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Osten der Welt
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ch bin doch jetzt ein Ritter, oder?« Simon fuhr mit der Hand durch Qantaqas dickes Nackenfell. Die Wölfin beäugte ihn gleichmütig.
Binabik sah von seinem Stoß Pergamentblätter auf und nickte. »Durch einen Eid vor deinem Gott und deinem Prinzen.« Der Troll wandte sich wieder Morgenes’ Buch zu. »Dieses dünkt mich die Besonderheit des Rittertums zu sein.«
Simon blickte hinaus in die steinplattengepflasterte Weite des Feuergartens und versuchte, seine Gedanken in Worte zu fassen. »Nur … nur ich fühle mich kein bisschen anders als vorher. Ich bin ein Ritter, ein Mann! Warum merke ich dann gar keinen Unterschied?«
Binabik, der sich an irgendeiner Stelle festgelesen hatte, antwortete nicht sofort. »Es tut mir leid, Simon«, meinte er nach einer Weile. »Ich bin gerade kein guter Zuhörfreund. Bitte, sag es noch einmal.«
Simon bückte sich, hob einen lockeren Stein auf und ließ ihn über die Platten ins angrenzende Unterholz hüpfen. Qantaqa sprang hinterher. »Wenn ich ein Ritter und erwachsener Mann bin, warum fühle ich mich trotzdem wie derselbe dumme Küchenjunge?«
Binabik lächelte. »Du bist damit nicht allein, Freund Simon. Auch wenn ein neuer Lebensabschnitt anbricht oder jemandem eine Anerkennung zuteilwird, verändert sich der Mensch in seinem Innern nicht plötzlich. Weil du dich auf dem Urmsheim tapfer gezeigt hast, wurdest du zu Josuas Ritter geschlagen. Wenn du dich also verändert hast, dann nicht bei der Zeremonie von gestern, sondern damals auf dem Berg.« Er klopfte auf Simons Stiefel. »Sagtest du nicht, du hättest dort etwas gelernt – auch aus dem vergossenen Blut des Drachen?«
»Ja.« Simon spähte zu Qantaqas Schwanz hinüber, der über dem Heidekraut wehte wie eine Rauchfahne.
»Trolle und Tiefländer, alle wachsen sie, wie es ihnen angemessen ist«, erläuterte der kleine Mann, »nicht so, wie andere es ihnen sagen. Sei zufrieden. Du wirst immer ungemein du selbst sein, und doch habe ich in den Monaten, die wir Freunde sind, viel Wandlung an dir gesehen.«
»Wirklich?« Simon unterbrach sich mitten im Wurf.
»Das ist die Wahrheit. Du stehst im Begriff, ein Mann zu werden. Lass es mit der Schnelligkeit geschehen, die dazu benötigt wird, und zerbrich dir nicht den Kopf.« Er raschelte mit den Pergamenten. »Lausche nun, ich möchte dir etwas vorlesen.« Er zog mit kurzem Finger die Linien von Morgenes’ krakeliger Handschrift nach. »Dankbar bin ich Strangyeard mehr, als man sagen kann, weil er aus der Zerstörung von Naglimund dieses Buch gerettet hat. Es ist unsere letzte Verbindung zu jenem großen Mann, der dein Lehrer war.« Der Finger hielt inne. »Aha. Hier. Morgenes schreibt über König Johan den Priester: Wenn ihn wirklich ein göttlicher Funke berührt hatte, so zeigte sich das am deutlichsten in seinem Kommen und Gehen, nämlich daran, dass er zur besten Stunde am rechten Platz war und daraus seinen Vorteil zog …«
»Das Stück habe ich schon gelesen«, erklärte Simon ohne sonderliches Interesse.
»Dann wirst du bemerkt haben, wie voll von Bedeutung es für unsere Aufgabe ist«, versetzte der Troll.
»Denn Johan Presbyter wusste, dass im Krieg und in der Diplomatie – und ebenso in der Liebe und im Handel, zwei anderen diesen nicht unähnlichen Beschäftigungen – in der Regel nicht der Starke oder gar der Gerechte den Sieg davonträgt, sondern der, dem das Glück hold ist. Und Johan wusste auch, dass derjenige, der schnell und ohne überflüssige Vorsicht handelt, seinen Weg machen wird.«
Simon runzelte die Stirn über Binabiks erfreute Miene. »Na und?« Der Troll ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Höre weiter: Deshalb führte Johan in dem Krieg, der Nabban in seine kaiserliche Hand fallen ließ, seine an Zahl weit unterlegenen Truppen durch den onestrinischen Pass und mitten hinein in die Speerspitzen von Ardrivis’ Legionen, obgleich jedermann wusste, dass nur ein Narr so vorgehen würde. Gerade diese Tollkühnheit, dieser scheinbare Wahnwitz jedoch war es, der Johans kleinem Heer einen großen Überraschungserfolg brachte und sogar bei den erschrockenen Kriegern aus Nabban ein Gefühl seiner göttlichen Sendung hervorrief.«
Simon fand den triumphierenden Unterton in der Stimme des kleinen Mannes ein wenig beunruhigend. Binabik schien zu denken, der springende Punkt der Sache sei jetzt völlig klar. Simon überlegte.
»Willst du sagen, dass wir wie König Johan handeln sollten? Dass wir versuchen sollten, Elias zu überraschen?« Der Gedanke war erstaunlich. »Dass wir ihn … angreifen sollten?«
Binabik nickte und entblößte die Zähne zu einem gelben Grinsen. »Schlauer Simon! Warum nicht? Bisher haben wir nur reagiert und nicht agiert. Vielleicht ist ein Wechsel von Nutzen.«
»Aber was ist mit dem Sturmkönig?« Von dem Gedanken erschüttert, sah Simon auf den bewölkten Horizont. Unter dem weiten schiefergrauen Himmel dieses fremdartigen Ortes hätte er am liebsten nicht einmal den Namen ausgesprochen. »Und außerdem, Binabik, sind wir nur ein paar Hundert. König Elias gebietet über Tausende von Soldaten, das weiß jeder.«
Der Troll zuckte die Achseln. »Wer sagt denn, dass wir Heer gegen Heer kämpfen müssen? Im Übrigen nimmt unsere kleine Truppe hier täglich zu, denn es kommen immer mehr Leute über die Wiesen nach … wie nannte es Josua? Ach ja … Neu-Gadrinsett.«
Simon schüttelte den Kopf und warf einen weiteren, glatten Steinscherben in die Luft. »Mir kommt es töricht vor – nein, nicht töricht. Aber zu gefährlich.«
Binabik behielt die Ruhe. Er pfiff Qantaqa, die über die Steinplatten herbeigetrottet kam. »Vielleicht ist es genau das, Simon. Gehen wir ein Stückchen spazieren.«
Prinz Josua starrte mit sorgenvollem Gesicht auf das Schwert. Die gute Laune, die er während des Festes zur Schau getragen hatte, schien ihn gänzlich verlassen zu haben.
Es war ja auch nicht so, dass der Prinz in letzter Zeit wirklich glücklicher gewesen wäre, fand Deornoth. Er hatte lediglich eingesehen, dass seine Selbstzweifel auch seine Umgebung verunsicherten. In Zeiten wie diesen wollten die Menschen lieber einen furchtlosen Fürsten als einen aufrichtigen, darum bemühte sich Josua, seinen Untertanen die Maske ruhiger Zuversicht zu zeigen. Deornoth freilich, der ihn gut kannte, wusste sehr wohl, dass die Last der Verantwortung so schwer auf Josua lag wie nur je zuvor.
Er ist wie meine Mutter, dachte Deornoth. Merkwürdiger Vergleich für einen Prinzen. Aber genau wie sie glaubt er, er müsste auch noch die Sorgen und Ängste von allen anderen auf sich nehmen, weil sonst keiner diese Bürde tragen kann.
Und wie Deornoth es bei seiner Mutter erlebt hatte, schien auch Josua schneller zu altern als seine Umgebung. Der Prinz, immer schon schlank, war während der Flucht der Gefolgschaft aus Naglimund sehr dünn geworden. Inzwischen hatte er zwar wieder etwas zugenommen, aber jetzt umgab ihn eine eigenartige Aura der Zerbrechlichkeit, als habe er sich ein wenig von den weltlichen Dingen entfernt, wie ein Mensch, der zum ersten Mal nach langer Krankheit auf die Beine kommt. Die grauen Strähnen in seinem Haar hatten sich auffällig vermehrt, und in seinen Augen, noch immer scharf und wissend wie früher, lag jetzt ein Glanz, der etwas Fiebriges hatte.
Er braucht Frieden. Er braucht Ruhe. Ich wünschte, ich könnte am Fuß seines Bettes stehen und ihn beschützen, während er schläft – ein ganzes Jahr lang schläft.
»Gott gebe ihm Kraft«, murmelte er.
Josua drehte sich um. »Entschuldige, ich war in Gedanken. Was hast du gesagt?«
Deornoth schüttelte den Kopf. Er wollte nicht lügen, seine Gedanken aber lieber für sich behalten. Die beiden Männer wandten ihre Aufmerksamkeit wieder dem Schwert zu.
Prinz und Lehensmann standen vor dem langen Steintisch in dem Gebäude, das Geloë das Abschiedshaus nannte. Alle Spuren des gestrigen Festes waren fortgeräumt, und nur dieser eine, glänzende Gegenstand lag auf dem glatten Stein.
»Wenn man bedenkt, wie viele durch diese Klinge gestorben sind …«, meinte Deornoth endlich. Er berührte den schnurumwickelten Griff. Dorn war so kalt und leblos wie der Fels, auf dem es ruhte.
»Und vergiss nicht«, brummte der Prinz, »wie viele gerade in jüngster Zeit erst gestorben sind, damit wir es in den Händen halten.«
»Aber wenn es uns so viel gekostet hat, sollten wir es doch bestimmt nicht einfach hier liegen lassen – in einer offenen Halle, die jeder betreten kann.« Deornoth schüttelte den Kopf. »Dieses Schwert könnte unsere größte Hoffnung sein, Hoheit, unsere einzige Hoffnung! Sollten wir es nicht in ein sicheres Versteck bringen oder eine Wache davorstellen?«
Josua lächelte beinahe. »Wozu, Deornoth? Man kann jeden Schatz stehlen, jede Burg bezwingen, jedes Versteck ausspähen. Es ist besser, wenn es hier liegt, wo es jeder sehen und fühlen kann, welche Hoffnung es birgt.« Mit schmalen Augen schaute er auf die Klinge. »Nicht, dass mir der Anblick große Erwartungen einflößte. Ich hoffe, du wirst mich nicht für weniger prinzlich halten, wenn ich dir gestehe, dass es mir bei seinem Anblick eher kalt über den Rücken läuft.« Langsam strich er mit der Hand über die Klinge. »Jedenfalls wird, geht man von dem aus, was Binabik und der junge Simon gesagt haben, niemand dieses Schwert an einen Ort bringen, an den es nicht selbst hinmöchte. Und schließlich, wenn es hier vor aller Augen liegt wie weiland Tethtains Axt im Herzen der sagenhaften Buche, wird vielleicht jemand erscheinen, der uns erklärt, auf welche Weise es uns von Nutzen sein kann.«
Deornoth begriff nicht. »Ihr meint, jemand vom gewöhnlichen Volk, Herr?«
»Es gibt alle möglichen Arten von Weisheit, Deornoth«, knurrte der Prinz. »Hätten wir damals auf das einfache Volk in der Frostmark gehört, als es uns sagte, im Land gehe Böses um, wer weiß, wie viel Qualen uns erspart geblieben wären. Nein, Deornoth, jedes weise Wort über dieses Schwert ist jetzt wertvoll für uns, jedes alte Lied, jede halbvergessene Geschichte.« Er konnte seine Unzufriedenheit nicht verbergen. »Schließlich haben wir keine Ahnung, was für einen Vorteil es uns bringen kann – genauer gesagt, keine Ahnung, ob es überhaupt jemandem etwas nützt, abgesehen von einem alten, wirren Vers …«
Eine laute, rauhe Stimme unterbrach ihn:
Wenn Rauhreif Claves’ Glocke deckt
und Schatten auf der Straße geht,
das Brunnenwasser schwarz sich fleckt:
drei Schwerter müssen dann zurück.
Überrascht drehten die beiden Männer sich um. Geloë stand in der Türöffnung. Sie kam auf sie zu und fuhr dabei fort, die Verse zu sprechen.
Wenn Bukken kriechen aus der Gruft,
der Hune steigt vom Berg herab,
wenn Alptraum raubt dem Schlaf die Luft:
drei Schwerter müssen dann zurück.
Der Zeiten Nebel zu verwehn,
zu wenden harten Schicksals Schritt –
soll Frühes Spätem widerstehn:
drei Schwerter müssen dann zurück.
»Ich konnte nicht umhin, Euch zu belauschen, Prinz Josua – ich habe scharfe Ohren. Eure Worte sind sehr weise. Doch was Eure Zweifel angeht …« Sie verzog das Gesicht. »Verzeiht einer alten Frau ihre Unverblümtheit, aber wenn wir nicht an die Macht von Nisses’ Prophezeiung glauben, was bleibt uns dann überhaupt noch?«
Josua versuchte ein Lächeln. »Ich habe nicht bestritten, dass sie einen für uns wichtigen Sinn birgt, Valada Geloë. Ich wünschte nur, ich wüsste genauer, was die Besonderheit dieser Schwerter wirklich ist.«
»So geht es uns allen.« Die Zauberfrau nickte Deornoth zu und warf einen schnellen Blick auf Dorn. »Immerhin, eines der drei Großen Schwerter befindet sich in unserem Besitz, und das ist mehr als letztes Jahr.«
»Wahr. Sehr wahr.« Josua lehnte sich an den Steintisch. »Und dank Euch leben wir an einem sicheren Ort. Ich bin nicht blind für unser Glück, Geloë.«
»Aber Ihr macht Euch Sorgen.« Es war keine Frage. »Es wird immer schwieriger, die wachsende Ansiedlung zu ernähren und ihre Bewohner zu regieren.«
Der Prinz nickte. »Und viele wissen im Grunde nicht, weshalb sie hier sind. Sie sind anderen Siedlern einfach gefolgt. Nach einem so eiskalten Sommer weiß ich nicht, wie wir den Winter überleben wollen.«
»Das Volk wird auf Euch hören, Hoheit«, erklärte Deornoth. In Gegenwart der Zauberfrau kam ihm Josua immer eher wie ein eifriger Schüler und nicht wie ein Prinz vor. Er hatte sich nie daran gewöhnen können und nur unvollkommen gelernt, seinen Ärger zu verbergen. »Sie werden tun, was Ihr sagt. Gemeinsam werden wir auch über diesen Winter kommen.«
»Natürlich, Deornoth.« Josua legte dem Freund die Hand auf die Schulter. »Wir haben zu viel durchgestanden, als dass uns die alltäglichen Kleinigkeiten noch erschüttern könnten.«
Er sah aus, als wollte er noch mehr sagen, aber in diesem Augenblick hörten sie draußen auf den breiten Stufen das Geräusch von Schritten. In der Tür tauchten der junge Simon und der Troll auf, dicht gefolgt von Binabiks zahmer Wölfin. Das große Tier sog die Luft ein, beschnüffelte dann den Stein auf allen Seiten der Tür und trottete schließlich davon, um sich in einer entfernten Ecke der Halle niederzulegen. Deornoth sah Qantaqas Abgang nicht ohne Erleichterung. Er hatte zahlreiche Beweise ihrer Harmlosigkeit bekommen, aber er war ein Kind des ländlichen Erkynlandes, wo Wölfe in den Kamingeschichten die Stelle der Dämonen einnahmen.
»Aha«, sagte Josua fröhlich, »mein jüngster Ritter mit dem ehrenwerten Gesandten des fernen Yiqanuc. Kommt, setzt Euch.« Er wies auf eine Reihe von den Festlichkeiten des Vorabends übriggebliebener Hocker. »Wir warten nur noch auf ein paar weitere Gäste, unter ihnen Graf Eolair.« Er fragte Geloë: »Ihr habt doch nach ihm gesehen? Geht es ihm besser?«
»Ein paar Schnittwunden und Prellungen. Er ist sehr abgemagert – weit geritten, wenig gegessen. Aber er ist bei Gesundheit.«
Deornoth dachte, dass sie auch nicht viel mehr sagen würde, wenn man den Grafen von Nad Mullach gevierteilt hätte – und dass sie ihn trotzdem bald wieder auf die Füße brächte. Die Zauberfrau bezeugte seinem Prinzen nicht den gebührenden Respekt und hatte wenig Eigenschaften, die für Deornoth zu einer Frau gehörten. Aber er musste zugeben, dass sie alles, was sie anpackte, hervorragend erledigte.
»Das höre ich gern.« Josua steckte die Hand unter den Mantel. »Es ist kalt hier. Wir wollen ein Feuer anzünden, damit wir sprechen können, ohne mit den Zähnen zu klappern.«
Während Josua und die anderen redeten, holte Simon Holzscheite vom Stapel in der Ecke und schichtete sie in der Feuerstelle auf. Er war zufrieden, dass er eine Aufgabe hatte. Zu dieser hohen Gesellschaft zu zählen erfüllte ihn mit Stolz, aber es gelang ihm noch nicht recht, dies als selbstverständlich zu empfinden.
»Stell das Holz so hin, dass es sich oben berührt und unten auseinandergeht«, riet Geloë.
Er folgte diesem Vorschlag und errichtete in der Feuerstelle ein kegelförmiges Zelt aus Brennholz. Als er damit fertig war, schaute er sich im Raum um. Die rohe Feuerstelle auf dem kunstvoll verlegten Steinboden störte ihn. Es war, als hätten sich in einem herrschaftlichen Haus der Menschen wilde Tiere eingenistet. Nirgends in der langen Halle gab es etwas, das an eine Feuerstelle der Sithi erinnerte. Wie hatten sie den Raum beheizt? Simon fiel ein, dass Aditu barfuß durch den Schnee gelaufen war. Er kam zu dem Schluss, dass ihnen solche Dinge vermutlich unwichtig gewesen waren.
»Heißt dieses Gebäude wirklich Abschiedshaus?«, fragte er Geloë, als sie mit Feuerstein und Stahl zu ihm kam. Sie beachtete ihn zunächst nicht, sondern hockte sich vor die Feuerstelle und schlug einen Funken auf die gekräuselten Rindenspäne, die zwischen den Scheiten lagen.
»So gut wie … Ich hätte es ›Halle des Lebewohls‹ genannt, aber der Troll hat meine Sithigrammatik berichtigt.« Sie zeigte ein knappes Lächeln. Unter ihren Händen stieg ein Rauchfaden auf.
Simon dachte, es könnte ein Scherz gewesen sein, aber er war sich nicht ganz sicher. »Und ›Abschied‹ deshalb, weil sich die beiden Familien hier getrennt haben?«
»Ja – ich glaube, hier war der Ort, an dem sie das Abkommen schlossen. Ich nehme aber an, dass die Sithi noch einen anderen Namen dafür haben oder hatten, denn die Halle wurde schon lange vor dem Auseinandergehen der beiden Stämme benutzt.«
Also hatte er recht gehabt: Seine Vision hatte ihm die Vergangenheit gezeigt. Grübelnd starrte er auf die Säulenhalle mit ihren Pfeilern aus behauenem Stein, nach unzähligen Jahren noch immer klar und scharfkantig. Jirikis Volk hatte einst mächtige Baumeister besessen. Jetzt aber waren ihre Waldwohnungen so wandelbar und unbeständig wie Vogelnester. Vielleicht war es weise von den Sithi, keine tiefen Wurzeln mehr zu schlagen. Trotzdem kam es Simon vor, als sei ein Ort, der immer da war, eine Heimat, die sich nicht veränderte, gerade jetzt der kostbarste Schatz auf der Welt.
»Warum haben die beiden Familien sich getrennt?«
Geloë zuckte die Achseln. »Für so große Veränderungen gibt es immer mehr als einen Grund. Aber ich habe gehört, dass die Sterblichen etwas damit zu tun hatten.«
Simon erinnerte sich an die letzte, furchtbare Stunde im Yásira. »Die Nornenkönigin – Utuk’ku. Sie war wütend, dass die Sithi die Sterblichen nicht aus dem Land gepeitscht hätten, sagte sie. Und auch, dass Amerasu nicht von ihnen lassen wollte.« Es war schwer, ohne Scham an Amerasu die Schiffgeborene zu denken, denn ihr Mörder hatte behauptet, auf Simons Spur nach Jao é-Tinukai’i gelangt zu sein.
Die Zauberfrau warf ihm einen kurzen, scharfen Blick zu. »Ich vergesse manchmal, was du alles erlebt hast, Junge. Ich hoffe, dass du es nicht vergisst, wenn deine Zeit gekommen ist.«
»Was für eine Zeit?«
»Was nun die Trennung von Sithi und Nornen angeht«, fuhr sie fort, ohne seine Frage zu beachten, »so haben die Menschen zwar etwas damit zu tun, aber es heißt auch, dass die beiden Häuser schon in ihrem Herkunftsland ein gespanntes Verhältnis hatten.«
»Im Garten?«
»Wie sie es nennen. Ich kenne diese Geschichten nicht so gut – die alten Legenden haben mich nie besonders interessiert. Ich habe mich immer mit den Dingen beschäftigt, die unmittelbar vor mir lagen, Dingen, die man anfassen, sehen und zu denen man reden kann. Eine Frau war damals beteiligt, eine Sitha, und ein Mann von den Hikeda’ya. Sie starb. Er starb. Beide Familien waren verbittert. Es ist lange her, Junge. Wenn du deinen Freund Jiriki wiedersiehst, frag ihn. Schließlich ist es seine eigene Familiengeschichte.«
Geloë stand auf und ging. Simon blieb zurück und wärmte sich die Hände an den Flammen.
Diese alten Geschichten sind wie Blut. Sie fließen durch die Adern der Völker, selbst wenn sie es nicht wissen oder nicht darüber nachdenken. Er erwog die Idee ein Weilchen. Aber selbst wenn man nicht daran denkt, kommen in schlechten Zeiten die alten Geschichten überall wieder zum Vorschein. Und auch das ist genau wie bei Blut.
Während Simon dasaß und grübelte, erschien Hotvig mit Osbern, seiner rechten Hand. Ihnen folgten gleich darauf Isorn und seine Mutter, Herzogin Gutrun.
»Wie geht es meiner Gemahlin, Herzogin?«, fragte Josua.
»Sie fühlt sich nicht wohl, Hoheit«, erwiderte sie, »sonst wäre sie hier. Aber damit muss man schließlich rechnen. Kinder sind nicht erst schwierig, wenn sie auf der Welt sind, wisst Ihr.«
»Ich weiß sehr wenig, liebe Dame«, lachte Josua. »Und von solchen Dingen schon gar nichts. Ich werde zum ersten Mal Vater.«
Bald tauchte auch Vater Strangyeard auf, begleitet von Graf Eolair von Nad Mullach. Der Graf hatte seine Reisekleidung mit der Tracht der Thrithinge vertauscht, Hose und Hemd aus dicker, brauner Wolle. Er trug einen goldenen Halsring. Das schwarze Haar war auf dem Rücken zum langen Schweif gebunden. Simon erinnerte sich, ihn vor langer Zeit auf dem Hochhorst gesehen zu haben, und staunte wieder einmal über die Wunderlichkeit des Schicksals, das Menschen über die Welt schob wie Figuren in einem riesigen Shent-Spiel.
»Willkommen, Eolair, willkommen«, begann Josua. »Ädon sei Dank! Es tut meinem Herzen wohl, Euch wiederzusehen.«
»Auch meinem, Hoheit.« Der Graf warf die Satteltaschen, die er mit sich schleppte, neben der Tür an die Wand und berührte mit dem Knie kurz den Boden. Josua hob ihn auf und umarmte ihn.
»Das Volk von Hernystir sendet aus der Verbannung seine Grüße«, sagte Eolair.
Josua machte den Grafen rasch mit den anderen bekannt, soweit er sie noch nicht gesehen hatte. Zu Simon sagte Eolair: »Seitdem ich hier bin, habe ich schon viel von Euren Abenteuern gehört.« Das Lächeln auf seinem schmalen Gesicht war warm. »Ich hoffe, Ihr könnt ein wenig Zeit erübrigen, um mir davon zu erzählen.«
Simon nickte geschmeichelt. »Gewiss, Graf.«
Josua führte Eolair zu der langen Tafel, wo Dorn wartete, so feierlich und schaurig wie ein toter König auf seiner Bahre.
»Camaris’ berühmte Klinge«, sagte der Hernystiri. »Ich habe so oft davon gehört, dass es mir seltsam vorkommt, sie endlich zu sehen und zu erkennen, dass sie ein wirklicher Gegenstand ist, aus Metall geschmiedet wie jede andere Waffe.«
Josua schüttelte den Kopf. »Und trotzdem ist sie anders«
»Darf ich sie anfassen?«
»Natürlich.«
Eolair schaffte es nur ganz knapp, den Griff von der steinernen Tafel hochzuheben. Die Sehnen an seinem Hals traten dick hervor, so strengte er sich an. Endlich gab er auf und rieb sich die verkrampften Finger. »Es ist schwer wie ein Mühlstein.«
»Nur manchmal.« Josua klopfte ihm auf die Schulter. »Zu anderen Zeiten ist es leicht wie Gänsedaunen. Wir wissen nicht, warum, und wissen auch nicht, was es uns Gutes bringen soll. Aber es ist alles, was wir haben.«
»Vater Strangyeard hat mir von dem Reim erzählt«, erklärte der Graf. »Ich glaube, ich kann Euch etwas mehr von den Großen Schwertern berichten.« Er sah sich im Raum um. »Wenn es die richtige Zeit dazu ist.«
»Das hier ist unser Kriegsrat«, versetzte Josua schlicht. »Allen hier Versammelten könnt Ihr alles sagen, und wir sind begierig nach Neuigkeiten über die Schwerter. Außerdem möchten wir natürlich hören, wie es Eurem Volk ergangen ist. Wenn ich nicht irre, ist Lluth nicht mehr am Leben. Ihr habt unser tiefes Mitgefühl. Er war ein großer Mann und ein ausgezeichneter König.«
Eolair nickte. »Auch Gwythinn, sein Sohn, ist tot.«
Deornoth, der auf einem Hocker in der Nähe saß, stöhnte. »Oh, üble Nachricht! Er verließ Naglimund kurz vor der Belagerung. Was geschah dann?«
»Skalis Kaldskrykemänner haben ihn gefangen und abgeschlachtet.« Eolair starrte zu Boden. »Sie warfen seinen Leichnam am Fuß der Berge hin wie Abfall und ritten davon.«
»Verflucht sollen sie sein!«, knurrte Deornoth grimmig.
»Ich schäme mich, sie Landsleute zu nennen«, sagte der junge Isorn. Seine Mutter nickte zustimmend. »Sobald mein Gatte zurückkehrt, wird er sich um Scharfnase kümmern.« Es klang so zuversichtlich, als spräche sie vom nächsten Sonnenuntergang.
»Und dennoch sind wir hier alle Landsleute«, meinte Josua. »Wir alle sind ein Volk. Von diesem Tage an wollen wir uns gemeinsam gegen den Feind aller wehren.« Er deutete auf die Hocker an der Wand. »Kommt, nehmt Platz. Wir müssen uns selbst bedienen. Ich fand, je kleiner dieser Kreis bleibt, desto offener können wir miteinander sprechen.«
Als alle saßen, berichtete Eolair vom Untergang Hernystirs. Er begann mit dem Gemetzel am Inniscrich und Lluths tödlicher Verwundung. Kaum hatte er jedoch angefangen, als es vor der Halle einen Tumult gab. Gleich darauf torkelte der alte Narr Strupp durch die Tür, hinter ihm Sangfugol, der ihn am Hemd festhielt und am Eindringen hindern wollte.
»Aha!« Der Alte heftete die geröteten Augen auf Josua. »Ihr seid nicht treuer als Euer Mordbube von Bruder!« Er schwankte, als Sangfugol verzweifelt an ihm zog. Die Wangen rosig, das Haar, soweit noch vorhanden, zerzaust – Strupp war unverkennbar betrunken.
»Komm mit, verflixter Kerl!«, zischte der Harfner. »Es tut mir leid, Prinz. Er ist plötzlich aufgesprungen und …«
»Der Gedanke, dass ich nach so vielen Jahren im Dienst«, stieß Strupp erbost hervor, »dass ich … dass … ausgeschlossen werde …« Er betonte das Wort mit stolzer Sorgfalt und bemerkte den Speichelfaden nicht, der ihm vom Kinn hing. »Dass ich gemieden werde … ausgesperrt von Eurem Rat … ich, der ich dem Herzen Eures Vaters am nächsten stand …«
Josua stand auf und betrachtete den Narren traurig. »Ich kann jetzt nicht mit dir reden, mein Alter. Nicht, wenn du in diesem Zustand bist.« Mit gerunzelter Stirn sah er zu, wie Sangfugol mit Strupp rang.
»Ich werde ihm helfen, Prinz Josua«, erklärte Simon. Er konnte es nicht länger ertragen, keinen Augenblick länger, wie der alte Mann sich zum Gespött machte. Zusammen mit dem Harfner gelang es ihm, Strupp zum Umkehren zu bewegen. Sobald er dem Prinzen den Rücken zugedreht hatte, schien sein Kampfgeist gebrochen, und der Narr ließ zu, dass sie ihn zur Tür schoben.
Draußen pfiff ein bitterkalter Wind über den Gipfel. Simon zog den Mantel aus und legte ihn um Strupps Schultern. Der Narr ließ sich auf die oberste Stufe nieder, ein Bündel aus spitzen Knochen und dünner Haut, und sagte: »Ich glaube, mir wird schlecht.« Simon klopfte ihm auf die Schulter und blickte ratlos auf Sangfugol, in dessen Augen ganz und gar nichts Mitfühlendes lag.
»Es ist, als versorgte man ein kleines Kind«, knurrte der Harfner. »Nein, Kinder benehmen sich besser. Leleth zum Beispiel spricht überhaupt nicht.«
»Ich habe ihnen gesagt, wo sie das verfluchte schwarze Schwert finden würden«, murmelte Strupp. »Sagte ihnen, wo es steckte. Erzählte ihnen auch von dem andern, und wie Elias es nicht anfassen wollte. ›Dein Vater will, dass du es nimmst‹, hab ich ihm gesagt, aber er wollte nicht auf mich hören. Ließ es fallen wie eine Schlange. Und jetzt auch das schwarze Schwert!« Eine Träne rann ihm in den weißen Backenbart. »Wirft mich weg wie eine Orangenschale.«
»Wovon redet er?«, fragte Simon.
Sangfugol kräuselte die Lippen. »Er hat dem Prinzen ein paar Dinge über Dorn erzählt, bevor ihr damals auf die Suche gegangen seid. Ich weiß nicht, was das andere bedeuten soll.« Er bückte sich und nahm Strupp am Arm. »Ach was. Er hat gut jammern – schließlich muss er nicht sein eigenes Kindermädchen spielen.« Sangfugol lächelte Simon mürrisch zu. »Nun ja – im Leben eines Ritters gibt es bestimmt auch schlechte Tage, wie? Zum Beispiel wenn jemand mit dem Schwert auf einen losgeht?« Er zog den Narren hoch und wartete, bis der Alte sein Gleichgewicht fand. »Weder Strupp noch ich sind heute besonders guter Stimmung, Simon. Nicht Eure Schuld. Besucht mich nachher, dann trinken wir einen Schluck Wein zusammen.«
Sangfugol drehte sich um und schritt durch das wehende Gras davon. Dabei gab er sich alle Mühe, Strupp zu stützen und ihn gleichzeitig so weit wie möglich von seinen sauberen Kleidern fernzuhalten.
Als Simon in das Abschiedshaus zurückkam, nickte Prinz Josua ihm dankend zu. Es kam dem Jungen sonderbar vor, für eine so traurige Pflicht gelobt zu werden. Eolair war gerade dabei, seine Schilderung vom Fall Hernysadharcs und der Flucht seines Volks ins Grianspog-Gebirge zu beenden. Als er erzählte, wie die überlebenden Hernystiri sich in den Höhlen versteckt hatten, die den Berg durchzogen, und dass die Tochter des Königs sie dorthin geführt hatte, lächelte Herzogin Gutrun.
»Diese Maegwin ist ein kluges Mädchen. Ihr habt Glück, dass sie sich bei Euch befindet, wenn die Gemahlin des Königs so hilflos ist, wie Ihr sagt.«
Eolair lächelte schmerzlich. »Ihr habt recht, Herrin. Sie ist in der Tat ihres Vaters Tochter. Ich habe immer gedacht, dass sie einen besseren Herrscher abgeben würde als Gwythinn, der manchmal recht eigensinnig war. Aber inzwischen bin ich mir nicht mehr so sicher.«
Er erzählte von Maegwins zunehmender Seltsamkeit, ihren Visionen und Träumen und davon, wie diese Träume Lluths Tochter und den Grafen ins Herz des Berges, hinab in die uralte steinerne Stadt Mezutu’a geführt hatten.
Als er die Stadt und ihre wunderlichen Bewohner, die Unterirdischen, beschrieb, lauschte die Gesellschaft ihm staunend. Nur Geloë und Binabik schienen von Eolairs Geschichte nicht weiter verblüfft.
»Wundervoll«, flüsterte Strangyeard und blickte zu den Resten der gewölbten Decke im Abschiedshaus auf, als säße er gerade tief unten im Innern des Grianspog. »Die Halle der Muster! Was für unglaubliche Geschichten müssen dort aufgezeichnet sein!«
»Ein paar davon könnt Ihr nachher lesen«, antwortete Eolair heiter. »Ich freue mich, dass der Geist der Gelehrsamkeit diesen schlimmen Winter überlebt hat.« Zu den anderen gewandt, fuhr er fort: »Aber von allem vielleicht das Wichtigste ist, was die Unterirdischen über die Großen Schwerter sagten. Sie behaupten nämlich, sie hätten Minneyar geschmiedet.«
»Wir haben etwas Wissen über Minneyars Geschichte«, warf Binabik ein, »und die Unterirdischen – oder Dverninge, wie die Nordmänner sie rufen – kommen in dieser Geschichte vor.«
»Aber für uns ist vor allem wichtig zu erfahren, wo Minneyar geblieben ist«, fügte Josua hinzu. »Wir haben ein Schwert. Elias hat das andere. Das dritte …«
»Das dritte haben fast alle in dieser Halle schon gesehen«, erwiderte Eolair, »und ebenso den Ort, an dem es sich jetzt befindet – wenn die Unterirdischen recht haben. Denn sie sagen, dass Minneyar in Fingils Hand auf den Hochhorst kam und dass Johan der Priester es fand … und es Hellnagel nannte. Wenn das stimmt, Josua, wurde es mit Eurem Vater begraben.«
»Meiner Seel!«, flüsterte Strangyeard. Ein Augenblick betäubten Schweigens folgte dieser Äußerung.
»Aber ich hielt es in der Hand«, begann Josua schließlich staunend von neuem. »Ich selbst legte es meinem Vater auf die Brust. Wie kann Hellnagel Minneyar sein? Mein Vater hat nie ein Wort davon gesagt.«
»Nein, das hat er nicht.« Gutrun sprach überraschend knapp. »Er wollte es nicht einmal meinem Gatten erzählen. Sagte Isgrimnur, es wäre eine alte, unwichtige Geschichte.« Sie schüttelte den Kopf. »Geheimnisse.«
Simon, der bisher schweigend gelauscht hatte, sagte endlich auch etwas. »Aber hat er Hellnagel nicht aus Warinsten mitgebracht, wo er geboren war?« Er sah Josua an und hatte plötzlich Angst, vorlaut zu erscheinen. »Euer Vater, meine ich. Das ist die Geschichte, wie ich sie kannte.«
Josua runzelte nachsinnend die Stirn. »So haben es viele erzählt, aber wenn ich es mir recht überlege, hat mein Vater es selbst nie gesagt.«
»Natürlich! Oh, natürlich!« Strangyeard fuhr in die Höhe und klatschte in die langen Hände. Seine Augenklappe rutschte etwas zur Seite, sodass ihr Rand sich auf seinen Nasenrücken schob. »Die Stelle, die Jarnauga solche Rätsel aufgab – die Stelle aus Morgenes’ Buch! Sie erzählt davon, wie Johan hinabstieg, um sich dem Drachen zu stellen – aber er trug einen Speer! Einen Speer! Meine Güte, wie blind wir waren!« Der Priester kicherte wie ein kleiner Junge. »Und als er wieder nach oben kam, hatte er Hellnagel! Ach, Jarnauga, wärst du doch hier!«
Der Prinz hob die Hand. »Das ist viel Stoff zum Nachdenken, und viele alte Geschichten müssen wohl neu erzählt werden. Aber im Augenblick haben wir eine wichtigere Frage zu beantworten. Wenn die Unterirdischen recht haben, und ich habe das unbestimmte Gefühl, dass es so ist – wer könnte in dieser Zeit des Wahnsinns an einer so verrückten Geschichte zweifeln? –, dann müssen wir das Schwert in unsere Hand bekommen, ob es nun Hellnagel oder Minneyar heißt. Es liegt im Grab meines Vaters auf dem Swertclif, vor den Wällen des Hochhorsts. Mein Bruder kann, wenn er auf den Zinnen steht, die Grabhügel betrachten. Zur Morgen- und zur Abenddämmerung paradiert die Erkynwache am Klippenrand.«
Den Worten des Prinzen folgte eine schwere Stille. Simon merkte, wie sich ganz schwach eine Idee in ihm regte. Sie war verschwommen und gestaltlos, darum behielt er sie für sich. Außerdem jagte sie ihm Angst ein.
Eolair ergriff das Wort. »Das ist noch nicht alles, Hoheit. Ich habe Euch von der Halle der Muster und den Plänen erzählt, die die Unterirdischen dort hüten. Es sind Pläne von allen Grabungen, die sie jemals unternommen haben.« Er stand auf und ging zu den Satteltaschen, die er an der Tür zurückgelassen hatte. Als er wiederkam, schüttete er ihren Inhalt auf den Boden. Mehrere Rollen geölter Schafshaut fielen heraus. »Das sind die Pläne der Tunnel unter dem Hochhorst. Ein Werk, von dem die Unterirdischen sagen, sie hätten es ausgeführt, als die Burg noch Asu’a hieß und den Sithi gehörte.«
Strangyeard sank als Erster auf die Knie. Mit der zärtlichen Umsicht eines Liebenden entrollte er eine der Schafshäute. »Ah!«, hauchte er. »Ah!« Sein entzücktes Lächeln wich einem Ausdruck der Verwirrung. »Ich muss gestehen«, meinte er endlich, »dass ich … hm … etwas enttäuscht bin. Ich hätte nicht geglaubt, dass die Karten der Unterirdischen so … nun ja … so roh aussehen würden.«
»Das sind nicht die Karten der Unterirdischen«, wandte Eolair ein wenig mürrisch ein. »Das ist das mühsam geschaffene Werk zweier Hernystiri-Schreiber, die sich auf engstem Raum und an einem Ort, der ihnen Angst machte, in fast völliger Finsternis abgeplagt haben, die steinernen Pläne der Unterirdischen auf etwas zu übertragen, das ich nach oben ans Tageslicht tragen könnte.«
»Oh!« Der Priester war tief zerknirscht. »Oh! Vergebt mir, Graf! Es tut mir außerordentlich leid …«
»Lasst gut sein, Strangyeard.« Josua wandte sich an den Grafen von Nad Mullach. »Das ist ein unerwartetes Geschenk, Eolair. An dem Tag, an dem wir endlich vor den Mauern des Hochhorsts stehen, werden wir dem Himmel Euren Namen preisen.«
»Wir geben es Euch gern, Josua. Um die Wahrheit zu sagen, war es Maegwins Idee. Ich weiß nicht genau, was es Euch für einen Nutzen bringen kann, aber Wissen schadet nie – wie Euer Archivar gewiss bestätigen wird.« Er deutete auf Strangyeard, der in den Schafshäuten herumwühlte wie ein Dachs in einem Trüffelnest. »Allerdings muss ich gestehen, dass ich mit der Hoffnung auf etwas mehr als Dank zu Euch kam. Als ich Hernystir verließ, stellte ich mir vor, ich würde ein Heer von Aufständischen bei Euch finden und wir könnten gemeinsam Skali von Kaldskryke aus meinem Land jagen. Doch wie ich sehe, seid Ihr kaum in der Lage, überhaupt irgendein Heer zu entsenden, ganz gleich, wohin.«
»Nein.« Josuas Miene war grimmig. »Wir sind immer noch sehr wenige. Zwar kommen jeden Tag ein paar mehr, aber Ihr würdet sehr lange warten müssen, bis wir auch nur ein sehr kleines Heer nach Hernystir schicken könnten.« Er erhob sich, ging ein Stück in die Halle hinaus und rieb sich dabei den Armstumpf, als habe er Schmerzen. »Bisher haben wir wie Blinde gekämpft. Die Kräfte, die uns herausfordern, haben wir nie wirklich kennen- oder verstehen gelernt. Jetzt aber, da wir allmählich begreifen, wie unsere Feinde aussehen, sind wir zu wenige, um etwas anderes zu tun, als uns hier im hintersten Winkel von Osten Ard zu verstecken.«
Deornoth beugte sich vor. »Wenn wir nur irgendwo zurückschlagen könnten, Prinz, würde sich das Volk für uns erheben. Jenseits der Thrithinge weiß ja kaum jemand, dass Ihr überhaupt noch am Leben seid.«
»Es ist wahr, was er sagt, Prinz Josua«, stimmte Isorn zu. »Ich weiß, dass viele in Rimmersgard Skali hassen. Ein paar von ihnen versteckten mich, als ich aus Scharfnases Kriegslager floh.« »Im Übrigen, Josua, ist auch in Hernystir Euer Überleben nichts weiter als ein unbestimmtes Gerücht«, ergänzte Eolair. »Schon, dass ich diese Nachricht zu meinem Volk zurückbringen kann, macht meine Reise zu einem großen Erfolg.«
Josua, der auf und ab gegangen war, blieb stehen. »Ihr werdet mehr als das nach Hause bringen, Graf Eolair. Ich schwöre Euch, Ihr sollt hoffnungsvoller heimkehren.« Er strich sich mit der Hand über die Augen wie jemand, den man zu früh aus dem Schlaf geweckt hat. »Beim Baum, was für ein Tag! Wir wollen jetzt schließen und ein Mittagbrot zu uns nehmen. Ich möchte über das nachdenken, was ich heute gehört habe.« Er lächelte erschöpft. »Außerdem sollte ich nach meiner Gemahlin sehen.« Er hob den Arm. »Steht auf, steht alle auf! Außer Euch, Strangyeard – Ihr werdet ja wohl hierbleiben wollen.«
Der Archivar, vergraben inmitten seiner Schafshäute, hörte ihn gar nicht.
In dunkle und labyrinthische Gedanken vertieft, bemerkte Pryrates die Töne zuerst überhaupt nicht. Als sie endlich den Nebel seiner Geistesabwesenheit durchdrangen, blieb er so unvermittelt stehen, dass er am Rand der Treppenstufe schwankte.
»Azha she’she t’chakó, urun she’she bhabekró …«
Die Melodie, die aus dem dunklen Treppenschacht nach oben stieg, war zart, aber düster, getragen und immer hart am Rand schmerzhafter Misstöne. Es hätte der bedächtige Gesang einer Spinne sein können, die ihre Beute mit klebriger Seide umwickelt. Gehaucht und langsam glitt das Lied unfroh zwischen den vollen Tönen dahin, freilich mit einer Kunstfertigkeit, die ahnen ließ, dass die scheinbare Schieflage beabsichtigt war und dass ihr eine ganz andere Vorstellung von Harmonie zugrunde lag.
»Mudhul samat’ai. Jabbak s’era memekeza sanayha-z’á
Ninyek she’she, hamut ‚tke agrazh’a s’era yé …«
Ein Geringerer wäre vielleicht in die oberen Bereiche der taghellen Burg zurückgeflohen, um dem Sänger einer so beunruhigenden Weise nicht begegnen zu müssen. Pryrates stieg, ohne zu zögern, weiter hinab. Seine Stiefel hallten auf der Steintreppe. Ein zweiter Melodienstrang vereinte sich mit dem ersten, genauso fremdartig, genauso entsetzlich geduldig. Zusammen klagten sie wie Wind über einer Schornsteinöffnung.
Pryrates erreichte den Treppenabsatz und trat in den Gang. Die beiden Nornen, die vor der schweren Eichentür standen, verstummten jäh. Als er näherkam, musterten sie ihn mit dem gleichgültigen und ein wenig verächtlichen Ausdruck von Katzen, die man beim Sonnenbaden stört.
Pryrates stellte fest, dass sie für Hikeda’ya recht groß waren, beide so hochgewachsen wie ein sehr großer Mann, wenn auch dünn wie verhungernde Bettler. In den Händen hielten sie locker die silberweißen Lanzen. Die gelassenen, totenblassen Gesichter schimmerten in den dunklen Kapuzen.
Pryrates starrte die Nornen an. Die Nornen erwiderten den Blick.
»Nun? Wollt ihr mich anglotzen oder mir die Tür öffnen?«
Der eine Norne neigte langsam den Kopf. »Ja, edler Pryrates.« In seiner eisigen, stark akzentuierten Sprechweise lag nicht der geringste Hauch von Ehrerbietung. Er drehte sich um und zog die gewaltige Tür auf. Dahinter wurden ein Gang, rot vom Fackelschein, und weitere Stufen sichtbar. Pryrates trat zwischen die beiden Wächter und setzte seinen Weg in die Tiefe fort. Hinter ihm schloss sich die Tür. Er hatte noch keine zehn Schritte zurückgelegt, als die unheimliche Spinnenmelodie auch schon wieder einsetzte.
Hämmer hoben und senkten sich, klirrten und dröhnten, klopften das abkühlende Metall zu Formen, wie sie der König, der hoch über seiner Gießerei im verdunkelten Thronsaal saß, brauchte. Der Lärm war entsetzlich, der Gestank – Schwefel, weißglühendes Eisen, zu trockenem Salz versengte Erde und der süßlich-pikante Geruch verbrannten Menschenfleischs – sogar noch schlimmer.
Die Menschen, die da kreuz und quer durch die große Schmiedehalle eilten, waren furchtbar missgestaltet, als hätte die schreckliche Backofenhitze der unterirdischen Höhle sie schmelzen lassen wie minderwertiges Metall. Selbst ihre schwere, gepolsterte Kleidung konnte es nicht verbergen. In der Tat waren es, wie Pryrates sehr wohl wusste, nur die an Geist oder Körper oder beidem rettungslos Verkrüppelten, die hier unten blieben, um in Elias’ Waffenschmiede zu arbeiten.
Von den anderen waren einige so glücklich gewesen, gleich zu Anfang fliehen zu können. Doch die meisten Gesunden hatte Inch, der riesenhafte Aufseher, zu Tode geschunden. Ein paar kleinere Gruppen waren von Pryrates für den eigenen Bedarf ausgesucht worden, um ihn bei bestimmten Experimenten zu unterstützen. Was danach noch von ihnen übrig war, kam irgendwann wieder hier hinunter, um im Tod dieselben Hochöfen zu füttern, denen sie schon im Leben gedient hatten.
Der königliche Ratgeber spähte durch den dichten Qualm und beobachtete die Schmiedegehilfen, die mühsam unter schweren Lasten vorwärtsstampften oder wie verbrühte Frösche zurückhüpften, wenn ihnen eine Flammenzunge zu nahe kam. Auf die eine oder andere Weise, dachte Pryrates, schien Inch alle beseitigt zu haben, die ansehnlicher oder klüger waren als er.
Dann freilich, dachte Pryrates und grinste über seinen grausamen Scherz, war es ein Wunder, dass überhaupt noch jemand übrigblieb, der die Feuer schüren oder das flüssige Metall in den Schmelztiegeln bearbeiten konnte.
Im Dröhnen der Hämmer trat eine Pause ein, und in dieser Sekunde, in der es beinahe still war, vernahm Pryrates hinter sich ein quietschendes Geräusch. Er drehte sich um und achtete sorgsam darauf, jeden Eindruck von Hast zu vermeiden. Nichts konnte den roten Priester erschüttern. Es war wichtig, dass alle das wussten. Als er sah, woher das Geräusch kam, spuckte er grinsend auf den Stein.
Das gewaltige Wasserrad nahm den größten Teil der hinter ihm liegenden Höhlenwand ein. Das riesige Holzrad war mit Stahl beschlagen und saß auf einer Nabe, die aus einem in Kreuzform behauenen, ungeheuren Baumstamm gefertigt war. Es schöpfte Wasser aus einem reißenden Bach, der mitten durch die Schmiede floss, hob es empor und verteilte es in ein sinnreiches Labyrinth von Trögen und Rinnen. Diese leiteten das Wasser zu verschiedenen Stellen überall in der Schmiede, um das Metall zu kühlen, Feuer zu löschen oder sogar – wenn Inch es in einem gnädigen Moment erlaubte – von den ausgedörrten, elenden Schmiedearbeitern aufgeleckt zu werden. Das sich drehende Rad trieb außerdem eine Reihe schwarzverschmutzter Eisenketten an, deren größte senkrecht hinauf in die Dunkelheit führte und die Bewegungsenergie für gewisse Vorrichtungen lieferte, die Pryrates besonders am Herzen lagen. Doch jetzt war es das Graben und Heben der Radpaddel, das die Aufmerksamkeit des Alchimisten erregte. Müßig sann er darüber nach, ob eine Maschine wie diese, so groß wie ein Berg und angetrieben von den gespannten Sehnen mehrerer Tausend wimmernder Sklaven, nicht den Meeresboden trockenlegen und die dort seit Äonen in Finsternis verborgenen Geheimnisse aufdecken könnte.
Während er noch überlegte, was für faszinierende Dinge der Schleim der Jahrtausende preisgeben mochte, zog eine breite Hand mit schwarzen Fingernägeln an seinem Ärmel. Pryrates fuhr herum und schlug sie fort.
»Wie kannst du es wagen, mich zu berühren?«, zischte er, und seine dunklen Augen wurden schmal. Er fletschte die Zähne, als wollte er der großen, gebeugten Gestalt, die vor ihm aufragte, die Kehle zerreißen.
Inch starrte einen Augenblick zurück, bevor er antwortete. Sein rundes Gesicht war ein pelziges Flickwerk aus Bart und versengtem Fleisch. Wie immer wirkte er undurchdringlich und erbarmungslos wie Stein. »Ihr wollt mich sprechen?«
»Fass mich nie wieder an.« Pryrates sprach wieder mit beherrschter Stimme, aber noch immer bebte sie in tödlicher Spannung. »Nie wieder.«
Inch runzelte die Stirn. Die schiefen Brauen zogen sich zusammen. Abstoßend gähnte das Loch, in dem einmal ein Auge gesessen hatte. »Was braucht Ihr von mir?«
Der Alchimist machte eine Pause und holte tief Atem, um die schwarze Wut niederzuzwingen, die ihm in den Kopf gestiegen war. Dabei war er über die Heftigkeit seiner Reaktion selbst erstaunt. Es war töricht, seinen Zorn an den viehischen Gießereimeister zu verschwenden. Wenn Inch seinen Zweck erfüllt hatte, konnte man ihn abschlachten lassen als das dumpfe Tier, das er war. Bis dahin jedoch nützte er den Plänen des Königs und, was noch wichtiger war, seinen eigenen.
»Der König möchte die Zwischenmauer neu befestigen lassen. Neue Querbalken, neue Kreuzstützen – die dicksten Stämme, die wir vom Kynslagh hochschaffen können.«
Inch senkte den Kopf und dachte nach. Die Anstrengung war fast greifbar. »Wie schnell?«, fragte er endlich.
»Bis Kyndelmess. Eine Woche zu spät, und du hängst mit allen deinen Erdwürmern über dem Nerulagh-Tor und leistest den Raben Gesellschaft.« Pryrates musste das Lachen unterdrücken, wenn er sich Inchs missgestalteten Kopf über dem Tor aufgespießt vorstellte – ein Leckerbissen, um den sich nicht einmal die Krähen streiten würden. »Ich will keine Ausreden hören – du hast den dritten Teil eines Jahres. Und wenn wir schon vom Nerulagh-Tor sprechen: Es gibt dort noch ein paar andere Dinge für dich zu tun. Ein paar äußerst wichtige Dinge – Verbesserungen in der Verteidigung des Tors.« Er griff in sein Gewand und zog eine Schriftrolle hervor. Inch öffnete sie und hielt sie in die Höhe, damit das flackernde Licht des Schmiedefeuers darauf fiel. »Auch das muss bis Kyndelmess fertig sein.«
»Wo ist das Siegel des Königs?« Inchs entstelltes Gesicht zeigte einen überraschend schlauen Ausdruck.
Pryrates’ Hand flog nach oben. Ein Blitz aus fettiggelbem Licht umzuckte seine Fingerspitzen. Gleich darauf erlosch das Glühen. Pryrates ließ die Hand wieder sinken und verbarg sie im bauschigen, scharlachroten Ärmel. »Wenn du mir noch einmal eine solche Frage stellst«, zischte er, »verwandele ich dich in einen Haufen Asche.«
Das Gesicht des Schmiedemeisters war ernst. »Dann bleiben Mauern und Tor unvollendet. Keiner lässt die Männer so schnell arbeiten wie Doktor Inch.«
»Doktor Inch.« Pryrates’ Lippen kräuselten sich. »Usires steh mir bei, ich habe dein Geschwätz satt. Mach deine Arbeit, wie König Elias es wünscht. Du hast mehr Glück, als du ahnst, Tölpel. Du wirst den Beginn einer großen Epoche, eines Goldenen Zeitalters erleben.« Aber nur den Anfang, und auch davon nicht viel, versprach der Priester sich selbst. »Ich komme in zwei Tagen wieder. Dann höre ich von dir, wie viele Männer und was du sonst noch brauchst.«
Im Davonschreiten kam es ihm vor, als riefe ihm Inch etwas nach. Aber als Pryrates sich umdrehte, starrte der Schmiedemeister nur auf die dicken Speichen des Wasserrades, die sich langsam im Kreis bewegten. Die Hämmer klirrten laut, aber über allem lag das klagende Knarren des sich drehenden Rades.
Herzog Isgrimnur lehnte am Fensterbrett, strich sich den neu gewachsenen Bart und schaute hinunter auf die schmutzigen Wasserwege von Kwanitupul. Der Sturm war vorübergezogen, die bizarren, zur Jahreszeit nicht passenden Schneeflecken waren geschmolzen, und die Marschluft, wenn auch noch immer merkwürdig kühl, hatte ihre gewöhnliche Klebrigkeit wiedergewonnen. Isgrimnur spürte den heftigen Drang, sich zu bewegen, etwas zu unternehmen.
In der Falle, dachte er. Festgenagelt, wie von einer Einheit Bogenschützen. Genau wie damals in der verfluchten Schlacht am Clodu-See.
Aber natürlich gab es hier keine Bogenschützen oder sonstige feindliche Streitkräfte. Kwanitupul, zumindest vorübergehend aus der Umklammerung der Kälte befreit und zu seinem normalen Zustand absoluter Käuflichkeit zurückgekehrt, widmete Isgrimnur genauso viel Aufmerksamkeit wie allen anderen Besuchern der Stadt, die sich auf ihrem klapprigen Körper eingenistet hatten wie ein Haufen geschäftiger Flöhe. Nein, es waren die Umstände, die den einstigen Gebieter von Elvritshalla hier gefangen hielten, und diese Umstände waren im Augenblick unversöhnlicher als alle menschlichen Gegner, wie zahlreich und wohlbewaffnet auch immer sie sein könnten.
Seufzend richtete Isgrimnur sich auf und drehte sich zu Camaris um, der auf der anderen Seite des Zimmers an die Wand gelehnt dasaß und Knoten in ein Stück Seil knüpfte, die er dann wieder auflöste. Der alte Mann, einst der gewaltigste Ritter von Osten Ard, sah auf und lächelte sein sanftes, schwachsinniges Kinderlächeln. Trotz seines weißhaarigen Alters hatte er noch gute Zähne. Außerdem war er stark, mit festen Händen, um die ihn die meisten jungen Raufbolde in den Schenken beneidet hätten.
Auch wochenlange Bemühungen Isgrimnurs hatten an diesem Lächeln, das ihn verrückt machte, nichts ändern können. Ob nun Camaris verhext, am Kopf verletzt oder einfach altersverwirrt war – das Ergebnis blieb dasselbe: Es war dem Herzog nicht gelungen, auch nur den Schimmer einer Erinnerung in ihm wachzurufen. Weder erkannte der alte Mann ihn, noch erinnerte er sich an seine Vergangenheit oder auch nur an seinen richtigen Namen. Hätte der Herzog den Camaris von einst nicht so gut gekannt, hätte er beinahe selbst an seinen Sinnen und seinem Gedächtnis zweifeln können. Aber Isgrimnur hatte Johans hervorragendsten Ritter zu jeder Jahreszeit und in jedem Licht gesehen, in guten und schlechten Zeiten. Vielleicht kannte der alte Mann sich selbst nicht mehr, aber Isgrimnur irrte sich nicht.
Dennoch – was sollte weiter mit ihm geschehen? Ganz gleich, ob er hoffnungslos verrückt war oder nicht, er brauchte Hilfe. Seine Aufgabe lag offen zutage. Er musste Camaris zu Menschen bringen, die sich an ihn erinnerten und Ehrfurcht vor ihm hatten. Selbst wenn die Welt, die aufzubauen Camaris geholfen hatte, jetzt zerfiel, selbst wenn König Elias zerstörte, wovon Camaris’ Freund und Lehensherr Johan geträumt hatte, verdiente es der alte Mann, seine letzten Jahre an einem besseren Ort als in diesem hinterwäldlerischen Pestloch zuzubringen. Außerdem konnte der alte Ritter ein Quell der Hoffnung sein, und Isgrimnur, der, so rauh er das auch immer abstritt, ein kluger Staatsmann war, kannte den Wert solcher Symbole.
Doch selbst wenn Josua oder ein paar seiner Hauptleute überlebt und sich irgendwo im Norden wieder zusammengefunden hatten, wie es die Gerüchte auf dem Markt in Kwanitupul wissen wollten, wie sollten Isgrimnur und Camaris sich durch ein von Feinden wimmelndes Nabban zu ihm durchschlagen? Wie konnte er auch nur diese Herberge verlassen? Mit seinem letzten Atemzug hatte Vater Dinivan ihm aufgetragen, Miriamel hierherzubringen. Der Herzog hatte sie nicht finden können, bevor er gezwungen war, aus der Sancellanischen Ädonitis zu fliehen. Aber vielleicht wusste Miriamel ja schon von diesem Ort. Vielleicht hatte Dinivan selbst ihr davon erzählt. Vielleicht tauchte sie hier auf, allein und auf der Flucht, nur um zu erfahren, dass er schon fort war! Konnte er dieses Risiko in Kauf nehmen? Er war es Josua schuldig – ob der Prinz noch am Leben war oder nicht –, dem Mädchen nach besten Kräften zu helfen.
Isgrimnur hatte gehofft, dass Tiamak, der auf irgendeine ungeklärte Weise zu Dinivans Vertrauten gehörte, etwas über Miriamels Verbleib wusste, aber diese Hoffnung hatte sich sogleich zerschlagen. Nach vielen bohrenden Fragen hatte der kleine braune Mann zwar zugegeben, dass Dinivan auch ihn hierherbeordert hatte, aber keine weiteren Erklärungen gegeben. Die Nachricht von Dinivans und Morgenes’ Tod hatte Tiamak in tiefes Grübeln versetzt, und auch später hatte er Isgrimnur nichts Nützliches mitteilen können. Tatsächlich fand ihn der Herzog ziemlich mürrisch. Obwohl dem Marschmann sein Bein erkennbar große Schmerzen bereitete – ein Cockindrill hatte ihn gebissen, sagte er –, war Isgrimnur doch der Ansicht, Tiamak könnte sich etwas mehr anstrengen, die vielen Rätsel zu lösen, die sie beide beschäftigten, vor allem die Frage, was Dinivan eigentlich bezweckt hatte. Stattdessen schien Tiamak sich damit zu begnügen, missmutig im Zimmer zu hocken – einem Zimmer, das Isgrimnur immerhin bezahlte! – oder lange Stunden am Schreibtisch zuzubringen. Oft hinkte er auch stundenlang über die hölzernen Gehstege von Kwanitupul, wie zweifellos gerade jetzt.
Isgrimnur wollte soeben dem schweigenden Camaris etwas sagen, als es an die Tür klopfte. Sie knarrte auf und die Wirtin Charystra trat ein.
»Ich habe Euch das Essen gebracht, das Ihr haben wolltet.« Ihrem Ton war zu entnehmen, dass sie damit ein großes persönliches Opfer brachte – als würde Isgrimnur sie nicht für Kost und Logis bezahlen! »Schönes Brot und Suppe. Vom besten. Mit Bohnen.« Sie stellte die Suppenschüssel auf den niedrigen Tisch und knallte drei Schalen daneben. »Ich begreife nicht, warum Ihr nicht mit allen anderen unten essen könnt.« Alle anderen – das waren zwei Federhändler aus dem Wran und ein wandernder Steinschneider aus Naraxi, der Arbeit suchte.
»Weil ich dafür bezahle«, grollte Isgrimnur.
»Wo ist der Marschmann?« Sie teilte die Suppe aus, die nicht einmal mehr dampfte.
»Ich weiß nicht, und ich bezweifle auch, dass es Euch etwas angeht.« Er warf ihr einen finsteren Blick zu. »Ich habe Euch heute Morgen fortgehen sehen – mit Eurer Freundin.«
»Zum Markt«, schniefte Charystra. »Ich kann ja nicht mein Boot nehmen, weil er« – weil ihre Hände voll waren, deutete sie mit dem Kopf nach Camaris – »es nie repariert hat.«
»Und das werde ich auch nicht dulden, um seiner Würde willen – und ich bezahle Euch auch dafür.« Isgrimnurs schlechte Laune gewann langsam die Oberhand. Charystra strapazierte seine Ritterlichkeit jedes Mal fast bis zum Äußersten. »Ihr habt ein loses Mundwerk, Frau. Ich frage mich, was Ihr Euren Gevatterinnen auf dem Markt über mich und Eure anderen fremden Gäste erzählt.«
Charystra warf ihm einen hastigen, unsicheren Blick zu.
»Nichts, gar nichts.«
»Ich will hoffen, dass es stimmt. Ich gab Euch Geld für Euer Schweigen.« Er sah auf Camaris, der zufrieden die ölige Suppe löffelte. »Aber falls Ihr glaubt, Ihr könntet mein Geld nehmen und trotzdem Gerüchte verbreiten, dann merkt Euch: Wenn ich herausfinde, dass Ihr über mich und meine Angelegenheiten geschwatzt habt … dann werde ich dafür sorgen, dass Ihr wünscht, es nie getan zu haben.« Er ließ seine tiefe Stimme die Worte hervorgrollen wie Donner.
Erschrocken wich Charystra einen Schritt zurück. »Gewiss habe ich kein Wort gesagt! Ihr habt keinen Grund, mich zu bedrohen, Herr! Nicht den geringsten! Ihr tut mir unrecht!« Sie begann sich zur Tür zurückzuziehen und schwenkte dabei die Suppenkelle, als wollte sie damit Schläge abwehren. »Ich hab gesagt, ich sag nichts, und dann sag ich auch nichts. Das wird Euch jeder bestätigen – Charystra hält ihr Wort!« Hastig schlug sie das Zeichen des Baums und schlüpfte hinaus in den Gang, wobei sie eine Wolke von kleinen Suppenflecken auf dem Dielenboden zurückließ.
»Ha«, schnaubte Isgrimnur. Er betrachtete die gräuliche Flüssigkeit, die noch in der Schüssel schwappte. Für ihr Schweigen bezahlen! Was denn noch alles! Genauso gut konnte man die Sonne bezahlen, damit sie nicht schien. Er hatte mit Geld um sich geworfen als wäre es Wranwasser – bald würde sein Beutel leer sein. Und was dann? Der bloße Gedanke versetzte ihn in Wut. »Ha!«, sagte er wieder. »Verdammt!«
Camaris wischte sich das Kinn und starrte lächelnd ins Leere.
Simon schaute um den hohen Steinblock herum nach unten. Die blasse Sonne stand fast senkrecht über ihm. Sie fiel tief ins Unterholz und ließ etwas am Berghang kurz aufblitzen.
»Da ist sie!«, rief Simon nach hinten und lehnte sich an den vom Wind geglätteten Steinpfeiler, um zu warten. Der weiße Felsen hatte die Morgenkälte noch nicht abgeschüttelt und war noch eisiger als die Luft ringsum. Fast sofort merkte Simon, wie seine Knochen zu erstarren begannen. Er trat zurück und drehte sich um. Sein Blick folgte dem Umriss des Bergkamms. Die steinernen Pfeiler umkränzten den Gipfel des Sesuad’ra wie die Zacken eine Königskrone. Mehrere der uralten Säulen waren umgestürzt, sodass die Krone einen verwahrlosten Eindruck machte, aber die meisten standen noch aufrecht und gerade und erfüllten nach Jahrhunderten, deren Zahl sich nicht mehr schätzen ließ, getreulich ihre Pflicht.
Sie sehen genauso aus wie die Zornsteine auf dem Thisterborg, stellte Simon fest.
War das etwa auch ein Ort der Sithi gewesen? Genügend seltsame Geschichten darüber waren jedenfalls im Umlauf.
Wo steckten die beiden anderen? »Kommt ihr?«, rief er.
Als er keine Antwort bekam, stieg er um den Stein herum und kletterte ein Stückchen hangabwärts, wobei er sorgfältig darauf achtete, sich immer am kräftigen Heidekraut festzuhalten, auch wenn es ihm in die Finger stach, denn der Untergrund war schlammig und konnte tückisch sein. Das Tal unter ihm war mit grauem Wasser bedeckt, in dem sich kaum eine Welle regte, sodass der neue See rings um den Berg so glatt und fest wirkte wie ein steinerner Fußboden. Simon musste unwillkürlich an den Tag denken, als er in die Glockenstube des Engelsturms hinaufgestiegen und sich vorgekommen war, als säße er wolkenhoch über der Welt. Hier auf dem Sesuad’ra war es, als sei der ganze Felshügel gerade erst geboren worden, emporgewachsen aus dem Urschlamm. Man konnte sich leicht einbilden, dass es ringsum nichts anderes gab, ein Gefühl, das Gott gehabt haben musste, als er auf dem Berg Den Haloi stand und die Welt erschuf, wie es im Buch Ädon heißt.
Jiriki hatte Simon von der Ankunft der Gartengeborenen in Osten Ard erzählt. Damals, so hatte der Sitha gesagt, war der größte Teil der Welt noch vom Meer bedeckt gewesen. Jirikis Volk war vom Aufgang der Sonne hierhergesegelt, aus unvorstellbarer Ferne, und an der grünschimmernden Küstenlinie eines Erdteils gelandet, der noch keine Menschen kannte, einer riesigen Insel, rings umgeben vom ungeheuren Ozean. Erst eine Naturkatastrophe, so hatte Jiriki angedeutet, veränderte das Gesicht der Welt. Das Land hob sich, die Meere flossen nach Osten und Süden ab und ließen neue Berge und Wiesen zurück. Darum hatten die Gartengeborenen auch niemals in ihre verlorene Heimat zurückkehren können.
Simon spähte nach Osten und dachte über diese Dinge nach. Vom Gipfel des Sesuad’ra aus konnte man nicht viel mehr erkennen als düstere Steppen, leblose Ebenen von endlosem Grau und stumpfem Grün, die sich ausdehnten, soweit das Auge reichte. Nach allem, was Simon gehört hatte, waren die Steppen des Ostens auch schon vor diesem Schreckenswinter ein unwirtliches Gebiet gewesen. Je weiter östlich des Waldes von Aldheorte man kam, desto öder und schutzloser wurden sie. Über einen gewissen Punkt hinaus, so behaupteten Reisende, streiften nicht einmal Hyrkas oder das Volk der Thrithinge. Die Sonne schien dort nie hell, und das Land lag in ewigem Dämmerlicht. Die wenigen kühnen Männer, die auf der Suche nach dem, was dahinter lag, diese Länder durchstreift hatten, waren nie zurückgekehrt.
Simon merkte plötzlich, dass er eine ganze Weile so vor sich hingestarrt hatte und immer noch allein war. Gerade wollte er wieder rufen, als Jeremias erschien, der sich vorsichtig einen Weg durch die Dornen und das gürtelhohe Gras suchte, dem Rand des Gipfels zu. Leleth, im wogenden Unterholz kaum zu sehen, hielt die Hand des jungen Knappen. Sie schien eine Neigung zu Jeremias gefasst zu haben, die sich allerdings nur darin zeigte, dass sie ständig in seiner Nähe blieb. Noch immer sprach sie kein Wort, und ihr Gesichtsausdruck blieb stets feierlich und abwesend. Simon vermutete, dass sie in dem jungen Knappen etwas von ihrem eigenen Schmerz wiederfand, vielleicht teilten sie ein ähnliches Leid.
»Verschwindet sie hier im Boden«, rief Jeremias, »oder läuft sie über den Rand?«
»Sowohl als auch«, erwiderte Simon und deutete mit dem Finger.
Sie waren dem Weg der Quelle vom Haus der Wasser aus gefolgt. Geheimnisvoll dem Felsen entspringend, bildete sie darunter einen Teich, der Neu-Gadrinsett mit frischem Trinkwasser versorgte und so einer der Mittelpunkte für Klatsch und Handel in der jungen Siedlung geworden war. Danach versickerte sie jedoch nicht im Boden, sondern plätscherte als schmales Bächlein weiter. Sie verließ das Haus der Wasser, das auf einem der höchsten Punkte des Sesuad’ra lag, und lief als winziges Rinnsal quer über den Gipfel, ober- und unterirdisch, wie die wechselnde Bodenbeschaffenheit es zuließ. Simon hatte noch nie eine Quelle gesehen oder von einer gehört, die so etwas tat – überhaupt, seit wann entsprangen Quellen oben auf einem Berggipfel? Er war fest entschlossen, ihren Lauf und vielleicht sogar ihren Ursprung zu finden, bevor die Stürme wiederkehrten und die Suche unmöglich machten.
Jeremias kam ein Stück weit den Berg hinunter. Simon und er standen vor dem munter dahinsprudelnden Bächlein.
»Glaubst du, dass es ganz bis nach unten fließt«, Jeremias wies auf den breiten grauen Burggraben rings um den Fuß des Abschiedssteins, »oder dass es wieder in den Berg zurückläuft?«
Simon zuckte die Achseln. Wasser, das dem Herzen eines heiligen Bergs der Sithi entsprang, kehrte vielleicht wirklich zu seinem Ursprung im Fels zurück, wie ein unbegreifliches Rad aus Schöpfung und Zerstörung – als trete die Zukunft hervor, um die Gegenwart zu verschlingen, und verschwinde dann schnell wieder, um zur Vergangenheit zu werden. Gerade wollte er vorschlagen, die Erkundung fortzusetzen, als Leleth zu ihnen kam. Simon sah ihr besorgt zu, während sie selbst dem gefährlichen Pfad wenig Beachtung zu schenken schien. Nur allzu leicht konnte sie ausrutschen, und der Hang war steil und gefährlich.
Jeremias ging ihr ein paar Schritte entgegen und griff nach ihr. Er packte sie unter den dünnen Armen und hob sie zu ihnen herunter. Dabei verschob sich ihr weites Kleid, und einen kurzen Augenblick sah Simon die Narben, lange, entzündete Striemen, die ihre Schenkel überzogen. Auf dem Bauch mussten sie noch viel schlimmer aussehen, dachte er.
Den ganzen Morgen hatte er über das nachgegrübelt, was er im Haus des Abschieds über die Großen Schwerter und andere Dinge gehört hatte. Es war ihm alles so unwirklich vorgekommen – als seien Simon, seine Freunde und Verbündeten, Elias und sogar der furchtbare Sturmkönig selbst nicht mehr als Figuren auf einem Shent-Brett, winzige Spielsteinchen, die man zu hundert verschiedenen Gruppierungen verschieben konnte. Aber jetzt wurde er plötzlich an greifbare Schrecken der jüngsten Vergangenheit erinnert. Es waren die Hunde von Sturmspitze, die Leleth, ein unschuldiges Kind, fast zu Tode gehetzt und dann zerfleischt hatten. Tausend andere hatten ihre Heimat verloren, waren zu Waisen geworden, gefoltert, getötet. In jähem Zorn fing Simon an zu schwanken, als wollte der Ansturm seiner eigenen Wut ihn umwerfen. Wenn es überhaupt eine Gerechtigkeit gab, dann würde jemand für all das bezahlen – für Morgenes und Haestan, für das, was Leleth angetan worden war, und den Kummer, den Jeremias mit sich herumtrug, und seinen eigenen.
Usires sei mir gnädig, denn ich würde sie alle umbringen, wenn ich könnte. Elias und Pryrates und ihre weißgesichtigen Nornen. Wenn ich nur könnte, würde ich sie mit eigenen Händen erwürgen.
»Ich habe sie auf der Burg gesehen«, bemerkte Jeremias. Erschrocken blickte Simon auf. Er hatte die Fäuste so fest geballt, dass ihm die Knöchel wehtaten. »Was?«
»Leleth.« Jeremias nickte dem Kind zu, das über das überflutete Tal hinausschaute und sich dabei mit der Hand im schmutzigen Gesicht herumschmierte. »Als sie Prinzessin Miriamels kleine Dienerin war … Ich weiß noch, dass ich dachte: ›Was für ein niedliches kleines Mädchen.‹ Sie war ganz weiß angezogen und trug Blumen in der Hand. Ich fand, sie sah so sauber aus.« Er lachte leise. »Und schau sie dir jetzt an.«
Simon hatte auf einmal keine Lust mehr, von traurigen Dingen zu reden. »Sieh dich doch selber an«, erwiderte er. »Du hast es nötig, von Sauberkeit zu sprechen.«
Jeremias ließ sich nicht ablenken. »Hast du sie wirklich gekannt, Simon, die Prinzessin, meine ich?«
»Ja.« Simon war nicht bereit, Jeremias die Geschichte noch einmal zu erzählen. Er war bitter enttäuscht gewesen, Miriamel nicht bei Josua zu finden, und entsetzt, dass niemand wusste, was aus ihr geworden war. Er hatte davon geträumt, ihr seine Abenteuer zu erzählen, davon, wie ihre strahlenden Augen groß werden würden, wenn er ihr vom Drachen berichtete. »Ja«, wiederholte er, »ich habe sie gekannt.«
»Und war sie auch so schön, wie eine Prinzessin sein soll?«, fragte Jeremias plötzlich gespannt.
»Ich glaube schon.« Simon wollte nicht darüber sprechen. »Doch, das war sie – ich meine, das ist sie.«
Jeremias wollte gerade weiterfragen, als er unterbrochen wurde. »Ho!«, rief eine Stimme von oben. »Da steckt ihr!«
Eine merkwürdige, zweiköpfige Gestalt sah von dem Steinpfeiler zu ihnen hinunter. Einer der beiden Köpfe hatte spitze Ohren.
»Wir wollen herausfinden, woher die Quelle kommt und wohin sie geht, Binabik«, erklärte Simon.
Die Wölfin legte den Kopf schräg und bellte.
»Qantaqa denkt, dass ihr euer Folgt-dem-Wasser-Spiel für jetzt beenden sollt, Simon. Außerdem hat Prinz Josua alle gebeten, in das Haus des Abschieds zurückzukehren. Es gibt viel zu besprechen.«
Simon und Jeremias ergriffen jeder eine von Leleths kleinen, kalten Händen, und alle drei kletterten wieder hinauf zum Bergkamm. Die Sonne starrte auf sie herab wie ein einziges milchiges Auge.
Sie waren wieder im Haus des Abschieds zusammengekommen und unterhielten sich leise, vielleicht eingeschüchtert von der Größe und den eigenartigen Dimensionen der Halle, die weit beunruhigender wirkte, wenn sie nicht wie am Abend zuvor von einer Menge Feiernder erfüllt war. Das matte Nachmittagslicht sickerte durch die Fenster, war jedoch so schwach, dass es aus keiner bestimmten Richtung zu kommen schien und dem Raum eine gleichmäßige trübe Helligkeit verlieh. Die kunstvollen Wandreliefs glänzten, als beleuchte sie ein eigenes, mildes, von innen kommendes Licht. Sie erinnerten Simon an das schimmernde Moos in den Tunneln unter dem Hochhorst. Dort hatte er sich in erstickender, würgender Schwärze verirrt. Er war an einem Ort der abgrundtiefen Verzweiflung gewesen, und es musste eine Bedeutung haben, dass er überlebt hatte. Sicher war er aus einem ganz bestimmten Grund verschont worden.
Bitte, Herr Ädon, betete er, lass mich nicht so weit gekommen sein, damit ich jetzt sterbe!
Aber er hatte Gott bereits verflucht, weil er Haestan hatte umkommen lassen. Bestimmt war es zu spät, das jetzt noch wiedergutzumachen.
Simon öffnete die Augen und stellte fest, dass Josua gekommen war. Der Prinz war bei Vara gewesen und versicherte allen, es gehe ihr besser.
In seiner Begleitung befanden sich zwei Männer, die morgens nicht dabei gewesen waren. Sludig, der den Außenrand des Tals erkundet hatte, und ein vierschrötiger junger Falshiremann namens Freosel, den die Siedler zum Hauptmann von Neu-Gadrinsett gewählt hatten. Obwohl er noch verhältnismäßig jugendlich wirkte, hatte Freosel den wachsamen, schwerlidrigen Blick des erfahrenen Straßenkämpfers. Sein Körper war mit Narben übersät, zwei Finger fehlten.
Nachdem Strangyeard einen kurzen Segen gesprochen hatte und der neue Hauptmann ermahnt worden war, alles, was er hören würde, für sich zu behalten, erhob sich Prinz Josua.
»Wir müssen über viele Dinge entscheiden«, erklärte er, »aber bevor wir damit beginnen, erlaubt mir, von Glück und hoffnungsvolleren Tagen zu Euch zu sprechen.
In einer Stunde, in der nur die Verzweiflung und der Tod auf uns warteten, erwies Gott uns seine Gnade. Heute befinden wir uns an einem sicheren Ort, während wir noch vor einem Jahr als Ausgestoßene des Krieges über die ganze Welt verstreut waren. Wir wagten die Suche nach einem der Großen Schwerter und wir hatten Erfolg. Jeden Tag strömen mehr Menschen zu unseren Fahnen, und wenn wir nur lange genug ausharren können, werden wir bald über ein Heer verfügen, mit dem selbst mein Brüder, der Hochkönig, rechnen muss.
Freilich, noch immer ist unsere Not groß. Zwar können wir aus den Männern, die überall in Erkynland aus ihrer Heimat vertrieben wurden, ein Heer aufstellen. Aber für einen Sieg über den Hochkönig brauchen wir ein Vielfaches an Kämpfern. Fest steht auch, dass es uns schon jetzt schwerfällt, alle hier Lebenden zu ernähren und ihnen ein Dach über dem Kopf zu bieten. Und es ist sogar möglich, dass überhaupt kein Heer, so groß und gut gerüstet es auch sein mag, mächtig genug ist, um Elias’ Verbündeten, den Sturmkönig, zu überwinden.«
Er hielt inne und fuhr dann fort: »Darum gibt es meiner Meinung nach drei wichtige Fragen, die wir heute beantworten müssen: Was plant mein Bruder? Wie können wir eine Streitmacht aufstellen, die ihn daran hindert? Und wie können wir die beiden anderen Schwerter, Hellnagel und Leid, in unsere Gewalt bringen, damit wir wenigstens hoffen dürfen, die Nornen, ihren dunklen Herrn und ihre Königin zu besiegen?«
Geloë hob die Hand. »Verzeiht, Josua, aber ich meine, da ist noch eine andere Frage: Wie viel Zeit haben wir für alle diese Dinge?«
»Ihr habt recht, Valada Geloë. Wenn es uns gelingt, diesen Ort hier noch ein Jahr zu halten, sind wir vielleicht in der Lage, ein Heer zu sammeln, das stark genug ist, auf seinem eigenen Grund und Boden gegen Elias zu kämpfen oder ihm zumindest seine Grenzen streitig zu machen – aber wie Ihr glaube auch ich nicht, dass man uns so lange gewähren lassen wird.«
Nun wurden auch andere Stimmen laut und fragten, welche Verbündeten man im Osten und Norden von Erkynland finden würde, in Gebieten, die unter König Elias’ schwerer Hand ächzten. Nach einer Weile rief Josua den Saal wieder zur Ruhe.
»Bevor wir diese Rätsel lösen können«, begann er, »meine ich, dass wir zuerst die wichtigste dieser Fragen klären müssen, nämlich: Was will mein Bruder?«
»Macht!«, rief Isorn. »Die Macht, mit dem Leben von Menschen zu spielen wie mit Würfeln.«
»Diese Macht hatte er schon«, erwiderte Josua. »Aber auch ich habe lange darüber nachgedacht und finde keine andere Antwort. Gewiss hat es auf der Welt andere Könige gegeben, die nicht mit dem, was sie besaßen, zufrieden waren. Vielleicht bleibt die Antwort auf diese alles entscheidende Frage bis zum letzten Augenblick vor uns verborgen. Wüssten wir, wie Elias’ Handel mit dem Sturmkönig aussieht, würden wir vielleicht die geheime Absicht meines Bruders verstehen.«
»Prinz Josua«, warf Binabik ein, »ich meinerseits habe mir das Haupt über etwas anderes zerbrochen. Was immer Euer Bruder sich wünschen mag, des Sturmkönigs Macht und dunkler Zauber werden ihm dazu verhelfen. Was aber wünscht der Sturmkönig als Gegengabe?«
In der großen steinernen Halle wurde es für einen Augenblick totenstill. Dann erhoben die Versammelten von neuem ihre Stimmen. Sie stritten so heftig, dass Josua endlich mit dem Fuß aufstampfen musste, um sie zum Schweigen zu bringen.
»Ihr stellt eine furchtbare Frage, Binabik«, sagte der Prinz. »Aber Ihr habt recht – was kann der Dunkle wollen?«
Simon dachte an die Schatten unter dem Hochhorst, dort in den Gängen, wo er in einem entsetzlichen, von Gespenstern gehetzten Traum umhergestolpert war.
»Vielleicht will er seine Burg wiederhaben«, meinte er.
Er hatte leise gesprochen und andere im Saal, die ihn nicht gehört hatten, fuhren, wenn auch gedämpft, in ihren Gesprächen fort. Josua und Binabik starrten ihn an.
»Barmherziger Ädon«, flüsterte Josua, »wäre das möglich?«
Binabik überlegte eine Weile und schüttelte dann langsam den Kopf. »Es liegt etwas Unrichtiges in diesem Gedanken – obwohl du schlau gedacht hast, Simon. Sagt mir, Geloë, was ist es, an das ich mich undeutlich erinnere?«
Die Zauberfrau nickte. »Ineluki kann die Burg nie wieder betreten. Als Asu’a fiel, wurden die Ruinen von so vielen Priestern gesegnet und mit einem so lückenlosen Zauberbann belegt, dass er vor dem Ende aller Zeiten nicht dorthin zurückkehren kann. Nein, ich glaube nicht, dass er imstande ist, es noch einmal zu erobern, so sehr er auch darauf brennen mag, es wieder in Besitz zu nehmen. Vielleicht aber will er durch Elias beherrschen, was er nicht selbst regieren kann? So mächtig die Nornen auch sein mögen, ihre Zahl ist gering – aber als Schatten hinter dem Drachenbeinthron könnte der Sturmkönig ganz Osten Ard in seine Gewalt bekommen.«
Josuas Gesicht war ernst. »Sich vorzustellen, dass mein Bruder so wenig Wert auf sein Volk und seinen Thron legt, dass er sie für einen geringen Preis an den Erzfeind des Menschengeschlechts verkauft!« Er wandte sich an die Versammelten, kaum verhohlenen Zorn im schmalen Gesicht. »Wir wollen vorläufig davon ausgehen, dass diese Vermutung stimmt: Der Sturmkönig will durch meinen Bruder über die Menschheit herrschen. Ineluki, heißt es, ist ein Wesen, das vor allem vom Hass lebt, darum brauche ich Euch nicht zu erläutern, was für eine Art Herrschaft das wäre. Simon hat uns berichtet, dass die Sitha Amerasu vorhersah, was der Sturmkönig den Menschen zugedacht hatte, und sie nannte es ›grausig‹. Wir müssen alles Erdenkliche versuchen und notfalls unser eigenes Leben opfern, um diesen beiden, Elias und Ineluki, Einhalt zu gebieten. Doch nun zu den beiden anderen Fragen. Wie bekämpfen wir unsere Gegner?«
In den folgenden Stunden wurden viele Pläne geschmiedet. Freosel schlug vorsichtig vor, dass sie lediglich hier an ihrem Zufluchtsort abwarten sollten, bis die Unzufriedenheit mit Elias in ganz Osten Ard ihren Höhepunkt erreichte. Hotvig, der für einen Mann aus den Ebenen erstaunliches Verständnis für Steinhäusler-Intrigen zeigte, entwickelte einen kühnen Plan: Er wollte Männer aussenden, die sich mit Hilfe von Eolairs Karten heimlich in den Hochhorst schleichen und Elias und Pryrates ermorden sollten. Vater Strangyeard schien der Gedanke Kummer zu machen, dass man die kostbaren Karten einer Schar roher Mörder anvertrauen sollte. Bei der Debatte über die Vorzüge dieser und weiterer Vorschläge kam es zu hitzigen Auseinandersetzungen. Als schließlich Isorn und Hotvig, sonst fröhliche Gefährten, über einem Punkt fast handgreiflich wurden, beendete Josua die Aussprache.
»Vergesst nicht, dass wir alle hier Freunde und Verbündete sind«, sagte er. »Unser gemeinsamer Wunsch ist es, unseren Ländern die Freiheit zurückzugeben.« Der Prinz sah sich im Raum um und zähmte mit strengem Blick seine erregten Ratgeber, so wie die Zureiter der Hyrka angeblich Pferde beruhigen, ohne sie auch nur zu berühren. »Ich habe alles gehört und bin dankbar für Eure Hilfe, aber jetzt muss entschieden werden.« Er legte die Hand auf die Steintafel neben Dorns silberumhüllten Griff. »Ich stimme zu, dass wir noch eine Zeitlang warten müssen, bevor wir imstande sind, einen Schlag gegen Elias zu führen«, erklärte er und nickte Freosel zu, »aber wir dürfen auch nicht tatenlos bleiben. Außerdem sind unsere Verbündeten in Hernystir eingeschlossen. Sie könnten einen wertvollen Unruheherd an Elias’ Westflanke bilden, wenn sie sich wieder frei bewegen könnten, ja, umso mehr, wenn es ihnen gelänge, einen Teil ihrer verstreuten Landsleute wieder zusammenzuführen. Darum habe ich beschlossen, beide Zwecke zu vereinen und herauszufinden, ob nicht der eine dem anderen dienen kann.«
Josua winkte den Herrn von Nad Mullach zu sich heran. »Graf Eolair, ich möchte Euch, wie ich versprochen habe, mit mehr als nur meinem Dank zu Eurem Volk zurücksenden. Isorn, Herzog Isgrimnurs Sohn, soll Euch begleiten.«
Gutrun konnte ein kurzes Aufschluchzen nicht unterdrücken. Aber als ihr Sohn sie trösten wollte, lächelte sie tapfer und klopfte ihm auf die Schulter. Josua neigte das Haupt vor ihr, um zu zeigen, dass er ihren Kummer achtete.
»Wenn Ihr meinen Plan hört, Herzogin, werdet Ihr verstehen, dass ich nicht ohne Grund so handle. Isorn, nehmt ein halbes Dutzend Männer mit. Vielleicht finden sich ein paar von Hotvigs Randwächtern bereit, Euch zu begleiten. Sie sind mutige Kämpfer und unermüdliche Reiter. Auf Eurem Weg nach Hernystir sollt Ihr so viele Eurer umherstreifenden Landsleute um Euch scharen, wie Ihr nur könnt. Ich weiß, dass die meisten von ihnen Skali Scharfnase nicht lieben, und wie ich höre, gibt es jetzt viele Heimatlose in der Frostmark. Ich überlasse es Eurem eigenen Urteil, wie Ihr die Menschen, die Ihr findet, einsetzt – entweder, um Skalis Belagerung von Eolairs Volk zu brechen, oder, wenn das nicht möglich ist, um sie mit Euch für den Kampf gegen Elias hierherzubringen.« Josua warf einen liebevollen Blick auf Isorn, der ihm mit niedergeschlagenen Augen aufmerksam zuhörte. »Ihr seid der Sohn des Herzogs. Sie achten Euch und werden Euch glauben, wenn Ihr ihnen sagt, dies sei der erste Schritt, um ihr Land zurückzuerlangen.«
Der Prinz wandte sich wieder an die Versammlung. »Während Isorn und seine Begleiter in diesem Auftrag unterwegs sind, werden wir hier an anderen Dingen arbeiten. Es gibt viel zu tun. Der Norden ist vom Winter, von Skali, Elias und seinem Bundesgenossen, dem Sturmkönig, so vollständig verwüstet worden, dass die Länder nördlich von Erkynland uns kaum so viele Truppen stellen können, wie notwendig sind. Nabban und der Süden sind fest in der Hand von Elias’ Freunden, vor allem Benigaris, aber der Süden ist es, den wir für uns gewinnen müssen. Nur dann werden wir über genügend Krieger verfügen, um gegen Elias antreten zu können. Darum müssen wir arbeiten, uns beraten und nachdenken. Es muss eine Möglichkeit geben, wie man Benigaris von Elias’ Hilfe abschneiden kann, auch wenn ich sie im Augenblick nicht sehe.«
Simon hatte die ganze Zeit ungeduldig gelauscht, aber nichts gesagt. Jetzt, da es schien, als habe Josua seine Rede beendet, konnte Simon nicht länger schweigen. Während die anderen laut gerufen hatten, war er – mit wachsender Erregung – innerlich mit den Dingen beschäftigt gewesen, die er am Morgen mit Binabik beredet hatte.
»Aber, Prinz Josua«, rief er jetzt, »was wird aus den Schwertern?«
Der Prinz nickte. »Auch darüber werden wir nachdenken müssen. Macht Euch keine Sorgen, Simon, ich habe sie nicht vergessen.«
Simon holte tief Luft und fuhr dann entschlossen fort: »Am besten wäre es, Elias zu überraschen. Schickt Binabik, Sludig und mich aus, Hellnagel zu holen. Es befindet sich außerhalb der Mauern des Hochhorsts. Wir drei allein könnten das Grab Eures Vaters aufsuchen, das Schwert finden und wieder fort sein, ehe der König auch nur von unserer Anwesenheit erfährt. Er würde etwas Derartiges nie vermuten.« Simon malte sich für einen Augenblick aus, wie es sein würde – er und seine Gefährten brächten Hellnagel im Triumph zum Sesuad’ra, und über ihnen flatterte Simons neues Drachenbanner.
Josua lächelte, schüttelte jedoch den Kopf. »Niemand bezweifelt Eure Tapferkeit, Herr Seoman, aber wir können es nicht wagen.«
»Wir fanden auch Dorn, woran niemand geglaubt hätte.«
»Aber an Dorns Ruhestätte marschierte auch nicht die Erkynwache jeden Tag vorbei.«
»Der Drache tat es.«
»Genug.« Josua hob die Hand. »Nein, Simon, die Zeit ist noch nicht reif. Wenn wir Elias von Westen oder Süden angreifen und vom Swertclif und den Grabhügeln ablenken können, dann ist der Augenblick gekommen. Ihr habt große Ehre erworben und werdet bestimmt noch größere gewinnen, aber jetzt seid Ihr ein Reichsritter mit allen Pflichten, die dieser Titel mit sich bringt. Ich habe es sehr bedauert, Euch damals auf die Suche nach Dorn geschickt zu haben, und hatte die Hoffnung schon aufgegeben, Euch je wiederzusehen. Jetzt, da Ihr so erfolgreich wart, wie keiner zu hoffen gewagt hätte, möchte ich Euch eine Weile hierbehalten … ebenso Binabik und Sludig, die Ihr bestimmt gar nicht gefragt habt, bevor Ihr sie als Freiwillige für diese lebensgefährliche Fahrt nanntet.« Er lächelte, um den Schlag zu mildern. »Friede, Junge, Friede.«
Simon überkam das gleiche erstickende Gefühl des Eingesperrtseins, das ihn in Jao é-Tinukai’i gequält hatte. Begriffen sie denn nicht, dass sie ihre Chance verspielten, wenn sie zu lange abwarteten? Dass Böses unbestraft bleiben würde? »Darf ich dann mit Isorn gehen?«, bettelte er. »Ich möchte etwas tun, Prinz Josua.«
»Lernt, ein Ritter zu werden, Simon, und genießt diese Zeit. Ihr werdet noch früh genug Euer Leben aufs Spiel setzen müssen.« Der Prinz stand auf. Die Müdigkeit in seinem Gesicht war nicht zu übersehen. »Schluss damit. Eolair, Isorn und alle, die Isorn auswählt, sollen in zwei Tagen bereit zum Aufbruch sein. Gehen wir jetzt. Ein Essen erwartet uns – nicht so üppig wie das gestrige Festmahl, aber doch etwas, das uns allen guttun wird.« Er winkte mit der Hand und schloss so die Versammlung.
Binabik kam auf Simon zu und wollte mit ihm sprechen, aber der erzürnte Simon war zunächst nicht zum Antworten bereit. Wieder alles wie früher, wie? ›Warte, Simon, warte. Lass andere die Entscheidungen treffen. Du erfährst schon rechtzeitig, was du zu tun hast.‹
»Und es war doch eine gute Idee«, brummte er schließlich.
»Das wird sie auch später noch sein«, tröstete Binabik, »wenn wir Elias abgelenkt haben, so wie Josua es plant.«
Simon warf ihm einen wütenden Blick zu, aber etwas im runden Gesicht des Trolls ließ seinen Grimm töricht erscheinen.
»Ich will mich doch nur nützlich machen.«
»Du bist weit mehr denn nützlich, Freund Simon. Aber alles hat seine Zeit. ›Iq ta randayhet suk biqahuc‹, wie wir in meiner Heimat sagen: ›Winter ist nicht die Zeit zum Nacktschwimmen‹!«
Simon dachte einen Augenblick über diesen Spruch nach.
»Das ist ja Unsinn«, bemerkte er dann.
»So?«, versetzte Binabik ärgerlich. »Du kannst sagen, was dir beliebt – aber finde dich nicht weinend an meinem Feuer ein, wenn du dir zum Schwimmen die falsche Jahreszeit auserkoren hast.«
Stumm wanderten sie über den grasbewachsenen Gipfel, verfolgt von der kalten Sonne.