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Ein Geschenk für die Königin

D

as Heer des Prinzen, ein langsamer Zug von Wagen, Tieren und verstreuten Gruppen von Wandernden, verließ das Tal und bewegte sich auf die Ebene hinaus, immer dem gewundenen Lauf des Stefflod entlang nach Süden. Es dauerte fast eine Woche, bis die weit auseinandergezogene Schar die Stelle erreichte, an der sich der Fluss mit seinem größeren Vetter, dem Ymstrecca, vereinte.

In gewisser Weise war es eine Heimkehr, denn sie lagerten in dem von Hügeln geschützten Tal, in dem vor noch nicht allzu langer Zeit Gadrinsett gestanden hatte, die erste Siedlerstadt. Viele, die ihre Schlafrollen in ihrer verödeten früheren Heimat hinlegten und nach Brennholz suchten, fragten sich, welchen Gewinn es ihnen gebracht hatte, diesen Ort zu verlassen und sich Josua und seinen Rebellen anzuschließen. Es gab an manchen Stellen aufsässiges Geflüster, das jedoch bald wieder verstummte. Zu viele erinnerten sich daran, wie mutig Josua und andere sich den Männern des Hochkönigs entgegengestellt hatten.

Und die Heimkehr hätte bitterer sein können. Das Wetter war mild und ein großer Teil des Schnees, der diesen Strich des Graslands bedeckt hatte, war schon wieder geschmolzen. Freilich pfiff der Wind durch die seichten Schluchten, bog die wenigen kleinen Bäume und drückte das Gras zu Boden. Die Lagerfeuer hüpften und tanzten. Zwar hatte der verzauberte Winter ein wenig nachgelassen, aber es war doch fast Decander, und die Ebenen der Thrithinge lagen offen und ungeschützt vor ihnen.

Der Prinz ließ bekanntgeben, dass man drei Tage hier rasten würde, während er und seine Ratgeber den günstigsten Weg festlegten. Seine Untertanen, wenn man sie so nennen wollte, begrüßten die Ruhetage begeistert. Schon die kurze Reise vom Sesuad’ra hierher war den Verwundeten und Gebrechlichen, von denen es viele gab, und den Müttern mit kleinen Kindern schwergefallen. Gerüchte liefen um, Josua habe seinen Entschluss geändert und wolle nun hier, an der Stelle ihrer Vorgängerin, eine neue Stadt aufbauen. Obwohl die Vernünftigeren darauf hinzuweisen versuchten, dass es doch unsinnig wäre, einen geschützten, hochgelegenen Ort zugunsten eines ungeschützten zu verlassen, und dass Josua, was immer er sonst sein mochte, kein Dummkopf war, fand ein so großer Teil des Heers von Heimatlosen den Gedanken so hoffnungsvoll, dass es sich als unmöglich erwies, die Gerüchte auszurotten.

»Lange können wir hier nicht bleiben, Josua«, warnte Isgrimnur. »Jeden Tag gibt es mehr, die nicht weiter mitgehen wollen.«

Josua studierte eine ausgefranste, von der Sonne verblichene Landkarte. Das zerfetzte Prunkstück hatte Helfgrim gehört, Gadrinsetts einstigem Oberbürgermeister, der zusammen mit seinen Töchtern den Märtyrertod gestorben und zu einer Art Schutzheiligem der Siedler geworden war.

»Wir werden auch nicht lange bleiben«, versicherte der Prinz. »Aber wenn wir die Menschen vom Fluss weg und ins Grasland hineinführen, müssen wir sicher sein, dass wir dort Wasser finden. Niemand kann wissen, wie sich das Wetter entwickelt, und es ist durchaus möglich, dass es plötzlich eine Weile nicht regnet.«

Isgrimnur schnaubte ärgerlich und sah auf Freosel, als erwarte er von ihm Unterstützung. Aber der junge Mann aus Falshire, der sich noch immer nicht mit ihrem Ziel im Süden abgefunden hatte, starrte nur trotzig zurück. Seine Miene verriet deutlich, was er dachte: Sie sollten dem Ymstrecca bis ganz nach Westen folgen – bis nach Erkynland.

»Josua«, sagte der Herzog, »die Suche nach Wasser ist nicht unsere größte Sorge. Die Tiere können notfalls den Tau lecken, und wir können unzählige Wasserschläuche füllen, bevor wir die Flüsse hinter uns lassen. Außerdem gibt es zurzeit als Folge der Schneeschmelze Dutzende von kleinen Bächen. Schwieriger dürfte es mit der Ernährung werden.«

»Und dafür wissen wir ebenfalls keine Lösung«, stellte Josua fest, »und es spielt dafür auch keine große Rolle, welchen Weg wir einschlagen. Wir können die Route so wählen, dass sie uns an den Seen entlangführt, ich weiß nur nicht, wieweit man sich auf Helfgrims Karte verlassen kann.«

»Ich hatte ja keine Ahnung, wie schwer es ist, so viele Menschen zu verpflegen.« Strangyeard hatte ruhig dagesessen und in einer der Übersetzungen gelesen, die Binabik von Ookequks Schriftrollen angefertigt hatte. »Wie meistern Kriegsheere diese Aufgabe?«

»Entweder leeren sie dem König die Börse – schnell wie Sand, der aus einem durchlöcherten Sack rinnt«, antwortete Geloë bissig, »oder sie fressen das Land, durch das sie ziehen, kahl wie die Wanderameisen.« Sie hatte neben dem Archivar am Boden gehockt und stand jetzt auf. »Hier wächst vieles, mit dem wir Menschen ernähren können, Josua – Kräuter und Blumen und sogar Gräser, die sich zu nahrhaften Mahlzeiten verarbeiten lassen, auch wenn sie für manche Menschen, die bisher nur in Städten gelebt haben, merkwürdig schmecken könnten.«

»Fremd wird vertraut, wenn Hunger quält«, zitierte Isgrimnur eine alte Volksweisheit. »Weiß nicht, von wem das stammt, aber es stimmt. Hört auf Geloë: Wir kommen schon durch. Was wir brauchen, ist Schnelligkeit. Je länger wir an einem Ort bleiben, desto rascher tun wir das, was sie gesagt hat: alles kahlfressen wie Ameisen. Es geht uns besser, wenn wir in Bewegung bleiben.«

»Wir haben hier auch nicht das Lager aufgeschlagen, damit ich in Ruhe nachdenken kann«, versicherte der Prinz ein wenig kühl. »Aber es ist zu viel verlangt von einer ganzen Stadt, und nichts anderes sind wir, ihre Sachen zu packen und in einem Zug bis nach Nabban zu marschieren. Die erste Woche war hart. Wir wollen ihnen ein wenig Zeit gönnen, sich daran zu gewöhnen.«

Der Herzog von Elvritshalla zupfte an seinem Bart. »Ich wollte nicht … ich weiß, Josua. Aber trotzdem muss es von jetzt an schneller gehen. Die Langsamen können uns einholen, wenn wir am Ziel sind. Sie sind ohnehin keine Krieger.«

Josuas Mund wurde schmal. »Sind sie darum weniger Gottes Kinder, weil sie nicht das Schwert für uns schwingen können?«

Isgrimnur schüttelte den Kopf. Der Prinz hatte eine seiner Stimmungen … »Das meine ich nicht, Josua, und Ihr wisst es. Ich sage nur, dass dies ein Heer ist und kein frommer Pilgerzug. Wir können unser Werk beginnen, auch ohne auf die letzte fußkranke Seele und das letzte Pferd ohne Hufeisen zu warten.«

Josua drehte sich zu Camaris um, der still vor dem kleinen Feuer saß und aufmerksam dem Rauch nachsah, der zu dem Loch im Zeltdach aufstieg. »Was haltet Ihr davon, Herr Camaris? Ihr habt an mehr Feldzügen teilgenommen als wir alle, vielleicht außer Isgrimnur. Hat er recht?«

Der alte Ritter wandte zögernd den Blick vom Feuer ab. »Ich glaube, dass Herzog Isgrimnurs Worte zutreffen, ja. Wir schulden es der Gesamtheit des Volkes, unseren Entschluss in die Tat umzusetzen, und was mehr ist, wir schulden es dem guten Gott, der unser Versprechen gehört hat. Auch wäre es anmaßend, wenn wir an Gottes Stelle handeln und jedem müden Wanderer die Hand halten wollten … Außerdem wollen wir, dass sich das Volk uns anschließt, oder besser gesagt, wir brauchen es. Aber die Menschen folgen keiner verstohlen dahinhuschenden Schar. Sie wollen zu einem stolzen Heer gehören.« Er sah sich mit ruhigen Augen im Zelt um. »Wir sollten so schnell wie möglich vorrücken, aber in guter Ordnung. Wir sollten Reiter vorausschicken, die nicht nur Kundschafter, sondern zugleich unsere Herolde sind und dem Volk verkünden: ›Der Prinz kommt!‹« Er schien noch etwas sagen zu wollen, aber dann wurde seine Miene wieder abwesend, und er schwieg.

Josua lächelte. »Ihr hättet ein Escritor werden sollen, Herr Camaris. Ihr seid listig wie meine alten Lehrer, die Usiresbrüder. Nur in einem Punkt bin ich anderer Meinung.« Er machte eine kleine Drehung auf dem Absatz und fing die Blicke der anderen im Zelt auf. »Wir sind auf dem Weg nach Nabban. Unsere Herolde werden rufen: ›Camaris ist zurückgekehrt! Herr Camaris ist wieder da, um sein Volk zu führen!‹« Er lachte. »›Und Josua ist bei ihm!‹«

Camaris machte ein skeptisches Gesicht, als störe ihn etwas an den Worten des Prinzen.

Isgrimnur nickte. »Camaris hat recht. Eile mit Würde.«

»Aber diese Würde gestattet uns nicht, bewohntes Land zu plündern«, erklärte Josua. »So gewinnt man keine Herzen.«

Isgrimnur zuckte die Achseln. Er fand, Josua nehme es damit zu genau. »Unsere Leute hungern, Prinz. Sie sind Ausgestoßene, von denen manche seit fast zwei Jahren in der Wildnis leben. Wie wollt Ihr sie, wenn wir nach Nabban kommen, daran hindern, die Früchte, die sie auf der Erde wachsen, und die Schafe, die sie auf den Hügeln weiden sehen, für sich zu beanspruchen?«

Der Prinz betrachtete müde die Karte. »Darauf habe ich auch keine Antwort. Wir müssen alle unser Bestes tun und auf Gottes Segen hoffen.«

»Auf Gottes Barmherzigkeit«, verbesserte Camaris mit hohler Stimme und starrte erneut nach oben in den aufsteigenden Rauch.

Es war Nacht geworden. In einem Gehölz am Rand des Tales saßen die drei. Gedämpft und zart klang die Musik des Flusses an ihre Ohren. Sie hatten kein Feuer, aber zwischen ihnen lag ein matt leuchtender, blauweißer Stein, nur geringfügig heller als der Mond. Sein Azurlicht färbte ihre bleichen, schmalknochigen Gesichter. Sie unterhielten sich in der zischenden Sprache von Sturmspitze.

»Heute Nacht?«, fragte Unter-Tzaaihtas-Stein-Geborener.

Ader-von-Silberfeuer verneinte mit einer Fingerbewegung. Sie legte die Hand auf den blauweißen Stein und verharrte eine Weile stumm und regungslos. Endlich stieß sie den lange angehaltenen Atem aus. »Morgen, wenn Mezhumeyru sich in den Wolken verbirgt. Heute, an diesem neuen Ort, werden die Sterblichen wachsam sein. Morgen Nacht.« Sie sah Unter-Tzaaihtas-Stein-Geborenen bedeutungsvoll an. Er war der Jüngste und hatte nie zuvor die tiefen Höhlen unter Nakkiga verlassen. Sie sah an der Spannung der langen, schlanken Finger und dem Glimmen in seinen Purpuraugen, dass man auf ihn achten musste. Daran, dass er tapfer war, gab es keinen Zweifel. Wer die endlosen Lehrjahre in der Höhle des Zerreißens überlebt hatte, fürchtete nichts mehr – außer dem Unwillen ihrer Herrin mit der Silbermaske. Dabei konnte jedoch Übereifer so schädlich sein wie Feigheit.

»Seht sie euch an«, meinte jetzt Von-den-Stimmen-Gerufene. Sie starrte gebannt auf die wenigen Menschen, die unten im Lager noch zu sehen waren. »Wie Felsenwürmer sind sie, immer wimmelnd, immer unruhig.«

»Wenn dein Leben nur wenige Jahreszeiten währte«, erwiderte Ader-von-Silberfeuer, »hättest du vielleicht auch das Gefühl, niemals stillstehen zu dürfen.« Sie sah hinab auf die glitzernden Reihen der Feuer. »Aber du hast recht – sie sind wie Felsenwürmer.« Unmerklich verhärtete sich die Linie ihres Mundes. »Sie haben gegraben und gegessen und alles verwüstet. Nun wollen wir helfen, sie zu vernichten.«

»Durch diese einzige Tat?«, fragte Von-den-Stimmen-Gerufene.

Ader-von-Silberfeuer sah sie an. Ihr Gesicht war weiß und kalt wie Elfenbein. »Zweifelst du?«

Einen Moment lang war die Stille zum Zerreißen gespannt. Dann entblößte Von-den-Stimmen-Gerufene ihre Zähne. »Ich strebe nur danach, ihrem Willen zu gehorchen. Mein einziger Wunsch ist, zu tun, was ihr am besten dient.«

Unter-Tzaaihtas-Stein-Geborener stieß einen melodischen Freudenlaut aus. Grabsteinweiß spiegelte sich der Mond in seinen Augen. »Sie verlangt einen Tod … einen ganz besonderen Tod«, flüsterte er. »Das ist unser Geschenk für die Königin.«

»Ja.« Ader-von-Silberfeuer nahm den Stein und steckte ihn in ihr rabenschwarzes Hemd, wo er an ihrer kühlen Haut lag. »Das ist das Geschenk der Klauen. Und morgen Nacht werden wir es ihr darbringen.«

Sie verstummten und sprachen lange kein Wort mehr.

»Du denkst immer noch zu viel an dich selbst, Seoman.« Aditu beugte sich vor und schob die polierten Steine zu einem Halbkreis zusammen, der die ganze Graue Küste umfasste. Die Shent-Steine glänzten stumpf im Licht aus einer von Aditus Kristallkugeln, die auf einem holzgeschnitzten Dreifuß ruhte. Es war nicht das einzige Licht in Simons Zelt, auch die Abendsonne sandte ein paar Strahlen durch die offene Türklappe.

»Was meint Ihr? Ich verstehe Euch nicht.«

Aditu sah belustigt von ihrem Brett zu ihm auf. »Ich meine, dass du zu sehr mit dir selbst beschäftigt bist. Du überlegst dir nicht, was dein Mitspieler denkt. Shent ist ein Spiel für zwei Personen.«

»Es fällt mir schwer genug, die Regeln nicht zu vergessen, ohne dass ich zusätzlich nachdenken muss«, beschwerte sich Simon. »Außerdem, woher soll ich wissen, was Ihr beim Spielen denkt? Ich weiß es ja sonst auch nicht!«

Aditu schien kurz davor, eine ihrer hinterlistigen Bemerkungen fallenzulassen, verzichtete dann aber darauf. Sie bedeckte ihre Steine mit der flachen Hand und meinte: »Du bist wütend, Seoman. Ich habe es an deinem Spiel erkannt – du spielst inzwischen so gut, dass deine Stimmungen sich auf das Haus des Shent übertragen.«

Sie hatte nicht gefragt, was ihm fehlte. Simon vermutete, selbst wenn einer der Ihren mit einem Bein weniger auftauchte, würden Aditu und die andren Sithi lieber ein paar Jahreszeiten ins Land ziehen lassen, um zu sehen, ob er darüber sprechen wollte, bevor sie ihn von sich aus fragten. Dieser neue Beweis für das, was er innerlich ihre Sithiart nannte, ärgerte ihn, aber es schmeichelte ihm auch, dass sie ihn langsam für einen guten Shent-Spieler hielt. Natürlich meinte sie nur ›gut für einen Sterblichen‹, und da er seines Wissens der einzige Sterbliche war, der Shent spielte, war das ein recht schales Kompliment.

»Ich bin nicht wütend.« Er starrte missmutig das Shent-Brett an. »Nun ja, vielleicht doch. Aber es ist nichts, wobei Ihr mir helfen könntet.«

Aditu gab keine Antwort, sondern lehnte sich auf den Ellenbogen zurück und reckte auf ihre seltsam gelenkige Art den langen Hals. Dann schüttelte sie den Kopf. Das weiße Haar sprang aus der Spange und legte sich wie ein dichter Nebel um ihre Schultern. Vor ihrem Ohr kräuselte sich ein dünner Zopf.

»Ich verstehe die Frauen nicht«, begann Simon und blickte so finster, als erwarte er, dass Aditu ihm widersprach. Offenbar stimmte sie ihm jedoch zu, denn sie sagte immer noch nichts.

»Was heißt das, Seoman? Etwas musst du doch wenigstens über sie wissen. Ich sage auch oft, dass ich die Menschen nicht begreife, aber ich weiß, wie sie aussehen und wie lange sie leben, und kann ein paar von ihren Sprachen sprechen.«

Simon betrachtete sie gereizt. Spielte sie schon wieder mit ihm? »Es sind nicht alle Frauen«, gab er widerwillig zu. »Es ist Miriamel, die ich nicht verstehe. Die Prinzessin.«

»Die Dünne mit dem gelben Haar?«

Sie spielte wirklich mit ihm. »Wenn Ihr sie so seht. Aber ich merke schon, dass es dumm von mir ist, Euch danach zu fragen.«

Aditu berührte seinen Arm. »Es tut mir leid, Seoman. Ich habe dich erzürnt. Wenn du willst, dann sag mir, was dich quält. Selbst wenn ich wenig von Menschen weiß, macht es dir das Herz leichter, wenn du dich aussprichst.«

Er zuckte die Achseln, verlegen, weil er überhaupt davon angefangen hatte. »Ich weiß es ja selber nicht. Manchmal ist sie freundlich zu mir. Dann wieder benimmt sie sich, als kenne sie mich kaum. Und manchmal schaut sie mich an, als ob sie Angst vor mir hätte. Vor mir!« Er lachte bitter. »Ich habe ihr das Leben gerettet. Warum sollte sie sich vor mir fürchten?«

»Wenn du ihr das Leben gerettet hast, ist das vielleicht ein Grund«, erwiderte Aditu ernsthaft. »Frag meinen Bruder. Wenn jemand dein Leben rettet, legt er dir eine große Bürde auf.«

»Aber Jiriki benimmt sich nicht so, als ob er mich hasste.«

»Mein Bruder gehört einer alten und zurückhaltenden Rasse an – obwohl man ihn und auch mich bei den Zida’ya für recht unbedacht und unberechenbar hält.« Sie schenkte ihm ein Katzenlächeln – man hätte sich gut ein Mauseschwänzchen vorstellen können, dessen Spitze ihr noch aus dem Mundwinkel lugte. »Oh, nein, er hasst dich nicht. Jiriki hält große Stücke auf dich, Seoman Schneelocke. Sonst hätte er dich niemals nach Jao é-Tinukai’i geholt, was in vielen der Unseren die Überzeugung verstärkt hat, er sei unzuverlässig. Aber deine Miriamel ist ein Menschenmädchen und sehr jung. Es gibt Fische im Fluss, die schon länger leben als sie. Wundere dich nicht, dass es für sie eine schwere Last bedeutet, jemandem ihr Leben zu schulden.«

Simon war sehr erstaunt. Er hatte erwartet, dass sie ihn nur weiter necken würde, aber Aditu sprach ganz vernünftig über Miriamel und erzählte ihm zugleich Dinge über die Sithi, die er noch nie von ihr gehört hatte. Er war zwischen zwei hochinteressanten Themen hin- und hergerissen.

»Aber das ist noch nicht alles«, sagte er nach einer Weile. »Zumindest glaube ich, es ist nicht alles. Ich … ich weiß einfach nicht, wie ich mich ihr gegenüber verhalten soll … Prinzessin Miriamel, meine ich. Ich denke ununterbrochen an sie. Aber wer bin ich, dass ich an eine Prinzessin denken darf?«

Aditu lachte. Es klang perlend wie ein kleiner Wasserfall. »Du bist Seoman der Kühne. Du hast das Yásira gesehen. Du warst bei Erster Großmutter. Welcher andere junge Sterbliche kann sich solcher Dinge rühmen?«

Er merkte, dass er rot wurde. »Aber darum geht es nicht. Sie ist eine Prinzessin, Aditu – die Tochter des Hochkönigs!«

»Die Tochter deines Feindes? Ist es das, was dir Kummer macht?« Aditu schien ehrlich verwirrt.

»Nein.« Er schüttelte den Kopf. »Nein, nein, nein.« Verzweifelt sah er sich um und suchte nach einem Weg, ihr seine Sorgen verständlich zu machen. »Hört zu. Ihr seid doch die Tochter des Königs und der Königin der Zida’ya?«

»So würde man es wohl in deiner Sprache ausdrücken. Ich bin vom Haus der Tanzenden Jahre, ja.«

»Nun, und wenn nun jemand aus einer, sagen wir, einer unwichtigen Familie – aus einem schlechten Haus oder so – Euch heiraten wollte?«

»Ein … schlechtes Haus?« Aditu sah ihn scharf an. »Fragst du, ob ich einen anderen aus meinem Volk für unter mir stehend halten würde? Dazu sind wir schon lange zu wenige, Seoman. Und warum musst du sie heiraten? Teilt ihr nicht in Liebe das Lager, ohne verheiratet zu sein?«

Simon verschlug es die Sprache. Mit der Tochter des Königs das Lager teilen, ohne sie heiraten zu wollen? »Ich bin ein Ritter«, bemerkte er steif. »Ich muss mich ehrenhaft benehmen.«

»Ist es denn unehrenhaft, jemanden zu lieben?« Ihr spöttisches Lächeln war zurückgekehrt. »Und du sagst, du könntest mich nicht verstehen, Seoman!«

Simon stützte die Ellenbogen auf die Knie und bedeckte das Gesicht mit den Händen. »Ihr meint, dass es Eurem Volk gleichgültig ist, wer wen heiratet? Ich kann es nicht glauben.«

»Es war der Grund für den Bruch zwischen Zida’ya und Hikeda’ya«, sagte Aditu. Als er aufschaute, waren ihre goldgefleckten Augen hart. »Wir haben eine furchtbare Lektion gelernt.«

»Was meint Ihr?«

»Es war der Tod von Drukhi, dem Sohn Utuk’kus und ihres Gatten Ekimeniso Schwarzstab, der die Familien zerriss. Drukhi liebte und heiratete Nenais’u, die Tochter der Nachtigall.« Sie machte eine Bewegung, als klappe sie ein Buch zu. »In den Jahren, bevor noch das Eis Tumet’ai verschlang, wurde sie von einem Sterblichen getötet. Es war ein Unfall. Sie tanzte im Wald. Ein Jäger, angelockt vom Schimmer ihres hellen Kleides, hielt es für Vogelgefieder und schoss einen Pfeil ab. Als ihr Gemahl Drukhi sie fand, verlor er den Verstand.« Aditu senkte so traurig den Kopf, als liege der Vorfall erst kurze Zeit zurück.

Nachdem sie eine Minute geschwiegen hatte, fragte Simon: »Aber wieso trennte das die Familien? Und was hat es damit zu tun, dass Ihr heiraten dürft, wen Ihr wollt?«

»Es ist eine sehr lange Geschichte, Seoman, vielleicht die längste, die unser Volk erzählt, ausgenommen nur die der Flucht aus dem Garten und der Fahrt über die schwarzen Meere in dieses Land.« Sie verschob mit dem Finger einen der Shent-Steine. »Damals herrschten Utuk’ku und ihr Gemahl über alle Gartengeborenen. Sie waren die Hüter der Haine der Tanzenden Jahre. Als ihr Sohn sich in Nenais’u verliebte, die Tochter Jenjiyanas und ihres Gefährten Initri, wehrte sich Utuk’ku mit aller Macht gegen diese Verbindung. Nenais’us Eltern gehörten zum Stamm der Zida’ya, der in diesen alten Zeiten noch einen anderen Namen trug, und sie vertraten die Auffassung, dass es den Sterblichen, die später als die Sithi nach Osten Ard gekommen waren, erlaubt sein sollte, nach ihrem Wunsch dort zu leben, sofern sie nicht gegen unser Volk kämpften.«

Sie ordnete die Steine auf ihrem Brett zu einem neuen, verwickelteren Muster. »Utuk’ku und ihr Stamm waren der Meinung, dass man die Menschen über das Meer zurückdrängen und alle, die nicht weichen wollten, töten sollte, wie eure Bauern manchmal die Insekten ausrotten, die sie auf ihren Feldern finden. Aber weil die beiden großen Stämme und die verschiedenen mit ihnen verbündeten kleineren fast gleich stark waren, gestattete es selbst Utuk’kus Stellung als Herrin des Hauses der Tanzenden Jahre ihr nicht, den übrigen ihren Willen aufzuzwingen. Denn, Seoman, wir hatten niemals ›Könige‹ und ›Königinnen‹ wie ihr Sterblichen.

Jedenfalls waren Utuk’ku und ihr Gemahl voll grimmiger Wut darüber, dass ihr Sohn eine Frau geheiratet hatte, die zum Stamm ihrer Gegner gehörte, einem Stamm, den sie als verräterisch und allzu menschenfreundlich ansahen. Drukhi wurde wahnsinnig, als Nenais’u ihr Leben verlor, und er schwor, er würde jeden Sterblichen töten, den er finden konnte. Die Männer von Nenais’us Stamm hinderten ihn daran, obwohl auch sie, auf ihre Art, bitteren Zorn und Entsetzen fühlten. Man berief das Yásira ein, aber die Gartengeborenen konnten zu keiner Entscheidung kommen. Es gab jedoch viele, die sich vor dem fürchteten, was Drukhi anrichten könnte, wenn man ihn gewähren ließ. Darum beschloss man, ihn einzusperren, etwas, das es diesseits des Meeres niemals gegeben hatte.« Sie seufzte. »Es war zu viel für ihn und seinen Wahnsinn, Gefangener seines eigenen Volkes zu sein, während die Mörder seiner Gattin unbestraft blieben. Und so gab Drukhi sich den Tod.«

Simon hörte gebannt zu, obwohl er Aditu ansehen konnte, wie traurig die Geschichte für sie war. »Ihr meint, er verübte Selbstmord?«

»Nicht so, wie du es dir vorstellst, Seoman. Nein, Drukhi… hörte einfach auf zu leben. Als man ihn tot in der Höhle von Si’injan’dre fand, nahmen Utuk’ku und Ekimeniso ihren Stamm und zogen nach Norden, und sie schworen, dass sie nie mehr mit Jenjiyanas Volk zusammenleben wollten.«

»Aber zuerst gingen sie alle zum Sesuad’ra«, sagte Simon. »Sie versammelten sich im Abschiedshaus und schlossen ihren Vertrag. So habe ich es bei meiner Nachtwache in der Sternwarte gesehen.«

Sie nickte. »Ja. Nach dem, was du erzählt hast, glaube ich, dass du wirklich die Vergangenheit gesehen hast.«

»Und darum hassen Utuk’ku und die Nornen die Menschen?«

»Ja. Aber sie führten später auch Kriege gegen die ersten Sterblichen in Hernystir, lange bevor Hern dem Land seinen Namen gab. In diesen Kämpfen verloren Ekimeniso und viele andere Hikeda’ya ihr Leben. Das heißt, dass sie den Menschen noch anderes nachtragen.«

Simon lehnte sich zurück und schlang die Arme um seine Knie. »Das habe ich nicht gewusst. Irgendjemand – Morgenes oder Binabik – erzählte mir, die Schlacht am Knoch sei das erste Ereignis gewesen, bei dem Sterbliche Sithi getötet hätten.«

»Sithi, ja – Zida’ya. Aber zwischen Utuk’kus Volk und den Sterblichen gab es eine ganze Reihe von Zusammenstößen, bevor die Schiffmänner über das Westmeer kamen.« Sie senkte den Kopf und schloss: »Nun siehst du, warum wir Kinder der Morgendämmerung sehr sorgsam darauf achten, niemals zu sagen, ein Sitha stehe über einem anderen – es sind Worte, die großes Leid für uns bedeuten.«

Simon nickte. »Ja, ich glaube, das verstehe ich. Aber bei uns ist es anders, Aditu. Es gibt Vorschriften, wer wen heiraten darf… und eine Prinzessin kann nie einen landlosen Ritter zum Mann nehmen, und schon gar nicht einen, der vorher Küchenjunge war.«

»Hast du diese Vorschriften gesehen? Werden sie an einem eurer heiligen Orte aufbewahrt?«

Er verzog das Gesicht. »Ihr wisst, was ich meine. Wenn Ihr mehr darüber erfahren wollt, braucht Ihr Euch nur an Camaris zu wenden. Er weiß alles – wer sich vor wem verbeugt, wer an welchem Tag welche Farben trägt …« Simon lachte betrübt. »Ich fürchte, wenn ich ihn auch nur fragte, ob jemand wie ich die Prinzessin heiraten kann, würde er mir den Kopf abschlagen. Ganz liebenswürdig natürlich, und wirklich ungern.«

»Ach ja, Camaris.« Aditu schien etwas Wichtiges sagen zu wollen. »Er ist … ein seltsamer Mann. Ich glaube, er hat viel gesehen.«

Simon betrachtete sie aufmerksam, konnte aber keinen tieferen Sinn in ihren Worten entdecken. »Das hat er bestimmt. Und ich glaube, er will mir alles darüber beibringen, bevor wir noch in Nabban sind. Doch das ist kein Grund, sich zu beschweren.« Er stand auf.

»Aber es wird jetzt bald dunkel, darum sollte ich zu ihm gehen. Er wollte mir noch etwas zeigen – wie man mit dem Schild umgeht …« Er stockte. »Ich danke Euch sehr, dass Ihr mit mir gesprochen habt, Aditu.«

Sie nickte. »Ich glaube nicht, dass meine Worte dir geholfen haben, Seoman, aber ich hoffe, dass du nicht mehr so traurig bist.«

Simon zuckte die Achseln und nahm den Mantel vom Boden auf. »Warte«, sagte Aditu und erhob sich ebenfalls. »Ich werde dich begleiten.«

»Zu Camaris?«

»Nein, ich habe etwas anderes vor. Aber ich gehe bis dorthin mit, wo der Weg sich teilt.«

Sie folgte ihm durch die Zeltklappe. Ohne dass man sie berührte, begann die Kristallkugel zu flackern und zu erlöschen.

»Nun?«, fragte Herzogin Gutrun. Miriamel konnte die Furcht in ihrer ungeduldigen Stimme deutlich heraushören.

Geloë stand auf, drückte kurz Varas Hand und legte sie auf die Decke zurück. »Nicht so schlimm«, erklärte sie. »Nur ein bisschen Blut, und es hat auch schon aufgehört. Ihr habt selbst Kinder geboren, Gutrun, und seid vielfache Großmutter. Ihr solltet klüger sein, als sie so zu beunruhigen.«

Die Herzogin hob trotzig das Kinn. »Ich habe Kinder zur Welt gebracht und großgezogen, ja, und das ist mehr, als manche andere Leute von sich behaupten können.« Als Geloë bei diesem Seitenhieb nicht einmal die Brauen hochzog, fuhr Gutrun kaum weniger hitzig fort: »Aber nie bekam ich meine Kinder auf dem Pferderücken, und ich schwöre, dass ihr Gemahl das von ihr erwartet!« Sie sah Miriamel an, als erwarte sie eine Bestätigung, aber ihre erhoffte Verbündete zuckte nur die Achseln. Diskutieren hatte jetzt ohnehin keinen Sinn mehr. Der Prinz hatte den Zug nach Nabban beschlossen.

»Ich kann im Wagen fahren«, bemerkte jetzt Vara. »Beim Grasdonnerer, Gutrun, die Frauen meines Stammes reiten manchmal noch bis zum letzten Mond!«

»Dann sind die Frauen Eures Stammes sehr unvernünftig«, stellte Geloë trocken fest, »auch wenn Ihr es nicht seid. Ja, Ihr könnt im Wagen fahren. Hier draußen im offenen Grasland sollte das nicht zu anstrengend sein.« Sie wandte sich an Gutrun. »Was Josua betrifft, so wisst Ihr selbst, dass er tut, was er für das Beste hält. Ich teile seine Auffassung. Es ist hart, aber er kann nicht alle Leute hundert Tage lang warten lassen, nur damit seine Frau in Ruhe und Frieden ihr Kind bekommt.«

»Dann muss es eine andere Lösung geben. Ich habe Isgrimnur gesagt, dass es grausam ist, und so meine ich es auch. Ich habe ihm auch gesagt, er sollte es Prinz Josua erzählen. Es ist mir gleich, was der Prinz von mir denkt, aber ich ertrage es nicht, wenn Vara leidet.«

Geloë lächelte grimmig. »Ich bin überzeugt, dass Euer Gemahl Euch aufmerksam zugehört hat, Gutrun, aber ich möchte bezweifeln, dass Josua jemals ein Sterbenswörtchen davon erfährt.«

»Was soll das heißen?«, fragte die Herzogin.

Bevor die Waldfrau antworten konnte – womit sie es, vermutete Miriamel, nicht eilig hatte –, entstand am Zelteingang ein leises Geräusch. Die Klappe glitt zurück und enthüllte für einen kurzen Augenblick ein paar funkelnde Sterne. Dann schlüpfte Aditus geschmeidige Gestalt herein. Hinter ihr fiel das Tuch wieder zu.

»Störe ich?«, fragte die Sitha. Merkwürdig, dachte Miriamel, sie klingt, als meinte sie es ernst. Für eine in der verlogenen Höflichkeit des väterlichen Hofes aufgewachsene junge Frau war es ungewohnt, jemanden fragen zu hören, als erwarte er wirklich eine Antwort. »Ich hörte, dass du krank bist, Vara.«

»Es geht mir schon besser«, antwortete Josuas Gemahlin lächelnd. »Komm herein, Aditu, du bist herzlich willkommen.«

Die Sitha ließ sich vor Varas Lager auf dem Boden nieder und richtete die goldenen Augen auf die Kranke. Ihre langen, anmutigen Hände lagen gefaltet in ihrem Schoß. Miriamel konnte den Blick nicht von ihr wenden. Im Gegensatz zu Simon, der sich an die Sithi gewöhnt zu haben schien, war ihr dieses exotische Geschöpf noch immer fremd. Aditu schien ihr so seltsam wie ein Wesen aus einem alten Märchen, aber noch seltsamer war, dass sie hier mitten unter ihnen saß, im trüben Licht der Binsen, und so wirklich wie ein Stein oder Baum. Es kam der Prinzessin vor, als hätte das letzte Jahr die ganze Welt auf den Kopf gestellt, und alle die verborgenen Dinge und Wesen, die nur noch in alten Sagen vorkamen, seien herausgefallen.

Aditu zog einen kleinen Beutel aus ihrem grauen Wams und hielt ihn hoch. »Ich habe dir etwas zum Schlafen gebracht.« Sie schüttete ein Häufchen grüner Blätter in ihre Hand und zeigte sie Geloë, die zustimmend nickte. »Ich werde dir einen Trank daraus brauen, während wir uns unterhalten.«

Gutruns missbilligenden Blick schien sie nicht zu bemerken. Mit Hilfe von zwei Stöcken hob sie einen heißen Stein aus dem Feuer, klopfte die Asche ab und ließ ihn in eine Schüssel mit Wasser fallen. Als eine Dampfwolke aufstieg, brockte sie die Blätter hinein. »Ich habe gehört, dass wir noch einen Tag hierbleiben, Vara. Das gibt dir die Möglichkeit, dich auszuruhen.«

»Ich weiß nicht, warum alle so viel Angst um mich haben. Es ist nur ein Kind. Frauen bekommen alle Tage Kinder.«

»Nicht das einzige Kind des Prinzen«, antwortete Miriamel gelassen. »Und nicht mitten im Krieg.«

Aditu bewegte mit dem Stock den heißen Stein hin und her, um damit die Blätter noch weiter zu zerkleinern. »Ich bin sicher, dass du und dein Gefährte ein gesundes Kind haben werdet«, meinte sie. Das klang zu Miriamels Überraschung wie das, was eine Menschenfrau gesagt haben könnte, höflich und aufmunternd. Vielleicht hatte Simon doch recht mit seiner Ansicht von Aditu.

Die Sitha entfernte den Stein und reichte Vara die immer noch dampfende Schüssel. Vara richtete sich auf und nahm einen kleinen Schluck. Miriamel sah, wie sich am weißen Hals der Thrithingfrau die Muskeln bewegten.

Wie schön sie ist, dachte die Prinzessin.

Varas Augen waren groß und dunkel, wenn auch von Müdigkeit tief umschattet. Ihr Haar lag als dichte schwarze Wolke um ihren Kopf. Unwillkürlich glitten Miriamels Finger zu ihren eigenen geschorenen Locken, die dort, wo sie das gefärbte Haar abgeschnitten hatte, ausgefranst und brüchig waren. Sie fühlte sich wie eine hässliche kleine Schwester.

Hör auf, schalt sie sich zornig. Du bist schön genug. Was willst du mehr? – Was brauchst du mehr? Aber es war schwer, mit der kühnen Schönheit Vara und der katzenhaft anmutigen Sitha in einem Raum zu sitzen und sich nicht unansehnlich vorzukommen.

Simon mag mich trotzdem. Fast hätte sie gelächelt. Ich weiß, dass es so ist. Ihre Stimmung verdüsterte sich. Aber was hilft das schon? Bei dem, was mir bevorsteht, kann er mir nicht helfen. Außerdem weiß er nichts von mir.

Und doch war es eine merkwürdige Vorstellung, dass der Simon, der ihr seinen Dienst gelobt hatte – es war ein seltsamer und schmerzlicher Augenblick gewesen, doch voller Süße –, derselbe Mensch war wie der schlaksige Junge, der mit ihr nach Naglimund gegangen war. Nicht, dass er sich so stark verändert hatte, aber wie er sich verändert hatte … Er war älter. Nicht allein die Größe und der Bart waren neu, sondern seine Augen und seine Haltung. Sie sah, dass er ein gutaussehender Mann werden würde – ein Gedanke, auf den sie damals in Geloës Haus nie gekommen wäre. Die vorspringende Nase und das Gesicht mit den langen Knochen waren in den Monaten seither deutlich ansehnlicher geworden und passten jetzt zu ihm.

Was hatte eine ihrer Kinderfrauen einmal über ein anderes Hochhorstkind gesagt? »Er muss noch in sein Gesicht hineinwachsen.« Nun, das traf ohne Zweifel auch auf Simon zu.

Und schließlich war es auch kein Wunder. Er hatte seit seinem Abschied vom Hochhorst so vieles geleistet – war er nicht fast ein Held? Er hatte gegen einen Drachen gekämpft. Hatten die Ritter Camaris und Tallistro tapferere Taten vollbracht? Und obwohl Simon seine Begegnung mit dem Eiswurm immer herunterspielte – natürlich merkte sie, wie gern er ein bisschen damit geprahlt hätte –, hatte er ihr auch beigestanden, als ein Riese über sie herfiel. Damals hatte sie erkannt, wie tapfer er war. Natürlich war sie auch tapfer … sie waren beide nicht fortgelaufen. Ja, Simon war ein treuer und mutiger Gefährte … und nun auch ihr Beschützer.

Miriamel war es so warm und erregt zumute, als flattere ein Schmetterling mit schnellen Flügeln in ihrem Bauch. Sie gab sich Mühe, das Gefühl abzuschütteln, dieses und alle anderen, ähnlichen … es war jetzt nicht die Zeit dafür. Bald würde vielleicht für nichts mehr Zeit sein.

Aditus sanfte, melodische Stimme brachte sie wieder in das Zelt und zu den anderen Frauen zurück. »Wenn Ihr für Vara getan habt, was Ihr tun wolltet«, sagte die Sitha zu Geloë, »möchte ich Euch für eine Weile um Eure Gesellschaft bitten, damit ich etwas mit Euch besprechen kann.«

Gutrun stieß ein leises Brummen aus, das wohl – dachte Miriamel – die Ansicht der Herzogin über Leute ausdrücken sollte, die sich absonderten und Geheimnisse miteinander hatten. Geloë beachtete oder hörte es jedoch nicht, sondern sagte nur: »Ich denke, was sie jetzt braucht, ist Schlaf oder wenigstens etwas Ruhe.« Sie drehte sich zu Gutrun um. »Ich sehe später noch einmal nach ihr.«

»Wie Ihr wünscht«, erwiderte die Herzogin.

Die Zauberfrau nickte erst Vara, dann Miriamel zu und folgte Aditu nach draußen. Die Thrithingfrau, die sich wieder hingelegt hatte, hob zum Abschied die Hand. Die Augen fielen ihr zu, und sie schien einzuschlafen.

Ein Weilchen herrschte Stille im Zelt. Nur Gutrun summte beim Nähen tonlos vor sich hin und hörte auch nicht auf, als sie den Stoff näher ans Feuer hielt, um ihre Stiche zu prüfen.

Miriamel stand auf.

»Vara ist müde. Ich werde jetzt auch gehen.« Sie beugte sich über die Thrithingfrau und nahm ihre Hand. Vara schlug die Augen auf und brauchte einen Moment, um Miriamel zu erkennen. »Gute Nacht. Ganz bestimmt wird es ein schönes Kind, auf das du und Onkel Josua stolz sein könnt.«

»Danke.« Sie lächelte. Die langen Wimpern senkten sich wieder.

»Gute Nacht, Tante Gutrun«, sagte Miriamel. »Ich bin froh, dass Ihr hier wart, als ich aus dem Süden kam. Ihr habt mir sehr gefehlt.« Sie küsste die warme Wange der Herzogin, löste sich sanft aus Gutruns mütterlicher Umarmung und schlüpfte durch die Türklappe.

»Das hat sie seit Jahren nicht mehr zu mir gesagt«, hörte sie Gutrun erstaunt sagen. Vara murmelte eine schläfrige Antwort. »Das arme Kind sieht neuerdings immer so still und traurig aus«, seufzte die Herzogin. »Aber wer könnte es ihr auch verdenken…«

Das waren die letzten Worte der Herzogin, die Miriamel hörte, als sie durch das feuchte Gras davonschritt.

Aditu und Geloë wanderten den flüsternden Stefflod entlang. Ein Wolkennetz bedeckte den Mond, aber darüber glänzten auf schwarzem Grund die Sterne. Von Osten her wehte ein milder Wind und brachte den Duft von Gras und nassen Steinen.

»Merkwürdig, was Ihr da sagt, Aditu.« Die Zauberfrau und die Sitha bildeten ein ungewöhnliches Paar. Die Unsterbliche zügelte ihren geschmeidig ausgreifenden Schritt, um sich Geloës kürzeren, kräftigeren Beinen anzupassen. »Aber ich glaube nicht, dass es für uns schädlich sein könnte.«

»Das behaupte ich auch nicht. Ich meine nur, dass man darüber nachdenken sollte.« Die Sitha lachte zischend. »Der Gedanke, dass ich so tief in die Angelegenheiten von Sterblichen hineingeraten bin! Khendraja’aro, der Bruder meiner Mutter, würde mit den Zähnen knirschen.«

»Diese Angelegenheiten sind wenigstens teilweise Eure Familienangelegenheiten«, erwiderte Geloë nüchtern. »Sonst wärt Ihr nicht hier.«

»Das weiß ich«, stimmte Aditu zu. »Aber viele von meinem Volk werden sich große Mühe geben, einen anderen Grund für unser Eingreifen zu finden als etwas, das nach Sterblichen und ihrem Treiben riecht.« Sie bückte sich, pflückte ein paar Grashalme und hielt sie an die Nase. »Das Gras hier ist anders als im Wald oder sogar auf dem Sesuad’ra. Es ist … jünger. Ich kann nicht so viel Leben darin finden, aber dennoch ist es süß.« Sie ließ die losen Halme zu Boden flattern. »Aber ich bin abgeschweift. Geloë, ich finde nichts in Camaris, das sich gegen uns richtet, sondern allenfalls etwas, das ihm selbst schaden könnte. Aber es berührt mich trotzdem sonderbar, dass er seine Vergangenheit geheim hält, und noch sonderbarer, wenn er vielleicht so viele Dinge weiß, die seinem Volk in diesem Kampf hilfreich sein könnten.«

»Er lässt sich nicht drängen«, sagte Geloë. »Wenn er seine Geheimnisse offenbart, dann tut er es, wann er will, daran besteht kein Zweifel. Wir alle haben bereits versucht, ihn zum Reden zu bringen.« Sie schob die Hände in die Taschen ihres dicken Wamses. »Trotzdem kann ich nicht umhin, Neugier zu empfinden. Seid Ihr wirklich sicher?«

»Nein«, meinte Aditu nachdenklich. »Nicht sicher. Aber etwas Seltsames, das mir Jiriki erzählt hat, geht mir schon die ganze Zeit im Kopf herum. Er und ich haben beide immer gedacht, Seoman sei der erste Sterbliche gewesen, der Jao é-Tinukai’i betreten hat. Davon waren auch unsere Eltern fest überzeugt. Aber Jiriki sagte mir, als Seoman vor Amerasu stand, habe sie ihm gesagt, er sei nicht der erste. Ich habe mich lange darüber gewundert, aber Erste Großmutter kannte die Geschichte der Gartengeborenen besser als jeder andere, sogar besser als die silbergesichtige Utuk’ku, die zwar seit Jahrtausenden über der Vergangenheit brütet, im Gegensatz zu Amerasu aber ihr Studium nie zu einer Kunst gemacht hat.«

»Dennoch begreife ich nicht, wie Ihr darauf kommt, dieser erste könne Camaris gewesen sein.«

»Zuerst war es nur ein Gefühl.« Aditu drehte sich um und stieg die Böschung zum leise singenden Fluss hinunter. Geloë folgte ihr. »Etwas in der Art, wie er mich ansah, sogar schon, bevor er seinen Verstand zurückerlangte. Ich ertappte ihn oft dabei, wie er mich anstarrte, wenn er dachte, ich bemerkte es nicht. Und als er wieder bei Sinnen war, fuhr er fort, mich zu beobachten – nicht verstohlen, sondern wie jemand, den eine schmerzliche Erinnerung quält.«

»Das könnte alle möglichen Gründe haben. Vielleicht seht Ihr jemandem ähnlich.« Geloë furchte die Stirn. »Oder er schämt sich für die Art, wie sein Freund Johan, der Hochkönig, mit Eurem Volk umging.«

»Johans Verfolgung der Zida’ya geschah fast ausschließlich in der Zeit, bevor Camaris an den Hof kam. Das hat mir der Archivar Strangyeard erklärt«, entgegnete Aditu. »Schaut mich nicht so an!« Sie lachte. »Ich bin neugierig auf vieles, und wir Kinder der Morgenröte haben uns vor Forschung und Gelehrtheit nie gefürchtet, auch wenn wir diese Worte niemals gebrauchen würden.«

»Trotzdem könnte es viele Gründe dafür geben, dass Camaris Euch mit seinen Blicken verfolgt. Ihr seid ein ungewöhnlicher Anblick, Aditu no-Sa’onserei, zumindest für Sterbliche.«

»Wahr. Aber es ist mehr als das. Eines Abends, noch bevor sein Gedächtnis zurückkehrte, ging ich an der Sternwarte, wie Ihr sie nennt, vorbei und sah ihn langsam auf mich zukommen. Ich nickte, aber er schien in seine Schattenwelt versunken. Ich sang ein Lied, ein uraltes Lied aus Jhiná-T’seneí, eines von Amerasus Lieblingsliedern, und als ich an ihm vorüberging, sah ich, wie seine Lippen sich bewegten.« Sie blieb stehen, kauerte sich nieder und sah mit Augen, die selbst in der Dunkelheit wie Bernsteinglut schimmerten, zu der Waldfrau auf. »Und sein Mund formte die Worte des Liedes.«

»Das wisst Ihr genau?«

»So genau, wie ich weiß, dass die Bäume im Hain leben und wieder blühen werden – und das ist etwas, das ich im Blut und im Herzen fühle. Er kannte Amerasus Lied, und obwohl er noch immer in weite Fernen zu blicken schien, sang er stumm mit mir mit. Es war ein fröhliches Lied, das Erste Großmutter immer sang, aber nicht die Art Melodie, die in den Städten der Menschen oder selbst im ältesten heiligen Hain von Hernystir bekannt ist.«

»Doch welche Bedeutung könnte das haben?« Geloë stand vor Aditu und sah auf den Fluss hinaus. Langsam änderte der Wind seine Richtung und wehte jetzt vom Berg herunter, von der Rückseite des Lagers. Die sonst so unerschütterliche Waldfrau schien ein wenig erregt. »Aber selbst wenn Camaris Amerasu irgendwie kannte, was ginge uns das an?«

»Ich weiß nicht. Aber wenn ich mir überlege, dass Camaris’ Horn einst dem … unserem Feind gehörte, und dieser Feind Amerasus Sohn und einstmals der Größte meines Volkes war, dann möchte ich mehr darüber wissen. Schließlich ist auch das Schwert dieses Ritters von größter Bedeutung für uns.« Sie verzog auf eine Weise das Gesicht, die – für eine Sitha – große Besorgnis verriet. Ihre Lippen wurden unmerklich schmaler. »Hätte doch nur Amerasu lange genug gelebt, um uns zu sagen, was sie argwöhnte.«

Geloë nickte. »Wir tappen schon viel zu lange im Dunkel. Was können wir also tun?«

»Ich habe ihn aufgesucht. Er ist sehr höflich, will aber nicht mit mir sprechen. Als ich ihn an das Thema heranzuführen versuchte, gab er vor, mich nicht zu verstehen.« Sie stand vom Ufergras auf. »Vielleicht kann ihn Prinz Josua zum Reden bringen. Oder Isgrimnur, der eine Art Freund zu sein scheint. Ihr kennt sie beide, Geloë. Sie trauen mir nicht, und ich mache ihnen deshalb keinen Vorwurf – es ist schon zu viele Menschengenerationen her, dass wir die Sudhoda’ya unsere Verbündeten nannten. Vielleicht kann, wenn Ihr darauf beharrt, einer der beiden Camaris davon überzeugen, dass es besser ist, wenn er uns sagt, ob er wirklich in Jao é-Tinukai’i war und welchen Grund dieser Besuch hatte.«

»Ich will es versuchen«, versprach Geloë. »Ich werde die beiden heute Abend noch treffen. Aber selbst wenn es ihnen gelingt, Camaris zu überreden, heißt das noch nicht, dass er uns etwas Wertvolles mitteilen kann.« Sie fuhr sich mit den kräftigen Fingern durch das Haar. »Allerdings haben wir in letzter Zeit ohnehin nicht viel Brauchbares erfahren.« Sie stand auf. »Aditu? Was ist?«

Die Sitha stand starr wie Stein und hielt den Kopf auf eine äußerst unmenschliche Weise schief.

»Aditu? Werden wir angegriffen?«

»Kei-vishaa«, zischte Aditu. »Ich rieche es!«

»Was?«

»Kei-vishaa. Es ist … ich kann es jetzt nicht erklären. Es ist ein Geruch, den es hier nicht geben dürfte. Etwas Schlimmes geht vor. Folgt mir, Geloë! Ich habe Angst!«

Schnell wie ein Reh sprang sie die Uferböschung hinauf und war schon in der Dunkelheit verschwunden, unterwegs zum Lager. Die Zauberfrau rannte ein paar Schritte hinter ihr her und murmelte besorgte und zornige Worte. Als sie den Schatten von Weiden erreichte, die auf einer Anhöhe über dem Ufer standen, zuckte plötzlich etwas auf. Das matte Sternenlicht schien sich zu biegen, die Dunkelheit verdichtete sich und barst. Geloë oder zumindest ihre Gestalt schien im Schatten der Bäume stehen geblieben zu sein. Dafür schwang sich ein geflügeltes Wesen in die Lüfte.

Die gelben Augen groß im Mondlicht, flog die Eule hinter der geschwinden Aditu her und folgte ihrer Spur im feuchten Gras.

Simon fand den ganzen Abend keine Ruhe. Das Gespräch mit Aditu hatte ihm geholfen, aber es genügte nicht, sondern hatte ihn nur noch ratloser gemacht.

Er musste unbedingt mit Miriamel reden. Ständig dachte er an sie – abends, wenn er eigentlich einschlafen wollte, am Tag, wenn er ein Mädchengesicht sah oder eine Frauenstimme hörte, und nur allzu oft, wenn er an ganz andere Dinge hätte denken sollen. Unglaublich, wie wichtig sie in der kurzen Zeit nach ihrer Rückkehr für ihn geworden war. Die kleinste Veränderung ihrer Stimmung oder in der Art, wie sie mit ihm umging, blieb ihm tagelang im Gedächtnis.

Gestern Abend bei den Pferden war sie ihm ganz merkwürdig vorgekommen. Und doch war sie nett und freundlich gewesen, als sie ihn zu Isgrimnurs Feuer begleitet hatte, um Sangfugols Liedern zuzuhören – wenn auch ein wenig zerstreut. Dafür war sie ihm heute den ganzen Tag aus dem Weg gegangen, jedenfalls kam es ihm so vor. Wo immer er nach ihr suchte, er erfuhr nur, dass sie nicht mehr dort war, bis er allmählich das Gefühl hatte, dass sie sich ihm absichtlich entzog.

Die Dunkelheit hatte ihre Schwingen über das Lager gelegt wie ein großer schwarzer Vogel. Simons Besuch bei Camaris war nur kurz gewesen; der alte Mann schien genauso an etwas anderes zu denken wie Simon und hatte nur halbherzig versucht, ihm die Befehlskette in der Schlacht und die Vorschriften beim Kampf zu erläutern. Simon, den hitzigere und unmittelbarere Sorgen quälten, fand die Litanei von Regeln, die der alte Ritter ihm vortrug, trocken und sinnlos. Er hatte sich entschuldigt und war bald wieder fortgegangen. Der Alte war allein am Feuer seines sparsam ausgestatteten Lagerplatzes sitzen geblieben und schien darüber nicht unglücklich zu sein.

Nachdem er das ganze Lager durchstreift hatte, war Simon zu Varas Zelt getrottet. Dort hatte er von Gutrun erfahren – im Flüsterton, um die schlafende Vara nicht zu wecken –, dass Miriamel vorbeigeschaut, sich aber schon vor einiger Zeit wieder verabschiedet hatte. Unzufrieden hatte er seine Suche wieder aufgenommen.

Jetzt stand er am äußeren Rand des Zeltplatzes, dort, wo der große Ring aus Feuern das Nachtlager derjenigen Anhänger Josuas bezeichnete, für die ein Zelt im Augenblick einen unfassbaren Luxus darstellte. Er zerbrach sich den Kopf darüber, wo Miriamel stecken mochte. Er hatte bereits das Ufer abgeschritten, weil er dachte, sie würde vielleicht am Wasser sitzen und grübeln. Aber auch dort war er nur ein paar Leuten aus Neu-Gadrinsett begegnet, die sich mit Hilfe von Fackeln und offenbar mit geringem Erfolg dem nächtlichen Fischfang widmeten.

Plötzlich fiel ihm etwas ein. Vielleicht sah sie ja wieder nach ihrem Pferd?

Schließlich hatte er sie dort gestern Abend entdeckt, zu einer nicht wesentlich früheren Stunde als jetzt. Vielleicht fand sie den Ort angenehm ruhig, wenn alle anderen nach unten zum Essen gegangen waren. Simon drehte sich um und marschierte auf den dunklen Hang zu.

Zuerst blieb er bei Heimfinder stehen, um sie zu begrüßen. Das Pferd nahm seine Annäherung mit einer gewissen Zurückhaltung auf, ließ sich dann aber doch herab, in sein Ohr zu pusten. Danach setzte er seinen Weg bergauf fort. Dort stehe ihr Pferd, hatte die Prinzessin gesagt. Und tatsächlich, dort bewegte sich auch eine dunkle Gestalt. Erfreut über seine eigene Schlauheit, kam Simon näher.

»Miriamel?«

Die vermummte Gestalt zuckte zusammen und fuhr herum. Er sah nur den unbestimmten hellen Fleck eines Gesichts in den Tiefen der Kapuze.

»S-Simon?« Es war eine erschrockene, ängstliche Stimme, aber es war ihre Stimme. »Was tust du hier?«

»Ich habe Euch gesucht.« Sie sprach so merkwürdig, dass er unruhig wurde. »Geht es Euch gut?« Diesmal schien die Frage durchaus angebracht.

»Es geht mir …« Sie stöhnte. »Ach, Simon! Warum bist du nur gekommen!«

»Was ist denn?« Er trat ein paar Schritte auf sie zu. »Habt Ihr …?« Er stockte.

Selbst im Mondlicht war nicht zu übersehen, dass der Umriss ihres Pferdes ungewöhnliche Formen aufwies. Er streckte die Hand aus und berührte die ausgebeulten Satteltaschen.

»Ihr geht fort«, sagte er staunend. »Ihr reißt aus.«

»Ich reiße nicht aus.« Der zuvor ängstliche Tonfall verriet jetzt Schmerz und Wut. »Ich reiße nicht aus. Und jetzt lass mich allein, Simon.«

»Wohin wollt Ihr?« Simon kam sich vor wie im Traum – der finstere Berghang mit den wenigen einsamen Bäumen, Miriamels Gesicht unter der Kapuze. »Liegt es an mir? Habe ich Euch erzürnt?«

Ein bitteres Lachen. »Nein, Simon, es liegt nicht an dir.« Die Stimme wurde weicher. »Du hast nichts falsch gemacht, sondern warst ein besserer Freund, als ich ihn verdiene. Ich kann dir nicht sagen, wohin ich will – und bitte warte bis morgen, bevor du Josua verrätst, dass du mich gesehen hast. Bitte. Ich bitte dich darum.«

»Aber … aber das kann ich nicht!« Wie konnte er Josua sagen, er habe tatenlos zugesehen, wie die Nichte des Prinzen allein davongeritten sei? Er strengte sich an, sein erregtes Gemüt zu beruhigen und nachzudenken. Schließlich erklärte er: »Ich werde mit Euch gehen.«

»Was?«, fragte Miriamel verblüfft. »Das ist unmöglich.«

»Genauso unmöglich, wie Euch allein ziehen zu lassen. Ich habe geschworen, Euch zu beschützen, Miriamel.«

Sie schien den Tränen nahe. »Aber ich will dich nicht mitnehmen, Simon. Du bist doch mein Freund. Ich will nicht, dass dir etwas zustößt.«

»Und ich will nicht, dass Euch etwas zustößt.« Simon war jetzt ruhiger und hatte das seltsame, aber sehr starke Gefühl, den richtigen Entschluss gefasst zu haben … obwohl ein anderer Teil seines Ichs gleichzeitig laut »Mondkalb! Mondkalb!« schrie. »Und darum begleite ich Euch.«

»Aber Josua braucht dich!«

»Josua hat viele Ritter und braucht mich am wenigsten von allen. Aber Ihr habt nur einen.«

»Das kann ich nicht zulassen, Simon.« Sie schüttelte heftig den Kopf. »Du weißt nicht, was ich vorhabe und was mein Ziel ist.«

»Dann sagt es mir.«

Wieder schüttelte sie den Kopf.

»Dann werde ich es eben unterwegs erfahren. Entweder Ihr nehmt mich mit oder Ihr bleibt hier. Seid mir nicht böse, Miriamel, aber anders geht es nicht.«

Sie sah ihn so eindringlich an, als wollte sie ihm mitten ins Herz blicken. Unentschlossen und aufgewühlt zupfte sie zerstreut am Zaumzeug ihres Pferdes herum, bis Simon Angst bekam, das Tier könne sich erschrecken und durchgehen.

»Also gut«, erklärte sie endlich. »Elysia steh uns bei – also gut! Aber wir müssen sofort aufbrechen, und du darfst mir heute Abend keine Fragen mehr nach dem Wohin und Warum stellen.«

»Sehr gut«, erwiderte er ungeachtet seiner Zweifel. Er konnte den Gedanken nicht ertragen, sie allein ins Dunkel reiten zu lassen. »Aber ich muss noch mein Schwert und ein paar Sachen holen. Habt Ihr Proviant?«

»Genug für mich, aber du kannst es nicht wagen, jetzt noch etwas zu stehlen, Simon. Die Gefahr ist zu groß, dass dich irgendjemand bemerkt.«

»Gut, dann zerbrechen wir uns darüber später den Kopf. Aber ich brauche mein Schwert, und ich muss eine Erklärung hinterlassen. Habt Ihr das getan?«

Sie starrte ihn an. »Bist du verrückt?«

»Nicht um zu sagen, wohin Ihr geht, sondern nur, dass Ihr es aus freiem Willen tut. Es muss sein, Miriamel«, erklärte er energisch. »Es wäre sonst grausam von uns. Sie würden denken, die Nornen hätten uns entführt, oder wir… wir…«, er lächelte bei dem Einfall, »… wären durchgebrannt, um zu heiraten, wie in dem Lied von Hans Mundwald.«

Ihr Blick wurde berechnend. »Na schön. Hol dein Schwert und schreib die Nachricht.«

Simon runzelte die Stirn. »Ich bin schon unterwegs. Aber vergesst nicht«, fügte er warnend hinzu, »wenn Ihr bei meiner Rückkehr nicht mehr hier seid, hetze ich Euch noch heute Nacht Josua und ganz Neu-Gadrinsett auf den Hals.«

Miriamel schob trotzig das Kinn vor. »Dann aber schnell. Ich möchte bis morgen früh durchreiten und möglichst weit von hier wegkommen, also beeil dich.«

Er verbeugte sich spöttisch, machte kehrt und rannte den Hang hinunter.

Für einen Moment war ihm, als singe ringsum die ganze Welt, als stünden die Sterne ganz dicht und aufmerksam über ihm. Der Erdball schien auf einem ungeheuren Drehpunkt erstarrt zu sein, als wolle er gleich umkippen, und jede Richtung, in die er fallen konnte, war schön und schrecklich zugleich. Es war, als sei das geschmolzene Blut des Drachen in ihm wieder lebendig geworden, öffne ihm den unendlichen Himmel, fülle ihn mit dem Pulsschlag der Erde.

Ohne einen Blick auf das nächtliche Lagerleben zu werfen, ohne die singenden, lachenden oder streitenden Stimmen zu hören, ohne etwas anderes als den kleinen Pfad zu sehen, der sich durch die Zelte auf seinen eigenen Schlafplatz zuschlängelte, rannte er darauf zu.

Zum Glück befand sich Binabik nicht in ihrem Zelt. Er hatte sich noch gar nicht überlegt, was er tun sollte, wenn der Troll ihn dort erwartet hätte. Denn ein vernünftiger Grund, sein Schwert mitzunehmen, wäre ihm zwar vielleicht eingefallen, aber auf keinen Fall hätte er eine Nachricht hinterlassen können. Mit vor Ungeduld zittrigen Fingern durchwühlte er das Zelt nach Schreibmaterial und fand schließlich eine der Schriftrollen, die Binabik aus Ookequks Höhle in den Trollfjällen mitgebracht hatte. Mit einem Stück Kohle, das er aus der Feuerstelle nahm, kritzelte er mühsam seine Botschaft auf die Rückseite des Schafleders. Die Zunge fest zwischen den Zähnen schrieb er:

Miriamel ist weg und ich hinterher. Es wird schonn gutgehn. Sag Prinz Josua das es mir leid tut, aber ich mus mit. Ich bring sie zurück, sobalt ich kann. Und sag ihm ich bin ein schlechter Ritter, aber ich versuch das richtige zu tun.

Dein Freund Simon.

Er überlegte kurz und fügte hinzu: »Du kannst meine Sachen haben, wenn ich nich wiederkomm. Tut mir leid.«

Diese Nachricht legte er auf Binabiks Deckenrolle, nahm Schwert und Scheide und ein paar andere notwendige Gegenstände und wollte gehen. Aber an der Tür zögerte er. Er dachte an den Sack mit seinen geliebten Schätzen, dem Weißen Pfeil und Jirikis Spiegel. Er ging noch einmal zurück und holte ihn, obwohl ihm jeder Augenblick, den er Miriamel warten ließ – und sie würde warten, sie musste warten –, wie eine Stunde vorkam. Er hatte Binabik geschrieben, der Troll könne die Sachen haben, aber gerade noch rechtzeitig war ihm eingefallen, was Miriamel kürzlich gesagt hatte: Diese Dinge waren ihm anvertraut worden. Sie standen für ein Versprechen. Er konnte sie so wenig verschenken wie seinen Namen, und es war nicht mehr genügend Zeit, die Gegenstände auszusortieren, auf die er bequem verzichten konnte. Er wagte nicht einmal, sich Zeit zum Überlegen zu nehmen – sonst hätte er den Mut verloren.

Immer wieder dachte er staunend: Wir werden allein sein, sie und ich, und ich bin ihr Beschützer.

Es dauerte qualvoll lange, bis er den Sack endlich fand. Er hatte ihn in einem Loch unter einem ausgehobenen Rasenstück versteckt. Sack und Schwert unter den Arm geklemmt, den abgenutzten Sattel über der Schulter – das Klirren der Schnallen am Geschirr ließ ihn zusammenzucken –, lief er, so schnell er konnte, durch das Lager und zurück dorthin, wo die Pferde angebunden waren und – darum betete er – Miriamel wartete.

Sie war da. Er sah, wie sie ungeduldig auf und ab ging, und ihm wurde fast schwindlig. Sie hatte tatsächlich auf ihn gewartet.

»Rasch, Simon, komm! Die Nacht ist kurz!« Im Gegensatz zu ihm schien sie keine Freude zu empfinden, nur ein Gefühl von Ohnmacht, verbunden mit dem unbändigen Drang, endlich aufzubrechen.

Als Heimfinder gesattelt war und Simon seine wenigen Habseligkeiten hastig in ihre Satteltaschen gestopft hatte, führten sie die Pferde zum Kamm des Hügels hinauf, lautlos wie Gespenster. Von oben warfen sie einen letzten Blick auf die Flickendecke aus glimmenden Lagerfeuern, die sich über das Flusstal breitete.

»Seht!«, sagte Simon erstaunt. »Das ist kein Kochfeuer.« Er deutete auf eine große schwankende orangerote Feuersäule nahe der Mitte des Lagers. »Da brennt ein Zelt.«

»Hoffentlich kommt niemand zu Schaden, aber jedenfalls lenkt es die Leute ab, bis wir fort sind«, meinte Miriamel grimmig. »Wir müssen reiten, Simon.«

Gesagt, getan. Sie kletterte behende in den Sattel, wie früher in Männerhemd und Hose gekleidet, und ritt voran, die Rückseite des Hügels hinunter.

Einen letzten Blick warf Simon auf die Lichter, dann trieb er Heimfinder an, ihr in die tiefen Schatten zu folgen, die selbst der aufgehende Mond nicht durchdringen konnte.