eine Tür. »Bitte, treten Sie ein, Madam. Miss Hayden erwartet Sie.«

Das Atelier war groß und sonnig, die Nordwand ganz aus Glas. Marian konnte den Hafen sehen, die Bay Bridge und dahinter Oakland.

Nora arbeitete vor dem Fenster; sie hatte einen funkensprühenden Schweißbrenner in der Hand. Ihr Gesicht war von einer schweren Schutzmaske verdeckt. Sie trug einen ausgeblichenen, fleckigen Overall und dicke Handschuhe. Sie sah zu Marian hinüber. »Einen Augenblick bitte«, sagte sie. »Ich komme gleich.« Ihre Stimme war durch die Maske gedämpft.

Marian nickte und beobachtete sie. Sie arbeitete mit dünnen Stahlbändern, die sie rasch und gewandt auf ein Metallgerippe schweißte. Der Umriß war noch zu undeutlich, als daß Marian hätte erkennen können, was es werden sollte. Sie drehte sich um und hielt im Atelier Umschau. Auf den Tischen standen Skulpturen und Statuen, alle in verschiedenen Arbeitsstadien. Holz, Stein, Metall, Draht. Alles, was sich durch eine menschliche Hand formen läßt. An einer großen Wand eine Reihe gerahmter Fotos und Skizzen. Marian ging hin und betrachtete sie.

Da war eine große Kohleskizze, der Originalentwurf für den > Sterbenden Manne, der jetzt in New York im Guggenheim-Museum stand. Daneben ein Foto der >Frau im Netze, mit der sie den Eliofheim-Preis gewonnen hatte. Höher an der Wand ein Riesenfoto des steinernen Basreliefs friedlich ist die Welt der Frauc, das ihr die Vereinten Nationen in Auftrag gegeben hatten. Außerdem mehrere Skizzen und Fotos von Werken, die Marian nicht kannte.

Sie hörte ein metallisches Geräusch und sah sich um. Nora löschte die Flamme des Schweißbrenners. Mit einem zischenden blauen Strahl ging sie aus, dann legte Nora den Brenner beiseite. Sie schob die Maske hoch und zog die Handschuhe aus. »Es tut mir leid, daß ich Sie aufgehalten habe, Miss Spicer. Aber manche Dinge können einfach nicht warten.«

Marian antwortete nicht. Sie wartete auf die nächste Frage. Die unvermeidliche. Wie geht es Dani? Sie kam nicht.

Statt dessen zog Nora die Maske vollends ab. Ihre Hände hinterließen dabei einen schwarzen Fleck auf ihrer Wange. »Ich bin mit meiner Arbeit zurück. Die ganze Affäre hat meine Arbeitseinteilung umgeworfen.« »Ich werde mich bemühen, Sie nicht lange aufzuhalten«, sagte Marian.

Nora sah sie an. Marian wußte nicht, ob sie den Sarkasmus ihrer Antwort erfaßt hatte. »Wir können Tee trinken, während wir uns unterhalten.« Sie drückte auf einen Klingelknopf in der Nähe ihrer Werkbank.

Unmittelbar darauf trat der Diener in die Tür. »Bitte, Madam?«

»Wir möchten Tee, Charles.«

Er nickte und schloß die Tür. Nora ging zu einer kleinen Couch, die mit einem Teetisch und ein paar Sesseln als Plauderecke eingerichtet war. »Bitte, setzen Sie sich.«

Marian setzte sich ihr gegenüber.

»Ich nehme an, Sie wollen mit mir über Dani sprechen.«

Marian nickte.

»Ich weiß wirklich nicht, was ich Ihnen sagen soll.« Nora nahm sich eine Zigarette aus einem Kästchen auf dem Teetisch. »Dani ist nämlich ein höchst alltägliches Kind.«

Marian wußte nicht, ob Nora dies als positives oder negatives Urteil meinte. Es klang fast, als betrachte sie Dani als eine Art von Versager. »Die >Alltäglichkeit< ist bei jedem Kind verschieden«, sagte sie. »Wir haben bereits festgestellt, daß Dani ein hochintelligentes und aufnahmefähiges Kind ist.«

Nora sah sie an. »Wirklich? Nun, es freut mich, das zu hören.«

»Es scheint Sie zu überraschen?«

»Gewissermaßen ja«, gab Nora zu. »Aber ich glaube, daß Eltern selten die Fähigkeiten ihrer Kinder richtig erkennen.«

Marian antwortete nicht. Interessierte Eltern erkennen die Fähigkeiten ihrer Kinder. »Bitte, erzählen Sie mir etwas über Danis Betragen zu Hause. Über ihr Betragen in der Schule bin ich schon ziemlich im Bilde.«

Nora sah Marian neugierig an. »Waren Sie heute vormittag schon in Miss Randolphs Schule?«

Marian nickte. »Dort ist sie anscheinend sehr beliebt. Sowohl die Lehrer wie die Mitschülerinnen halten sie für ein besonders nettes Mädchen.«

Sie fügte nicht hinzu, daß alle in der Schule es als sonderbar bezeichnet hatten, wie wenig Interesse Dani an dem üblichen Tun und Treiben der anderen Mädchen zeigte. Sie galt als Einzelgängerin. Sie schien die Gesellschaft Erwachsener der ihrer Altersgruppe vorzuziehen, obwohl sie bei Partys und kleinen Tanzgesellschaften bereitwillig mitmachte.

»Es freut mich, das zu hören«, sagte Nora wieder.

Der Diener kam herein. Sie schwiegen, während er den Tee servierte. Als Charles sich mit einer Verbeugung entfernt hatte, blickte Nora fragend zu Marian. »Wo soll ich anfangen?«

»Wo es Ihnen beliebt. Je mehr wir über Dani wissen, um so besser sind wir in der Lage, ihr zu helfen.«

Nora nickte. »Dani hat hier zu Hause ein sehr alltägliches Leben geführt. Bis vor vier Jahren hatte sie eine Nurse - eine Gouvernante, die seit ihrer Babyzeit bei ihr war. Dann meinte Dani, sie sei nun zu alt für so etwas, und ich entließ die Frau.«

»Fand Dani das?« fragte Marian. »Traf sie die Entscheidung?«

»Ja. Sie merkte, daß sie kein Kind mehr war.«

»Wer hat sie seitdem beaufsichtigt?«

»Dani war immer sehr selbständig. Violet, das ist meine Zofe, kümmerte sich um ihre Kleidung, genau wie um die meine. Sonst schien Dani keiner besonderen Aufmerksamkeit zu bedürfen.«

»Ist sie viel ausgegangen?« fragte Marian. »Ich meine mit Jungen und Mädchen ihres Alters?«

Nora dachte einen Augenblick nach. »Nicht daß ich mich erinnern könnte. Ich bin freilich immer sehr beschäftigt gewesen, wie Sie wissen. Ich habe mich nicht viel um Danis geselliges Leben gekümmert. Ich dachte oft daran, wie lästig es mir immer war, daß meine Mutter ständig fragte, wo ich gewesen sei. Das wollte ich Dani nicht antun. Vor ein paar Monaten kam sie einmal von einer Party, und ich fragte sie, wie es gewesen war. Sie antwortete mir: >Recht nett<, aber als ich weiterfragte, was sie denn getan hätten, sagte sie, nun das, was sie immer täten. Getanzt und Spiele gespielt. Dann sah sie mich ein bißchen sonderbar an und sagte mürrisch: >Du kennst doch den Rummel, Mutter. Alle möglichen Spiele. Und die sind so dumm und kindisch, daß sie mich schrecklich langweilen.< Ich verstand ganz genau, was sie sagen wollte. Mir war es in ihrem Alter ebenso gegangen.«

»Wie kam sie mit Mister Riccio aus?« fragte Marian.

Nora warf ihr einen sonderbaren Blick zu. »Sehr gut«, sagte sie schnell. Viel zu schnell, dachte Marian. Sie meinte jetzt etwas Ausweichendes in Noras Stimme zu hören. »Sie mochte Rick sehr gern. Aber schließlich. ich glaube, sie hat meine Freunde immer lieber gemocht als ihre eigenen.«

»Männliche Freunde, meinen Sie?«

Nora zögerte, dann nickte sie. »Ich glaube, ja. Ich habe infolge meiner Arbeit nicht viele Freundinnen.«

»Meinen Sie, Dani könnte sich irgendwie besonders an Mister Riccio angeschlossen haben?«

Wieder das unmerkliche Zögern. »Möglich ist es schon. Anscheinend hat Dani immer Männer lieber gehabt. Ich erinnere mich, wie gern sie meinen zweiten Mann hatte. Und als Rick ins Haus kam, hat sie das Gefühl vielleicht auf ihn übertragen. Ich glaube, es war eine Art Vaterkomplex.«

Marian nickte.

»Ihr Vater besuchte Dani nicht mehr, als sie ungefähr acht Jahre war. Sie hat sich schrecklich darüber aufgeregt. Obwohl ich ihr hundertmal erklärte, warum er nicht mehr kam.« »Darauf war ich neugierig«, sagte Marian. »Was war, genau gesagt, der Grund, daß er nicht mehr kam?«