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Reiter der Morgendämmerung

T

rotz des kalten Morgendunstes, der über dem Sesuad’ra lag wie ein grauer Mantel, herrschte in Neu-Gadrinsett eine geradezu festliche Stimmung. Die Trollschar, von Binabik und Simon über den allmählich zufrierenden See geführt, war ein neues und erfreuliches Wunder in einem Jahr, das viele unangenehme Überraschungen für sie bereitgehalten hatte. Als Simon und seine kleinen Freunde um die letzte Windung der alten Sithistraße bogen, umringte sie sofort ein Schwarm schnatternder Kinder, die ihren Eltern und größeren Geschwistern vorausgelaufen waren. Die vom Lärm der Qanucdörfer abgehärteten Widder ließen sich von ihnen nicht stören. Rauhe braune Hände hoben ein paar von den ganz Kleinen in die Sättel, wo sie vor den Trollhirten und Jägerinnen sitzen und mitreiten durften. Ein kleiner Junge, der eine so plötzliche und enge Berührung mit den Ankömmlingen nicht erwartet hatte, brach in lautes Geschrei aus. Der Troll, der ihn hochgehoben hatte, grinste besorgt in seinen spärlichen Bart und hielt das zappelnde Bürschchen sanft, aber kräftig fest, damit es nicht herunterfiel und von den Widdern, die Horn an Horn weiterdrängten, verletzt wurde. Das Gebrüll des Jungen war so laut, dass es selbst die Rufe der anderen Kinder und das entfesselte Wummern und Dudeln der Marschmusik übertönte.

Binabik hatte Josua von der Ankunft seiner Stammesgenossen unterrichtet, bevor er Simon mit hinunter in den Wald nahm, und der Prinz hatte sein Bestes getan, für einen gebührenden Empfang zu sorgen. Die Widder wurden in warme Stallhöhlen gebracht, wo sie Seite an Seite mit den Pferden von Neu-Gadrinsett ihr Heu malmten. Dann marschierten Sisqi und die Trolle hinauf zum Haus des Abschieds, das, glattpoliert vom Wind, hoch vor ihnen aufragte. Nach wie vor folgte ihnen eine Herde neugieriger Siedler. Man vereinte die mageren Vorräte mit dem Reiseproviant der Trolle zu einer gemeinsamen, bescheidenen Mahlzeit. Noch immer hatte Neu-Gadrinsett nicht so viele Einwohner, dass sie und weitere hundert Männer und Frauen, noch dazu so winzige, die riesige Halle der Sithi ganz gefüllt hätten, aber weil man enger saß, wurde es doch wärmer. Essen war knapp, aber die Gesellschaft exotisch und aufregend.

Sangfugol, in seinem besten – wenn auch vielleicht schon etwas fadenscheinigen – Wams und den elegantesten seiner Beinlinge, stand auf und trug ein paar besonders beliebte alte Lieder vor. Die Trolle applaudierten, indem sie sich mit den Handflächen auf die Stiefel klatschten, ein Brauch, der die Bürger von Neu-Gadrinsett sehr erheiterte. Als Nächstes führten ein Mann und eine Frau der Qanuc, angefeuert von ihren Gefährten, einen akrobatischen Tanz vor, bei dem zwei ihrer vorn gekrümmten Hirtenspeere eine Rolle spielten und viel gesprungen und Purzelbäume geschlagen wurden. Die meisten Menschen aus Neu-Gadrinsett, selbst solche, die den kleinen Fremden beim Betreten der Halle noch Misstrauen entgegengebracht hatten, wurden schnell mit den Trollen warm. Nur die wenigen ursprünglich aus Rimmersgard stammenden Siedler schienen ihnen weiterhin unfreundlich gesonnen. Die uralte Feindschaft zwischen Qanuc und Rimmersleuten ließ sich nicht durch ein einziges Festmahl und ein paar Tänze und Lieder beseitigen.

Simon saß da und beobachtete alles voller Stolz. Er trank nicht, denn vom Kangkang der letzten Nacht dröhnte ihm noch jetzt höchst unangenehm das Blut im Schädel, aber er fühlte sich so fröhlich beschwipst, als hätte er gerade einen ganzen Schlauch davon hinuntergekippt. Alle Verteidiger des Sesuad’ra freuten sich über neue Verbündete, gleich welcher Art. Die Trolle waren klein, aber Simon erinnerte sich an den Sikkihoq und daran, wie tapfer sie dort gekämpft hatten. Noch immer waren die Aussichten gering, dass es Josuas Streitern gelingen könnte, Fengbald abzuwehren, aber wenigstens standen die Verhältnisse nicht mehr ganz so ungleich wie noch gestern. Das Beste von allem aber war, dass Sisqi Simon feierlich dazu eingeladen hatte, an der Seite der Trolle zu fechten, eine Aufforderung, die, soweit er wusste, nie zuvor an einen Utku ergangen und darum eine wirkliche Auszeichnung war. Sie hatte ihm erklärt, dass die Qanuc von seiner Tapferkeit sehr beeindruckt seien und seine Treue gegenüber Binabik hochschätzten.

Simon konnte nicht umhin, einen gewissen Stolz zu empfinden, hatte sich jedoch vorgenommen, es vorläufig noch für sich zu behalten. Trotzdem grinste er jeden, der seinem Blick begegnete, quer über den ganzen Tisch weg vergnügt an.

Als Jeremias eintrat, zwang Simon ihn, sich an seine Seite zu setzen. In Gesellschaft des Prinzen und der anderen »Vornehmen«, wie Jeremias sie bezeichnete, fühlte sich der einstige Wachszieherlehrling zwar immer wohler, wenn er als Simons Leibdiener auftreten konnte, aber dabei fühlte sich Simon wiederum sehr unwohl.

»Es gehört sich nicht«, stöhnte Jeremias und starrte in den Becher, den Simon vor ihn hingestellt hatte. »Ich bin dein Knappe, Simon. Ich sollte nicht an der Tafel des Prinzen sitzen, sondern dir den Becher füllen.«

»Unsinn.« Simon winkte lässig mit der Hand. »Bei uns ist das anders. Außerdem, wenn du damals an meiner Stelle aus der Burg geflohen wärst, hättest du alle diese Abenteuer erlebt, und ich wäre bei Inch im Keller gelandet.«

»Sag das nicht!«, keuchte Jeremias, jähe Angst in den Augen. »Du weißt ja nicht …!« Er bemühte sich um Fassung. »Nein, Simon, sprich es nicht einmal aus – es bringt Unglück, so zu reden!« Nur langsam entspannte sich sein Gesicht. Der Ausdruck von Furcht verwandelte sich in Wehmut. »Außerdem hast du unrecht. Mir wären diese Dinge nie geschehen – der Drache, das Feenvolk und alles andere. Wenn du nicht selber merkst, dass du etwas Besonderes bist, dann …«, er holte tief Luft, »… bist du wirklich strohdumm.«

Bei solchen Bemerkungen fühlte Simon sich noch viel unbehaglicher. »Besonders oder strohdumm«, knurrte er, »für eins davon solltest du dich schon entscheiden.«

Jeremias schaute ihn an, als könne er Simons Gedanken lesen. Er schien noch etwas dazu sagen zu wollen, verzog jedoch gleich darauf das Gesicht zu einem spöttischen Lächeln. »Hm. Jetzt, wo du es sagst – ›besonders strohdumm‹ trifft es eigentlich ganz gut.«

Erleichtert, sich wieder auf vertrautem Terrain zu bewegen, tunkte Simon die Finger in seinen Weinbecher und spritzte Jeremias ein paar Tropfen ins blasse Gesicht, was seinen Freund zum Prusten brachte. »Und Ihr, Bursche, taugt auch nicht mehr. Ich habe Euch gesalbt und verleihe Euch nun den Titel ›Herr Strohdumm von Besonders‹.« Feierlich bespritzte er ihn mit ein paar weiteren Tropfen. Jeremias fauchte und schlug nach dem Becher, dessen restlicher Inhalt sich über Simons Hemd ergoss. Sie fingen an, die Arme gegeneinanderzudrücken, lachten und klatschten mit den freien Händen aufeinander ein wie verspielte Jungbären.

»Herr Besonders von Strohdumm!«

»Herr Strohdumm von Besonders!«

Ihr Wettkampf, wenn auch immer noch freundschaftlich, wurde bald ein wenig hitziger. Die unmittelbar neben den Kämpen sitzenden Gäste rückten zur Seite, um Platz zu machen. Prinz Josua hatte Mühe, seine Miene kühler Missbilligung zu bewahren. Die Herrin Vara lachte frei heraus.

Die Trolle, deren Festveranstaltungen in der ehrfurchtgebietenden Weite des Chidsik ub Lingit stattfanden, bei denen niemals etwas so Alltägliches wie der Ringkampf zweier Freunde vorgefallen wäre, die sich gegenseitig Wein in die Haare schmierten, beobachteten den Vorgang mit feierlichem Interesse. Manche fragten laut, ob durch den Sieger des Wettkampfs eine besondere Weissagung oder Prophezeiung bestimmt würde, andere, ob es die religiösen Anschauungen der Gastgeber beleidigte, wenn man ein paar unauffällige Wetten darüber abschloss, wer gewinnen würde. Was das Letztere anging, kam man zu der stillschweigenden Übereinkunft, dass etwas, das unbemerkt blieb, auch niemanden kränken konnte. Je nachdem, welcher der beiden Streiter kurz vor einer vernichtenden Niederlage zu stehen schien, wechselten mehrfach die Quoten.

Als die Minuten vergingen und keiner der beiden Kämpen aufgeben wollte, wuchs die Anteilnahme der Trolle noch. Wenn bei einem Festbankett in der Höhle dieses Tiefländerhirten und seiner Jägerin ein solcher Kampf derartig lange dauerte, dann musste es sich, so erläuterten die weltläufigeren Qanuc ihren Gefährten, um mehr als ein bloßes Wetteifern handeln. Offensichtlich war es eher eine komplizierte Art Tanz, der für die bevorstehende Schlacht von den Göttern Glück und Stärke herabrief. Nein, meinten andere, es wäre wahrscheinlich nichts Komplizierteres als ein Kampf um Paarungsrechte. Bei Widdern war das üblich, warum also nicht auch bei Tiefländern?

Als Simon und Jeremias merkten, dass ihnen fast der ganze Saal zuschaute, fand der Kampf ein jähes Ende. Die beiden verlegenen Streiter rückten schwitzend und mit roten Gesichtern ihre Hocker zurecht und vertieften sich in ihr Essen, von dem sie nicht zu den anderen Gästen aufzusehen wagten. Die Trolle tuschelten betrübt. Wie schade, dass weder Sisqi noch Binabik hier waren, um ihre vielen Fragen über das merkwürdige Ritual zu übersetzen. Eine Chance zum besseren Verständnis der Utku-Sitten war verspielt, zumindest für den Augenblick.

Draußen vor dem Haus des Abschieds standen Binabik und seine Verlobte knöcheltief im Schnee, der die bröckelnden Steinplatten des Feuergartens bedeckte. Die Kälte machte ihnen nicht das Geringste aus – ein später Frühling in Yiqanuc konnte weit schlimmer sein, und sie waren schon lange nicht mehr miteinander allein gewesen.

Das Paar in seinen Kapuzen stand eng beieinander. Gesicht an Gesicht, wärmten sie sich mit ihrem Atem die Wangen. Binabik streifte mit sanften Fingern eine schmelzende Schneeflocke von Sisqis Nase.

»Du bist sogar noch schöner«, sagte er. »Ich dachte, meine Einsamkeit hätte die Sinne getäuscht, aber du bist noch lieblicher als in meiner Erinnerung.«

Sisqi zog ihn lachend an sich. »Schmeichelei, Singender Mann, Schmeichelei. Hast du sie an diesen Riesenfrauen aus dem Tiefland geübt? Sei vorsichtig, eine von ihnen könnte beleidigt sein und dich zerquetschen.«

Binabik tat, als runzele er die Stirn. »Ich sehe keine andere als dich, Sisqinanamook, und so war es von jener Stunde an, als du zum ersten Mal die Augen zu mir aufschlugst.«

Sie schlang die Arme um seine Brust und hielt ihn, so fest sie konnte. Dann ließ sie ihn los, drehte sich um und ging weiter. Binabik folgte ihr.

»Deine Nachricht war sehr willkommen«, sagte er. »Ich habe mir seit dem Tag, an dem ich vom Blauschlammsee wegritt, Sorgen um unser Volk gemacht.«

Sisqi zuckte die Achseln. »Wir werden es überleben. Seddas Kinder überstehen alles. Trotzdem war es schwer, meine Eltern davon zu überzeugen, dass sie mich wenigstens dieses kleine Aufgebot der Unsrigen hierherführen ließen – es war, als entferne man einen Stein aus den Hufen eines zornigen Widders.«

»Hirte und Jägerin mögen sich damit abgefunden haben, dass Ookequk die Wahrheit schrieb«, meinte Binabik. »Aber nur, weil man etwas Unangenehmes als wahr erkennt, wird es dadurch nicht leichter anzunehmen. Trotzdem sind Josua und seine Gefährten euch aufrichtig dankbar. Jeder Arm, jedes Auge hilft. Auch ohne es zu wollen, haben der Hirte und die Jägerin eine gute Tat getan.« Er hielt inne. »Und auch du hast ein gutes Werk vollbracht. Ich danke dir, dass du so freundlich zu Simon warst.«

Sisqi sah ihn fragend an. »Was meinst du?«

»Du hast ihn eingeladen, mit den Qanuc zu kämpfen. Das bedeutet ihm viel.«

Sie lächelte. »Das war keine Gunst, Geliebter. Es war eine Ehre, die er verdient hat, und unsere gemeinsame Entscheidung – nicht allein meine, Binabik, sondern die von allen, die bei mir sind.«

Er sah sie überrascht an. »Aber sie kennen ihn doch gar nicht!«

»Einige schon. Unter den Hundert sind ein paar, die unseren Abstieg vom Sikkihoq überlebten. Hast du Snenneq nicht gesehen? Und die vom Sikkihoq brachten den anderen ihre Geschichten mit. Dein junger Freund hat großen Eindruck auf unser Volk gemacht, Geliebter.«

»Der junge Simon.« Binabik überlegte einen Augenblick. »Es ist ein merkwürdiger Gedanke, aber ich weiß, dass du die Wahrheit sprichst.«

»Er ist sehr gewachsen, dein Freund, seit wir am See Abschied nahmen. Das muss dir aufgefallen sein.«

»Ich weiß, dass du nicht seine Größe meinst – er ist immer groß gewesen, selbst für sein eigenes Volk.«

Sisqi lachte und drückte ihn wieder an sich. »Nein, natürlich nicht. Seit er von unseren Bergen herunterkam, sieht er aus, als sei er den Weg des Mannes gegangen.«

»Die Tiefländer haben diesen Brauch nicht, Liebste. Aber ich glaube, das ganze letzte Jahr war für ihn sein Weg des Mannes, und ich glaube außerdem, dass dieser Weg noch nicht zu Ende ist.« Binabik schüttelte den Kopf und nahm ihre Hand, die er mit seinen Fingern umschloss. »Aber trotzdem habe ich Simon unrecht getan, als ich annahm, du wolltest ihm lediglich eine Freundlichkeit erweisen. Er ist jung und verändert sich schnell. Vielleicht stehe ich ihm zu nahe, um diese Veränderungen so klar zu sehen wie du.«

»Du siehst klarer als wir alle, Binbineqegabenik. Darum liebe ich dich, und darum darf dir nichts zustoßen. Ich habe meinen Eltern keine Ruhe gelassen, bis ich mit meiner Schar an deiner Seite sein konnte.«

»Ach, Sisqi«, erwiderte Binabik wehmütig, »nicht tausendmal tausend der stärksten Trolle sind in diesen furchtbaren Zeiten genug, um uns zu schützen. Aber mehr wert als eine Million Speere ist es, dich wieder bei mir zu haben.«

»Wieder Schmeichelei«, lachte sie. »Aber du sagst sie so wunderbar. «

Arm in Arm spazierten sie durch den Schnee.

Auch wenn der Proviant knapp war, Holz gab es genug. Im Haus des Abschieds hatte man das Feuer so hoch aufgeschichtet, dass der Rauch die Decke schwärzte. Eigentlich hätte sich Simon darüber entrüstet, dass man den heiligen Ort der Sithi in dieser Weise entweihte, aber heute Nacht sah er das große Feuer als etwas an, das sie nötig hatten – eine tapfere und freudige Geste in einer fast hoffnungslosen Zeit. Er warf einen Blick auf den Kreis der Gäste, der sich jetzt, nachdem das Essen beendet war, um das Feuer gebildet hatte.

Die meisten der Siedler hatten sich in ihre Zelte und Schlafhöhlen zurückgezogen, ermüdet von einem langen Tag und einem unerwarteten Fest. Auch von den Trollen waren nicht mehr alle da. Einige sahen nach den Widdern – denn was, so hatten sie sich gefragt, verstanden Tiefländer schon von Schafen? –, andere hatten sich in den Höhlen, die die Leute des Prinzen für sie vorbereitet hatten, schlafen gelegt. Binabik und Sisqi saßen jetzt in leiser Unterhaltung mit dem Prinzen an der hohen Tafel. Ihre Gesichter waren weit ernster als die der fröhlichen Zecher, die in der Runde am Feuer ein paar kostbare Weinschläuche hin- und hergehen ließen. Simon kämpfte einen Moment mit sich und steuerte dann auf die letztere Gruppe zu.

Die Herrin Vara hatte die Tafel des Prinzen verlassen und war gerade auf dem Weg zur Tür. Herzogin Gutrun begleitete sie und hielt die Thrithingfrau so sanft am Ellenbogen fest wie eine Mutter, die ein lebhaftes Kind bändigte. Als Vara Simon sah, blieb sie stehen. »Da seid Ihr ja«, sagte sie und winkte ihn zu sich. Das Kind war jetzt allmählich zu sehen, ihr Bauch wölbte sich leicht.

»Herrin. Herzogin.« Simon fragte sich, ob er vor den beiden Damen eine Verbeugung machen sollte, bis ihm einfiel, dass sie ihm vorhin beide zugeschaut hatten, wie er auf Jeremias eindrosch. Er errötete und senkte hastig den Kopf, um sein Gesicht zu verbergen.

In Varas Stimme lag ein Lächeln. »Prinz Josua sagt, diese Trolle seien Eure geschworenen Verbündeten, Simon – oder soll ich Euch Herr Seoman nennen?«

Es wurde immer schlimmer. Seine Wangen fühlten sich schmerzhaft heiß an. »Bitte, Herrin, nur Simon.« Er warf ihr einen verstohlenen Blick zu und richtete sich langsam auf.

Herzogin Gutrun lachte. »Himmel noch mal, Junge, entspann dich. Lasst ihn zu den anderen laufen, Vara – er ist ein junger Mann und möchte lange aufbleiben, trinken und prahlen.«

Vara sah sie einen Moment scharf an, dann wurden ihre Züge weicher. »Ich wollte ihm nur sagen …« Sie wandte sich zu Simon. »Ich wollte Euch nur sagen, dass ich gern mehr von Euch wüsste. Ich hatte immer geglaubt, wir hätten nach der Flucht aus Naglimund ein abenteuerliches Leben geführt, aber Josua hat mir erzählt, was Ihr gesehen habt …« Sie lachte ein wenig traurig und legte die langen Finger an ihren Bauch. »Aber es ist gut von Euch, uns diese Hilfe zu bringen. Ich habe nie etwas gesehen wie diese Trolle.«

»Ihr kennt doch … mmmh … Binabik schon lange«, meinte Gutrun und gähnte hinter der vorgehaltenen Hand.

»Ja, aber ein kleiner Mann ist etwas ganz anderes als so viele … so viele!« Vara blickte sich wie hilfesuchend nach Simon um. »Versteht Ihr das?«

»O ja, Herrin Vara.« Bei der Erinnerung musste er grinsen. »Als ich die Stadt, in der Binabik wohnt, zum ersten Mal sah – Hunderte von Höhlen im Berg, schwankende Seilbrücken und mehr junge und alte Trolle, als Ihr Euch überhaupt vorstellen könnt –, da war das plötzlich etwas ganz anderes als Binabiks Nähe.«

»Genau so.« Vara nickte. »Jedenfalls danke ich Euch nochmals. Vielleicht besucht Ihr mich einmal und erzählt mir mehr von Euren Reisen. Ich fühle mich jetzt manchmal etwas schwach, und Josua macht sich so viel Sorgen, wenn ich draußen spazieren gehe«, sie lächelte wieder, aber es lag eine Spur von Bitterkeit in ihrem Lächeln, »darum wäre es schön für mich, Gesellschaft zu haben.«

»Natürlich, Herrin. Es wäre mir eine Ehre.«

Gutrun zupfte Vara am Ärmel. »Kommt jetzt, Vara. Lasst den jungen Mann zu seinen Freunden gehen.«

»Ja. Nun, dann gute Nacht, Simon.«

»Edle Damen.« Wieder verbeugte er sich, diesmal schon geschmeidiger. Offenbar brauchte man dazu Übung.

Als Simon ans Feuer trat, blickte Sangfugol auf. Der Harfner machte einen müden Eindruck. Neben ihm saß der alte Strupp und führte eine weitschweifige Debatte mit ihm, an der sich Sangfugol schon eine ganze Zeit nicht mehr zu beteiligen schien.

»Guten Abend, Simon«, sagte der Harfner. »Setzt Euch und trinkt mit uns.« Er bot ihm den Weinschlauch an.

Simon nahm aus Höflichkeit einen Schluck. »Das Lied, das Ihr heute Abend gesungen habt, hat mir gut gefallen – das über den Bären.«

»Das Osgal-Lied? Das ist wirklich gut. Ihr habt mir ja selbst erzählt, es gäbe Bären da oben im Troll-Land, und deshalb hoffte ich, es würde ihnen gefallen.«

Simon brachte es nicht übers Herz, ihm zu verraten, dass von ihren hundert neuen Gästen nur eine Frau ein einziges Wort Westerling sprach und der Harfner genauso gut von Sumpfgeflügel hätte singen können, ohne dass es jemandem aufgefallen wäre. Aber obwohl der Inhalt ihnen ein vollständiges Geheimnis geblieben war, hatten den Qanuc die schwungvollen Kehrreime und Sangfugols glotzäugige Grimassen außerordentlich viel Freude bereitet. »Geklatscht haben sie jedenfalls wie toll«, meinte Simon. »Ich glaubte, das Dach würde einfallen.«

»Auf die Stiefel haben sie sich geschlagen, habt Ihr das bemerkt?« Beim Gedanken an seinen großen Triumph straffte sich Sangfugols Haltung sichtlich. Vielleicht war er ja der einzige Harfner, der jemals den Applaus von Trollfüßen genossen hatte, etwas, das nicht einmal vom sagenhaften Eoin-ec-Cluias überliefert war.

»Stiefel?« Strupp beugte sich vor und umklammerte Simons Knie. »Und wer hat ihnen überhaupt beigebracht, sich Stiefel anzuziehen? Das würde ich gern wissen. Solche Wilden aus den Bergen tragen keine Stiefel.«

Simon wollte etwas antworten, aber Sangfugol schüttelte ärgerlich den Kopf. »Du redest schon wieder Unsinn, Strupp. Du hast keine Ahnung von Trollen.«

Beschämt sah der Narr sich in der Runde um. Der Knoten an seinem Hals hüpfte. »Ich fand es nur komisch, dass …« Sein Blick fiel auf Simon. »Und du kennst sie, Sohn? Diese kleinen Leute?«

»Ja. Binabik ist mein Freund – aber den habt Ihr ja schon oft hier gesehen, nicht wahr?«

»Gewiss, gewiss.« Strupp nickte, aber seine wässrigen Augen blieben unsicher. Simon wusste nicht, ob er sich wirklich erinnerte.

»Nun, als wir von Naglimund zum Drachenberg ritten«, begann Simon bedächtig, »dem Berg, den Ihr uns finden halft, Strupp, mit Euren Erinnerungen an das Schwert Dorn – nachdem wir also auf diesem Drachenberg waren, gingen wir dorthin, wo Binabiks Volk wohnt, und lernten ihren König und die Königin kennen. Und nun haben sie uns diese Kämpfer aus ihrem Stamm als Verbündete geschickt.«

»Oh, sehr freundlich. Außerordentlich freundlich.« Strupp spähte misstrauisch durch das Feuer, hinüber zu einem halben Dutzend Trolle, die lachend am Boden hockten und im feuchten Sägemehl würfelten. Das Gesicht des alten Narren hellte sich auf. »Und sie sind hier, weil ich das damals gesagt habe!«

Simon zögerte und sagte dann: »Ja – in gewisser Weise schon. Ihr habt recht.«

»Ha!« Strupp zeigte grinsend seine wenigen Zahnstümpfe. Er sah richtig glücklich aus. »Ich habe Josua und all den anderen von den Schwertern erzählt, stimmt’s? Von den beiden Schwertern.« Er schaute wieder auf die Trolle. »Was tun sie?«

»Sie würfeln.«

»Nachdem ich sie schon hierhergebracht habe, sollte ich ihnen wenigstens zeigen, wie man richtig spielt. Ich sollte ihnen Bullenhorn beibringen.« Strupp stand auf und torkelte ein paar Schritte auf die würfelnden Trolle zu, ließ sich mit gekreuzten Beinen in ihrer Mitte nieder und versuchte ihnen die Spielregeln von Bullenhorn zu erklären. Die Trolle lachten über seine unverkennbare Betrunkenheit, schienen sich jedoch über seinen Besuch zu freuen. Schon bald steckten sie mitten in einer äußerst komischen Pantomime, als Strupp, vom Alkohol und den Aufregungen des Abends ohnehin schon recht beschwingt, der Gruppe kleiner Gebirgsbewohner, die kein Wort davon verstehen konnten, die Feinheiten eines Würfelspiels zu erläutern versuchte.

Simon drehte sich lachend zu Sangfugol um. »Damit ist er erst einmal ein paar Stunden beschäftigt, wenn nicht länger.«

Sangfugol verzog das Gesicht. »Ich wünschte, das wäre mir eingefallen. Dann hätte er sie schon früher belästigen können.« »Ihr braucht doch nicht ständig auf Strupp aufzupassen. Wenn Ihr Josua sagen würdet, wie ungern Ihr es tut, wird er bestimmt jemand anders damit betrauen.«

Der Harfner schüttelte den Kopf. »Es ist nicht so einfach.«

»Erklärt es mir.« Aus der Nähe konnte Simon dunklen Schmutz in den kleinen Falten um Sangfugols Augen und einen Fleck auf der Stirn unter dem lockigen braunen Haar sehen. Der Harfner schien lange nicht mehr so eitel zu sein wie früher, aber Simon konnte sich nicht entscheiden, ob das ein Vorteil war – ein ungepflegter Sangfugol erschien ihm als Widerspruch gegen die Natur, so wie eine schlampige Rachel oder ein plumper Jiriki.

»Strupp war einmal ein guter Mann, Simon.« Der Harfner sprach langsam, fast widerwillig. »Nein, das ist ungerecht. Er ist vermutlich immer noch ein guter Mann, nur dass er heutzutage vor allem alt und töricht ist – und sich bei jeder Gelegenheit betrinkt. Er ist nicht böse, er ist nur anstrengend. Aber als ich anfing, meine Kunst zu erlernen, nahm er sich Zeit für mich und half mir, obwohl ihn nichts dazu verpflichtete. Er tat es aus reiner Freundlichkeit. Er lehrte mich Lieder und Tonarten, die ich nicht kannte, und zeigte mir den richtigen Umgang mit meiner Stimme, damit sie mich nicht im Stich ließ, wenn es darauf ankam.« Sangfugol zuckte die Achseln. »Wie kann ich mich jetzt von ihm abwenden, nur weil er mir manchmal lästig ist?«

Die Stimmen der Trolle neben ihnen waren lauter geworden, aber was zunächst nach einem beginnenden Streit klang, war ein Lied, das sie anhoben, ein kehliger, abgehackter Singsang. Die Melodie war so fremdartig wie nur möglich, aber der Humor selbst in der unbekannten Sprache so unüberhörbar, dass Strupp, der mitten unter den Sängern saß, kichernd in die Hände klatschte.

»Schaut ihn Euch an«, sagte Sangfugol ein wenig gedankenverloren. »Er ist wie ein Kind – und vielleicht werden wir ja alle einmal so. Wie kann ich ihn hassen? Würde ich ein Kind hassen, das nicht weiß, was es tut?«

»Aber er scheint Euch in den Wahnsinn zu treiben.«

Der Harfner schnaubte. »Und treiben nicht auch Kinder ihre Eltern manchmal in den Wahnsinn? Und doch werden eines Tages die Eltern selbst wieder wie Kinder und rächen sich so an Söhnen und Töchtern, denn nun sind es die alten Eltern, die weinen und sabbern und sich am Kochfeuer verbrennen, und ihre Kinder, die darunter zu leiden haben.« Er lachte, aber es klang wenig fröhlich. »Als ich damals auszog, um mein Glück zu machen, war ich froh, von meiner Mutter wegzukommen. Und das ist der Lohn meiner Treulosigkeit.« Er wies auf Strupp, der den Kopf in den Nacken geworfen hatte und mit den Trollen sang, ein wortloses und unmelodisches Heulen wie von einem Hund unter dem Erntemond.

Das Lächeln über dieses Bild verschwand sehr schnell wieder von Simons Gesicht. Zumindest hatten Sangfugol und andere wählen können, ob sie bei ihren Eltern bleiben wollten oder nicht. Waisen hatten diese Möglichkeit nicht.

»Es kann aber auch anders sein.« Sangfugol sah hinüber zu Josua, der noch immer in sein Gespräch mit den beiden Qanuc vertieft war. »Manche Menschen können sich sogar nach dem Tod ihrer Eltern nicht von ihnen befreien.« Sein auf den Prinzen gerichteter Blick war voller Liebe, zugleich aber, zu Simons Überraschung, voller Zorn. »Manchmal sieht es aus, als fürchte er sich, auch nur einen Schritt zu tun – nur damit er nicht über den Schatten des alten König Johan springen muss.«

Simon starrte auf Josuas schmales, bekümmertes Gesicht. »Er macht sich zu viel Sorgen.«

»Ja, und zwar auch dann, wenn es keinen Sinn hat.« Bei diesen Worten Sangfugols kam Strupp wieder auf sie zugeschwankt. Der Kangkang seiner Mitwürfler schien den Alten in ein neues, wacheres Stadium der Trunkenheit versetzt zu haben.

»Wir stehen kurz davor, von Fengbald und tausend Soldaten angegriffen zu werden, Sangfugol«, knurrte Simon. »Das dürfte Grund genug für Josua zu sein, sich Sorgen zu machen. Manchmal nennt man solche Sorgen auch ›Vorausplanung‹, versteht Ihr.«

Der Harfner machte eine entschuldigende Gebärde. »Ich verstehe es sehr gut, und an Josua als Heerführer habe ich auch nicht das Geringste auszusetzen. Wenn jemand überhaupt einen Weg findet, diesen Kampf zu gewinnen, dann unser Prinz. Aber ich schwöre Euch, Simon, manchmal glaube ich, wenn er einmal unter seine Füße schauen und dort die Ameisen und Flöhe bemerken würde, die er mit jedem Schritt tötet, würde er nie mehr ein Bein vor das andere setzen. Man kann aber kein Anführer und schon gar kein König sein, wenn einen jeder Schmerz, den einer der Untertanen erleidet, so brennt, als sei es der eigene. Josua, glaube ich, hat zu viel Mitleid, um sich je auf einem Thron glücklich zu fühlen.«

Strupp hatte mit hellen, aufmerksamen Augen zugehört. »Er ist das Kind seines Vaters, daran gibt es keinen Zweifel.«

Sangfugol sah ärgerlich auf. »Du schwatzt schon wieder Unsinn, Alter. Priester Johan war ganz anders, das weiß jeder – und du solltest es am allerbesten wissen!«

»Ah«, sagte Strupp feierlich, und sein Gesicht war ausdruckslos. »Ah. Ja.« Einen Moment herrschte Schweigen. Gerade als es schien, als wolle er noch etwas hinzufügen, drehte sich der Narr jäh um und entfernte sich wieder.

Simon überging die Worte des alten Mannes mit einem Achselzucken. »Wie kann es einem guten König nicht wehtun, wenn sein Volk leidet, Sangfugol?«, fragte er. »Sollte er denn kein Mitgefühl haben?«

»Natürlich sollte er das. Ja, bei Ädons Blut! Denn sonst wäre er nicht besser als Josuas verrückter Bruder. Nur – wenn Ihr Euch am Finger verletzt, legt Ihr Euch dann ins Bett und steht erst dann wieder auf, wenn er geheilt ist? Oder stillt Ihr das Blut und setzt Eure Arbeit fort?«

Simon überlegte. »Ihr meint, Josua ist wie der Bauer in der alten Geschichte – der das schönste, dickste Schwein auf dem ganzen Markt kauft und es dann nicht über sich bringt, es zu schlachten, sodass er und seine Familie verhungern und das Schwein am Leben bleibt?«

Der Harfner lachte. »So ungefähr. Obwohl ich nicht sagen will, dass Josua seine Leute abstechen lassen sollte wie Schweine – nur dass eben manchmal etwas Schlimmes passiert, auch wenn ein gütiger Prinz sich noch so sehr anstrengt, es zu verhindern.«

Sie saßen und schauten ins Feuer. Simon dachte über die Worte seines Freundes nach. Endlich fand Sangfugol, Strupp sei in der Gesellschaft der Qanuc gut aufgehoben – der alte Narr war gerade damit beschäftigt, ihnen ein paar äußerst zweifelhafte Balladen beizubringen –, und ging schlafen. Simon blieb noch eine Weile sitzen und hörte dem Konzert zu, bis ihm allmählich der Kopf wehtat.

Schließlich stand er auf, um noch ein paar Worte mit Binabik zu wechseln. Sein Trollfreund unterhielt sich immer noch mit Josua. Sisqi schlief schon fast, den Kopf an Binabiks Schulter gelehnt, die Augen mit den langen Wimpern halb geschlossen. Als Simon näher kam, lächelte sie ihn verträumt an, sagte jedoch nichts. Zu dem Liebespaar und Josua hatten sich der stämmige Hauptmann Freosel und ein dürrer alter Mann gesetzt, den Simon nicht kannte. Gleich darauf fiel ihm ein, dass das Helfgrim sein musste, der einstige Oberbürgermeister von Gadrinsett, der aus Fengbalds Lager zu ihnen geflohen war.

Während er Helfgrim beobachtete, musste Simon an Geloës Worte denken. Der Mann sah, als er so mit dem Prinzen sprach, sichtlich verängstigt und verstört aus, als könne er jeden Moment etwas Falsches sagen und dadurch eine schreckliche Strafe auf sich herabbeschwören. Simon konnte nicht umhin, sich zu fragen, ob sie diesem unsicher wirkenden alten Mann wirklich vertrauen sollten, schalt sich aber sofort wegen seiner Gefühllosigkeit. Wer wusste schon, welche Qualen der arme alte Helfgrim erduldet hatte? War nicht auch Simon nach seiner Flucht aus dem Hochhorst in den Wäldern herumgeirrt wie ein wildes Tier? Wer hätte ihn damals für vertrauenswürdig gehalten?

»Ah, Freund Simon.« Binabik schaute auf. »Ich bin froh, dich zu sehen. Ich will morgen etwas tun, zu dem deine Hilfe gebraucht wird.«

Simon nickte, um zu zeigen, dass er zur Verfügung stand.

»In Wahrheit«, erklärte Binabik, »sind es zwei Dinge. Eines ist, dass ich dich ein wenig Qanuc lehren muss, damit du im Kampf zu meinem Volk sprechen kannst.«

»Natürlich.« Simon freute sich, dass Binabik es nicht vergessen hatte. Dass er in Josuas ernsthafter Gegenwart davon sprach, machte die ganze Angelegenheit noch wirklicher. »Natürlich nur, wenn mir der Prinz die Erlaubnis gibt, mit den Qanuc zu kämpfen.« Er sah Josua an.

Der Prinz nickte. »Binabiks Leute können uns am besten helfen, wenn sie verstehen, was wir von ihnen möchten. Auch zu ihrer eigenen Sicherheit sollten wir es so halten. Ihr habt meine Erlaubnis, Simon.«

»Ich danke Euch, Hoheit. Und was noch, Binabik?«

»Wir müssen außerdem die Boote einsammeln, die den Menschen von Neu-Gadrinsett gehören.« Binabik grinste. »Es müssen alles in allem vierzig Stück sein.«

»Boote? Aber der See um den Sesuad’ra ist zugefroren. Was können sie uns nützen?«

»Nicht die Boote selbst werden nützlich sein«, versetzte der Troll, »aber Teile von ihnen.«

»Binabik hat einen Verteidigungsplan«, erklärte Josua, machte aber ein etwas nachdenkliches Gesicht.

»Es ist nicht einfach ein Plan«, lächelte Binabik. »Nicht nur eine Idee, die auf mir gelandet ist wie ein Stein. Es ist ein bestimmter Weg der Qanuc, den ich Euch Utku zeigen will – und das bedeutet großes Glück für Euch.« Er lachte befriedigt.

»Was ist es?«

»Ich werde es dir morgen mitteilen, wenn wir uns auf der Bootsjagd befinden.«

»Noch etwas, Simon«, sagte Josua. »Ich weiß, dass ich es schon früher erwähnt habe, aber ich finde, es lohnt sich, die Frage noch einmal zu stellen. Seht Ihr noch irgendeine Möglichkeit, dass Eure Freunde, die Sithi, zu uns stoßen? Dieser Ort ist ihnen heilig – werden sie ihn nicht verteidigen?«

»Ich weiß es nicht, Josua. Wie ich schon sagte – Jiriki schien zu glauben, dass er es sehr schwer haben würde, sein Volk zu überzeugen.«

»Sehr schade.« Josua fuhr sich mit den Fingern durch das kurzgeschorene Haar. »Offen gestanden fürchte ich, dass wir einfach zu wenige sind, selbst mit diesen wackeren Trollen. Die Hilfe des Schönen Volks wäre von unschätzbarem Wert. Ha! Ist das Leben nicht merkwürdig? Mein Vater war so stolz darauf, die letzten Sithi in ihre Verstecke gejagt zu haben, und jetzt betet sein Sohn, sie möchten kommen und ihm helfen, das zu verteidigen, was vom Reich seines Vaters noch übrig ist.«

Simon schüttelte traurig den Kopf. Er konnte nichts dazu sagen. Der alte Oberbürgermeister, der dem Gespräch schweigend gelauscht hatte, sah zu Simon auf und betrachtete ihn genau. Simon versuchte in den wässrigen Augen des Alten etwas über seine Gedanken zu lesen, fand jedoch nichts.

»Weck mich, wenn wir aufbrechen müssen, Binabik«, sagte er schließlich. »Gute Nacht, alle miteinander. Gute Nacht, Prinz Josua.« Er drehte sich um und ging zur Tür. Das Singen der Trolle und Tiefländer am Feuer war leiser geworden, die Lieder getragen und schwermütig. Das herabbrennende Feuer warf rotes Licht auf die schattendunklen Wände. Der Spätmorgenhimmel war fast wolkenlos, die Luft bitterkalt. Vor Simons Gesicht erstarrte der Atem zu einer Wolke. Seit Tagesanbruch hatte er mit Binabik die wichtigsten Worte der Qanucsprache geübt. Simon bewies größere Geduld als sonst und machte gute Fortschritte.

»Sag ›jetzt‹.« Binabik zog eine Braue hoch.

»Ummu.«

Qantaqa, die neben ihnen hertrottete, hob den Kopf und gab einen dumpfen Laut von sich, fand dann ihre Stimme und bellte kurz.

Binabik lachte. »Sie versteht nicht, warum du jetzt so mit ihr sprichst«, erklärte er. »Dies ist ein Wort, das sie sonst nur von mir hört.«

»Aber ich dachte, du hättest gesagt, dein Volk verfüge über eine besondere Sprache, in der ihr zu euren Tieren sprecht.« Simon schlug die Handschuhe aneinander, um seine Finger zu wärmen.

Binabik bedachte ihn mit einem vorwurfsvollen Blick. »Ich rede nicht mit Qantaqa wie mit unseren Widdern, Vögeln und Fischen. Sie ist meine Freundin. Ich spreche mit ihr wie mit jedem anderen Freund.«

»Oh.« Simon beäugte die Wölfin. »Was heißt ›tut mir leid‹, Binabik?«

»Chem ea dok.«

Simon klopfte der Wölfin den Rücken. »Chem ea dok, Qantaqa.« Sie grinste zu ihm auf und stieß ein paar Dampfwölkchen aus.

Ein Stück weiter fragte Simon: »Wohin gehen wir eigentlich?«

»Wie ich gestern Abend schon sagte: Wir sammeln die Boote ein. Oder vielmehr, wir lassen sie von ihren Eigentümern zur Schmiede bringen, wo Sludig und andere die Kähne zerbrechen werden. Aber wir geben jedem eins von diesen Dingen«, er zog einen Stoß Pergamentstreifen hervor, von denen jedes groß und deutlich den Abdruck von Josuas Rune trug, »damit sie wissen, dass sie vom König eine Entschädigung bekommen.«

Simon staunte. »Ich begreife immer noch nicht, was du vorhast. Diese Leute brauchen ihre Boote zum Fischfang, um sich und ihre Familien zu ernähren.«

Binabik schüttelte den Kopf. »Nicht, wenn selbst die Flüsse von so dickem Eis bedeckt sind wie jetzt. Und wenn wir nicht siegen, wird es von geringer Wichtigkeit sein, ob die Menschen von Neu-Gadrinsett noch Boote haben.«

»Willst du mir nicht endlich deinen Plan verraten?«

»Bald, Simon, bald. Wenn wir das Werk dieses Morgens beendet haben, führe ich dich zur Schmiede, und du wirst alles erblicken.«

Sie näherten sich der Siedlung.

»Wahrscheinlich wird Fengbald in Kürze angreifen.«

»Ich bin sicher«, antwortete Binabik. »Diese Kälte muss den Mut seiner Männer beeinträchtigen, selbst wenn sie mit dem Gold des Königs bezahlt werden.«

»Aber für eine Belagerung sind es eigentlich zu wenige, findest du nicht auch? Selbst für tausend Mann ist Sesuad’ra recht groß.«

»Ich stimme deinem Gedanken zu, Simon. Josua und Freosel und andere sprachen letzte Nacht darüber. Sie denken, dass Fengbald nicht versuchen wird, den Stein zu belagern. Auch bin ich gar nicht sicher, dass er weiß, wie traurig unsere Vorbereitungen und wie mager unsere Vorräte sind.«

»Aber was wird er dann tun?« Simon bemühte sich, so zu denken wie Fengbald. »Vermutlich wird er uns einfach zu überrennen versuchen. Nach dem, was ich über ihn gehört habe, ist er nicht besonders geduldig.«

Der Troll sah beifällig zu ihm auf, ein Zwinkern in den dunklen Augen. »Ich glaube, du hast wohl gedacht, Simon. So dünkt es auch mich am wahrscheinlichsten. Wenn du einen Trupp spähender Männer zu Fengbalds Lager führen konntest, so wird er das Gleiche getan haben. Sludig und Hotvig denken, sie haben Beweise dafür gefunden, Pferdespuren und anderes. Also wird er wissen, dass eine breite Straße auf den Berg hinaufführt, und wenn man etwas wie diese Straße auch verteidigen kann, so gleicht sie doch nicht einer Burg, von der man Steine hinunterwerfen kann. Ich habe in meinem Kopf, dass er versuchen wird, mit seinen stärkeren und Furcht einflößenden Männern unseren Widerstand zu überwältigen und nach oben zum Gipfel vorzudringen.«

Simon dachte nach. »Wir haben mehr Krieger, als er vielleicht weiß, jetzt, nachdem dein Volk gekommen ist. Vielleicht können wir ihn länger aufhalten, als er annimmt.«

»Ohne Zweifel«, entgegnete Binabik lebhaft. »Doch am Ende werden wir versagen. Sie werden andere Wege bergauf finden – auch anders als eine Burg kann ein Berg von Männern mit Entschlossenheit erstiegen werden, selbst in diesem kalten und glatten Wetter.«

»Das heißt, wir können – nichts tun?«

»Wir können unser Hirn und nicht nur unser Herz gebrauchen, Freund Simon.« Binabik lächelte ein mildes gelbes Lächeln. »Und darum jagen wir jetzt nach Booten, oder vielmehr nach den Nägeln, die Boote zusammenhalten.«

»Nägel?« Simon verstand überhaupt nichts mehr.

»Du wirst sehen. Jetzt schnell, gib mir das Wort für ›Angriff‹!«

Simon grub in seinem Gedächtnis. »Nihuk.«

Binabik streckte den Arm aus und versetzte ihm einen leichten Stoß gegen die Hüfte. »Nihut. Mit dem Laut ›t‹, nicht ›k‹.«

»Nihut!«, sagte Simon laut.

Grollend sah Qantaqa sich um und suchte nach Feinden.

Simon hatte einen Traum. Er stand im großen Thronsaal des Hochhorstes und sah zu, wie Josua und Binabik und viele, viele andere nach den drei Schwertern suchten. Obwohl sie in allen Ecken und Winkeln stöberten, jeden einzelnen Wandteppich anhoben und sogar den Standbildern der früheren Könige des Hochhorsts unter die Malachitröcke schauten, schien nur Simon sehen zu können, dass das schwarze Dorn, das graue Leid und eine dritte, silberglänzende Klinge, die nur König Johans Hellnagel sein konnte, vor aller Augen auf dem großen Thron aus vergilbtem Elfenbein, dem Drachenbeinthron, standen.

Simon hatte dieses dritte Schwert in seiner Zeit auf dem Hochhorst nie näher als aus hundert Fuß Entfernung gesehen, erkannte es aber in seinem Traum trotzdem ganz deutlich, den in Gestalt eines heiligen Baumes gearbeiteten, goldenen Griff, die Schneide, die so blankpoliert war, dass sie selbst in diesem düsteren Saal funkelte. Die Klingen waren mit den Griffen nach oben aneinandergelehnt, es sah aus wie ein ungewöhnlicher Hocker mit drei Beinen. Über ihnen gähnte der große, grinsende Schädel des Drachen Shurakai, als wollte er jeden Augenblick nach ihnen schnappen und sie für immer verschlingen. Wie war es möglich, dass Josua und die anderen sie nicht sahen? Sie standen doch vor aller Augen da! Simon wollte seine Freunde darauf hinweisen, aber er fand seine Stimme nicht. Er versuchte mit dem Finger zu zeigen, sie durch ein Geräusch aufmerksam zu machen, aber anscheinend hatte er die Kontrolle über seinen Körper verloren. Er war ein Geist, und seine geliebten Freunde und Verbündeten begingen einen schrecklichen, schrecklichen Fehler…

»Verdammt noch mal, Simon, steh auf!« Sludig schüttelte ihn grob. »Hotvig und seine Männer melden, dass Fengbald im Anmarsch ist. Er wird hier sein, ehe die Sonne über der Baumgrenze steht.«

Simon richtete sich mühsam halb auf. »Was ist los?«, gurgelte er. »Was?«

»Fengbald kommt.« Der Rimmersmann stand schon am Eingang. »Du musst aufstehen.«

»Wo ist Binabik?« Simon gab sich die größte Mühe, richtig wach zu werden. Sein Herz klopfte wild. Was sollte er tun?

»Schon bei Prinz Josua und den andern. Beeil dich.« Sludig schüttelte den Kopf und grinste mit grimmiger Fröhlichkeit. »Endlich ein Gegner!« Er duckte sich und verschwand unter der Zeltklappe.

Simon kroch aus seinem Mantel und fuhr ungeschickt in die Stiefel. Als er sie hastig und mit kalten Fingern zuschnüren wollte, riss er sich den Daumennagel ein. Leise fluchend zog er sich das Oberhemd an, fand sein Qanucmesser und band sich die Scheide um. Das Schwert, das Josua ihm verliehen hatte, lag in sein Poliertuch gewickelt unter dem Strohsack. Als er es auspackte, fühlte der Stahl sich an wie Eis. Simon lief es kalt über den Rücken. Fengbald kam. Der Tag, über den sie so viele Wochen geredet hatten, war da. Menschen und Trolle würden sterben, manche vielleicht, noch ehe die graue Sonne im Mittag stand. Vielleicht würde er dazugehören.

»Unglücksgedanken«, murmelte er und schnallte den Schwertgurt um, »bringen Unglück.« Zum Schutz gegen seine eigenen unheilverkündenden Worte schlug er das Zeichen des Baumes. Er musste sich beeilen. Man brauchte ihn.

Als er in der Ecke des Zelts nach seinen Handschuhen wühlte, stieß er auf das seltsam geformte Bündel, das ihm Aditu damals gegeben hatte. Nach der Nacht, in der er heimlich zur Sternwarte geschlichen war, hatte er es völlig vergessen. Was war darin? Plötzlich fiel ihm jäh und erschreckend ein, dass Amerasu es für Josua bestimmt hatte.

Barmherziger Ädon, was habe ich getan?

Enthielt das Bündel ein Mittel zu ihrer Rettung? Hatte er in seiner Torheit, seiner Mondkalb-Vergesslichkeit, eine Waffe vernachlässigt, die seinen Freunden das Leben retten konnte? Oder war es vielleicht etwas, mit dem sich die Hilfe der Sithi herbeirufen ließ? War es jetzt zu spät?

Die Ungeheuerlichkeit seiner Verfehlung ließ sein Herz rasen. Er riss das Bündel an sich – selbst in seiner atemlosen Hast fiel ihm die seltsam schlangenhafte Glätte des Gewebes auf – und rannte in die eisige Morgendämmerung hinaus.

Im Haus des Abschieds hatte sich bereits eine große Menschenund Trollmenge versammelt, die sich mit ungeheurem Eifer, der jeden Moment in wilde Panik umzuschlagen drohte, mit einer Vielzahl von Dingen beschäftigte. Mittendrin fand Simon Josua mit einer kleinen Gruppe, zu der Deornoth, Geloë, Binabik und Freosel gehörten. Der Prinz, von dem jede Spur von Unentschlossenheit gewichen war, rief Befehle, prüfte Pläne und Vorkehrungen und feuerte die ängstlicheren unter den Verteidigern von Neu-Gadrinsett an. Seine Augen glänzten. Simon kam sich vor wie ein Verräter.

»Hoheit.« Er trat einen Schritt vor und sank vor dem Prinzen auf ein Knie. Josua betrachtete ihn überrascht.

»Steht auf, Simon«, sagte Deornoth ungeduldig. »Wir haben zu tun.«

»Ich fürchte, ich habe einen großen Fehler begangen, Prinz Josua.«

Der Prinz hielt inne und zwang sich sichtlich zum ruhigen Zuhören. »Was meint Ihr damit, mein Sohn?«

Sohn. Das Wort traf Simon zutiefst. Er wünschte sich, Josua wäre wirklich sein Vater, denn irgendetwas war an diesem Mann, das Simon liebte. »Ich habe eine riesige Dummheit gemacht«, gestand er. »Eine ganz große Dummheit.«

»Sprich mit Sorgfalt«, ermahnte ihn Binabik. »Berichte nur die Tatsachen von Bedeutung.«

Josuas erschrockene Miene hellte sich auf, als er Simons bestürzte Erklärung hörte. »Dann gebt es mir jetzt«, forderte er ihn auf. »Es hat keinen Sinn, Euch selbst zu quälen, bevor wir überhaupt wissen, um was es sich handelt. Nach Eurem Gesichtsausdruck fürchtete ich schon, Ihr hättet Fengbald den Angriff auf uns erleichtert. In Eurem Bündel ist höchstwahrscheinlich nur ein Zeichen der Freundschaft.«

»Ein Feengeschenk?«, erkundigte sich Freosel besorgt. »Sind solche Dinge nicht gefährlich?«

Josua hockte sich nieder und nahm Simon den verschnürten Beutel ab. Für Josua war es schwierig, mit nur einer Hand die Zugschnur aufzuknoten, aber niemand wagte, ihm Hilfe anzubieten. Als er den Beutel endlich geöffnet hatte, drehte er ihn um. Etwas rollte in seinen Schoß, das in ein besticktes schwarzes Tuch gewickelt war.

»Es ist ein Horn«, sagte er, schlug die Umhüllung zur Seite und hielt es hoch. Das Horn bestand aus einem einzigen Stück Elfenbein oder unvergilbtem Knochen und war über und über mit feinster Schnitzerei bedeckt. Lippe und Mundstück waren aus silbrig glänzendem Metall geschmiedet, und das Horn selbst hing an einem Band, das ebenso kostbar bestickt war wie die Umhüllung. Seine Gestalt hatte etwas Ungewöhnliches, faszinierend und undefinierbar zugleich. Obwohl jede Linie von Alter und häufigem Gebrauch sprach, glänzte es gleichzeitig, als sei es brandneu. Simon sah, dass es ein Ding der Macht war. Anders als Dorn, das manchmal fast zu atmen schien, besaß das Horn jedoch etwas, das alle Blicke anzog.

»Es ist wunderschön«, murmelte Josua. Er musterte es von allen Seiten und betrachtete die Schnitzerei. »Ich kann nichts davon lesen, obwohl manche Zeichen wie Runenschrift aussehen.«

»Prinz Josua?« Binabik streckte die Hände aus, und Josua reichte ihm das Horn. »Es sind Sithirunen – nicht verwunderlich auf einem Geschenk von Amerasu.«

»Aber das Einwickeltuch und das Band sind von Menschenhand gewebt«, warf Geloë unvermittelt ein. »Das ist sehr seltsam.«

»Könnt Ihr etwas von der Schrift lesen?«, fragte Josua.

Binabik schüttelte den Kopf. »Jetzt nicht. Vielleicht später, in Ruhe.«

»Aber vielleicht das?« Deornoth beugte sich vor und zog aus der Schallöffnung des Horns einen schimmernden Pergamentstreifen. Er rollte ihn auf, stieß einen erstaunten Pfiff aus und gab ihn Josua.

»Es ist in Westerling geschrieben«, erklärte der Prinz überrascht. »›Möge dies in die Hände des rechtmäßigen Eigentümers gelangen, wenn alles verloren scheint.‹ Dahinter steht ein merkwürdiges Zeichen, wie ein ›A‹.«

»Amerasus Zeichen.« Geloës tiefe Stimme klang traurig. »Es ist ihr Zeichen.«

»Aber was kann es bedeuten?«, fragte Josua. »Was ist es, und wer könnte sein rechtmäßiger Eigentümer sein? Unzweifelhaft ist es von großem Wert.«

»Um Vergebung, Prinz Josua«, mischte sich Freosel aufgeregt ein, »aber vielleicht wär’s am besten, sich nicht mit solchen Dingen abzugeben … vielleicht liegt ein Fluch drauf oder solche Dinge. Es heißt, die Geschenke der Friedlichen sind zweischneidig.«

»Aber wenn es dazu da ist, Hilfe herbeizurufen«, widersprach Josua, »wäre es schade, wenn wir es nicht versuchen. Wenn wir heute besiegt werden, scheint nicht alles verloren – es ist verloren.«

Er zögerte einen Augenblick, setzte dann das Horn an die Lippen und blies. Zu aller Staunen ertönte nicht der geringste Laut. Josua schaute in die Öffnung, um zu sehen, ob sie verstopft war, und blies dann nochmals die Backen auf. Aber obwohl er dabei fast in die Knie ging, blieb das Horn stumm. Mit unsicherem Lachen richtete der Prinz sich auf.

»Nun, ich scheine jedenfalls nicht der rechtmäßige Eigentümer zu sein. Versucht Ihr es, am besten jeder von Euch.«

Deornoth war der Erste, der sich daran wagte, aber er hatte nicht mehr Erfolg als Josua. Freosel winkte ab. Simon versuchte es, aber obwohl er pustete, bis ihm schwarze Flecken vor den Augen tanzten, gab das Horn keinen Ton von sich.

»Aber wozu ist es dann gut?«, keuchte er.

Josua zuckte die Achseln. »Wer weiß? Ich glaube jedenfalls nicht, dass Eure Vergesslichkeit Schaden angerichtet hat, Simon. Wenn dieses Horn einen Zweck hat, dann hat man ihn uns noch nicht offenbart.« Er wickelte das Horn wieder ein, steckte es in den Beutel und legte ihn neben sich. »Für den Moment gibt es Wichtigeres, um das wir uns kümmern müssen. Wenn wir diesen Tag überleben, werden wir uns nochmals damit beschäftigen. Vielleicht gelingt es Binabik oder Geloë, die Schnitzerei zu enträtseln. Jetzt bring mir die Liste der Männer, Deornoth, damit wir unsere abschließenden Maßnahmen treffen können.«

Binabik löste sich aus der Gruppe und nahm Simon beim Arm. »Da sind noch Dinge, die du haben solltest«, erklärte er, »und dann solltest du zu deinen Qanuckriegern gehen.«

Simon folgte seinem Freund durch das wirre Getümmel des Abschiedshauses nach draußen. »Hoffentlich gelingen deine Pläne, Binabik.«

Der Troll machte ein Handzeichen. »Wie auch ich hoffe. Aber wir werden tun, was unser Bestes ist. Mehr können die Götter oder dein Gott oder unsere Ahnen nicht von uns erwarten.«

An der anderen Ecke der Westmauer wartete eine Reihe von Männern vor einem rasch abnehmenden Haufen Holzschilde, von denen einige noch Flussmoosflecken aus ihrem früheren Dasein als Bootsplanken trugen. Sangfugol, in einer Art Kampfanzug aus grauen Lumpen, beaufsichtigte die Verteilung.

Als der Harfner sie sah, rief er ihnen zu: »Da seid ihr ja! Er liegt da drüben in der Ecke. He! Schluss damit, Mann!«, fauchte er einen bärtigen älteren Kämpfer an, der den Stoß durchwühlen wollte. »Nimm den obersten!«

Binabik ging zu der Stelle, die Sangfugol ihm gezeigt hatte, und zog etwas unter einem Haufen Säcke hervor. Es war ebenfalls ein hölzerner Schild, aber jemand hatte ihn mit dem Wappen bemalt, das Vara und Gutrun für Simons Banner entworfen hatten, dem weißen Drachen, der sich um das schwarze Schwert schlang, darunter ein Untergrund aus Josuas Grau und Rot.

»Er ist nicht mit der Hand der Kunst gefertigt«, erklärte der Troll, »jedoch mit der Hand der Freundschaft.«

Simon bückte sich und umarmte ihn, nahm dann den Schild auf und schlug mit dem Handballen dagegen. »Ich finde ihn großartig.«

Binabik machte ein besorgtes Gesicht. »Gewünscht hätte ich mir nur, dir wäre mehr Zeit geblieben, damit zu üben, Simon. Es ist nicht leicht, zu reiten, einen Schild zu gebrauchen und auch noch zu fechten.«

Sein Blick wurde ernst, und er hielt Simons Finger fest in der kleinen Faust. »Sei nicht unklug, Simon. Du selbst bist von großer Bedeutung, und ebenso ist es mein Volk … aber an deiner Seite wird auch das Glück meines Lebens sein.«

Er wandte das runde Gesicht ab. »Sie ist eine Jägerin unseres Volks und tapfer wie ein Gewittersturm, aber – Qinkipa! – wie sehr ich doch wünschte, Sisqi kämpfte heute nicht in dieser Schlacht.«

»Wirst du denn nicht mit uns kämpfen?«, erkundigte sich Simon.

»Nein. Ich werde bei dem Prinzen weilen und sein Bote sein. Qantaqa und ich können uns mit Schnelligkeit und Stille bewegen, wo ein größerer Mann und ein Pferd auffallen würden.« Der Troll lachte leise. »Dennoch werde ich zum ersten Mal, seit ich den Weg des Mannes ging, einen Speer tragen, und seltsam wird er sich anfühlen in meiner Hand.« Sein Lächeln verschwand. »Die Antwort auf deine Frage ist ›nein‹, Simon – ich werde nicht bei euch sein. Darum bitte, mein guter Freund, hab ein Auge auf Sisqinanamook. Wenn du sie vor Schaden behütest, schirmst du mein Herz vor einem Schlag, der mein Sterben bedeuten könnte.« Noch einmal drückte er Simon die Hand. »Komm. Es gibt noch einiges zu tun. Nicht genug ist es, kluge Pläne zu haben«, er tippte sich an die Stirn und lächelte spöttisch, »wenn sie nicht ordentlich ausgeführt werden.«

Zuletzt kamen alle Verteidiger des Sesuad’ra noch einmal im Feuergarten zusammen, sowohl die, die kämpfen, als auch die, die zurückbleiben sollten. Sie versammelten sich auf dem großen steinernen Anger. Obwohl die Sonne schon hoch am Himmel stand, war der Tag dunkel und sehr kalt. Viele hatten Fackeln mitgebracht. Simon gab es einen Stich, als er die Fackeln auf der freien Fläche flackern sah wie in seiner Vision der Vergangenheit. Einst hatten tausend Sithi hier gewartet, auf etwas, das ihr Leben für immer verändern würde.

Josua hatte sich auf ein umgestürztes Mauerstück gestellt, von dem aus er die verstummte Menge überblicken konnte. Simon, der dicht neben ihm stand, sah sein enttäuschtes Gesicht, das deutlich verriet, wie gering ihm die Zahl der Verteidiger und wie armselig ihre Ausrüstung schien.

»Männer und Frauen von Neu-Gadrinsett, Freunde aus Yiqanuc«, begann Josua. »Über das, was uns jetzt bevorsteht, brauche ich nicht viel zu sagen, Herzog Fengbald, der in seinem eigenen Lehen Falshire Frauen und Kinder abgeschlachtet hat, ist auf dem Weg zu uns. Wir müssen uns gegen ihn wehren. Das ist schon fast alles. Er ist das Werkzeug einer bösen Macht, der wir hier und heute Widerstand leisten müssen, weil sonst niemand übrig sein wird, der ihr noch Einhalt gebieten kann. Ein Sieg wird zwar gewiss nicht bedeuten, dass unsere Feinde niedergeworfen sind, aber wenn wir verlieren, so haben diese Feinde einen großen und vollständigen Erfolg errungen. Darum geht nun und tut euer Bestes, die Krieger und auch die, die zurückbleiben und andere Aufgaben erfüllen. Ich weiß, dass Gott auf euch niederblickt und eure Tapferkeit sieht.«

Das Gemurmel, das sich erhoben hatte, als Josua von einer bösen Macht sprach, verwandelte sich in Hochrufe. Der Prinz gab Vater Strangyeard die Hand und half ihm beim Hinaufklettern, damit er von oben den Segen sprechen sollte.

Der Archivar strich sich aufgeregt die wenigen Haarsträhnen glatt. »Ich werde mich bestimmt verhaspeln«, flüsterte er.

»Ihr kennt den Segen doch ganz genau«, zischte Deornoth. Simon nahm an, dass er es beruhigend meinte, aber die Worte klangen scharf.

»Ich fürchte, ich bin nicht zum Kriegspriester geschaffen.«

»Das solltet Ihr auch nicht sein«, versetzte Josua rauh. »Kein Priester sollte es sein, wenn Gott seine Pflicht täte.«

»Prinz Josua!« Vater Strangyeard zog erschrocken die Luft ein. »Hütet Euch vor Lästerung!«

Der Prinz betrachtete ihn grimmig. »Nach diesen beiden letzten Jahren wird Gott wohl gelernt haben, etwas … nachsichtiger mit uns zu sein. Ich bin überzeugt, dass er versteht, was ich meine.«

Strangyeard konnte nur den Kopf schütteln.

Sobald der Priester den Segen, dessen größter Teil für die große Masse ohnehin unverständlich blieb, beendet hatte, erklomm Freosel die Mauer, mühelos wie ein erfahrener Kletterer. Der vierschrötige Mann hatte einen immer größeren Teil der Verteidigung auf seine breiten Schultern genommen und schien unter der Verantwortung aufzublühen.

»Also los dann!«, rief er, und seine harte Stimme erreichte jeden Einzelnen der an diesem kalten, windigen Ort Versammelten. »Ihr habt Prinz Josuas Worte gehört. Was brauchen wir mehr zu wissen? Wir verteidigen unsere Heimat, nicht mehr und nicht weniger. Das tut jeder Dachs ganz selbstverständlich. Wollt ihr dulden, dass Fengbald und die andern euch eure Heimat wegnehmen und eure Familie umbringen? Wollt ihr das?«

Die Menge antwortete mit einem undeutlichen, aber von Herzen kommenden Nein.

»Richtig. Nun, dann kommt.«

Freosels Worte blieben Simon noch einen Augenblick im Kopf. Der Sesuad’ra war auch seine Heimat, wenigstens für den Moment. Wenn er überhaupt noch hoffen durfte, ein wirkliches Zuhause zu finden, musste er diesen Tag überleben, musste Fengbalds Heer zurückgeschlagen werden.

Er trat zu Snenneq und den anderen Trollen, die in einiger Entfernung ruhig gewartet hatten.

»Nenit, henimaatuya«, sagte Simon und winkte ihnen, zu den Ställen zu gehen, in denen Widder und Pferde geduldig ausharrten. »Kommt, Freunde.«

Trotz des kalten Tages war Simon unter seinem Helm und dem Kettenpanzer mächtig ins Schwitzen geraten. Als er mit seinen Trollen von der Hauptstraße abschwenkte und den Abstieg im dichten Unterholz fortsetzte, begriff er, dass er in gewisser Weise völlig auf sich gestellt war – es war niemand bei ihm, der ihn wirklich verstehen konnte. Was war, wenn er sich vor den Trollen als Feigling zeigte oder Sisqi etwas zustieß? Wenn er Binabik im Stich ließ? Er drängte die Gedanken beiseite. Es gab Dinge zu tun, die seine ganze Aufmerksamkeit erforderten. Mondkalb-Dummheiten wie bei dem vergessenen Geschenk Amerasus durfte er sich nicht mehr leisten.

Als sie sich dem Fuß des Steins und den Verstecken am unteren Ende der Straße näherten, stieg Simons Truppe ab und führte die Tiere zu ihren Stellungen. Der Hang war mit eisverkrustetem Farnkraut bewachsen, das nach ihren Füßen griff und die Mäntel zerriss. Sie brauchten fast eine Stunde, bis sie endlich einen passenden Platz gefunden hatten und das Prasseln und Knistern sich legte. Als sich alle eingerichtet hatten, kletterte Simon aus der kleinen Schlucht, um die Barrikade im Blick zu behalten, die Sludig und andere am unteren Rand des Berges gebaut hatten. Sie versperrte den Zugang zu der breiten, gepflasterten Straße. Simons Aufgabe war es, die Befehle des Prinzen weiterzuleiten.

Jenseits der Eisfläche, die noch vor kurzem den aus Überschwemmungswasser entstandenen Burggraben des Sesuad’ra gebildet hatte, bedeckte eine dunkle, wimmelnde Masse das Ufer. Simon brauchte ein paar Schrecksekunden, bevor er begriff, dass es sich um Fengbalds Heer handelte, das am Rand des zugefrorenen Sees Aufstellung genommen hatte. Es war aber nicht das Heer allein, denn der Herzog schien zusätzlich halb Gadrinsett mitgebracht zu haben. Ein ungeordneter Haufen von Zelten, Kochfeuern und improvisierten Schmieden breitete sich bis weit in die Ferne aus und erfüllte das kleine Tal mit Rauch und Dampf. Simon wusste, dass die Streitmacht des Herzogs nur rund tausend Krieger umfasste, aber für jemanden, der das zehnmal größere Heer nicht gesehen hatte, das Naglimund belagerte, schien sie so unermesslich groß wie die legendäre Heerschar des Anitulles, die die Hügel von Nabban mit einem einzigen Wald aus Speeren bedeckt hatte. Von neuem begann ihm kalter Schweiß auf der Stirn zu perlen. Sie waren so nah! Zwar lagen zwischen Simons verstecktem Beobachterposten und Fengbalds Männern noch über zweihundert Ellen, aber er konnte einzelne Gesichter unter den Bewaffneten deutlich erkennen. Es waren Menschen, lebendige Menschen, und sie wollten ihn töten. Im Gegenzug würden Simons Freunde sich Mühe geben, so viele von diesen Soldaten wie möglich umzubringen. Am Ende dieses Tages würde es viele neue Witwen und Waisen geben.

Das unerwartete Trillern einer Melodie hinter seinem Rücken ließ ihn zusammenfahren. Er wirbelte herum und sah einen der Trolle, der sich langsam hin- und herwiegte und mit erhobenem Kopf leise vor sich hin sang. Von Simons plötzlicher Bewegung erschreckt, blickte er ihn fragend an. Simon versuchte zu lächeln und gab dem kleinen Mann ein Zeichen weiterzusingen. Gleich darauf stieg das klagende Lied des Trolls von neuem in die eisige Luft, einsam wie die Stimme eines Vogels in einem kahlen Baum.

Ich will nicht sterben, dachte Simon. Und, Gott, bitte, ich möchte Miriamel wiedersehen – das wünsche ich mir von ganzem Herzen.

Ganz plötzlich stieg ihr Bild vor ihm auf, die Erinnerung an die letzten, verzweifelten Sekunden an der Steige, als er es gerade geschafft hatte, die Fackel anzuzünden, und der Riese krachend auf sie zustampfte. Ihre Augen, Miriamels Augen … Furcht war in ihnen gewesen, aber auch Entschlossenheit. Sie war tapfer, erinnerte er sich, tapfer und schön. Warum hatte er ihr nie gesagt, wie sehr er sie bewunderte – und wenn sie hundertmal eine Prinzessin war?

Unten am Hang an der Barrikade aus umgestürzten Stämmen entstand eine Bewegung. Josua, auch aus der Entfernung an seinem verstümmelten rechten Arm zu erkennen, kletterte auf den Behelfswall. Drei weitere Gestalten in Mantel und Kapuze folgten ihm.

Der Prinz legte die Hand an den Mund und rief mit lauter Stimme: »Wo ist Fengbald?« Sein Ruf hallte über den gefrorenen See und brach sich in den Schluchten der nahen Berge. »Fengbald!«

Nach kurzer Zeit löste sich aus der Horde am Ufer eine kleine Gruppe und ritt ein Stück auf das Eis hinaus. In ihrer Mitte auf hohem Schlachtross saß ein Mann in silberner Rüstung und leuchtend scharlachrotem Mantel. Auf seinem Helm, den er jetzt abnahm und unter den Arm steckte, spreizte ein silberner Vogel die Schwingen. Das lange Haar war schwarz und flatterte im frischen Wind.

»Da seid Ihr ja endlich, Josua«, schrie der Reiter. »Ich hatte mir schon Gedanken gemacht.«

»Ihr dringt widerrechtlich in freies Land ein, Fengbald. Wir erkennen meinen Bruder Elias hier nicht an, denn seine Verbrechen haben ihm das Recht entzogen, über das Reich meines Vaters zu herrschen. Wenn Ihr jetzt umkehrt, habt Ihr freien Abzug und könnt ihm diese Worte wiederholen.«

Es sah nach ehrlicher Erheiterung aus, als Fengbald den Kopf zurückwarf und lachte. »Sehr gut, Josua, sehr gut!«, brüllte er. »Aber Ihr seid es, der sich mein Angebot überlegen sollte. Wenn Ihr Euch der Gerechtigkeit des Königs unterwerft, verspreche ich, dass mit Ausnahme der wenigen Hauptschuldigen das ganze verräterische Pack, mit dem Ihr Euch umgebt, heimkehren kann und alle ihren Platz als ehrenwerte Untertanen wieder einnehmen dürfen. Ergebt Euch, Josua, und sie sollen verschont werden.«

Simon fragte sich, welche Auswirkungen dieses Versprechen auf die eingeschüchterten und hoffnungsarmen Streiter von Neu-Gadrinsett wohl haben würde. Sicher ging es Fengbald genauso.

»Ihr lügt, Mörder!«, schrie jemand hinter Josua. Der Prinz hob die Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen, und rief dann laut: »Habt Ihr den Wollhändlern von Falshire nicht das Gleiche versprochen, bevor Ihr ihre Frauen und Kinder in ihren Betten verbranntet?«

Fengbald war zu weit weg, als dass man seinen Gesichtsausdruck hätte erkennen können, aber die Art, wie er sich im Sattel aufrichtete und gegen die Steigbügel stemmte, bis er fast stand, ließ vermuten, dass er vor Wut kochte.

»In Eurer Lage solltet Ihr auf solche Beleidigungen verzichten, Josua!«, schrie der Herzog. »Ihr seid ein Prinz von nichts als ein paar Bäumen und zerlumpten, hungrigen Schafhirten. Wollt Ihr Euch ergeben und damit großes Blutvergießen verhindern?«

Jetzt trat eine der Gestalten vor, die neben Josua gestanden hatten. »Hört mich!« Es war Geloë, die beim Sprechen die Kapuze abstreifte. »Wisst, dass ich Valada Geloë bin, die Hüterin des Waldes.« Sie wies mit dem Arm auf das dunkle Antlitz des Aldheorte, das sie über den Bergkamm hinweg beobachtete wie ein riesenhafter, stummer Zuschauer. »Ihr mögt mich nicht kennen, Herzog aus den Städten, aber Eure Thrithingverbündeten haben von mir gehört. Fragt Euren Söldnerfreund Lesdraka, ob ihm mein Name etwas sagt.«

Fengbald gab keine Antwort. Er schien mit jemandem in seiner Nähe zu sprechen.

»Wenn Ihr uns angreifen wollt, dürft Ihr eins nicht vergessen«, fuhr Geloë fort. »Der Ort, vor dem Ihr steht, ist der Sesuad’ra, eine der heiligsten Stätten der Sithi. Ich glaube nicht, dass sie es gern sehen, wenn Ihr ihn entweiht. Falls Ihr versucht, Euch den Zugang zu erzwingen, werdet Ihr feststellen, dass sie furchtbarere Feinde sind, als Ihr ahnt.«

Simon war sicher, oder doch ziemlich sicher, dass die Worte der Zauberfrau nur eine leere Drohung darstellten, aber wieder sehnte er sich nach Jirikis Nähe. Empfand so ein Verurteilter, der durch den Fensterschlitz zusah, wie man seinen Galgen errichtete? Simon hatte das dunkle, aber deutliche Gefühl, dass er und Josua und die Übrigen gar nicht gewinnen konnten. Fengbalds Heer kam ihm wie ein Ausschlag auf der verschneiten Ebene hinter dem See vor, wie eine Pest, die sie alle vernichten würde.

»Ich sehe«, schrie Fengbald plötzlich, »dass nicht nur Ihr allein verrückt seid, Josua, sondern dass Ihr Euch auch mit Verrückten umgebt. Sagt der alten Frau, sie soll sich beeilen und ihre Waldgeister rufen. Vielleicht kommen die Bäume Euch ja zu Hilfe. Meine Geduld ist jedenfalls erschöpft!« Er gab ein Handzeichen, und von den Männern am Ufer stieg ein Pfeilschwarm auf. Keiner erreichte die Barrikade. Sie rutschen über das Eis und blieben liegen. Josua und die anderen sprangen in das Unterholz, das um den Holzstapel wuchs, und verschwanden aus Simons Sicht.

Auf einen Zuruf Fengbalds schob sich langsam etwas auf das Eis, das einem großen Schleppkahn ähnelte. Die Kriegsmaschine wurde von kräftigen Karrengäulen gezogen, die gepolsterte Schutzpanzer trugen. Ihre Hufe gaben beim Scharren über das Eis einen unaufhörlichen, kreischenden Ton von sich. Es klang so schaurig wie ein Marktwagen voll verdammter Seelen. Auf der Ladefläche waren dicke Säcke hoch aufgestapelt.

Simon musste trotz der Furcht beeindruckt den Kopf schütteln. Jemand in Fengbalds Lager hatte gut geplant.

Während sich der breite Schlitten über das Eis bewegte, prallten die mageren Pfeilsalven der Verteidiger, die nur über wenig Munition verfügten und von Josua ermahnt worden waren, sie nicht zu vergeuden, wirkungslos von seinen stahlbewehrten Seitenwänden ab oder blieben, ohne Schaden zu verursachen, in den Panzern der Pferde stecken, bis die Tiere aussahen wie eine sagenhafte Rasse hochbeiniger Stachelschweine. Wo der Schlitten vorüberzog, ritzten seine Kufen das Eis auf. Aus Löchern in den Säcken rieselte ein breiter Strom Sand über die schräge Fläche des Schlittens und verteilte sich auf der gefrorenen Seedecke. Fengbalds Soldaten, die in breiter Front dem Schlitten folgten, fanden weit besseren Halt, als Josua und die Verteidiger hätten vermuten können.

»Ädons Fluch über sie!« Simon merkte, wie ihm das Herz in der Brust schwer wurde. Fengbalds Heer, eine wimmelnde, einem Ameisenzug gleichende Kolonne, begann den Graben zu überqueren.

Einer der Trolle sagte mit großen Augen etwas, das Simon nur halb verstand.

»Shummuk.« Zum ersten Mal spürte Simon wirkliche Angst, die sich um sein Inneres legte wie eine Schlange. Auch wenn es anders lief, als sie es sich vorgestellt hatten, musste er sich an den Plan halten. »Wartet. Wir warten.«

Weit entfernt vom Berg Sesuad’ra und doch zugleich seltsam nahe regte sich etwas im Herzen des uralten Waldes. In einem dichten Hain, den der Schnee, der seit vielen Monaten den Wald bedeckte, kaum berührt hatte, wurde zwischen zwei steinernen Säulen ein Reiter sichtbar. Inmitten der Lichtung ließ er sein Ross im Kreis traben, wieder und immer wieder.

»Kommt hervor!«, rief er. Die Sprache, in der er sprach, war die älteste in Osten Ard. Seine Rüstung war blau und gelb und silbergrau und so glänzend poliert, dass sie funkelte.

»Kommt durch das Tor der Winde!«

Weitere Reiter begannen zwischen den Steinsäulen hervorzuströmen, bis ihr Atem die Senke in eine blasse Dunstwolke hüllte.

Der erste Reiter zügelte sein Pferd vor der versammelten Menge. Vor sich reckte er ein Schwert, so hoch, als wolle er die Wolken damit durchbohren. Sein Haar, nur von einem Band aus blauem Stoff gehalten, war einmal lavendelfarben gewesen. Jetzt leuchtete es weiß wie der Schnee in den Zweigen.

»Folgt mir und folgt Indreju, dem Schwert meines Großvaters!«, rief Jiriki. »Wir eilen Freunden zu Hilfe. Zum ersten Mal seit fünf Jahrhunderten reiten die Zida’ya.«

Die anderen hoben ihre Waffen und schüttelten sie zum Himmel. Ein fremdartiges Lied stieg auf, dumpf wie das Dröhnen der Marschrohrdommel, wild wie Wolfsgeheul, bis alle sangen, so machtvoll, dass die Lichtung bebte.

»Auf, Häuser der Morgendämmerung!«, rief Jiriki kämpferisch. Seine Augen glühten und brannten wie Kohlen. »Auf nun und kommt! Mögen unsere Feinde zittern! Die Zida’ya reiten wieder!«

Und mit einem gewaltigen Aufschrei und wildem Gesang spornten Jiriki und die Übrigen – darunter seine Mutter Likimeya auf ihrem großen schwarzen Ross, Yizashi vom grauen Speer, der kühne Cheka’iso Bernsteinlocke und sogar Jirikis grüngekleideter Onkel Khendraja’aro mit seinem Langbogen – ihre Pferde an. So tosend war ihr Aufbruch, dass die Bäume sich vor ihnen beugten und hinter ihnen der Wind schwieg wie beschämt.