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Harold Robbins Wohin die Liebe führt

ROMAN

Das Buch

Di»Wohin die Liebe führt« ist ein Roman, der ein ungewöhnliches Thema mit ebenso ungewöhnlicher Meisterschaft psychologischer Einfühlung und stilistischen Könnens behandelt: Die Geschichte der von Unheil überschatteten Bindung zweier Menschen. Diese Geschichte läßt der Autor den ehemaligen Fliegeroberst Luke Carey erzählen. In einem nächtlichen Telefonanruf erfährt er, daß seine vierzehnjährige Tochter aus erster Ehe einen Mord begangen hat - an dem Liebhaber ihrer Mutter. Carey, entschlossen, seiner Tochter zu helfen, eilt dorthin, wo vor vielen Jahren das Unheil seinen Anfang genommen hat. Wieder muß er hinabtauchen in die Abgründe seines früheren Lebens, seiner selbstzerstörerischen Ehe mit der reichen, kunstbesessenen und gierig sinnlichen Nora.

In packender, vorangetriebener Handlung in der Rückschau werden die Hauptpersonen des dramatischen Geschehens lebendig: Luke Carey, der sein zerstörtes Leben wieder aufzubauen versucht; seine Tochter Dani, hilflos ausgeliefert einer trügerischen Scheinwelt der Erwachsenen; ihre hemmungslose Mutter Nora, die nichts kennt als sich und ihre Kunst; Danis Großmutter, die ein Riesenvermögen zu lenken verstanden hat, nicht aber ihre egozentrische Tochter Nora; Elizabeth, Careys zweite Frau, die ihren Mann den gefährlichen Weg zurück machen läßt, nicht nur, damit er seiner Tochter hilft, sondern auch in der Hoffnung, daß er aus der Begegnung mit der Vergangenheit geläutert zu ihr heimfindet. Der Erfolgsautor Harold Robbins schrieb mit »Wohin die Liebe führt« einen großen Roman von den Lügen und Lastern unserer Zeit, aber auch von Menschlichkeit, Gerechtigkeit und Herzensgüte.

Der Autor

Der Amerikaner Harold Robbins, 1916 in New York geboren, hat sich als Filmproduzent und Schriftsteller Mitte der fünfziger Jahre einen Namen gemacht. Seit 1959 arbeitet er ausschließlich als freier Autor. Robbins erwies sich als realistischer, zeitnaher und häufig schockierender Erzähler.

Für Lil

»... jedem Jugendlichen, der unter der Gerichtsbarkeit des Jugendgerichts steht, so viel Sorgfalt und Führung - vorzugsweise in seinem eigenen Heim - angedeihen zu lassen, wie dies seinem seelischen, gefühlsmäßigen, geistigen und körperlichen Wohl und zugleich den vornehmsten Interessen des Staates dienlich ist; die familiären Bande des Jugendlichen, wenn immer möglich, aufrechtzuerhalten und zu verstärken und ihn der Obhut seiner Eltern nur dann zu entziehen, wenn sein Wohl und seine Sicherheit und zugleich der Schutz der Öffentlichkeit ohne eine solche Trennung nicht angemessen gewahrt werden können; wird der Jugendliche von seiner Familie getrennt, ihm die Pflege, Fürsorge und Erziehung soweit als möglich in dem entsprechenden Maße zuteil werden zu lassen, wie ihm dies seine Eltern hätten geben müssen.«

Paragraph 502, Kapitel 2, des >Welfare and Institute Code of the State of Californiac.

Erster Teil:

Colonel Careys Geschichte

Freitag nacht

l

Es war ein Tag für Versager.

Vormittags verlor ich meinen Job. Nachmittags beim Baseball schlug Maris den Ball ins Außenfeld, und während die Fernsehkameras ihm beim Lauf von einem Mal des Spielfelds zum anderen folgten, bekam man auch die verschiedenen Gesichter des »Cincinnati Reds« mit und merkte ihren Mienen an, daß es aus war mit der Meisterschaft, trotz der Tatsache, daß noch vier Spiele fällig waren. Und nachts läutete das Telefon und holte mich aus meinem Bett; schlaflos hatte ich an die grauschwarze Decke gestarrt und versucht, sehr leise zu sein - und dabei zu Elizabeth hinübergehorcht, die sich im anderen Bett schlafend stellte.

Die unpersönliche Stimme der Fernamtvermittlung, singend, hohl: »Mister Luke Carey büüüüte. Ferngespräch.«

»Bin am Apparat«, sagte ich.

Aber jetzt hatte Elizabeth ihre Nachttischlampe angeknipst. Sie saß aufrecht im Bett, das lange blonde Haar fiel über ihre nackten Schultern. »Wer ist es?« flüsterte sie.

Ich legte meine Hand über die Sprechmuschel. »Weiß nicht«, sagte ich rasch. »Fernruf.«

»Vielleicht der Job in Daytona«, sagte sie voller Hoffnung, »wo du hingeschrieben hast.«

Eine Männerstimme im Telefon. Mit leichtem Anklang an das westliche Genäsel. »Mister Carey?«

»Ja.«

»Mister Luke Carey?«

»Jawohl.« Ich fing an, ärgerlich zu werden. Wenn jemand das für sehr witzig hielt - ich war anderer Meinung.

»Hier spricht Sergeant Joe Flynn von der Polizei in San Francisco.«

Jetzt war der Akzent schon stärker. »Haben Sie eine Tochter, die Danielle heißt?«

Ein jähes Gefühl der Angst zog mir den Magen zusammen.

»Ja, so heißt meine Tochter«, sagte ich schnell. »Ist etwas passiert?«

»Das kann man wohl sagen«, kam langsam die Antwort. »Sie hat soeben einen Mord begangen.«

Mit Reaktionen ist es merkwürdig. Einen Augenblick hätte ich beinahe laut gelacht. Ich hatte schon ihren überfahrenen, blutigen Körper irgendwo auf einer einsamen Landstraße gesehen. Ich biß mir auf die Zunge, um die Worte: Weiter nichts? zu unterdrücken. Statt dessen fragte ich laut: »Was ist mit ihr?«

»Sie ist okay«, sagte die Stimme des Sergeants.

»Kann ich mit ihr sprechen?«

»Nicht vor morgen früh«, antwortete er. »Sie mußte zum Jugendgewahrsam .«

»Ist ihre Mutter anwesend?« fragte ich. »Kann ich mit ihr sprechen?«

»Ausgeschlossen«, sagte er. »Sie ist oben in ihrem Zimmer -hysterischer Anfall. Ich denke, der Arzt gibt ihr gerade eine Spritze.«

»Ist nicht irgendwer da, den ich sprechen kann?«

»Mister Gordon fährt mit Ihrer Tochter zum Jugendgewahrsam.«

»Ist das Harris Gordon?« fragte ich.

»Stimmt«, antwortete er. »Der Rechtsanwalt. Große Nummer. Er hat mich auch beauftragt, Sie anzurufen.«

Harris Gordon. Anwalt. Die große Nummer. So nannten sie ihn dort. Der beste, der zu haben war. Und der teuerste. Ich wußte Bescheid. Er hatte Nora bei unserer Scheidung vertreten und meinen Anwalt einfach lächerlich gemacht. Mir wurde wieder etwas besser. Ganz so hysterisch war Nora also nicht, sonst hätte sie ihn nicht angerufen.

In die Stimme des Polizisten kam ein neugieriger Tonfall. »Wollen Sie nicht wissen, wen Ihre Tochter umgebracht hat?«

»Ich glaube es einfach noch nicht«, sagte ich. »Danielle kann keinem Menschen etwas antun. Sie ist noch nicht einmal fünfzehn.«

»Sie hat ihn aber richtiggehend umgebracht«, sagte er nüchtern.

»Wen?«

»Tony Riccio«, sagte er. In seiner Stimme war jetzt etwas Häßliches. »Den Liebhaber Ihrer Frau.«

»Sie ist nicht meine Frau«, sagte ich. »Wir sind seit elf Jahren geschieden.«

»Sie hat ihn mit so einem Meißel umgebracht, wie ihn Ihre Frau in ihrem Atelier hat. Scharf wie ein Rasiermesser. Glatt in den Bauch. Das Ding hat ihn aufgerissen wie ’n Bajonett. Das ganze Zimmer voll Blut.« Ich glaube, er hatte gar nicht hingehört, was ich gesagt hatte. »Scheint mal wieder so ’n Fall zu sein, wo der Mann es mit beiden treibt und die Kleine eifersüchtig wird.«

Mir stieg der Ekel in die Kehle. Ich schluckte hart und würgte ihn herunter. »Ich kenne meine Tochter, Sergeant«, sagte ich. »Ich weiß nicht, warum sie ihn getötet hat - und ob sie’s überhaupt getan hat -, aber wenn’s wirklich so sein sollte, so wette ich meinen Kopf, daß das nicht die Ursache war.«

»Sie haben sie länger als sechs Jahre nicht gesehen«, sprach er beharrlich weiter. »Kinder können sich verändern in sechs Jahren. Sie wachsen heran.«

»Nicht zu einer Mörderin«, sagte ich. »Nicht Danielle!«

Ich hängte ein, ehe er noch ein Wort sagen konnte, und wandte mich zum Bett.

Elizabeth starrte mich an, ihre blauen Augen weit aufgerissen.

»Hast du das gehört?«

Sie nickte, stieg rasch aus dem Bett und zog ihren Morgenrock an.

»Aber ich kann’s nicht glauben.«

»Ich auch nicht«, sagte ich matt. »Sie ist noch ein Kind. Sie ist erst vierzehneinhalb.«

Elizabeth faßte meine Hand. »Komm mit in die Küche. Ich koche uns erst einmal Kaffee.«

Wie in einem Nebel saß ich da, bis sie mir die Tasse mit dem heißen Kaffee in die Hand drückte. Ich war in dem Zustand, in dem der Mensch an tausend Dinge und in Wirklichkeit an nichts denkt. Wenigstens an nichts, was haftenbleibt. Vielleicht an Nebensächlichkeiten. Wie ein kleines Mädchen zum erstenmal in den Zoo gehen durfte. Oder über die Gischtflocken lachte, die in La Jolla von der See heraufspritzten. Und die Kinderstimme... »Es ist so lustig, auf einem Boot zu leben, Daddy! Warum kann Mami nicht runterkommen und mit dir in dem Boot wohnen, statt in dem großen alten Haus oben auf dem Berg in San Flan-cisco?«

Ich mußte innerlich beinahe lächeln, als ich mich daran erinnerte, wie Danielle damals San Francisco ausgesprochen hatte -San Flancisco. Nora ärgerte sich immer darüber. Nora sprach stets so korrekt. Nora war in allem korrekt. In allem, was die Leute sehen konnten. Sie war eine Lady, nach außen hin.

Nora Marguerite Cecilia Hayden. In ihr floß das stolze Blut der spanischen Dons des alten Kalifornien, das heiße Blut der Iren, die einst die Gleise der Eisenbahnen nach dem Westen gelegt hatten, das Eiswasser aus den Adern der Bankiers von Neuengland. Diese drei Sorten zusammengerührt - das ergab eine Lady. Und eine seltsame, wilde, starke Begabung, die sie hoch über alle andern hinaushob. Denn was Nora auch berührt, Stein oder Metall oder Holz, es nimmt Gestalt an, bekommt ein eigenes Leben. Und was sie anrührt, das eine Gestalt hat, ein eigenes Leben, das zerstört sie. Ich wußte es. Weil ich wußte, was sie aus mir gemacht hatte.

»Trink deinen Kaffee, solange er heiß ist, Luke.«

Ich sah auf. Elizabeths Augen sahen mich fest an. Ich trank mit kleinen Schlucken und fühlte, wie die Wärme in die Kälte hineinkroch, die in mir gewesen war.

»Danke.«

Sie saß mir gegenüber. »Du warst weit weg.«

Ich zwang meine Gedanken zurück zu ihr. »Ich habe nachgedacht.«

»Über Danielle?«

Ich nickte stumm, spürte ein Schuldgefühl in mir aufsteigen. Auch das war so eine Eigenheit von Nora: einem ins Hirn kriechen und sich die Gedanken aneignen, die jemand anderem gehörten.

»Was wirst du tun?« fragte Elizabeth.

»Ich weiß nicht. Ich weiß nicht, was ich tun soll.«

Ihre Stimme war warm und herzlich. »Das arme kleine Ding.«

Ich sagte nichts.

»Wenigstens ist ihre Mutter bei ihr.«

Ich lachte bitter. Nora war niemals bei einem andern. Nur bei sich selbst. »Nora hatte einen hysterischen Anfall; der Arzt hat sie für die Nacht außer Gefecht gesetzt.«

Elizabeth sah mich groß an. »Du meinst... Danielle ist allein?«

»Noras Rechtsanwalt ist mit ihr zum Jugendgewahrsam gefahren.«

Elizabeth schaute mich noch einen Augenblick an, dann stand sie auf und ging hinüber zum Geschirrschrank. Sie nahm eine zweite Tasse heraus und holte einen Teelöffel vom Ablaufbrett des Spültisches. Ihre Hand zitterte. Der Löffel fiel klirrend auf den Linoleumboden. Sie wollte ihn aufheben, hielt aber inne. »Verdammt. ich bin so schwerfällig!« schalt sie.

Ich hob ihn auf und nahm einen andern Teelöffel aus der Schublade. Sie goß sich Kaffee ein und setzte sich wieder. »Es ist schon eine widerliche Zeit - so eine Schwangerschaft.«

Ich lächelte ihr zu. »Du bist nicht die einzige, die daran schuld ist. Ich hatte auch etwas damit zu tun.«

Ihre Augen ließen mich nicht los. »Ich komme mir so töricht vor - und so unbrauchbar. Wie ein Klotz. Besonders jetzt.«

»Sei nicht so dumm!«

»Ich bin nicht dumm«, sagte sie. »Du wolltest doch dieses Kind nicht haben. Ich wollte es!«

»Jetzt bist du doch dumm.«

»Du hast eine Tochter, und das genügte dir. Aber ich wollte dir auch ein Kind schenken. Ich war eifersüchtig auf sie, glaube ich. Ich mußte dir beweisen, daß ich doch wenigstens in einer Beziehung geradeso gut bin wie Nora.«

Ich ging um den Tisch und setzte mich neben sie. Sie sah mich unverwandt an. Ich nahm ihr Gesicht in meine Hände. »Du brauchst mir nichts zu beweisen, Elizabeth. Ich liebe dich.«

Plötzlich standen ihre Augen voller Tränen. »Ich sah den Ausdruck in deinem Gesicht, wenn du von Danielle sprachst. Sie fehlte dir. Ich dachte, wenn wir ein Baby haben, wirst du sie weniger vermissen.« Sie nahm meine Hand und führte sie über ihren runden, harten Bauch. »Du wirst unser Baby lieben, nicht wahr, Luke? Nicht weniger lieben als Danielle - ja, Luke?« Ich beugte mich hinunter und legte die Wange an das Leben in ihr. »Du weißt, daß ich es lieben werde«, sagte ich. »Ich liebe sie jetzt schon.«

»Sie wird vielleicht ein Junge sein.«

»Das ist doch gleichgültig«, flüsterte ich. »Ich liebe euch beide.«

Ihre Hände zogen meinen Kopf an ihre Brust und drückten ihn fest dagegen. »Du mußt hin zu ihr«, sagte sie.

Ich entzog mich ihren Armen. »Bist du verrückt? Wenn du in zwei Wochen in die Klinik mußt?«

»Ich komme schon zurecht«, entgegnete sie ruhig.

»Und was wird das kosten? Hast du vergessen, daß ich heute früh meinen Job verloren habe?«

»Wir haben beinahe vierhundert auf der Bank. Und du hast deinen Lohnscheck für die letzte Woche noch in der Tasche.«

»Hundertsechzig.! Die brauchen wir zum Leben. Es kann Wochen dauern, bis ich eine neue Stellung finde.«

»Es sind mit der Düsenmaschine knapp drei Stunden von Chicago nach San Francisco. Und mit dem Rückflug kostet es nicht ganz hundertfünfzig Dollar.«

»Nein. Ich will nicht. Ich kann nicht. Wir brauchen das Geld für die Klinik.«

»Ich hab’ mir’s genau überlegt. Du mußt hin. Ich weiß es; denn genauso würde ich es haben wollen, wenn Danielle unser Kind wäre.« Sie griff nach dem Telefon an der Wand. »Du gehst hinauf und packst, ich rufe inzwischen den Flughafen an. Und zieh deinen dunkelgrauen Flanellanzug an. Es ist der einzige anständige Anzug, den du hast, Luke.«

Ich stierte in die offene Reisetasche, als Elizabeth hereinkam.

»Um zwei Uhr dreißig geht ein Flugzeug von O’Hare«, sagte sie. »Es hat nur eine Zwischenlandung, und du bist schon um vier Uhr morgens in San Francisco. Küstenzeit.«

Noch immer sah ich die kleine Segeltuchtasche an. Ich war wie betäubt. Erst allmählich kam mir zu Bewußtsein, was dieser Anruf bedeutete.

»Rasch - du kannst dich noch duschen«, sagte sie. »Ich packe inzwischen.«

Ich sah sie dankbar an. Man brauchte Elizabeth nie um etwas zu bitten. Sie wußte immer das Rechte.

Ich ging ins Badezimmer.

Hier sah ich mein Gesicht im Spiegel. Tiefe Löcher unter meinen Augen - sie schienen geradezu in ihre Höhlen gesunken. Ich griff nach meinem Rasierzeug. Meine Hand zitterte immer noch. »Das ganze Zimmer voll Blut.« Die Worte des Polizisten fielen mir ein. Zum Teufel mit dem Rasieren. Das konnte ich noch morgens tun. Ich ging unter die Dusche und drehte sie so stark wie möglich auf.

Als ich hinauskam, war die Reisetasche schon gepackt und zugemacht. Ich ging zum Schrank.

»Ich habe deinen Anzug eingepackt«, sagte Elizabeth. »Im Flugzeug kannst du Sporthose und Sportjacke tragen. Es hat keinen Sinn, den Anzug zu zerknittern.«

»Okay.«

Als ich gerade meinen Schlips gebunden hatte, klingelte das Telefon. Elizabeth nahm ab. »Es ist für dich.«

Sie reichte mir den Hörer.

»Hallo!«

Niemand brauchte mir zu sagen, wer am andern Ende des Drahtes war. Ich hätte diese ruhige Stimme überall erkannt. Meine frühere Schwiegermutter. Wie gewöhnlich verlor sie keine Zeit mit langen Vorreden. »Mister Gordon, unser Anwalt, meint, es wäre keine schlechte Idee, wenn du herkämst.«

»Wie geht es Danielle?«

»Gut«, antwortete die alte Dame. »Ich habe mir erlaubt, für dich und deine Frau eine Suite im >Mark Hopkins< zu bestellen. Wenn du dir die Billetts im Flughafen abholst, telegrafiere mir deine Flugnummer. Ich schicke einen Wagen hin.«

»Nein, vielen Dank.«

»Nicht der richtige Augenblick, den Stolzen zu spielen«, sagte sie etwas verstimmt. »Ich kenne deine finanzielle Lage, aber mir erscheint das Wohl deiner Tochter doch erheblich wichtiger.«

»Danielles Wohl war immer wichtiger.«

»Warum kommst du dann nicht?«

»Ich sagte nichts von Nichtkommen. Ich sagte nur nein zu deinem Angebot. Ich kann meinen Aufenthalt selbst bezahlen.«

»Immer noch der gleiche. Wirst du jemals anders werden?«

»Und du selbst?« erwiderte ich.

Einen Augenblick blieb es stumm, dann kam ihre Stimme wieder, etwas kälter, etwas klarer. »Mister Gordon möchte gern mit dir sprechen.«

Seine Stimme war warm und herzlich. Sie würde jeden täuschen, der ihn nicht kannte. Hinter diesem freundlichen Klang arbeitete ein Verstand wie eine stählerne Falle. »Nun, wie geht’s, Colonel Carey? Schon lange her, nicht wahr?«

»Ja«, sagte ich. Elf Jahre seit meiner Scheidung. Aber ich brauchte ihn nicht daran zu erinnern. Er wußte sicher die Zeit auf die Minute genau. »Wie geht es Dani?«

»Es geht ihr gut, Colonel Carey«, sagte er beruhigend. »Als der Richter sah, in welchem Schockzustand das arme Kind war, gab er sie wieder in meine Obhut. Jetzt ist sie oben, hier bei ihrer Großmutter, und schläft. Der Arzt hat ihr ein Beruhigungsmittel gegeben.« Ob ich ihn leiden konnte oder nicht - ich war froh, daß er uns zur Seite stand.

»Sie muß morgen früh um zehn wieder zum Jugendgewahrsam gebracht werden«, sagte er. »Und ich glaube, es wäre keine schlechte Idee, wenn Sie hier wären und sie begleiten würden.«

»Ich werde dort sein.«

»Sehr gut. Und könnten Sie es möglich machen, früh um sieben hier mit uns zu frühstücken? Es gibt eine Menge Dinge, die wir besprechen müßten - Dinge, die ich lieber nicht am Telefon sagen möchte.«

»Okay - um sieben zum Frühstück.«

Nun kam eine Pause, dann war wieder Mrs. Haydens Stimme da. Anscheinend versuchte die alte Dame, freundlich zu sein.

»Ich freue mich darauf, deine Frau kennenzulernen, Luke.«

»Sie kommt nicht mit.«

Ich hörte ihr die Überraschung an. »Warum nicht?«

»Sie erwartet ein Baby. Es muß jeden Tag kommen.«

Dem war nichts mehr hinzuzufügen, also sagten wir adieu. Aber ich hatte kaum aufgelegt, da läutete das Telefon schon wieder. Noch einmal Harris Gordon.

»Bitte, noch eins, Mister Carey. Bitte, reden Sie mit keinem Reporter. Es ist wichtig, daß Sie sich in keiner Weise äußern, ehe wir alles besprochen haben.« »Ich verstehe, Mister Gordon«, sagte ich und hängte ein.

Elizabeth ging zum Badezimmer. »Ich ziehe mich an, dann fahren wir hinaus nach O’Hare.«

Ich sah sie fragend an. »Meinst du, das ist gut für dich? Ich kann mir doch ein Taxi rufen.«

»Sei nicht so dumm, Luke.« Sie lachte. »Was du auch der alten Dame gesagt hast - es dauert noch gute zwei Wochen.«

Ich fahre gern nachts. Dort, wo das Licht der Scheinwerfer aufhört, ist die ganze Welt zu Ende. Man sieht nicht, wohin man fährt, also ist man sicher, zumindest so weit man sehen kann -und das ist besser als das meiste im Leben. Ich sah den Tacho bis achtzig steigen, dann ging ich herunter auf sechzig. Wir hatten keine Eile. Es war noch nicht einmal Mitternacht.

Wir hatten keine Lust mehr gehabt, zu Hause herumzusitzen und zu warten. Draußen im Flughafen - da waren Menschen, war allerhand Leben. Dort hatte man wenigstens das Gefühl, etwas zu tun, wenn auch tatsächlich gar nichts zu tun war.

Neben mir sah ich ein Streichholz aufflammen; es beleuchtete kurz Elizabeths Gesicht. Dann kam ihre Hand herüber und steckte mir eine Zigarette zwischen die Lippen. Ich nahm einen tiefen Zug.

»Wie ist dir zumute?«

»Okay«, sagte ich.

»Magst du darüber sprechen?«

»Was ist da schon zu sprechen? Dani ist in Not, und ich fahre zu ihr.«

»Du sagst das so, als. als hättest du’s erwartet.«

Ziemlich überrascht sah ich zu ihr hin. Manchmal war sie zu klug. Sie grub sich geradezu in mich hinein und brachte dann Gedanken an die Oberfläche, die ich mir nicht einmal selbst eingestehen wollte. »Das hatte ich nicht erwartet«, sagte ich leise.

Jetzt glimmte auch ihre Zigarette auf. »Was hast du dann erwartet?«

»Ich weiß es nicht.«

Aber auch das war nicht die volle Wahrheit. Ich wußte, was ich erwartet hatte. Daß mich Dani eines Tages anrufen und mir sagen würde, sie wolle bei mir sein. Nicht bei ihrer Mutter. Aber elf Jahre hatten diesen Traum etwas unwirklich werden lassen.

»Meinst du, es war überhaupt etwas dran an dem, was der Polizist andeutete?«

»Ich glaube es nicht«, sagte ich. Dann überlegte ich einen Augenblick. »Wirklich - ich bin ziemlich sicher, daß nichts dran ist. Wenn’s so gewesen wäre, hätte Nora ihn umgebracht. Nora teilt nichts, was ihrer Ansicht nach ihr gehört.«

Elizabeth schwieg, und ich hing meinen Gedanken nach.

Ja, das war Noras Art. Nur eines auf der Welt war ihr wichtig: das zu erhalten, was sie haben wollte. Ich erinnerte mich an den letzten Tag vor Gericht.

Damals war alles schon geregelt. Sie hatte ihre Scheidung. Ich war ruiniert und völlig blank und konnte mich kaum selbst ernähren, während sie alles hatte, was sie sich auf der Welt wünschte. Die einzige offene Frage war noch das Recht auf Danielle.

Wir gingen dazu in das Zimmer des Richters. Verabredungsgemäß handelte es sich nur noch um eine reine Formalität. Wir waren bereits übereingekommen, daß Dani jedes Jahr zwölf Wochenenden und den halben Sommer bei mir in La Jolla auf dem Boot verbringen sollte.

Ich saß auf einem Stuhl dem Richter gegenüber, während mein Rechtsanwalt unsere Vereinbarung erklärte. Der Richter nickte und wendete sich zu Harris Gordon: »Das scheint mir recht und billig, Mister Gordon.«

Ich weiß noch, daß sich gerade in diesem Augenblick Danielle, die weiter hinten im Zimmer Ball spielte, plötzlich umdrehte und rief: »Da, Daddy, fang!«

Der Ball rollte über den Fußboden, und ich kniete nieder, um ihn aufzuheben.

Da hörte ich Harris Gordon antworten: »Nein, Euer Ehren, das ist es keineswegs.«

Ich starrte ihn ungläubig an, noch mit dem Kinderball in der Hand. Wir waren doch gerade gestern zu dieser Einigung gekommen. Ich sah Nora an. Ihre dunkelblauen Augen blickten durch mich hindurch.

Ich rollte den Ball zu Dani zurück.

Harris Gordon fuhr fort: »Meine Klientin steht auf dem Standpunkt, daß Colonel Carey keinerlei elterlichen Rechte hat.«

»Wie meinen Sie das?« schrie ich und richtete mich auf. »Ich bin doch der Vater!«

Gordons dunkle Augen waren undurchdringlich. »Haben Sie es nie sonderbar gefunden, daß das Kind schon sieben Monate nach Ihrer Rückkehr aus Japan geboren wurde?«

Ich gab mir Mühe, Fassung zu bewahren. »Mrs. Carey und ihr Arzt versicherten mir, daß Dani ein Siebenmonatskind sei.«

»Für einen erwachsenen Mann sind Sie reichlich naiv, Colonel Carey.«

Gordon wandte sich wieder an den Richter. »Mrs. Carey wünscht das Gericht dahingehend zu informieren, daß das Kind Danielle sechs oder sieben Wochen vor Colonel Careys Heimkehr aus dem Krieg empfangen worden ist. In Anbetracht dieser Tatsache - Mrs. Carey ist überzeugt, daß Colonel Carey sich dies selbst längst eingestanden hat - fordert sie das alleinige Pflegschaftsrecht über ihre Tochter.«

Ich drehte mich scharf zu meinem Anwalt um: »Wollen Sie

ihnen das durchgehen lassen?«

Mein Anwalt beugte sich zu dem Richter hinüber: »Ich bin erschüttert über diese Haltung Mister Gordons. Euer Ehren müssen bedenken, daß dies gegen die Abmachung ist, die ich erst gestern mit ihm getroffen habe.«

Aus dem Tonfall des Richters hörte ich, daß er ebenfalls erstaunt war, obwohl seine Worte betont unparteiisch klangen. »Ich bedauere, aber Sie müssen in Betracht ziehen, daß das Gericht keine Vereinbarung bestätigen kann, die nicht vor Gericht getroffen worden ist.«

Mit meiner Fassung war es aus. »Zum Teufel mit der Vereinbarung«, schrie ich. »Dann müssen wir eben von vom anfangen und die ganze Sache noch einmal durchfechten!«

Mein Anwalt nahm mich beim Arm und sah den Richter an. »Darf ich mich einen Augenblick mit meinem Klienten beraten, Euer Ehren?«

Der Richter nickte. Wir traten zum Fenster. Dort standen wir, den Rücken zum Zimmer, und sahen hinaus.

»Wissen Sie, was das bedeutet?« flüsterte er. »Sie würden offiziell zugeben, daß Ihre Frau Ihnen Hörner aufgesetzt hat, solange Sie noch in Übersee waren.«

»Nun und? Die ganze Stadt weiß, daß sie sich durch alle Betten von San Francisco durchgeschlafen hat, von Chinatown bis zum Presidio.«

»Hören Sie auf, an sich zu denken, Luke. Denken Sie auch an Ihre Tochter. Wie soll das alles für sie ausgehen, wenn es herauskommt? Daß ihre eigene Mutter sie öffentlich als unehelich erklärt?« Ich sah ihn groß an. »Das wird sie nicht wagen.«

»Sie hat es ja schon getan.«

Diese Antwort war unwiderlegbar. Ich schwieg. Und wieder klang eine kleine Stimme durch das Zimmer: »Fang auf, Daddy!«

Fast automatisch bückte ich mich wieder, um den Ball zu fangen. Danielle kam gelaufen und stürzte sich in meine Arme. Ich hob sie hoch. Sie lachte, ihre dunklen Augen blitzten.

Plötzlich sehnte ich mich danach, sie fest an meine Brust zu drücken. Nora hatte gelogen. Sie mußte - Danielle mußte meine Tochter sein. Ich wußte es in meinem Herzen.

Ich sah durchs Zimmer auf den Richter, den Gerichts schrei -ber, auf Harris Gordon, auf Nora. Alle beobachteten mich - alle bis auf Nora. Sie sah starr auf einen Punkt an der Wand über meinem Kopf.

Ich versenkte mich in das kleine lächelnde Gesicht vor meinen Augen. Ein krankes Gefühl des Besiegtseins stieg in mir hoch. Mein Anwalt hatte recht. Ich durfte es nicht tun. Ich konnte meine Chance nicht wahrnehmen auf Kosten meines Kindes.

»Was können wir machen?« flüsterte ich.

Ich sah das Mitleid im Gesicht meines Anwalts. »Lassen Sie mich mit dem Richter sprechen.«

Ich blieb stehen, Danielle im Arm, während er zum Tisch des Richters hinüberging. Nach ein paar Minuten kam er zurück.

»Sie können sie vier Wochenenden im Jahr haben. Und jeden Sonntagnachmittag zwei Stunden, wenn Sie nach San Francisco herüberkommen. Ist Ihnen das recht?«

»Bleibt mir denn eine Wahl?« fragte ich bitter.

Fast unmerklich schüttelte er den Kopf.

»Okay«, sagte ich. »Mein Gott, wie muß sie mich hassen!«

Mit dem unfehlbaren Instinkt eines Kindes hatte Danielle erfaßt, wovon ich redete. »O nein, das tut sie nicht, Daddy«, sagte sie schnell. »Mami liebt dich. Sie liebt uns beide. Sie hat mir’s gesagt.«

Ich sah hinunter in das kleine Gesicht, es war so ernst, verlangte so sehnsüchtig nach Bestätigung. Ich blinzelte, um die jäh aufsteigenden salzigen Tränen zurückzudrängen. »Natürlich,

mein Liebling«, beruhigte ich sie.

Nora trat auf uns zu. »Komm jetzt zu Mami, Herzchen«, sagte sie, »es ist Zeit zum Heimgehen.«

Danielle sah erst sie an, dann mich. Ich nickte, als Nora ihr die Arme entgegenstreckte. Sie blickte mich jetzt über Danielles Kopf hin zum erstenmal an. In ihren Augen war ein seltsamer Triumph. Derselbe Triumph, den ich in diesen Augen gesehen hatte, wenn sie eine bildhauerische Arbeit beendet hatte, die ihr besonders schwergefallen war. Etwas, dem sie nur mit großer Mühe hatte Gestalt geben können. Plötzlich begriff ich, was Danielle ihr bedeutete. Nicht ein Kind, sondern etwas, das sie selbst geschaffen hatte.

Sie stellte Danielle auf die Füße. Hand in Hand gingen sie zur Tür. Als Nora sie aufmachte, schaute Danielle zu mir zurück. »Du kommst doch mit heim, Daddy?« fragte sie.

Ich schüttelte den Kopf. Wieder kamen mir die Tränen in die Augen, sie blendeten mich, aber ich brachte es fertig zu sagen: »Nein, Liebling. Daddy muß noch hierbleiben und mit dem netten Herrn sprechen. Wir sehen uns später!«

»Okay... Bye-bye, Daddy!«

Die Tür schloß sich hinter ihnen. Ich blieb nur, bis ich die notwendigen Papiere unterschrieben hatte. Dann nahm ich den Zug nach La Jolla, ging an Bord meines Bootes und betrank mich.

Es dauerte eine Woche, bis ich nüchtern genug war, einen Charter anzunehmen.

Ich bezahlte meinen Flugschein und gab mein Gepäck ab. Dann gingen wir in die Cocktail-Lounge. Trotz der ausgefallenen Stunde war sie sehr belebt. Wir bekamen einen kleinen Tisch, und ich bestellte uns zwei Manhattans.

Ich kostete meinen Drink. Er war gut. Kalt und nicht zu süß. Ich schaute hinüber zu Elizabeth. Sie sah jetzt müde aus.

»Fühlst du dich einigermaßen?« fragte ich. »Ich hätte dich doch nicht den ganzen langen Weg mitfahren lassen sollen.«

Sie hob das Glas und nahm einen Schluck. »Ich bin okay.« Ihr Gesicht bekam wieder etwas Farbe. »Vielleicht bin ich ein bißchen nervös, aber weiter nichts.«

»Du brauchst nicht nervös zu sein, wirklich nicht.«

»Ach, doch nicht wegen des Flugzeugs. Nur deinetwegen, Luke.«

Ich lachte. »Es wird schon glattgehen.«

Sie lächelte nicht. »Du wirst sie wiedersehen müssen.«

Nun wußte ich, was sie meinte. Nora besaß die Gabe, mich zur Verzweiflung zu treiben, und es dauerte stets eine Weile, bis ich mich wieder einigermaßen in der Hand hatte. In einem solchen Zustand war ich gewesen, als wir uns vor sechs Jahren kennenlernten, Elizabeth und ich. Damals lag meine Scheidung bereits fünf Jahre zurück.

Der Sommer neigte sich seinem Ende zu. Ich war von San Francisco zurückgekommen, wo ich Danielle - damals acht Jahre alt -nach einem unserer seltenen gemeinsamen Wochenenden bei ihrer Mutter abgeliefert hatte. Dani war ins Haus gelaufen, während ich draußen auf den Diener wartete, dem ich ihr Gepäck übergeben wollte. Nach der Scheidung hatte ich das Haus nie wieder betreten.

Die Tür ging auf, aber es war nicht der Diener. Es war Nora. Wir sahen uns ein paar Sekunden lang an. In ihren kühlen Augen lag keinerlei Ausdruck. »Ich möchte mit dir sprechen.«

»Worüber?«

Nora verschwendete nie Zeit. »Ich bin zu dem Entschluß gekommen, daß dich Dani nicht mehr da unten besuchen darf.«

Ich fühlte, wie mir heiß wurde. »Warum nicht?«

»Sie ist kein Kind mehr. Sie sieht alles.«

»Was heißt alles?«

»Nun, das Leben, das du auf deinem schmutzigen Boot führst. Die mexikanischen Weiber, die zu dir kommen, die Betrunkenheit, die wüsten Szenen. Ich möchte nicht, daß sie mit dieser Seite des Lebens in Berührung kommt.«

»Eine deiner Glanznummern: große Worte. Ich nehme an, die Art, wie du es treibst, ist besser? Mit reinen Bettlaken und Martinis?«

»Das mußt du ja beurteilen können. Es hat dir doch wohl recht gut gefallen.«

Was für verrückte Gedanken einem in den Kopf kommen. Die Faszination des Bösen - obwohl man weiß, daß es böse ist. Sie kannte mich genau. Sie wußte, wovon ich sprach. Ich kämpfte meine Erinnerungen nieder.

»Ich werde es mit meinem Anwalt besprechen«, sagte ich.

»Mach dich nicht lächerlich! Als ob du einen Anwalt findest, der etwas mit dir bespricht. Du bist bankrott und schmutzig, und wenn du zum Kadi gehst - ich habe die Auskünfte eines Privatdetektivs über das Leben, das du führst. Du wirst bei Gericht nicht weit kommen.« Sie machte kehrt und schlug mir die Tür vor der Nase zu. Erstarrt blieb ich einen Augenblick stehen, dann ging ich die Stufen des Patios hinunter zu meiner alten Karre. Erst spät am nächsten Abend kam ich nach Hause und brachte mir noch eine halbe Kiste Whisky mit an Bord.

Zwei Tage später klopfte es an meiner Kabinentür. Mühselig raffte ich mich von meiner Koje auf und stolperte zur Tür. Ich riß sie auf ein paar Sekunden lang spürte ich, wie der Schmerz von meinen Augen durch die Sehnerven zum Gehirn lief. Der grellblaue Himmel, die heiße Sonne, das weiße Kleid und das goldblonde Haar des Mädchens, das dort stand. Ich blinzelte ein paarmal, weil mir das Licht weh tat.

Das Mädchen sprach mit kräftiger, warmer Stimme. »Man sagte mir im Laden drüben, daß man Ihr Boot chartern kann.«

Ich blinzelte noch immer. Das Licht vertrug sich einfach nicht mit dem Whisky.

Der Schmerz ließ nach. Ich schielte sie an.

»Sind Sie der Käpt’n?« fragte sie.

Sie war gut anzusehen, wie ihre Stimme gut klang. Blauäugig und sonnenverbrannt, mit schönem großem Mund und einem wohlgeformten Kinn.

»Ich bin die ganze Crew. Kommen Sie herein, trinken Sie ein Glas.«

Die Hand, die nach der meinen griff, als sie die schmalen Stufen hinunterging, war kräftig und fest. Sie sah sich neugierig in der Kabine um. Viel gab’s da nicht zu sehen. Leere Whiskyflaschen und eine zerwühlte Koje. Sie schwieg.

»Entschuldigen Sie die Wirtschaft«, sagte ich. »Aber ich trinke zwischen meinen Charterfahrten.«

Ein leises Lächeln spielte um ihre Augen. »Das hat mein Vater auch getan.«

Ich sah sie an. »Fuhr er auch auf Charter?«

Sie schüttelte den Kopf. »Er war Kapitän eines Schleppers, auf dem East River in New York. Aber wenn er nicht arbeitete, trank er - gern und viel.«

»Wenn ich arbeite, trinke ich nicht«, sagte ich.

»Das hat er auch nicht getan. Er war der beste Schlepperkapitän von ganz New York.«

Ich schob den Kram vom Tisch und nahm zwei saubere Gläser aus dem Schrank. Dann holte ich die Flasche Bourbon. »Ich habe nur Wasser. Kein Eis.«

»Das ist ein guter Whisky«, sagte sie, »den soll man nicht verdünnen.«

Ich goß die Becher halb voll. Sie trank den Whisky wie Wasser. Das war ein Mädchen nach meinem Herzen.

»Nun zum Geschäft«, sagte sie sachlich und stellte das Glas weg. »Fünfzig Dollar pro Tag. Morgens um fünf Uhr hinaus, nachmittags vier Uhr zurück. Nicht mehr als vier Passagiere.«

»Und für die Woche? Wir möchten nach Los Angeles, das Wochenende dortbleiben und dann zurück.«

»Wir?« fragte ich. »Wieviel Personen?«

»Nur zwei. Mein Chef und ich.«

Ich sah sie an. »Dies ist die einzige Kabine auf dem Boot. Natürlich kann ich auf Deck schlafen, wenn’s sein muß.«

Sie lachte. »Brauchen Sie nicht.«

»Ich versteh Sie nicht. Fehlt dem Burschen denn was?«

Sie lachte wieder. »Nein, ihm fehlt gar nichts. Er ist einundsiebzig und behandelt mich wie seine Tochter.«

»Wozu dann den Charter?«

»Er ist Architekt in Phoenix. Hat geschäftlich erst hier und dann in Los Angeles zu tun. Nachdem er ziemlich lange nichts als Sand gesehen hat, ist er auf den Gedanken gekommen, etwas

Salzluft zu schnappen und vielleicht ein bißchen zu fischen.«

»Mit dem Fischen wird er nicht viel Glück haben. Es ist die verkehrte Jahreszeit. Die Fische sind alle nach dem Süden abgezogen.«

»Das macht ihm nichts aus.«

»Alle Mahlzeiten an Bord?« fragte ich.

»Bis aufs Wochenende, ja.«

»Wären fünfhundert zuviel?«

»Mit vierhundert kommen wir eher zusammen.«

»Gemacht«, sagte ich und stand auf. »Wann soll’s losgehen?«

»Morgen früh. Ist Ihnen acht Uhr recht? Möchten Sie eine Anzahlung?« Ich lachte. »Sie haben ein ehrliches Gesicht, Miss.«

»Andersen«, sagte sie. »Elizabeth Andersen.«

Sie stand auf.

Die Wellen von einem vorbeifahrenden Schiff ließen den Boden unter uns schaukeln. Sie streckte die Hand aus, um sich zu halten, und ging die Kabinentreppe hinauf.

Ich rief ihr nach. »Übrigens, Miss Andersen - was für ein Tag ist heute?«

Sie lachte wieder. Ein warmes, freundliches Lachen. »Genau wie mein Vater. Das war immer das erste, was er fragte, wenn er einen Rausch hinter sich hatte. Heute ist Mittwoch.«

»Natürlich.«

Ich sah ihr nach, als sie den Kai hinunterging zu ihrem Wagen. Sie wandte sich um und winkte mir zu, dann stieg sie ein und fuhr fort. Ich ging zurück in die Kajüte und begann aufzuräumen.

So hatten wir uns kennengelernt. Aber wir heirateten erst beinahe ein Jahr später.

»Jetzt lächelst du«, sagte Elizabeth. »Worüber?«

Mit einem Ruck war ich wieder in der Gegenwart, langte über den Tisch und legte meine Hand auf die ihre. »Ich dachte daran, wie du ausgesehen hast, als wir uns kennenlernten. Eine blonde Göttin aus Gold und Elfenbein.«

Sie lachte und trank einen Schluck Manhattan. »Nun, jetzt sehe ich keiner blonden Göttin mehr ähnlich!«

Ich rief den Kellner und bestellte noch zwei Glas. »Ich bin dir noch immer um eins voraus.«

Ihr Gesicht war plötzlich ernst. »Es tut dir nicht leid, daß du mich geheiratet hast. Oder.?«

Ich schüttelte den Kopf. »Frag nicht so töricht. Warum sollte es mir leid tun?«

»Du gibst mir keine Schuld an dem, was geschehen ist? Mit Dani, meine ich.«

»Ich gebe dir keinerlei Schuld«, antwortete ich. »Ich hätte auch ohne dich nichts tun können, um es zu verhindern. Das weiß ich jetzt selbst.«

»Du hast früher anders gedacht.«

»Ich war ein Narr. Ich habe Dani. sagen wir: als Krücke gebraucht.«

Der Kellner kam und stellte die Gläser hin. Zu dumm, daß die Zeit sich so lange hinzieht, wenn man auf ein Flugzeug wartet. Vielleicht, weil man das Gefühl hat, daß alles viel schneller gehen müßte, so schnell wie eine Neunhundert-Kilometer-pro-Stunde-Maschine. Aber man hat die Füße noch auf der Erde, und nichts scheint sich zu regen - außer dem Wunsch, wegzukommen, bald anderswo zu sein.

So war mir heute früh nicht zumute gewesen - vielmehr gestern früh. Der Wind kam warm über den See, als ich vor dem Baugelände aus meinem alten Wagen ausstieg. Das letzte Haus dieses Bauabschnitts sollte heute zusammengesetzt werden, und ich war überzeugt, daß wir auch den Auftrag für den nächsten

Abschnitt bekommen würden. Bei dem Wetter jetzt hatten wir die Häuser bestimmt unter Dach und Fach, ehe die schlechte Jahreszeit kam. Auf diese Art konnten wir während des Winters die ganzen Innenarbeiten vornehmen.

Ich ging in den Wohnwagen, der uns als Baubüro diente, und unterschrieb die Lohnzettel. Alles lief richtig und plangemäß. Auf diesem Posten konnte ich bis Dezember arbeiten. Und bis dahin war das Baby alt genug, daß wir nach dem Süden ziehen konnten. Davis arbeitete an einem neuen Projekt unmittelbar bei Daytona, und ich hatte recht gute Aussichten, dort die Stelle als Bauleiter zu bekommen.

Ich war also kein Architekt in dem Sinn geworden, an den Nora immer gedacht hatte. Mit Büro und Sekretärinnen und Kunden, die zu mir kamen, um mich mit der Frage zu belästigen, ob sie Goldrahmen für den Spültisch in der Küche und rosa Telefone für ihre Klos nehmen sollten oder nicht.

Statt dessen trug ich Arbeitshemd und Blue jeans, lief den ganzen Tag im Dreck herum und baute Häuser für zehn-, zwölf-und fünfzehntausend Dollar. Keine eleganten, aber gut und solide für dieses Geld. Häuser für Menschen, um darin zu wohnen. Für Menschen, die solche Häuser brauchten. Keine Neurotiker, die sich ein Heim bloß bauen, um vor ihren Freunden damit zu prahlen.

Ich war recht zufrieden. Und kam mir nützlich vor. Ich tat etwas, das ich gern tat. Genau das, wofür ich studiert hatte und Architekt geworden war. Genau das, was ich geplant hatte, ehe ich in den Krieg mußte.

Ich wollte gerade meinen ersten morgendlichen Rundgang machen, als Sam Brady in den Wohnwagen kam. Sam war der Bauunternehmer, der Boß.

Ich lächelte ihn an. »Gerade zur rechten Zeit. Du kannst zusehen, wie das letzte Haus von diesem Abschnitt zusammengesetzt wird.«

Er erwiderte mein Lächeln nicht. Ich spürte, daß etwas nicht in Ordnung war. »Hallo, was gibt’s? Kriegst du keine Zechinen für den nächsten Abschnitt?«

»Das Geld hab’ ich schon.«

»Dann mach dir keine Sorgen. Wir kriegen sie vor dem ersten Schnee unter Dach. Nächstes Frühjahr stolzierst du herum, und die Tausenddollarscheine gucken dir oben aus der Tasche heraus.«

»Das ist es nicht, Luke«, sagte er. »Es tut mir leid., aber ich muß dich vor die Tür setzen.«

»Du bist ja verrückt«, sagte ich. Ich glaubte ihm einfach nicht. »Wer soll denn dann die Häuser für dich aufstellen?«

»Die Geldgeber haben einen Mann«, sagte er. Er sah zu mir herüber. »Das gehört zum Kontrakt. Wenn nicht der Mann, dann keinen Zaster.« Er fischte eine Zigarette aus der Tasche und steckte sie ungeschickt an. »Es. es tut mir verdammt leid, Luke.«

»Leid?« sagte ich und steckte mir auch eine Zigarette an. »Hübsche Redensart. Mensch, kannst du dir nicht vorstellen, wie mir zumute ist?«

»Hast du noch nichts von deiner Anstellung bei Davis gehört?«

Ich schüttelte den Kopf. »Noch kein Wort.«

»Aber das kommt noch.«

Ich zog schweigend an meiner Zigarette.

»Sieh mal, das ist doch nur ’ne Frage der Zeit. Ich kann dich inzwischen in eine Schicht einstellen.«

»Danke, nein. Das weißt du selbst am besten, Sam.«

Er nickte. Er wußte Bescheid. Wenn ich jetzt zurückging in die Schichtarbeit, würde mir kein Bauunternehmer mehr einen besseren Posten geben. So etwas sprach sich herum wie ein Lauffeuer.

Ich stieß eine große Rauchwolke aus und zerdrückte den Stummel im Aschenbecher. »Ich arbeite dann also noch bis abends und pack dann meinen Kram zusammen.«

»Der neue Mann kommt schon heute nachmittag.«

Ich begriff. »Gut - dann verschwinde ich schon mittags.«

Er nickte, gab mir meine Lohntüte und ging hinaus. Ich starrte ihm ein paar Sekunden nach, dann machte ich mich daran, meine Sachen aus dem alten abgenutzten Schreibtisch herauszunehmen. Ich fuhr nicht direkt nach Hause. Ich ging in eine Bar und sah im Fernsehen, wie die »Reds« ihr Spiel verpatzten. Ich trank keinen Whisky, sondern hielt mich an das Fünfzehn-CentBier. Das Malheur passierte Maris, als ich das fünftemal aus dem Klo kam. Maris schlug den Ball gerade ins Außenfeld, und dann kam ein Bild des Managers der »Cincinnati Reds«, der düster zu Maris hinüberstierte.

Der Barkeeper wischte die Theke vor mir ab. »Versager«, meinte er und sah geringschätzig über seine Schulter auf den Bildschirm. »Jawohl, das sind sie. Geborene Versager. Sie könnten gradesogut gleich aufhören.«

Ich warf etwas Kleingeld auf die Theke und ging hinaus. Es hatte keinen Sinn, es noch länger hinauszuschieben. Irgendwann mußte ich’s Elizabeth ja doch erzählen.

Tatsächlich war es leichter, als ich dachte. Ich glaube, schon aus der Art, wie ich vor der Zeit nach Hause kam, wußte sie es sofort. Sie sagte nichts, als ich’s ihr erzählte, sondern drehte sich nur um und schob den Braten, den sie gerade zurechtgemacht hatte, in die Röhre.

Ich blieb stehen und wartete, daß sie etwas sagen würde. Was, wußte ich nicht. Irgendwas. Daß sie vielleicht ärgerlich wäre. Statt dessen handelte sie hundertprozentig als Frau. »Am besten, du gehst gleich hinein und spülst das Geschirr.«

Ich wollte gerade noch einmal zwei Manhattans bestellen, als ich merkte, wie mich Elizabeth ansah. Ich bestellte Kaffee. Sie lächelte. »Auch das ist etwas, worüber du dich nicht zu beunruhigen brauchst«, sagte ich.

»Es ist nicht der richtige Zeitpunkt, in die alte Tour zu verfallen«, sagte sie. »Du wirst einen sehr klaren Kopf brauchen, um Dani zu helfen.«

»Ich wüßte nicht, was ich dabei tun könnte.«

»Es muß aber etwas geben«, sagte sie, »sonst hätte Gordon dich nicht dort haben wollen.«

»Das stimmt allerdings.«

Der Platz, den unsere Gesellschaftsordnung den Vätern einräumt. Zu irgend etwas muß der Alte Herr doch taugen. Auch wenn’s nur die Nebenrolle im Fernsehen ist, die den Helden erst den richtigen Hintergrund gibt.

Ich war unruhig. Die Zeiger der großen Wanduhr wiesen auf ein Viertel vor zwei. Ich brauchte Bewegung. »Wie wär’s, wenn wir ein Weilchen an die Luft gingen?«

Elizabeth nickte. Ich nahm die Rechnung und zahlte beim Hinausgehen. Wir traten auf die Zuschauertribüne hinaus, als gerade ein Düsenflugzeug brüllend zur Landung hereinkam. Ich konnte das große Doppel-A an beiden Seiten sehen, während es auf seinen Platz rollte.

Der Lautsprecher über unseren Köpfen plärrte: »American

Airlines, Flug 42 aus New York. Flugsteig vier.«

»Das muß meine Maschine sein«, sagte ich.

Alles glatt und blank und groß. Vier mächtige Motoren an den so schwach wirkenden abgewinkelten Tragflächen. Jetzt wurden die Türen geöffnet. Die Passagiere begannen auszusteigen.

»Zum erstenmal fühle ich mich ein bißchen verlassen«, sagte Elizabeth plötzlich.

Ich sah sie an. Ihr Gesicht schien mir bleich in dem blauweiß fluoreszierenden Licht über dem Platz. Ich griff nach ihrer Hand. Sie war kalt.

»Ich muß nicht, Elizabeth.«

»Du mußt - und du weißt es.« Ihre Augen blickten schwermütig.

»Nach Noras Begriffen nicht«, sagte ich. »Vor elf Jahren meinte sie, ich habe keinerlei Recht mehr.«

»Und glaubst du das?«

Ich antwortete nicht, sondern nahm mir eine Zigarette heraus und steckte sie an. Aber so leicht ließ Elizabeth nicht locker.

»Nun? Bitte?« In ihrer Stimme war eine merkwürdige Härte.

»Nein«, sagte ich und sah hinaus auf das Feld. Jetzt wurde das Gepäck aus dem Flugzeug geladen. »Ich weiß nicht, was ich glauben soll. Innerlich fühle ich, daß sie meine Tochter ist -absolut. Aber manchmal wünsche ich, es ist so, wie Nora gesagt hat. Alles wäre dann so viel leichter!«

»Wirklich, Luke?« fragte sie weich. »Würde das die Jahre auslöschen, die du mit Dani gelebt hast, die Jahre, in denen sie dir mehr gehörte als allen andern, sogar ihrer Mutter?«

Wieder stieg das würgende Gefühl in mir auf. »Laß das!« sagte ich kurz. »Selbst wenn ich ihr Vater bin - was habe ich ihr genützt? Ich habe nicht für sie sorgen können. Ich habe sie nicht behüten können. Ich habe sie nicht einmal vor ihrer Mutter schützen können.«

»Du hast sie lieben können. Und das hast du getan.«

»Ja, geliebt habe ich sie«, sagte ich bitter. »Eine großartige Hilfe für sie. Und wie nützlich ich ihr jetzt sein kann! Immer noch bankrott, immer noch eine Niete.« Ich merkte, wie mir die Galle in die Kehle stieg. »Ich hätte sie Nora nie lassen dürfen!«

»Was hättest du tun können?«

»Sie nehmen und mit ihr fortgehen. Ich weiß nicht. Nur irgendwas.«

»Das hast du einmal versucht.«

»Ich weiß. Aber ich hatte kein Geld, und ich war feige. Ich dachte, ich brauchte Geld; während alles, was Dani wirklich brauchte, Liebe war.«

Ich wandte mich zu Elizabeth und sah sie an. »Nora hat sie nie geliebt. Nora hat ihre Arbeit - und Dani war nur etwas, das sie um sich haben wollte, wenn sie ihr nicht im Wege war. Aber sobald sie Nora einmal unbequem wurde - schon war sie bei ihrer Großmutter oder früher bei mir auf meinem Boot. Und weißt du, was der Gipfel von der ganzen Geschichte ist?«

Elizabeth schüttelte den Kopf.

»Dani war immer so glücklich, wenn sie ihre Mutter sah. Sie hat immer versucht, sie zu erobern, ihre Liebe zu gewinnen. Aber Nora strich ihr allenfalls geistesabwesend über den Kopf und blieb bei dem, was sie gerade tat. Ich habe es erlebt, wie das Kind wieder zu mir kam, mit einem solchen Zug von Traurigkeit hinter dem lachenden Kindergesicht, daß ich mich zusammennehmen mußte, um nicht selbst zu weinen.«

In Elizabeths Augen stiegen die Tränen auf. Sie trat ganz dicht zu mir heran. »Du warst ihr Vater«, flüsterte sie liebevoll, »du konntest nicht auch noch ihre Mutter sein. Und wenn du dir noch so viel Mühe gabst.«

Der Lautsprecher über unsern Köpfen fing wieder an: »American Airlines, Astrojet Flug 42 nach Denver und San Francisco. Flugsteig vier.«

Ich kratzte mich am Hals. Plötzlich war ich müde. »Das ist meiner«, sagte ich.

»Ich glaube auch, Daddy.«

Überrascht sah ich sie an. Es war das erstemal, daß sie mich so nannte. Sie lächelte. »Nun ja, ich muß dich doch wieder daran gewöhnen.«

»Das wird nicht schwer sein.«

Wir gingen in die Halle zurück. »Gibst du mir Nachricht, wenn du ankommst?«

»Ich rufe dich an. R-Gespräch aus San Francisco. Wenn du mir nichts zu berichten hast, nimm es nicht an. Dann sparen wir das Geld für den Anruf.«

»Was könnte ich dir denn zu berichten haben?«

Ich legte meine Hand auf ihren Leib.

Sie lachte.

»Mach dir keine Sorgen, ich kriege das Baby bestimmt nicht, ehe du zurück bist.«

»Versprichst du mir’s?«

»Ich verspreche dir’s.«

An Tor 4 waren nicht viele Leute, als wir hinkamen. Die meisten Passagiere befanden sich schon im Flugzeug. Ich küßte Elizabeth zum Abschied und gab dem Mann an der Sperre meinen Flugschein. Er warf einen Blick darauf, stempelte ihn, riß die obere Kante ab und gab ihn mir zurück. »Bitte gleich geradeaus, Mister Carey.«

Ich stieg in Denver nicht aus, um mir »die Beine zu vertreten«, wie die Stewardeß es mir vorgeschlagen hatte. Statt dessen aß ich nur in der Lounge und ließ mir eine Tasse Kaffee geben. Er war heiß und stark. Ich fühlte, wie sich die Wärme in mir

ausbreitete und meine Bauchmuskeln lockerte.

Sechs Jahre, eine lange Zeit. In sechs Jahren konnte vieles passieren. Ein Kind wächst heran. Sie konnte jetzt eine junge Dame sein. Mit hohen Hacken und Petticoats. Blaß, fast farblos, die Lippen geschminkt und mit grünen oder blauen Augenschatten. Und mit dieser komisch aufgetürmten Artischockenfrisur, um sich größer zu machen. Sie mochte ziemlich erwachsen erscheinen, bis man ihr ins Gesicht sah und einem klar wurde, wie jung sie in Wirklichkeit war.

Sechs Jahre sind eine lange Zeit, wenn man von zu Hause fort ist. Das Kind, das man zurückgelassen hat, konnte sich zu mancherlei auswachsen, was man sich nie für es gewünscht hätte. So werden wie seine Mutter. Sechs Jahre. Und ein Kind konnte heranwachsen. zur Mörderin?

Ich hörte, wie die Tür geschlossen wurde. Das Licht ging an. Ich drückte meine Zigarette im Aschenbecher aus und schnallte mich an. Die Stewardeß kam vorbei und nickte beifällig. Dann ging sie weiter, um nachzusehen, ob auch die übrigen Passagiere sich angeschnallt hatten.

Ich sah auf meine Uhr. Vier Uhr dreißig Chicagoer Zeit. Ich stellte meine Uhr zwei Stunden zurück. Jetzt war es an der Pazifikküste zwei Uhr dreißig.

Ich lächelte im stillen. Es war so leicht. Einfach den Zeiger drehen - und man hatte zwei Stunden, die man noch einmal erleben konnte. Warum eigentlich, wenn das so leicht war, hatte noch niemand eine Maschine erfunden, die es mit den Jahren ebenso machte?

Dann könnte ich sie um sechs Jahre zurückstellen, und Dani wäre nicht dort, wo sie heute nacht war. Nein, ich würde die Uhr fast fünfzehn Jahre zurückdrehen, bis zu der Nacht, in der Dani geboren wurde. Ich dachte an die Stunden in der Klinik. Gerade um diese Nachtstunde hatte man Nora in den Entbindungsraum gebracht.

»Bleiben Sie nicht zu lange«, hatte der Arzt gesagt, als ich in ihr Zimmer gehen wollte. »Sie ist sehr müde.«

»Wann kann ich das Baby sehen?«

»In zehn Minuten. Klopfen Sie nur an das Fenster des Säuglingszimmers. Die Schwester wird es Ihnen zeigen.«

Ich trat auf den Korridor zurück und schloß die Tür hinter mir. »Ich möchte zuerst das Kind sehen. Nora wird gern wissen wollen, wie es aussieht. Sie wäre verstimmt, wenn ich’s ihr nicht beschreiben könnte.«

Der Doktor sah mich spöttisch an und zuckte mit den Schultern. Nicht sehr viel später sollte ich erfahren, daß Nora ihr Kind im Entbindungsraum keines Blickes gewürdigt hatte.

Als die Pflegerin den Vorhang aufzog und meine kleine Tochter hochhob, war ich hingerissen. Dieses kleine, rote schrumplige Gesicht, diese glänzenden schwarzen Haare, diese Finger-chen, die zu zornigen Fäustchen geballt waren - ich war hingerissen.

Aber etwas in mir begann zu schmerzen. Ich spürte die ganze Qual des Geborenwerdens, den ganzen Schock, den dieses winzige Wesen in den letzten Stunden erlitten hatte. Ich sah hinunter zu meiner Tochter, und da wußte ich, noch ehe sie Augen und Mund aufmachte, was sie nun tun würde. Wir waren aufeinander abgestimmt, auf der gleichen Wellenlänge, waren ineinandergefügt, und sie gehörte mir, und ich gehörte ihr. Wir waren eins. Und in meine Augen traten die Tränen, die sie noch nicht weinen konnte.

Dann zog die Schwester den Vorhang wieder zu, und ich war plötzlich allein. Allein, als stünde ich am Strand des Meeres, und eine Welle schwarzer Nacht flutete über mich hin. Ich blinzelte ein paarmal, und dann war ich wieder im Korridor der Klinik. Ich klopfte leise an Noras Tür. Eine Schwester öffnete mir. »Darf ich sie jetzt sehen?« flüsterte ich. »Ich bin ihr Mann.«

Mit dem merkwürdig toleranten Blick, den die Schwestern

anscheinend für die Väter reserviert haben, nickte sie und trat beiseite. »Bleiben Sie nicht zu lange.«

Ich ging hinüber zum Bett. Nora schien zu schlafen, ihr schwarzes Haar war über das weiße Kissen gebreitet. Sie sah blaß und matt aus und irgendwie hilfloser und zerbrechlicher, als ich sie mir je hätte vorstellen können. Ich beugte mich vor und küßte sie behutsam auf die Stirn.

Sie schlug die Augen nicht auf, aber ihre Lippen bewegten sich.

»An die Ruder! Die freie französische Flotte ergibt sich nicht!«

Ich sah über das Bett hinweg auf die Schwester und lächelte. Behutsam drückte ich Noras Hand, die auf der Decke lag.

»Die freie französische Flotte ergibt sich nicht!«

Jetzt lächelte auch die Schwester. »Es ist das Pentothal, Mister Carey. Manchmal sagen die Damen die sonderbarsten Dinge.«

Ich nickte und drückte nochmals Noras Hand.

Ein seltsamer Ausdruck von Angst flog über Noras Gesicht. »Tu mir nicht weh, John!« flüsterte sie heiser. »Ich werde alles tun, was du willst. Aber bitte. tu mir nicht weh!«

»Nora!« sagte ich rasch, »Nora. Ich bin es. Luke.«

Plötzlich schlug sie die Augen auf. »Luke!« Der Schatten der Angst verflog. »Ich hatte so einen schrecklichen Traum!«

Ich legte den Arm um sie. Nora hatte immer schreckliche Träume. »Schon gut, Nora«, murmelte ich. »Jetzt ist alles gut!«

»Ich habe geträumt, daß mir jemand die Hände brechen wollte! Es war fürchterlich. Alles - nur nicht meine Hände. Ohne sie wäre ich nichts. nichts.«

»Es war nur ein Traum, Nora. Nur ein Traum.«

Sie hob die Hände und betrachtete sie. Lang und schmal und

sensibel. Sie sah zu mir auf und lächelte. »Bin ich nicht dumm? Natürlich sind sie heil und ganz.« Sie schloß die Augen und schlief wieder ein.

»Nora«, flüsterte ich, »willst du nichts von dem Baby hören? Ein kleines Mädchen, ein wunderbares, hübsches kleines Mädchen. Sie sieht aus wie du.«

Aber Nora rührte sich nicht. Sie schlief.

Ich sah die Schwester an. Nein, das war nicht, wie es sein sollte. In den Büchern war das ganz anders.

Ich glaube, die Schwester sah mein betroffenes Gesicht, denn sie lächelte teilnehmend. »Das kommt vom Pentothal.«

»Natürlich«, sagte ich und ging hinaus in den Korridor.

Ich sah aus dem Fenster. Vielleicht konnte man schon einen Lichtschimmer von der Stadt sehen, dort in der Feme vor dem Flugzeug. San Francisco.

Es genügt nicht, die Uhr einfach fünfzehn Jahre zurückzustellen. Damit wäre nichts ungeschehen gemacht. Zwanzig Jahre -dann vielleicht.

1942. Sommer. Und die angeschlagene P-38, die ich flog, beim Sturzflug auf die Schornsteine eines grauschwarzen japanischen Schlachtschiffes zu. Ich hatte plötzlich den sonderbaren Drang, meine Bomben abzuwerfen, aber dann nicht mehr das Höhensteuer zu ziehen, sondern den Bomben hinabzufolgen in die Schornsteine des Kriegsschiffes, um in der kalten See mit ihm zu sterben. Dann hätte es keine Air Medal gegeben, keinen Silver Star, kein Purple Heart. Allenfalls eine Congressional Medal of Honor, wie sie Colin Kelly bekam, der kurz zuvor genau dasselbe getan hatte. Kein Lazarett nachher, keine Heldenrundreise, keine Reden für die Kriegsanleihe, keine Berühmtheit.

Denn dann hätte es keinen Luke Carey mehr gegeben, und ich würde jetzt nicht nach San Francisco kommen, genau wie ich damals nicht hingekommen wäre. Denn ich wäre tot gewesen und hätte Nora nicht kennengelernt, und Danielle wäre nicht geboren worden. Fast zwanzig Jahre. Und vielleicht hätten nicht einmal die genügt. Ich war damals so jung. Jetzt war ich müde. Ich schloß ein paar Sekunden lang die Augen.

Bitte, Gott, gib mir die Zeit zurück.

Zweiter Teil: Handelt von Nora

Abgedroschen, aber wahr: Die Zeit lehrt Perspektive. Wenn man in den Gefühlen der Gegenwart gefangen ist, hat man nicht den richtigen Blick. Weil man wie ein Blatt ist, das vor den Herbststürmen dahertreibt, gejagt von den Dämonen, von denen man besessen ist. Die Zeit betäubt die Dämonen des Hasses und der Liebe. Manchmal tötet sie sie sogar. Sie läßt nur den dünnen Faden der Erinnerung bestehen, so daß man durch das Schlüsselloch der Vergangenheit spähen und vieles sehen kann, was man zuvor nicht gesehen hat.

Jetzt machte das Flugzeug einen weiten Bogen über der Stadt und setzte zur Landung an. Ich schaute zum Fenster hinaus, sah die Lichter der Stadt und die Perlenschnüre ihrer Brücken, und plötzlich spürte ich, daß die Schmerzen und die Furcht, die mich bei dem Gedanken an eine Rückkehr hierher erfüllt hatten, verflogen waren. Sie lagen tot in der Vergangenheit bei den andern Dämonen, von denen ich damals besessen war.

In diesem Augenblick verstand ich auch, warum Elizabeth darauf bestanden hatte, daß ich nach San Francisco fliegen sollte - und ich war ihr dankbar dafür. Sie hatte diesen Weg gewählt, um meine Teufel auszutreiben, damit ich wieder mir selbst gehörte, befreit von meiner Schuld und meinen Qualen.

Die Reporter waren da mit ihren Kameras, aber sie waren in dieser frühen Morgenstunde ebenso müde wie ich. Nach ein paar Minuten ließen sie mich gehen. Ich versprach ihnen für eine spätere Stunde einen ausführlicheren Bericht.

Bei Hertz mietete ich den billigsten Wagen, der zu haben war, und fuhr in die Stadt zu einem neuen Motel, das sie auf Van Ness gebaut hatten, gegenüber der Straße, wo »Tommy’s Joynt« lag. Das Zimmer war klein, aber bequem, in diesem antiseptischen Stil, den die Motels anstreben.

Zuerst rief ich Elizabeth an. Als ich ihre Stimme hörte - warm von unserm Bett -, wie sie der Vermittlung erklärte, daß sie das R-Gespräch nicht annehme, wollte ich schnell ein paar Worte des Dankes sagen. Aber schon beim ersten Wort war die Verbindung abgebrochen.

Vor den Fenstern stand der Morgen. Ich ging hinüber und sah hinaus. Nördlich, den Bergen zu, konnte ich in den grauen Dunstschwaden den Turm des Mark Hopkins in den Himmel ragen sehen. Ich versuchte mehr zu erkennen, ein paar Blocks weiter westlich eine wohlbekannte weiße Fassade und ein schiefergedecktes Walmdach. Das Haus, in dem ich damals wohnte. Das Haus, in dem jetzt Nora vermutlich schlief. Schlief, in ihrer seltsamen, traumerfüllten, absonderlichen Welt.

Von irgendwoher, weit her, läutete im Nebel des dumpfen Schlafes das Telefon. Nora hörte es und hörte es nicht. Sie wollte nicht. Sie drückte das Gesicht tiefer in die Kissen und preßte ihre Hände an die Ohren. Aber das Telefon läutete weiter.

»Rick! Geh zum Telefon!« Der Gedanke machte sie wach. Weil Rick tot war.

Sie drehte sich um und starrte böse auf das Telefon. Jetzt klang das Läuten entfernter; da war nur noch das leise Klingeln der kleinen Glocke ihres Schlafzimmeranschlusses. Noch immer rührte sie sich nicht.

Nach einem Augenblick hörte das leise Klingeln auf; das Haus war wieder still. Nora setzte sich auf und griff nach einer Zigarette. Das Schlafmittel, das ihr der Arzt nachts gegeben hatte, pochte noch dumpf in ihrem Kopf. Sie zündete die Zigarette

an und sog den Rauch tief ein.

Mit einem Klicken meldete sich die Haussprechanlage. Sie hörte die Stimme des Dieners: »Sind Sie wach, Miss Hayden?«

»Ja«, antwortete sie, ohne aufzustehen.

»Ihre Mutter ist am Telefon.«

»Sagen Sie ihr, ich rufe sie in fünf Minuten an, Charles. Und bringen Sie mir etwas Aspirin und Kaffee.«

»Ja, Madam.« Die Sprechanlage klickte ab, kam aber gleich darauf wieder: »Miss Hayden?«

»Ja?«

»Ihre Mutter sagte, es ist sehr wichtig, daß sie sofort mit Ihnen sprechen kann.«

»Also in Gottes Namen«, sagte Nora wütend. Sie griff nach dem Telefon. »Und, Charles - beeilen Sie sich mit dem Aspirin und dem Kaffee. Ich habe die fürchterlichsten Kopfschmerzen.« Dann sprach sie ins Telefon: »Ja, Mutter?«

»Bist du wach, Nora?« Die Stimme ihrer Mutter war hell und durchdringend.

»Jetzt allerdings«, antwortete sie grollend. Sie begriff nicht, wie ihre Mutter das machte. Sie war weit über siebzig, und ihre Stimme klang, als sei sie schon stundenlang wach.

»Es ist halb sieben, Nora. Und wir erwarten dich um sieben. Mister Gordon ist schon hier.«

»Ist Luke auch da?«

»Nein. Aber er wird bald kommen.«

»Du bist so sicher. Woher weißt du es? Hast du etwas von ihm gehört?«

»Nein.«

»Vielleicht ist er gar nicht hier.«

»Er ist gewiß schon hier«, sagte die Mutter bestimmt. »Er hat doch gesagt, daß er kommt.« »Du hast ihm immer mehr geglaubt als mir, nicht wahr?« Ihre Stimme war wieder voll Unmut.

»Darauf kommt es nicht an. Du bist meine Tochter.«

»Und lediglich darauf kommt es an!« fügte Nora bitter hinzu.

»Das stimmt«, sagte die Mutter scharf und abschließend. »Und wenn du das bis jetzt nicht begriffen hast, wirst du es wohl niemals lernen.«

Ein vorsichtiges Klopfen, dann ging die Tür auf, und Charles kam herein. Er trug ein kleines silbernes Tablett.

»Mister Gordon möchte, daß du ein möglichst einfaches Kostüm trägst und einen Tuchmantel, Nora. Und kein Make-up, nur etwas blassen Lippenstift.«

»Mister Gordon denkt an alles.«

Charles stellte das Tablett ab und goß eine Tasse voll Kaffee. Er reichte sie Nora, dazu drei Aspirintabletten auf einem kleinen Teller.

»Du kannst Gott danken, daß wir ihn bekommen haben«, sagte Mrs. Hayden.

»Muß ich denn kommen? Ich fühle mich scheußlich schlecht. Ich habe fürchterliches Kopfweh.«

»Nora!« Die Stimme der Mutter klang entrüstet.

»Was kann ich schon dabei nützen? Ich werde diese Fragerei heute morgen einfach nicht ertragen können. Und die Reporter werden dasein...«:

Jetzt wurde Mrs. Haydens Stimme kalt und hart. »Du wirst heute früh mit deiner Tochter zum Jugendgewahrsam gehen. Das ist einmal etwas, das ich nicht für dich tun kann. Danis Vater wird dasein, und du wirst dasein, ob es dir paßt oder nicht.«

Die Kopfschmerzen umspannten Noras Schläfen wie ein Schraubstock. »Schon gut. Ich werde dasein.«

Sie legte den Hörer auf, nahm das Aspirin, legte die drei Ta-bletten auf die Zunge und spülte sie mit einem Schluck Kaffee hinunter.

»Und wie geht es Miss Danielle?« fragte Charles leise. Ein fragender Blick lag auf seinem glänzenden, runden Gesicht.

Etwas betroffen sah sie den Diener an. Sie selbst hatte nicht gefragt. Aber schließlich hatte sie auch keinen Grund dazu. Wenn es Danielle schlechtgegangen wäre, hätte ihre Mutter etwas davon gesagt.

»Gut«, antwortete sie automatisch.

Charles wartete, daß sie weiterspreche.

»Meine Mutter sagte, sie schläft noch«, log sie. Dann ärgerte sie sich über sich selbst. Sie war ihm keine Erklärung schuldig. Charles war nichts als ein Diener. Gleichviel, wie lange er schon bei ihr war.

»Sagen Sie Violet, sie soll mein Bad einlassen«, sagte sie scharf.

»Ich schicke sie sofort herauf, Madam.«

Die Tür schloß sich hinter ihm. Nora trank ihren Kaffee aus. Dann stieg sie aus dem Bett und schenkte sich eine zweite Tasse ein. Als sie sich umwandte, sah sie ihr Bild in dem großen Spiegel über dem Frisiertisch. Die Tasse noch in der Hand, ging sie auf das Bild zu.

Sie studierte es sehr sorgfältig. Nein, ihre achtunddreißig Jahre sah man ihr nicht an! Sie war noch sehr schlank und sehr gerade. Auf ihren Hüften kein Fett, und ihre Brüste - sie waren nie groß gewesen noch rund und fest. Sie trank schluckweise ihren Kaffee, ohne ihr Spiegelbild aus den Augen zu lassen. Es gefiel ihr, wie ihr Fleisch durch die dünne weiße Seide und die Spitzen ihres Nachtkleides schimmerte. Sie beugte sich näher zum Spiegel und prüfte ihr Gesicht. Unter ihren Augen waren matte blaue Ringe, aber sonst war kein Anzeichen von alledem zu sehen, was sie durchgemacht hatte. Ihre Augen waren klar, das Weiße darin nicht gerötet, und das Fleisch über den Backenknochen war fest und keine Spur schwammig. Jetzt fühlte sie sich schon besser. Jeder, der sie heute sah, würde kaum glauben können, daß Danielle wirklich ihre Tochter war. Nebenan im Badezimmer lief nun das Wasser in die Wanne. Schnell trank sie den Kaffee aus, ließ die Tasse auf dem Frisiertisch stehen und ging ins Badezimmer.

Das farbige Mädchen sah auf von der großen eingelassenen Marmorwanne. »Guten Morgen, Miss Hayden.«

Nora lächelte. »Guten Morgen, Violet.«

»Haben Sie gut geschlafen, Miss Hayden?«

»Ich kann mich an nichts mehr erinnern von dem Augenblick an, als mir Doktor Bonner die Spritze gegeben hat.«

»Ich habe nicht gut geschlafen. Die Polizisten haben mich die halbe Nacht wach gehalten mit ihrer Fragerei.«

Nora sah sie neugierig an. »Was haben Sie ihnen gesagt?«

»Was konnte ich schon sagen?« Violet richtete sich auf. »Genau, was ich gesehen habe, als ich ins Atelier kam.« Sie griff nach einem Flakon mit Badesalz, der auf dem Regal über der Wanne stand, und begann das duftende Salz ins Wasser zu streuen. »Als ich hineinkam, knieten Sie auf dem Boden und beugten sich über Mister Riccio. Und Miss Dani, die drückte sich an die Wand.«

»Ich wünsche nicht mehr darüber zu sprechen«, sagte Nora kalt.

»Ja, Madam. Ich auch nicht. Ich möchte nicht mal mehr dran denken.« Sie schloß den Flakon und stellte ihn wieder auf seinen Platz. Der zarte Moschusduft stieg mit dem Dampf aus der Wanne auf. »Es dauert ein paar Minuten, bis die Wanne voll ist. Wünschen Sie, daß ich Sie inzwischen massiere? Es wird Sie entspannen, Madam.«

Nora nickte stumm und zog das Nachthemd über den Kopf.

Violet kam schnell, nahm es ihr ab und faltete es ordentlich auf einem Stuhl zusammen, während sich Nora auf den schmalen Massagetisch legte.

Sie drückte das Kinn auf ihre gekreuzten Arme. Es tat so gut, sich auszustrecken, bis man spürte, wie jeder Muskel im Körper angespannt war. Sie atmete tief und schloß die Augen.

Nach dem Bad drückte sie auf den Knopf der Sprechanlage.

»Charles?«

»Ja, Madam?«

»Würden Sie bitte den Wagen aus der Garage holen. Und könnten Sie mich heute fahren? Ich fühle mich nicht wohl genug.«

»Selbstverständlich, Madam.«

Sie ließ den Knopf los und stand auf. Ehe sie hinausging, studierte sie sich nochmals in dem langen Spiegel. Harris Gordon wußte, was er tat. Der richtige Eindruck war so wichtig in einer solchen Situation.

Das schwarze Kostüm, das sie trug, war vollendet. Es ließ sie sehr schlank und sehr jung erscheinen. Und der einfache Tuchmantel über dem Arm gab die letzte Note - was ihre Freunde aus der Werbebranche »schlicht und gediegen« nennen würden. Sie sah jung, attraktiv und sehr vertrauenswürdig aus. Dann griff sie nach Handschuhen und Tasche und verließ das Zimmer.

Das Klappern ihrer Pfennigabsätze auf den Marmorstufen gab einen hohlen Widerklang, als sie in die Halle hinunterging. Sie sah aus einem der Fenster neben der Tür.

Charles hatte den Wagen noch nicht gebracht.

Einem Instinkt folgend, den sie nicht ganz verstand, ging sie den schmalen Gang hinunter, der ins Atelier führte. Überrascht blieb sie am Eingang stehen. Ein junger Polizist saß davor.

Er stand auf und griff unbeholfen an seine Mütze. »Guten Morgen, Madam.« »Guten Morgen. Ich bin Miss Hayden.«

»Ich weiß, Madam. Ich war letzte Nacht hier.«

In gespielter Überraschung zog sie die Brauen hoch. »Die ganze Nacht?« fragte sie. »Ohne zu schlafen?«

»Ja, Madam.«

»Haben Sie gefrühstückt? Sie müssen doch hungrig sein.«

»O danke, Madam.« Der Polizist wurde rot vor Verlegenheit. »Man war so freundlich, mir Kaffee zu bringen.«

»Darf ich hineingehen?«

Er stand verlegen vor ihr, sah sie an und antwortete nicht.

»Es ist schon in Ordnung so«, sagte sie, plötzlich in den Ton verfallend, den sie als Herrschaft dem Personal gegenüber anschlug, wenn sie ärgerlich wurde. »Schließlich ist es mein Atelier.«

»Ich weiß, Madam. Aber der Sergeant sagte, er wünsche nicht, daß etwas von seinem Platz verrückt wird.«

»Ich werde nichts verrücken«, sagte sie kalt. »Sie können aufpassen, wenn Sie das möchten.«

Er zögerte einen Augenblick. »Ich glaube, in diesem Fall wird es okay sein.«

Sie blieb wartend stehen. Der Polizist sah sie verwundert an, wurde aber rot, als er begriff und ihr die Tür öffnete.

»Danke«, sagte sie, als er beiseite trat, um sie vorbeizulassen.

Nora sah sich um. Kreidestriche auf dem Fußboden, wo der tote Rick gelegen hatte. Und ein paar dunkle Flecke, die wie Blut aussahen. Sie spürte den wachsamen Blick des Polizisten, hob den Kopf und ging achtsam um die Kreidestriche herum zum Fenster.

Der Schweißbrenner lag noch auf der Werkbank, wo sie ihn gelassen hatte, als Rick ins Atelier gekommen war. Die Kiste mit den dünnen Stahlbändern stand auf dem Boden neben dem

kleinen Sockel, auf dem ihr jüngstes Werk Form anzunehmen begann.

Es war erst die Skelettkonstruktion, aber ein paar Stahlbänder, versuchsweise gespannt und an der richtigen Stelle angeschweißt, deuteten schon die spätere Form an. Sie schloß eine Sekunde die Augen. Ja, es war noch da; sie konnte das Werk in seiner Vollendung sehen. Sie empfand eine starke innere Freude. Sogar die letzte Nacht hatte ihrer Phantasie und ihrem Können nichts anhaben können.

Das Bewußtsein ihrer Kraft und das Wissen um das, was sie war, was sie in sich hatte, schossen warm durch ihr Blut. Sie war nicht wie die andern. Sie war anders. Niemand vermochte zu sehen, was sie sah.

Sie öffnete die Augen und blickte den Polizisten an, ein seltsames Lächeln der Befriedigung um ihre Lippen. »Es ist schön«, sagte sie dann.

Unvermittelt machte sie kehrt und ging aus dem Atelier.

Ich flüsterte Dani allerlei Unsinn zu, kleine dumme Worte, wie sie ein Vater manchmal gern gebraucht, und Dani ging darauf ein, froh, für ein paar Augenblicke wieder ein kleines Mädchen sein zu können. Da ließ irgendein Instinkt uns beide die Augen zur Tür wenden.

Ehe sich einer von uns andern rühren konnte, war Dani von ihrem Stuhl aufgesprungen und lief Nora entgegen. Als sie bei ihr stand, war Dani kein kleines Mädchen mehr. Die Verwandlung war rasch und erschreckend vollständig: Sie war eine junge Frau.

Ich sah mich am Tisch um, ich wollte wissen, ob es die an-dern auch bemerkt hatten. Aber ich konnte es nicht feststellen. Harris Gordon hatte ein schwaches Lächeln aufgesetzt, als dächte er, wie gut die Szene vor Gericht ausgesehen hätte. Meine frühere Schwiegermutter sah mich an, in ihren hellblauen Augen war ein nachdenklicher Ausdruck. Dann wandte auch sie sich der Tür zu.

Nora hatte die Arme um Dani gelegt. »Mein Kleines!« sagte sie weich und hielt Dani die Wange zum Kuß hin. »Mein armes Kleines!«

»Wie geht es dir, Mutter?« fragte Dani besorgt.

»Gut, mein Liebling. Und dir?«

»Ich bin okay, Mutter. Ich bin bloß. bloß verängstigt. Ich hatte in der Nacht solche Alpträume.«

Nora streichelte ihr Haar. »Aber, aber, Kind - hab’ keine Angst! Mutter läßt’s nicht zu, daß dir etwas geschieht. In ein paar Tagen ist alles vorbei. Dann bist du wieder zu Hause, als sei nichts geschehen.«

»Ich weiß, Mutter. Und weißt du, warum?«

Nora schüttelte den Kopf.

Dani kam zu mir und faßte meine Hand. »Weil Daddy gekommen ist, um mir zu helfen«, sagte sie mit stolzem Lächeln. »Er ist den ganzen weiten Weg von Chicago gekommen!«

Nora starrte uns an. An dem Ausdruck von Danis Augen konnte ich erkennen, daß es war, als habe es die sechs Jahre Trennung zwischen ihr und mir nie gegeben. Und an der Hand meiner Tochter konnte ich es erkennen: Sie war so voll vertrauender Wärme, wie es immer zwischen uns gewesen war. Wir waren einander so ähnlich, daß Nora sich, wenn wir drei zusammen waren, immer etwas als Außenseiterin vorkam.

»Du bist dünn geworden, Luke.« Sie kam auf mich zu und streckte mir die Hand hin; ich spürte ihren Unwillen. »Danke, daß du gekommen bist.«

»Nicht einmal Ketten hätten mich halten können«, sagte ich ruhig. Ich nahm ihre Hand, aber nur kurz und unpersönlich. Durchaus nicht so, wie man es sonst tut.

Sie zog die Hand rasch zurück und berührte mit einer mir wohlbekannten Geste ihre Stirn. »Kopfwehwarnung« hatte ich diese Geste genannt. Und der eigentümliche Schatten, der in ihre Augen kam, bestätigte meine Diagnose. »Plötzlich fühle ich mich alt«, sagte sie. »Du siehst so jung aus, wenn du neben Dani stehst.«

»Du wirst niemals alt aussehen«, erwiderte ich höflich.

Aber sie sah mich an und wußte es besser. Und wußte, daß auch ich es besser wußte. Der Schatten vertiefte sich, Furchen erschienen auf ihrer Stirn. Plötzlich wandte sie sich an ihre Mutter. »Hast du etwas Aspirin, Mutter? Ich fürchte, ich habe einen Schlafmittelkater!«

Mrs. Hayden wies auf das Büfett. »Dort, Nora.«

Ich beobachtete sie, als sie zum Büfett ging und drei Tabletten aus der kleinen Flasche schüttete. Eine tat sie zurück. Nun wußte ich, daß sie bereits drei genommen hatte, bevor sie hierherkam. Ehe sie das Aspirin schluckte, sah sie zu mir herüber, und wieder spürten wir blitzartig dies eigenartige Wiedererkennen.

Plötzlich tat sie mir leid. Fragen Sie mich nicht, warum. Sie tat mir eben leid. Manchmal ist es schrecklich, so viel von einem andern menschlichen Wesen zu wissen. Ich wußte, daß sie von einer neuen, unerklärbaren Furcht erfüllt war, daß sie sich sehr einsam fühlte. Dies war das »Morgen«. Das leere »Morgen« ihrer heimlichen Alpträume. Das »Morgen«, das niemals kommen würde - wie oft hatte sie sich das gesagt.

Und ich war in diesem »Morgen« derselbe, der ich immer gewesen war. Ehe sie mir das Herz aus dem Leibe gerissen hatte.

Im September 1943 war der Krieg in Italien fast vorbei. Ma-cArthurs Operationen zur Wiedereroberung der Philippinen hatten begonnen, und ich war in San Francisco und wickelte eine lange Werbeaktion für die Kriegsanleihe durch die Rüstungsfabriken ab. Die Bonzen hatten gemeint, dies sei eine ideale Mög-lichkeit, meine Kräfte wiederherzustellen, bis ich meinen Dienst wiederaufnahm.

Nora veranstaltete ihre erste Ausstellung, um die Werke zu zeigen, die sie in den einundzwanzig Monaten seit Kriegsbeginn geschaffen hatte. Das kleine Atelier - früher ein Gewächshaus hinter dem Haus ihrer Mutter - war mit Menschen überfüllt. Sie sah sich prüfend um. Es gefiel ihr - alles war gelungen.

Auch die Zeitungen hatten ihre Kritiker geschickt, und die schienen beeindruckt. Nora glühte innerlich vor Stolz. Diese Ausstellung - das war eine Entschädigung für die vielen ermüdenden Nächte, die sie im Atelier verbracht hatte, denn tagsüber arbeitete sie in einer Flugzeugfabrik.

Der Krieg. Es war albern, was sie getan hatte. Aber sie war hineingerutscht wie alle andern. Hineingerutscht in die Hysterie des Patriotismus. Die Zeitungen hatten viel davon hergemacht: Nora Hayden, die prominente Debütantin, Tochter einer der ersten Familien von San Francisco und zugleich eine der verheißungsvollsten jungen Künstlerinnen Amerikas, setzt ihre Karriere für die Dauer des Kriegs hintan!

Als sie das las, war sie sich selbst wie eine Närrin vorgekommen. Aber schließlich hatte sie 1942 nicht gedacht, daß sich der Krieg so lange hinziehen würde. Nun mußte sie es ausbaden. Sie hatte es satt, um sechs Uhr dreißig aufzustehen und sechs Tage in der Woche fünfzehn Meilen weit zur Arbeit zu fahren, um jeden Tag die gleiche, geisttötende Arbeit zu tun.

Das Fließband. Das Fließband stoppen. Draht eins an Draht zwei löten. Das Fließband weiterlaufen lassen, damit das Mädchen neben ihr Draht zwei an Draht drei löten kann. Das Fließband stoppen. Draht eins. Nein, Nora war es müde, die tapfere Kriegshelferin zu spielen.

Das Ganze war zu sehr mechanisiert, zu genau geplant für sie. Sogar die Mittagspause war organisiert. Nicht genug damit, daß sie diese scheußlichen Sandwiches essen mußte; nein, jeden

Mittag mußte sie außer dem Sandwich und dem trüben, ungesüßten Kaffee auch noch Ermahnungen schlucken, die Produktion zu steigern.

Und diesen Mittag sollte in der Pause ein Kriegsheld eine Ansprache an die Belegschaft halten. Sie war nicht hingegangen, sondern hatte sich nach oben in die Lounge geschlichen. Hier kauerte sie auf einer Bank in der Nähe des Fensters. Dann zündete sie sich eine Zigarette an und streckte sich aus. Sie schloß die Augen. Es war schon eine Wohltat, daß der Fabriklärm wenigstens eine Zeitlang aufhörte. Sie konnte Ruhe brauchen. Erst um vier Uhr morgens war sie ins Bett gekommen, denn sie hatte dafür sorgen müssen, daß alles für die Ausstellung am Nachmittag richtig vorbereitet war. Von draußen kam der brausende Beifall der Menge. Sie setzte sich auf und sah hinaus. Ein olivfar-bener Chevrolet der Army war an die Tribüne herangefahren und hielt genau unter der großen blauweißen E-Flagge der Fabrik - der Auszeichnung für »exzellente« Leistung.

Wieder brausender Beifall, als ein Mann aus dem Rücksitz stieg und zur Tribüne hinaufging. Der Mann war natürlich ich.

Ich tat gar nichts. Der Beifall machte mich verlegen. Hilflos sah ich beiseite. Ich war immer noch Neuling genug, um mir wie ein Idiot vorzukommen. Ich drehte mich um und blickte nach oben.

Ein Mädchen stand am Fenster, genau über dem Eingang. Zuerst glitten meine Augen an ihr vorbei, dann kehrten sie zu ihr zurück - Reflex? Vorwissen? Kismet? Ich weiß es nicht. Jedenfalls trafen sich in jenem Bruchteil einer Sekunde unsere Blicke.

Dann wandte sich Nora ärgerlich vom Fenster ab. Es war zuviel für sie. Sie gehörte nicht hierher, sie hätte von Anfang an niemals hier arbeiten sollen. Sie zögerte eine Sekunde, dann ging sie hinunter zur Personalabteilung. Eines Tages mußte sie doch Schluß machen warum nicht gleich heute? Am Tag ihrer ersten Ausstellung?

Und nun war alles anders. Hier - auf der Ausstellung - war sie wieder ein lebendiger Mensch, und es geschah wieder etwas in der Welt um sie her. Sie schaltete sich in ein Gespräch ein, das Sam Corwin, der Kunsthistoriker des »Examiner«, mit einem Mann führte, den sie nicht kannte.

»Assemblage ist die Kunst der Zukunft, das Zusammenwerfen«, sagte Sam. »Wir erleben jeden Tag, den der Krieg länger dauert, daß die einzig echte Kunst ein Resultat des Zufalls ist. Der Krieg zerstört die altüberkommenen Zielsetzungen des Menschen, und das einzige, was übrigbleiben wird, wenn das alles vorüber ist, wird ein Ergebnis des Zufalls sein. Deshalb ist Assemblage die einzige Kunstform, die den Versuch der Natur widerspiegelt, aus sich heraus etwas Bedeutendes zu verkörpern.«

Sie stürzte sich kopfüber in das Thema. Jede Gelegenheit, eine Meinung zu äußern, die genau der von Sam Corwin entgegengesetzt war, nutzte sie aus. Sie erinnerte sich daran, wie auch sie von seinem Wissen beeindruckt gewesen war. Sie war noch nicht ganz siebzehn gewesen und eine begeisterte Kunststudentin, als sie eines Abends in seine Wohnung ging, um seinen klugen Worten zuzuhören. Das endete damit, daß sie ihre Meinungsverschiedenheiten mit zu Bett nahmen, um sie dort zu lösen. Sie erinnerte sich auch noch seines entsetzten Gesichts, als sie ihm nachher sagte, daß sie noch nicht in dem gesetzlichen Alter war.

Jetzt drehte sie sich um und sah Sam ins Gesicht. »Ich bin anderer Meinung, Sam. Kunst ohne bestimmtes Ziel ist nichts. Sie drückt nur die Leere des Künstlers aus. Besonders in der Skulptur. Ein vollendetes Werk muß eine Aussage haben, selbst wenn sein Schöpfer der einzige Mensch ist, der sie versteht.«

Sie lächelte dem Mann zu, den sie nicht kannte, und entschuldigte sich; sie streckte ihm die Hand entgegen: »Ich bin Nora Hayden - manchmal bringt mich Sam einfach auf die Palme!«

Der kleine Mann mittleren Alters mit dem freundlichen Lächeln nahm ihre Hand. »Ich glaube, Sam tut das manchmal ganz absichtlich! Es ist mir eine Freude, Sie kennenzulernen, Miss Hayden. Ich bin Warren Bell.«

Überrascht hob sie den Blick. Warren Bell war einer der führenden Kunstgelehrten des Landes. »Professor Bell. welch eine Ehre!« Sie sah Sam vorwurfsvoll an. »Du hättest mich benachrichtigen müssen, Sam, daß Dr. Bell kommt.«

»Schelten Sie ihn nicht, Miss Hayden. Tatsächlich hatte ich gar nicht vor herzukommen. Ich hatte mich mit Sam zum Lunch verabredet, und er hat mich einfach ins Schlepptau genommen. Da ich schon so viel von Ihrer Arbeit gehört hatte, konnte ich nicht widerstehen.«

»Professor Bell plant eine Ausstellung zeitgenössischer amerikanischer Bildhauer unten im u.s.c.«, sagte Sam. »Ich meinte, daß keine solche Ausstellung vollständig wäre, wenn nicht ein Werk von dir dabei ist. Du siehst also, daß ich gar nicht so sehr gegen dich bin, wie du denkst.«

Sie hob die Hände: »Ich bekenne mich geschlagen! Sam, du hast absolut recht. Assemblage ist die Kunst der Zukunft.«

Alle lachten.

»Ich rufe Arlene Gately, damit sie Sie führt«, sagte Nora zu Dr. Bell. Arlene Gately hatte eine kleine Kunstgalerie in der unteren Stadt und war Noras Betreuerin und Agentin.

»Das ist nicht nötig. Ich würde viel lieber auf eigene Faust herumstöbern.«

»Also bitte!« Sie lächelte. »Und wenn Sie irgend etwas wissen wollen, tragen Sie mich.«

Der Professor machte eine kleine Verbeugung und ging. Nora wandte sich zu Sam.

»Du Stinktier!« flüsterte sie. »Du hättest mir doch einen Tip geben können!«

»Das wollte ich. Aber jedesmal, wenn ich mich nach dir umsah, warst du von Menschen umringt.« Er fischte eine Pfeife aus seinem Jackett und steckte sie in den Mund. »Übrigens - stimmt es, daß du nächsten Monat in New York im Clay Club ausstellst?«

Sie sah ihn neugierig an. »Woher weißt du das?«

»Von Arlene. Woher sonst?«

»Manchmal schwatzt Arlene zuviel«, sagte sie. »Es ist noch nichts Endgültiges.« Sie sah sich nach Professor Bell um. »Und du meinst wirklich, er wird etwas nehmen?«

»Wer weiß? Unberufen toi, toi, toi. Es ist Zeit, daß San Francisco mit einem wirklichen Bildhauer außer Búfano herauskommt.«

»Und du glaubst, ich bin eine echte Bildhauerin, Sam?« sagte sie, und plötzlich waren ihre Augen ganz ehrlich und ernst.

»Die echteste, die es gibt«, sagte er ebenso ernst. »Und ich habe so eine Ahnung, daß Bell derselben Meinung sein wird.«

Sie holte tief Atem. »An so viel Holz kann ich gar nicht klopfen, Sam!«

Er wandte sich wieder zu ihr und lächelte. »Wenn’s gut ausgeht, werde ich mir zur Abwechslung einmal nicht von einer Künstlerin anhören müssen, daß die einzig wahre Inspiration im Marxismus zu finden ist!«

Sie lachte. »Armer Sam, du hast schon deine Sorgen, nicht wahr?«

»Woher weißt du das?« fragte er trocken. »Ich habe dich in letzter Zeit sehr selten zu sehen bekommen.«

Sie legte die Hand auf seinen Arm. »Das liegt nicht daran, daß ich dich weniger liebe, Sam. Ich habe kaum Zeit für mich selbst gehabt. Zwischen der Flugzeugfabrik und meinem Atelier blieb mir nur verdammt wenig Zeit.«

»Du siehst etwas nervös aus. Ich glaube, du brauchst eine

meiner berühmten Entspannungskuren.«

Sie sah ihn nachdenklich an. Sie waren beide nicht naiv. Und eine Liebe ist der andern wert. Es bedeutete nichts und bedeutete alles. Das war nun einmal die Welt, in der sie lebten.

»Es ist ziemlich lange her, Sam, nicht wahr?«

»Zu lange«, antwortete er.

»Meinst du, der Herr Doktor könnte heute abend für mich Zeit haben?«

»Ich denke, der Herr Doktor kann’s einrichten. Um acht - in meiner Wohnung?«

»Gut. Ich komme.«

Sie sah ihm nach, wie er zu Professor Bell ging. Sie versuchte zu hören, was er zu ihm sagte, aber eine Hand legte sich auf ihren Arm und zog sie herum.

»Nun, wie geht alles, mein Kind?«

»Großartig, Mutter.«

»Das freut mich.« Cecilia Hayden lächelte. Sie lächelte nicht oft. Aber ihr Lächeln ließ die leuchtendblauen Augen unter dem sorgsam frisierten weißen Haar wärmer erscheinen. »Ich überlegte nämlich, ob du Zeit hättest, mir einen kleinen Gefallen zu tun.«

»Was denn, Mutter?«

»Da ist ein junger Mann - der Sohn eines Freundes deines Vaters. Ich hatte nicht an deine Ausstellung gedacht, als ich ihn für heute nachmittag zu einem Cocktail einlud. Er wird wahrscheinlich zum Dinner bleiben.«

»Aber Mutter.« Nora sprach mit gereizter Stimme. »Der Zeitpunkt ist wirklich schlecht gewählt. Ich habe jetzt einfach zuviel im Kopf.«

»Bitte, Nora.«

Nora sah ihre Mutter an. Diese beiden Worte erübrigten jedes

Argument. Trotz ihres zarten Äußeren war Cecilia Hayden hart wie Stein. »Er ist anscheinend ein sehr netter junger Mann«, fuhr sie fort. »Ein Kriegsheld. Und er hat nur drei Tage Zeit, ehe er wieder hinaus muß. Ich bin überzeugt, daß er dir gefallen wird. Ich habe Charles gesagt, er soll ihn herbringen, sobald er kommt.«

Nora nickte und wandte sich um, als Sam gerade mit aufgeregtem Gesicht zu ihr kam. »Er will den >Sterbenden Mannc/c

»Ausgerechnet!« sagte Nora entsetzt.

»Ihm gefällt er.«

»Red’s ihm aus«, bat sie. »Ich wollte den >Sterbenden Mann< ja gar nicht in die Ausstellung hineinnehmen, und ich hätt’s auch nicht getan, wenn ich nicht gerade ein großes Stück gebraucht hätte, um die Ecke auszufüllen. Heute arbeite ich überhaupt nicht mehr so.«

»Das ist doch egal. Er will gerade dieses Stück.«

Sie drehte sich um und sah über die vielen Menschen hinweg auf die große eiserne Gestalt. Ein Mann, der, schon halb zu Boden gesunken, sich auf den Ellbogen stützte, eine Hand auf dem Herzen, mit schmerzverzerrtem Gesicht. Sie erinnerte sich, wie aufgewühlt sie daran gearbeitet hatte. Aber jetzt kam er ihr irgendwie häßlich vor.

»Bitte, Sam, überrede ihn zu etwas anderem!«

»Ich denke nicht daran! Nachdem er mir eben gesagt hat, er habe an dieser Figur zum erstenmal gesehen, daß ein Künstler in einer Plastik genau den Moment des Todes gepackt hat.«

Sie sah ihn groß an. »Hat er das wirklich gesagt?«

Sam nickte.

Sie blickte nochmals die Skulptur an und versuchte darin zu sehen, was der große Kenner gesagt hatte. »Also gut«, sagte sie endlich.

»Gut. Dann sage ich ihm, daß er es haben kann.«

Zumindest war es ein großes Stück, tröstete sie sich. Und in einer Kollektivausstellung war das besser als ein kleines. Daran konnten die Leute nicht vorbeisehen.

Sie stand noch nachdenklich da, als ihre Mutter mich zu ihr führte.

Mrs. Hayden berührte ihren Arm, und Nora wandte sich zu uns um.

Sie hob das Gesicht, und ich wußte, daß sie das Mädchen war, das ich diesen Mittag in der Fabrik am Fenster gesehen hatte.

Ich sah, daß sie vor Überraschung große Augen machte, und merkte daraus, daß auch sie mich wiedererkannt hatte.

»Nora - das ist Major Luke Carey. Major Carey, das ist meine Tochter Nora.«

Kriege sind der Wetzstein, den der Mensch braucht, um seinen Appetit zu schärfen.

Ich sah sie an, und ich wußte, daß ich geliefert war.

Manche Mädchen sind Huren und manche sind Damen, und jedem Mann kommt im Leben eine über den Weg, die beides ist. Das war mir in dem Augenblick klar, als ich ihre Hand berührte.

Die dunkelblauen Augen waren fast violett unter den langen, schweren Wimpern, das üppige schwarze Haar hoch aus der Stirn gekämmt. Die blasse, durchsichtige Haut, straff über die hohen Backenknochen gespannt, und die schlanke, kleinbusige, fast knabenhafte Gestalt machten den Eindruck vollends verwirrend. Aber für mich war sie genau das Richtige.

Dies war das Schicksal. Leben und Tod. Alles und ganz.

Mrs. Hayden war fortgegangen. Ich hielt noch immer Noras Hand. Ihre Stimme war leise und hatte die sorgsam gezüchtete Beherrschtheit, die den Mädchen in den besten Schulen anerzogen wird. »Wo sehen Sie hin, Major Carey?«

Ich ließ ihre Hand schnell los. Es war, als verlöre ich den Kontakt mit einer seltsamen Art von Wirklichkeit - so wie man seinen Kopf an eine Wand stößt, bloß um zu spüren, wie gut es ist, wenn man damit aufhört. »Entschuldigen Sie bitte«, sagte ich, »ich wollte Sie nicht anstarren.«

»Wie haben Sie herausbekommen, wo ich zu finden bin?«

»Gar nicht. Es war ein glücklicher Zufall.«

»Haben Sie immer so viel Glück?«

Ich schüttelte den Kopf. »Nicht immer.«

Ich sah ihre Augen über die Ordensbänder an meiner Bluse gleiten. Ich wußte, was sie sah. Außer dem Purple Heart und dem Eichenlaub war genug Buntes da, um einen kleinen Christbaum damit zu schmücken.

»Aber Sie haben’s wenigstens überlebt.«

Ich nickte. »Ich glaube, ich darf mich nicht beklagen. Bis jetzt ist noch alles glattgegangen.«

»Und Sie meinen nicht, daß es weiter glattgehen wird?«

Es war mehr eine Feststellung als eine Frage. Ich lachte. Dieses Mädchen ging den Sachen auf den Grund, ohne auch nur eine Minute zu verlieren.

»Zweimal hab’ ich Glück gehabt«, sagte ich. »Das drittemal -nein, das gibt es nicht.«

»Haben Sie Angst vor dem Tod?« - »Ständig.«

Sie sah wieder auf die bunten Bänder. »Ich glaube, man würde Sie nicht nochmals einsetzen, wenn man das wüßte.«

»Wahrscheinlich nicht«, sagte ich. »Aber ich verrate es nicht.«

»Warum nicht?«

»Ich glaube, weil ich mehr Angst davor habe, mich zu drük-ken, als zu sterben.«

»Das kann nicht der einzige Grund sein.«

Allmählich wurde es mir unbehaglich. Sie hörte nicht auf zu bohren. »Vielleicht nicht«, gab ich zu. »Vielleicht nur deshalb, weil der Tod wie eine Frau ist, der man zu lange nachgejagt hat. Man will endlich wissen, ob er so gut oder so schlimm ist, wie man sich’s vorgestellt hat.«

»Und das ist alles, woran Sie denken? Der Tod?«

»Ich habe fast zwei Jahre kaum Zeit gehabt, an etwas anderes

zu denken.« Ich sah auf die Skulptur, die mir sofort aufgefallen war, als ich hereinkam: der >Sterbende Mann<. Ich merkte, wie ihre Augen mir folgten. »Ich bin wie der Mann da drüben. Jede Sekunde, die ich lebe.«

Ich sah, wie sie das Werk prüfend betrachtete, dann griff sie wieder nach meiner Hand. Ich spürte, wie sie zitterte.

»Bitte. Ich wollte gar nicht, daß es so verdammt scheußlich klingt!« sagte ich.

»Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen«, antwortete sie schnell. Jetzt waren ihre Augen dunkel, beinahe blauschwarz, wie die schweren Trauben in den Weinbergen von Sacramento. »Ich verstehe ganz genau, was Sie meinen.«

»Ich glaube es Ihnen.« Ich lächelte. Dann sah ich weg. Ich konnte nicht mehr.

»Wissen Sie«, sagte ich, »als ich erfuhr, daß ich zu dieser Sache hier kommen müßte, dachte ich mir’s schrecklich langweilig. Wieder so eine amerikanische höhere Tochter, die in Kunst macht, dachte ich mir.« Ich fand es sicherer, wieder von ihr zu sprechen. »Aber jetzt habe ich das Gefühl, daß Sie einigermaßen etwas können.«

»Nicht nur einigermaßen, Luke!« Die wohlbekannte Stimme war direkt hinter mir. »Sie kann sehr viel!«

Ich fuhr herum. Es war länger als drei Jahre her, daß ich diese Stimme gehört hatte. »Professor Bell!«

Er war ganz aufgeregt und sichtlich erfreut, als er mir die Hand schüttelte. »Luke war vor ein paar Jahren mein Schüler«, erklärte er Nora. »Hauptfach Architektur.«

»Baufach«, verbesserte ich in Erinnerung an unseren alten Streit. »Architektur ist nämlich etwas, worin die Tauben nisten können. Bauen ist etwas für Menschen.«

»Der alte Luke, unverbesserlich!« Er blickte mir ins Gesicht, und ich las das Erschrecken in seinen Augen. Ich hatte dieses

Erschrecken mehrmals in den Augen alter Freunde gesehen. Die kleinen Schrapnellnarben kreuz und quer in meiner kupferbraunen, ledernen Haut gehörten irgendwie nicht zu dem frischen Jungen, der in den Krieg gezogen war.

»Nicht so ganz derselbe alte Luke, Professor«, sagte ich, um ihm darüber hinwegzuhelfen. »Es waren lange Kriegsjahre.«

Und während der ganzen Zeit, die wir da standen, spürte ich, wie ihre Hand in der meinen immer wärmer wurde.

Wir aßen in dem großen Speisezimmer, dessen Fenster über die niedrigeren Berge auf die Bucht hinaussahen. Reiche Eichentäfelung, ein großer runder Tisch, brennende Kerzen in schimmernden Silberleuchtern. Alle andern waren gegangen, wir waren nur zu dritt - Nora, ihre Mutter und ich. Ich saß der alten Dame gegenüber. Das alles hier war der gegebene Hintergrund für sie. Alles paßte zueinander. Sie saß hoch aufgerichtet und gerade -irgend etwas an ihr erinnerte mich an eine blitzende Stahlklinge.

Sie war eine starke Persönlichkeit und sich in ihrer ruhigen, gemessenen Art ihrer Kraft bewußt. Und man spürte ständig ihre Klugheit, ohne daß sie diese jemals hätte beweisen müssen. Nach den Erzählungen meines Vaters waren viele Leute sehr überrascht gewesen, als sie mit dieser stillen jungen Witwe zu verhandeln hatten, die zwei große Vermögen geerbt hatte.

»Mein verstorbener Mann hat oft von Ihrem Vater gesprochen.« Sie lächelte mir über den Tisch hinweg zu. »Sie waren sehr gute Freunde. Eigentlich sonderbar, daß wir uns nie begegnet sind.«

Ich nickte stumm. Ich fand es nicht so sonderbar. Bis mein Vater im letzten Jahr seinen Dienst quittiert hatte, war er Postmeister in der kleinen südkalifornischen Stadt gewesen, in der ich geboren bin. Er gehörte so wenig zu Gerald Haydens Welt wie Hayden zu der seinen. Sie hatten nichts gemeinsam als die Erinnerung, während des Ersten Weltkriegs in derselben Kompanie gedient zu haben.

»Ihr Vater hat meinem Mann im Ersten Weltkrieg das Leben gerettet - das wissen Sie sicher?«

»Ich habe die Geschichte gehört. Nur war es gerade umgekehrt, wenn mein Vater sie erzählte.«

Sie griff nach der kleinen silbernen Glocke, die vor ihr auf dem Tisch stand. Ein zartes Läuten. »Wollen wir im Wintergarten Kaffee trinken?«

Ich sah hinüber zu Nora. Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. »Geh nur mit Major Carey hinüber, Mutter«, sagte sie, »ich habe um acht eine Verabredung in der Stadt unten.«

Ein leichter Schatten überflog Mrs. Haydens Stirn und verschwand wieder. »Ach, wirklich, Kind? Mußt du.?«

Nora sah ihre Mutter nicht an. »Ich habe Sam Corwin zugesagt, mit ihm seine Pläne für eine Ausstellung moderner Architektur durchzusprechen.«

Mrs. Hayden blickte auf mich, dann auf Nora. Ihr Ton deutete nur leisesten Widerstand an, und sie wählte ihre Worte sehr sorgfältig. Weil ich da war, oder. Ich wußte es nicht. »Ich dachte, du hättest diese Dinge hinter dir«, sagte sie. »Es ist ziemlich lange her, daß du Mister Corwin das letztemal gesehen hast.«

»Ich muß, Mutter. Schließlich habe ich es Sam zu verdanken, daß Professor Bell zu meiner Ausstellung gekommen ist.«

Ich wandte mich an die alte Dame. »Bitte, Mrs. Hayden, Sie brauchen auf mich keine Rücksicht zu nehmen. Ich muß selbst um acht Uhr dreißig wieder im Presidio sein«, sagte ich schnell. »Ich kann Ihre Tochter unterwegs absetzen, wenn es Ihnen recht ist.«

»O nein. Ich will Ihnen keine Mühe machen«, sagte Nora.

»Es macht mir keine Mühe. Ich fahre einen Dienstwagen, brauche mir also über die Benzinmarken nicht den Kopf zu zerbrechen.« »Dann gern«, sagte Nora. »Lassen Sie mir nur ein paar Minuten Zeit zum Umziehen.«

Wir sahen ihr nach, als sie hinausging. Dann sagte ich zu ihrer Mutter: »Sie haben eine sehr begabte Tochter, Mrs. Hayden. Sie können stolz auf sie sein.«

»Das bin ich«, antwortete sie. »Aber ich muß bekennen, manchmal verstehe ich sie nicht ganz. Manchmal werde ich richtig kopfscheu. Sie ist so ganz anders als die jungen Mädchen zu meiner Zeit. Nun ja, schließlich - Nora ist ein Einzelkind, und ich war nicht mehr sehr jung, als sie zur Welt kam.«

»Das ist der Krieg. Wir sind alle anders, Mrs. Hayden.«

»Unsinn. Das höre ich ständig«, sagte sie scharf. »Das ist so eine Redensart. Ihre Generation ist nicht die einzige, die einen Krieg erlebt hat. Die meine hat es auch. Und die jungen Menschen aus der Generation meiner Eltern ebenfalls.«

Ich hätte verschiedenes einwenden können, tat es aber nicht. »Ihre Tochter ist hoch begabt«, sagte ich wieder. »Professor Bell meinte oft, es sei keineswegs leicht, ein großes Talent zu verstehen oder mit ihm zu leben.«

Ihre Augen wurden wieder hell. Sie lächelte belustigt. »Sie sind ein netter junger Mann. Ich hoffe sehr, Sie werden uns wieder besuchen. Ich habe das Gefühl, daß uns das recht gut täte.«

»Danke. Ich komme gern wieder. Aber ich muß wieder nach Übersee. Vielleicht geht es, wenn der Krieg vorbei ist.«

Sie sah mir direkt in die Augen. »Das könnte zu spät sein.«

Ich glaube, ich machte ein sehr erstauntes Gesicht, denn sie schien noch amüsierter als vorher. Ich griff nach einer Zigarette.

»Ich habe gehört, daß Sie ein vielverheißender junger Architekt gewesen sind, ehe Sie zum Militär gingen, Major Carey.«

»Offenbar gibt es nicht viel, was Sie nicht wüßten, Mrs. Hayden.«

»Man tut, was man kann, Major Carey. Für eine hilflose Witwe ist es sehr wichtig, die Augen offenzuhalten.«

Ich wollte protestieren. Hilflose Witwe. meine Güte! Doch ich sah ihr Lächeln und wußte, daß sie mich zum besten hielt. »Vor dem Krieg haben Sie sich um eine Anstellung bei Hayden & Canadiers beworben. Man hatte damals einen sehr guten Eindruck von Ihnen.«

»Die Army hatte einen noch besseren.«

»Das weiß ich, Major Carey«, sagte sie. »Ich kenne auch Ihre Beurteilung als Offizier.«

Ich hob abwehrend die Hand. »Ersparen Sie mir’s, Mrs. Hayden. Worauf wollen Sie hinaus?«

Sie sah mich offen an. »Sie gefallen mir, Major Carey. Unter gewissen Umständen könnten Hayden & Caruthers eine Vizepräsidentensteile für sie offen haben.«

Nun starrte ich sie an. Das hieße weiß Gott von oben anfangen! Nicht schlecht für einen jungen Mann, der nach seiner Abschlußprüfung noch keine Stellung innegehabt hat. Hayden & Caruthers - das war eine der führenden Firmen der Bauwirtschaft an der Westküste.

»Woher wissen Sie das, Mrs. Hayden?«

»Ich weiß es eben«, sagte sie gelassen. »Ich besitze den entscheidenden Anteil an der Firma.«

»Und was meinen Sie mit >gewissen Umständen<?«

Sie sah zur Tür und dann wieder auf mich. Ihre Augen waren hell und fest auf mich gerichtet. »Ich glaube, Sie wissen die Antwort bereits.«

In diesem Augenblick kam Nora ins Zimmer. »Ich hoffe, ich habe Sie nicht zu lange warten lassen.«

»Durchaus nicht«, sagte ich.

»Der Major und ich. wir hatten ein wirklich interessantes Plauderstündchen, Nora.«

Ich fing den raschen, neugierigen Blick auf, den Nora ihrer Mutter zuwarf. Dann sah ich die alte Dame an. »Vielen Dank für das reizende Dinner, Mrs. Hayden«, sagte ich formell.

»Es war uns eine Freude. Und denken Sie über das nach, was ich Ihnen sagte.«

»Das werde ich tun, Madam. Und nochmals - vielen Dank.«

»Leben Sie wohl, Major.«

»Gute Nacht, Mutter«, sagte Nora.

Als wir an der Tür waren, rief uns Mrs. Hayden nach: »Und bleib nicht zu lange aus, Kind.«

Ich atmete den Duft von Noras Parfüm ein, als sie sich im Wagen zurücklehnte. Ich fand ihn erregend. Keineswegs die Art Parfüm, die eine Dame benützt, wenn sie zu einer geschäftlichen Besprechung geht.

»Wohin?« fragte ich.

»Untere Lombard Street. Hoffentlich ist das kein Umweg für Sie?«

»Durchaus nicht.«

Sie rückte näher und legte mir die Hand auf den Arm. »Hat Mutter über mich gesprochen?«

»Nein.« Es war nicht direkt gelogen. Oder auch nicht direkt die Wahrheit. »Warum?«

»Aus keinem besonderen Grund«, sagte sie gleichgültig.

Schweigend fuhren wir ein paar Blocks entlang.

»Sie müssen nicht um acht Uhr dreißig im Presidio sein?«

»Nein. Und Sie? Können Sie Ihre Verabredung schießenlassen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Jetzt nicht mehr, dazu ist es zu spät. Es wäre.« Sie zögerte. »Es wäre nicht fair. Verstehen Sie das?«

»Völlig klar und eindeutig.«

Sie sah mich an. »Nein, so etwas ist es nicht«, sagte sie schnell.

»Ich habe ja nichts gesagt.«

Eine Verkehrsampel. Ich hielt an. Das Rot der Ampel lag wie eine Flamme auf ihrem Gesicht. »Was werden Sie jetzt tun?« fragte sie.

»Ich weiß nicht. Vielleicht nach Chinatown hinunterfahren, mir einen hinter die Binde gießen.«

»Das ist schnöde Flucht.«

Das Licht wechselte. Ich startete. »Die schnödeste«, gab ich zu. »Aber immer noch die beste Möglichkeit, die ich kenne, um mir etwas vom Hals zu schaffen.«

Ich spürte, wie ihre Hand sich fester um meinen Arm schloß. »Ist es so schlimm?«

»Manchmal.«

Durch meinen Ärmel fühlte ich ihre Fingernägel. »Ich wünschte, ich wär’ ein Mann.«

»Ich bin froh, daß Sie keiner sind.«

Sie wandte sich zu mir. »Wollen wir uns nachher treffen?«

Ich fühlte ihre festen, kleinen Brüste an meinem Arm. Nun wußte ich, daß ich recht gehabt hatte. Sie war alles das, was ich dachte, und ich brauchte bloß zuzugreifen. Aber irgend etwas hielt mich zurück.

»Ich glaube nicht«, sagte ich.

»Warum nicht?«

»Aus keinem besonderen Grund.« Ich war ärgerlich auf mich selbst.

»Es spielt keine Rolle.«

»Für mich doch. Sagen Sie mir’s.«

Ich merkte, wie meine zornige Gereiztheit sich meiner Stimme bemächtigte. »Ich habe mindestens ein Dutzend anderer

Möglichkeiten in dieser Stadt, wo ich der Zweite sein könnte., wenn das alles wäre, was ich suchte.«

Sie ließ meinen Arm los und rückte weg. Ich sah, daß ihr plötzlich die Tränen in die Augen rannen.

»Entschuldigen Sie«, sagte ich. »Ich bin so lange weggewesen

- ich habe vergessen, wie man sich benimmt.«

»Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Ich habe es verdient.« Sie sah aus dem Fenster. »Hier können Sie wenden. Es ist in der Mitte des nächsten Blocks.«

Ich zog den Wagen an die Bordschwelle.

»Sie haben noch drei Tage Urlaub?«

»Ja.«

»Werden Sie mich anrufen?«

»Ich glaube nicht. Ich will hinunter nach La Jolla und noch ein bißchen fischen.«

»Ich könnte auch hinunterkommen.«

»Ich glaube, das wäre nicht ratsam.«

»Oh. haben Sie ein Mädchen da unten?«

Ich lachte. »Nein, kein Mädchen.«

»Dann. warum?«

»Weil ich wieder in den Krieg gehe«, sagte ich schroff. »Weil ich keine Bindungen will. Ich will an nichts anderes zu denken haben, als daß ich den nächsten Tag überlebe. Ich kenne zu viele Jungens, die ihr >Morgen< verloren, weil sie hinter sich blickten.«

»Sie fürchten sich.«

»Sie haben verdammt recht. Ich sagte es Ihnen ja schon.«

Jetzt kamen ihr wirklich die Tränen. Sie rollten ihr langsam die Wangen hinunter.

Ich legte ihr die Hand auf die Schulter.

»Hören Sie, das ist töricht«, sagte ich zärtlich. »Gerade jetzt ist doch alles verkrampft. Vielleicht eines Tages, wenn der Krieg vorbei ist. Wenn ich durchkomme.«

Sie unterbrach mich. »Aber Sie haben selbst gesagt, daß es kein drittes Mal gibt!«

»So berechnen wir’s im allgemeinen«, gab ich zu.

»Dann glauben Sie ja selbst nicht, daß Sie mich anrufen werden. Nein, niemals!« In ihrer Stimme lag eine sonderbare Trauer.

»Ich muß mich ja dauernd bei Ihnen entschuldigen. Es tut mir leid, wirklich.«

Sie sah mich einen Augenblick fest an, dann stieg sie aus dem Wagen. »Ich mag keine Abschiede.«

Ich hatte keine Möglichkeit, ihr zu antworten, denn sie lief schnell die Stufen hinauf, ohne zurückzuschauen. Ich steckte mir eine Zigarette an und sah zu, wie sie an der Türglocke läutete. Gleich darauf erschien ein Mann und ließ sie ein.

Als ich morgens gegen drei Uhr in mein Hotel kam, lag ein Zettel unter meiner Tür.

Bitte rufen Sie mich morgen früh an, damit wir unser Gespräch fortsetzen können.

Die Unterschrift: Cecilia Hayden.

Ärgerlich zerknüllte ich das Blatt und warf es in den Papierkorb. Ich fuhr am Morgen nach La Jolla, ohne mir die Mühe zu machen, sie anzurufen.

Noch in derselben Woche war ich schon auf dem Weg nach Australien, zurück in den Krieg. Wenn ich mir jemals eingebildet hätte, daß die alte Dame viel Zeit damit verlor, auf meinen Anruf zu warten, so hätte ich mir selbst nur blauen Dunst vorgemacht.

Es gab gewisse Dinge, auf die sie nicht warten konnte. Nach einer gewissen Zeit rief sie Sam Corwin an.

»Mrs. Hayden«, sagte Sam Corwin, als er in das Zimmer trat, in dem die alte Dame ihn erwartete, »ich hoffe, ich habe Sie nicht warten lassen.«

»Durchaus nicht, Mister Corwin«, sagte sie lebhaft. »Bitte, nehmen Sie Platz.«

Er sank in den Sessel und sah sie neugierig an. Seit sie ihn morgens angerufen hatte, fragte er sich, weshalb sie ihn wohl zu sehen wünschte.

Sie kam sofort zur Sache. »Nora ist für den Eliofheim-Preis für Bildhauerei vorgesehen.«

Mit einem neuen, plötzlich erwachten Respekt sah Sam Corwin sie an. Er hatte allerlei Gerüchte gehört, aber die Namen waren streng geheimgehalten worden. Besonders, da dieser Preis zum erstenmal seit dem Kriegsausbruch verteilt wurde.

»Woher wissen Sie das?« fragte er neidisch. Nicht einmal ihm war es gelungen, etwas darüber zu erfahren.

»Das spielt keine Rolle«, sagte sie kurz. »Wichtig ist nur, daß ich es weiß.«

»Gut. Es freut mich für Nora. Ich hoffe, sie bekommt den Preis. Denn sie verdient ihn.«

»Deshalb wollte ich Sie sprechen. Ich möchte gern sicher sein, daß sie ihn bekommt.« Sam sah sie groß an. Er sagte nichts.

»Manchmal ist Geld ein schreckliches Hindernis«, fuhr Mrs.

Hayden fort. »Besonders in der Kunst. Ich möchte sichergehen, daß der Reichtum meiner Tochter sich nicht nachteilig auf ihre Chancen auswirkt.«

»Das wird nicht passieren, Mrs. Hayden, davon bin ich überzeugt. Die Jury steht über diesen Dingen.«

»Kein Mensch steht über diesem oder jenem Vorurteil«, antwortete sie sehr bestimmt. »Und ich habe den Eindruck, daß zur Zeit die ganze Kunst von der kommunistischen Ideologie bestimmt wird. Fast jedes Werk, das außerhalb dieser bestimmten Gruppe entsteht, wird automatisch als bourgeois und unbedeutend abgelehnt.«

»Bringen Sie das nicht auf einen zu einfachen Nenner?«

»Meinen Sie?« Sie sah ihn offen an. »Sagen Sie selbst: Jeder

- wenigstens fast jeder Kunstpreis wurde in den letzten Jahren von einem Künstler gewonnen, der, wenn nicht ausgesprochener Kommunist, zumindest eng mit dieser Richtung verbunden war.«

Sam wußte nichts zu antworten. Sie hatte beinahe völlig recht. »Vorausgesetzt, ich wäre Ihrer Meinung, sehe ich doch nicht, was ich für Sie tun könnte. Der Eliofheim-Preis ist nicht käuflich.«

»Das weiß ich. Aber wir wissen beide, daß kein Mensch unbeeinflußbar und gegen die Macht der Suggestion gefeit ist. Auch die Jury besteht aus Menschen.«

»Wo sollte ich anfangen? Man müßte da wohl ein paar sehr wichtige Leute dazu bringen, daß sie einen anhören.«

»Ich habe gestern mit Bill Hearst in San Simeon gesprochen. Er hatte durchaus den Eindruck, daß Nora den Preis verdient. Er meint, das würde einen Triumph für den Amerikanismus bedeuten.«

Jetzt bekam das Ganze Hand und Fuß. Er hätte von Anfang an wissen müssen, woher ihre Information stammte. »Hearst könnte natürlich nützlich sein«, sagte Sam. »Und wer sonst?«

»Ihr Freund, Professor Bell, zum Beispiel. Und Hearst hat bereits mit Bertie McCormick in Chicago gesprochen. Auch er ist außerordentlich interessiert. Und sicher gibt es noch viele andere, wenn Sie Ihre Energie dafür einsetzen.«

»Es müßte noch eine Menge getan werden. Jetzt haben wir Februar, also nicht einmal mehr drei Monate, bis die Preise im Mai verteilt werden. Und selbst dann könnten wir nicht absolut sicher sein.«

Sie nahm einen Bogen Papier vom Schreibtisch. »Ihr Gehalt bei Ihrer Zeitung beträgt ungefähr viertausendfünfhundert. Dazu verdienen Sie durchschnittlich annähernd zweitausend mit Zeitschriftenartikeln und verschiedenen anderen Arbeiten.« Sie sah ihn an. »Das ist wirklich nicht sehr viel Geld, Mister Corwin.«

Sam schüttelte den Kopf. »Sehr viel nicht, Mrs. Hayden.«

»Sie haben kostspielige Liebhabereien, Mister Corwin«, fuhr sie fort. »Sie haben eine teure Wohnung. Sie leben gut, wenn auch nicht ganz im Rahmen Ihrer Mittel. In den letzten Jahren haben Sie jährlich etwa dreitausend Dollar Schulden gemacht.«

Er lächelte. »Um meine Schulden mache ich mir keine Sorgen.«

»Das ist mir klar. Ich weiß, Mister Corwin, daß manche dieser Schulden nicht mit Geld, sondern mit Gefälligkeiten bezahlt werden. Rechne ich sehr falsch, wenn ich annehme, daß die Höhe Ihres Gesamteinkommens ungefähr bei zehntausend Dollar liegt?«

Er nickte. »Sie rechnen ungefähr richtig, Mrs. Hayden.«

Sie legte den Bogen wieder auf den Schreibtisch. »Ich bin bereit, Ihnen zehntausend Dollar zu bezahlen, wenn Sie uns behilflich sind, meiner Tochter den Eliofheim-Preis zu sichern. Wenn sie ihn bekommt, könnten wir einen zehnjährigen Kontrakt schließen, der Ihnen zwanzigtausend Dollar jährlich garantiert und zehn Prozent von Noras Bruttoverdienst.«

Sam kalkulierte schnell. Bei Noras derzeitiger Produktion konnte sie fünfzig- bis hunderttausend Dollar verdienen, wenn sie den Preis bekam. »Sagen wir fünfzig Prozent.«

»Fünfundzwanzig«, entgegnete sie rasch. »Schließlich hat meine Tochter noch ihre Galeriemieten zu zahlen.«

»Einen Moment, Mrs. Hayden. Das geht mir ein bißchen zu schnell. Lassen Sie uns feststellen, ob ich genau verstehe, was Sie sagen. Sie engagieren mich als Presseagenten, um Nora zu helfen, daß sie den Eliofheim-Preis gewinnt. Richtig?«

»Richtig, Mister Corwin.«

»Und wenn sie den Preis gewinnt, schließen wir einen Vertrag, nach dem ich ihr persönlicher Bevollmächtigter, Agent und Manager werde - oder wie Sie es nennen wollen. Stimmt es? Und hierfür zahlen Sie mir ein Jahresgehalt von zwanzigtausend plus fünfundzwanzig Prozent des Bruttoverdienstes aus ihrer Arbeit?«

Mrs. Hayden nickte wieder. »Genau.«

»Und was, wenn sie den Preis nicht gewinnt?«

»Dann wäre wohl jeder Vertrag sinnlos, Mister Corwin. Oder.«

»Natürlich, Mrs. Hayden.« Er sah sie scharf an. »Und wenn wir einen Vertrag machen, wer würde die Garantie zahlen?«

»Meine Tochter natürlich.«

»Es könnte doch passieren, daß sie nicht soviel verdient, um dabei auch auf ihre Kosten zu kommen!«

»Ich glaube nicht, daß sie das irgendwie interessieren würde«, sagte die alte Dame lächelnd. »Nora ist eine reiche Frau mit eigenem Vermögen. Sie hat aus dem Familienvermögen ein Jahreseinkommen von über hunderttausend.«

Sam starrte sie an. Daß Nora Vermögen hatte, wußte er, aber er hätte nie auch nur annähernd gedacht, daß es so viel war. »Ich bin noch auf eins neugierig, Mrs. Hayden. Haben Sie mit Nora

schon darüber gesprochen?«

Sie nickte. »Natürlich, Mister Corwin. Ich hätte dies alles doch nicht ohne Noras volles Einverständnis mit Ihnen besprochen.«

Sam holte tief Atem. Das hätte er wissen müssen. Aber er konnte sich nicht enthalten, noch eine Frage zu stellen. »Warum hat sie dann nicht selbst mit mir gesprochen?«

»Nora meinte, es sei besser, wenn Sie und ich es erst durchsprechen«, erwiderte die alte Dame. »Denn dann wäre ihr Verhältnis zu Ihnen nicht getrübt, wenn Sie abgelehnt hätten.«

Sam nickte. »Ich verstehe.« Er fischte in seiner Tasche nach seiner Pfeife und steckte sie nachdenklich in den Mund. »Natürlich ist Ihnen beiden klar, daß, falls ich den Job übernehme, meine Entscheidungen in allen geschäftlichen Dingen maßgebend sind - und zwar endgültig?«

»Nora hat die größte Achtung vor Ihrer Ehrlichkeit ebenso wie vor Ihrer Klugheit.«

»Sie haben eben einen guten Handel abgeschlossen, Mrs. Hayden.«

»Nora wird sich freuen.«

»Wo ist sie? Wir werden allerhand zu besprechen haben.«

»Ich werde sie von Charles rufen lassen. Sie ist im Atelier.«

Sie drückte auf einen Knopf. Der Diener erschien in der Tür. Sie bat ihn, Nora zu holen, und wandte sich wieder zu Sam. Ihre Stimme war trügerisch sanft. »Auch ich bin wirklich froh, Mister Corwin. Es ist sehr beruhigend für mich zu wissen, daß sich außer mir noch jemand um Noras Wohl kümmert.«

»Seien Sie überzeugt, Mrs. Hayden, daß ich mein Bestes tun werde.«

»Daran zweifle ich nicht«, sagte sie. »Ich will ehrlich sein - ich verstehe meine Tochter nicht immer. Sie ist ein äußerst eigenwilliger Mensch. Ich kann ihr Benehmen nicht immer billigen.«

Sam antwortete nicht. Er sog an seiner Pfeife und sah die alte Dame an. Wieviel mochte sie wirklich von Nora wissen? Ihre nächsten Worte ließen keinen Zweifel darüber offen, daß es wohl sehr wenig gab, was sie nicht wußte.

»Ich fürchte, man wird mich in mancher Beziehung für altmodisch halten«, sagte sie halb entschuldigend. »Aber zuweilen kommt mir meine Tochter. ich möchte fast sagen: ziemlich wahllos vor.«

Sam sah sie einen Augenblick sehr prüfend an. »Darf ich offen sprechen, Mrs. Hayden?« Sie nickte.

»Bitte verstehen Sie mich richtig. Ich möchte Nora weder entschuldigen noch anklagen. Aber ich glaube, es ist sehr wichtig, daß Sie und ich genau wissen, wovon wir sprechen.«

Sie beobachtete ihn ebenso scharf, wie er sie beobachtet hatte. »Bitte, sprechen Sie weiter, Mister Corwin.«

»Nora ist kein Durchschnittsmensch. Sie ist hoch begabt, vielleicht ein Genie. Ich weiß es nicht. Sie ist voll nervöser Spannung, äußerst sensibel und leidenschaftlich. Sie braucht den Sexus, wie manche Leute den Alkohol brauchen.«

»Wollen Sie mir in höflicher Form sagen, daß meine Tochter Nymphomanin ist, Mister Corwin?«

»Nein, durchaus nicht.« Erwählte seine Worte sehr behutsam. »Nora ist Künstlerin. Sie findet eine gewisse Anregung und zugleich einen Ausweg im Sexus. Sie hat mir einmal gesagt, durch ihn sei es ihr möglich, den Menschen näherzukommen, mehr von ihnen zu wissen, sie besser zu verstehen.«

Die alte Dame sah Corwin noch immer scharf an. »Haben Sie und Nora.« Sie ließ die Frage in der Luft hängen.

Er begegnete ihrem Blick ganz offen und nickte.

Sie seufzte leise und blickte auf ihren Schreibtisch.

»Ich danke Ihnen für Ihre Aufrichtigkeit, Mister Corwin. Ich hatte nicht die Absicht, Sie über Ihre Privatangelegenheiten auszufragen.«

»Oh, es ist schon ziemlich lange vorbei. Ich bin mir darüber klar, seit sie das letztemal bei mir war.«

»Das war vor ungefähr sechs Monaten? Gleich nach Noras Ausstellung?«

Er nickte. »Sie war sehr erregt. Sie hatte geweint. Anscheinend war der junge Offizier, der sie zu mir gefahren hatte, ziemlich schroff zu ihr gewesen.«

»Major Carey? Er schien so ein netter junger Mann zu sein.«

»Er muß ihr etwas gesagt haben, was sie aufregte. Jedenfalls habe ich sie eine halbe Stunde nachdem sie gekommen war in einem Taxi nach Hause geschickt.«

»Ich hatte mich schon gewundert, daß sie an diesem Abend so früh heimkam. Ich möchte Sie um eine Freundlichkeit bitten, Mister Corwin.«

»Bitte, was in meiner Macht steht.«

»Nora hält sehr viel von Ihrer Meinung. Helfen Sie mir. helfen Sie mir, sie vor Unheil zu bewahren.«

»Ich werde es versuchen, Mrs. Hayden. Um unser aller willen.«

»Ich danke Ihnen.« Plötzlich sah sie sehr müde aus. Sie lehnte sich in ihren Sessel zurück und schloß die Augen. »Manchmal denke ich, das beste für sie wäre zu heiraten. Vielleicht würde sie dann alles anders ansehen.«

»Vielleicht.« Aber in seinem Innern wußte Sam es besser. Mädchen wie Nora ändern sich nicht, ob sie heiraten oder nicht.

Sie warteten schweigend, bis Nora ins Zimmer kam. »Mister Corwin hat in unsern Vorschlag eingewilligt«, sagte Mrs. Hayden. Nora lächelte. Sie streckte die Hand aus. »Danke, Sam.«

»Danke mir lieber nicht. Es könnte dir leid tun.«

»Ich werde die Chance wahrnehmen.«

»Okay.« Seine Stimme war jetzt gelassen und geschäftlich.

»Also - woran arbeitest du jetzt?«

»Ich bereite alles für eine Ausstellung vor, die Arlene Gately im April veranstalten will.«

»Die mußt du absagen.«

»Warum, um alles in der Welt?«

»So etwas können wir uns nicht leisten.«

»Aber ich hatte ihr versprochen.«

»Dann mußt du dein Versprechen brechen.« Sam sprach schroff. Er wandte sich an Mrs. Hayden. »Bitte, schreiben Sie einen Scheck über zehntausend Dollar aus. Nora und ich fahren nach New York.«

»Nach New York? Warum?« fragte Nora.

Auch Mrs. Hayden sah Sam fragend an. »New York«, wiederholte er. »Ich möchte, daß Aaron Scaasi ihr im April eine Ausstellung arrangiert.«