22
Flüstern im Stein
as Wasser sprang aus der großen Spalte und plätscherte über eine schwarze Basaltfläche, bevor es über den Rand und in den Abgrund floss. Obwohl es heftig sprudelte, war der Wasserfall in der dunklen, nur von ein paar kleinen, glühenden, in die Wände eingelassenen Steinen erhellten Höhle fast unsichtbar. Die unfasslich hohe Kammer wurde Yakh Huyeru genannt, Halle des Zitterns. Und obwohl die Höhle den Namen aus einem ganz anderen Grund trug, bebten ihre Wände in der Tat ganz leicht unter Kiga’rasku, dem Tränenfall, der unaufhörlich hinab in die Tiefe rauschte. Ob es an einer Besonderheit des Echos in der ungeheuren Höhle oder an der Leere lag, in die das Wasser stürzte – der Wasserfall verursachte kaum ein Geräusch. Manche Bewohner des Berges wisperten, der Kiga’rasku sei bodenlos, und das Wasser falle durch die Erde hindurch und ergieße sich endlos ins schwarze Dazwischen.
Utuk’ku stand am Rand des Abgrunds, ein winziger, silberweißer Strich vor dem Gewebe des dunklen Wassers. Ihre fahlen Gewänder flatterten träge im Aufwind des Hangs. Das maskierte Gesicht blickte nach unten, als wollte sie Kiga’raskus Tiefe ergründen. Aber sie achtete weder auf den gewaltigen Sturz des Wassers, noch sah sie die trübe Sonne hoch oben über dem Gipfel der Sturmspitze, von dem sie durch viele Hundert Ellen hartes Gestein getrennt war.
Im verwickelten Muster der Ereignisse, die sie vor so langer Zeit in Gang gesetzt hatte, der Ereignisse, die sie über tausend mal tausend sonnenlose Tage lang ersonnen und sorgfältig gelenkt hatte, waren seltsame und beunruhigende Veränderungen aufgetreten. Die ersten Veränderungen hatten ihrem Gewebe einen kleinen Riss zugefügt. Natürlich konnte man den Schaden beheben – Utuk’kus Netz war stark, und mehr als nur ein paar Fäden mussten zerstört werden, bevor ihr so lange geplanter Triumph bedroht war –, aber ihn auszubessern erforderte Mühe, Sorgfalt und die diamantharte Konzentration, über die nur die Älteste von allen verfügte.
Langsam drehte sich die Silbermaske und schimmerte im matten Licht wie der zwischen Wolken hervortretende Mond. Drei Gestalten erschienen im Tor von Yakh Huyeru. Die vorderste kniete nieder und legte die Handrücken über die Augen. Ihre beiden Begleiter folgten dem Beispiel.
Während Utuk’ku sie musterte und an die Aufgabe dachte, die sie ihnen übertragen wollte, bedauerte sie einen Moment lang den Verlust von Ingen Jegger – aber es war nur ein sehr kurzer Moment. Utuk’ku Seyt-Hamakha war die Letzte der Gartengeborenen. Sie hatte ihre Artgenossen nicht deshalb um viele Jahrhunderte überlebt, weil sie Zeit auf unnütze Gefühle verschwendete. Jegger war eifrig und von blinder Treue gewesen wie ein Jagdhund, und er hatte die – für Utuk’kus Zwecke – besonders nützlichen Vorzüge seiner Menschennatur besessen. Trotzdem war er ihr nur ein Werkzeug gewesen, etwas, das man verwendete und dann fortwarf. Er hatte getan, was sie von ihm erwartet hatte. Für andere Arbeiten würde es andere Diener geben.
Die vor ihr knienden Nornen, zwei Frauen und ein Mann, erhoben und verneigten sich. Sie blickten auf, als erwachten sie aus einem Traum. Die Wünsche ihrer Gebieterin hatten sich in sie ergossen wie saure Milch aus einem Krug. Utuk’ku entließ sie mit einer spröden Geste ihrer Hand. Die drei machten kehrt und verschwanden so geschmeidig, rasch und lautlos wie Schatten, die der Morgendämmerung weichen.
Als sie fort waren, blieb Utuk’ku noch lange schweigend vor dem Wasserfall stehen und lauschte dem geisterhaften Echo. Dann endlich wandte sich die Nornenkönigin ab und schritt ohne Eile hinüber in die Kammer der Atmenden Harfe.
Als sie ihren Sitz neben dem Brunnen einnahm, schwoll der Gesang aus den Tiefen von Sturmspitze an. Die Lichtlosen hießen sie auf ihre unergründliche, unmenschliche Weise auf dem froststarren Thron willkommen. Bis auf Utuk’ku war die Kammer der Harfe leer, obwohl ein einziger Gedanke, eine winzige Handbewegung der Königin sie mit einem Dickicht starrender Speere in bleichen Händen erfüllt hätte.
Utuk’ku legte die langen Finger an ihre Schläfen und starrte in die sich ständig wandelnde Dampfsäule über dem Brunnen. Die unbestimmten, schwebenden Umrisse der Harfe schimmerten scharlachrot, gelb und violett. Inelukis Gegenwart war nur gedämpft zu spüren. Längst hatte er sich in sich selbst zurückgezogen, um mit Hilfe der geheimnisvollen Quelle, die ihn nährte, wie Luft eine Kerzenflamme speist, Kräfte zu sammeln. Er bereitete sich auf die große Prüfung vor, die nun bald kommen würde.
Obwohl es in gewisser Weise eine Erleichterung bedeutete, frei von seinen brennenden, zornigen Gedanken zu sein – Gedanken, die selbst Utuk’ku oft nur als Wolken von Hass und Sehnsucht wahrnehmen konnte –, pressten sich die schmalen Lippen der Nornenkönigin hinter der glänzenden Maske doch zu einer dünnen, unzufriedenen Linie zusammen. Was sie in der Traumwelt gesehen hatte, beunruhigte sie. Auch wenn ihre Ränke zu greifen begonnen hatten, war Utuk’ku nicht völlig zufrieden. Nicht ungern hätte sie ihre Bedenken mit dem Wesen geteilt, dessen Brennpunkt im Herzen des Brunnens lag, aber es sollte nicht sein. Der größte Teil Inelukis würde nun nicht mehr an diesem Ort weilen, bis zu den letzten Tagen, wenn der Erobererstern hoch am Himmel stand.
Plötzlich wurden Utuk’kus farblose Augen schmal. Irgendwo an den Rändern des großen Gewebes aus Macht und Traum, das den Brunnen erfüllte, hatte sich wieder etwas auf unerwartete Weise bewegt. Die Nornenkönigin richtete den Blick nach innen, reckte ihren Geist in die Ferne und tastete sich an den Fäden ihres sorgsam ausgewogenen Netzes, den unzähligen Strängen geheimer Absichten, Berechnungen und Schicksalen, entlang. Da war es – ein neuer Riss in ihrer ausgeklügelten Arbeit.
Ein Seufzer, hauchleise wie dünner Wind auf einem Fledermausflügel, entrang sich Utuk’kus Lippen. Der Gesang der Lichtlosen verstummte einen Augenblick vor dem Schwall ihres Zorns. Doch gleich darauf hoben sich von neuem ihre Stimmen, dumpf und triumphierend. Da war jemand, der an einem der Meisterzeugen herumspielte, nur ein Jüngling, wenn auch aus dem Geschlechte Amerasus der Schiffgeborenen. Sie würde den Welpen hart strafen. Auch dieser Schaden ließ sich beseitigen. Sie würde sich nur ein wenig mehr konzentrieren, noch einmal ihre Gedanken sammeln müssen. Sie war müde, aber nicht zu müde.
Es mochte tausend Jahre her sein, dass die Nornenkönigin zum letzten Mal gelächelt hatte, aber wenn sie noch gewusst hätte, wie man es tat, hätte sie es jetzt vielleicht versucht. Selbst die Ältesten unter den Hikeda’ya kannten keine andere Gebieterin als Utuk’ku. Es war verzeihlich, wenn manche von ihnen dachten, sie sei kein lebendes Wesen mehr, sondern eine Erscheinung wie der Sturmkönig, ganz aus Eis und Magie und endloser, unablässig wachender Bosheit. Utuk’ku wusste es besser. Obgleich die Jahrtausende, die einige ihrer Nachkommen bereits auf der Welt waren, nur einen Bruchteil ihrer eigenen Lebenszeit ausmachten, steckte unter den leichenweißen Gewändern und der schimmernden Maske noch immer eine Frau. In ihrem uralten Fleisch schlug immer noch ein Herz, langsam und stark wie ein blindes Tier, das am Grunde eines tiefen, schweigenden Meeres geduldig wartet.
Ja, sie war müde, aber sie war nach wie vor wild und mächtig. So lange hatte sie gewartet und ihre Netze gesponnen, dass selbst das Gesicht des Landes über ihr sich im Lauf der Zeit verschoben und verändert hatte. Sie würde am Leben bleiben, bis sie ihre Rache ausgekostet hatte.
Die flackernden Lichter des Brunnens spiegelten sich auf dem leeren Metallgesicht, das sie der Welt zukehrte.
Vielleicht, dachte Utuk’ku, würde sie sich in der Stunde ihres Triumphes wieder daran erinnern, wie man lächelte.
»Ah, beim Hain!«, sagte Jiriki. »Es ist in der Tat Mezutu’a – das Silberheim.« Er hielt die Fackel höher. »Ich habe es nie gesehen, aber so viele Lieder singen davon, dass ich das Gefühl habe, alle diese Türme und Brücken und Straßen so gut zu kennen, als sei ich hier aufgewachsen.«
»Ihr seid nie hier gewesen? Aber ich dachte, Euer Volk hätte es erbaut.« Eolair trat vom steilen Treppenrand zurück. Unter ihnen breitete sich die gewaltige Stadt aus, ein phantastisches Gewirr von Steinen und Schatten.
»Das haben wir auch – zumindest teilweise –, aber die letzten der Zida’ya verließen diesen Ort lange vor meiner Geburt.«
Jirikis goldene Augen waren weit offen, als könne er den Blick nicht von den Dächern der Höhlenstadt abwenden. »Als die Tinukeda’ya ihr Schicksal von unserem trennten, verfügte Jenjiyana von den Nachtigallen in ihrer Weisheit, dass wir den Kindern des Seefahrers diese Stadt überlassen sollten, um wenigstens einen Teil dessen auszugleichen, was wir ihnen schuldeten.« Er schüttelte stirnrunzelnd den Kopf, dass ihm das lose Haar um die Schultern flog. »Wenigstens das Haus der Tanzenden Jahre hatte noch ein Ehrgefühl. Außerdem schenkte sie ihnen noch Hikehikayo im Norden und das meerumschlungene Jhiná-T’seneí, das nun auch längst unter den Wogen begraben liegt.«
Eolair bemühte sich, der Fülle fremdartiger Namen Herr zu werden. »Euer Volk schenkte diesen Ort den Tinukeda’ya?«, fragte er. »Den Kreaturen, die wir Domhaini nennen? Den Unterirdischen?«
»Manche tragen diese Namen.« Jiriki nickte und richtete den hellen Blick auf den Grafen. »Aber sie sind keine ›Kreaturen‹, Graf Eolair. Sie kamen aus dem Verlorenen Garten, genau wie mein Volk. Wir begingen den Fehler, sie für geringer zu halten als uns. Ich möchte ihn nicht wiederholen.«
»Es sollte keine Beleidigung sein«, erklärte Eolair. »Aber ich bin ihnen begegnet, wie ihr wisst. Sie waren … seltsam. Aber auch sehr freundlich zu uns.«
»Die Kinder des Meeres waren stets sanft.« Jiriki begann die Treppe hinunterzugehen. »Ich fürchte, darum nahm mein Volk sie damals auch mit – weil es sie für fügsame Diener hielt.«
Eolair beeilte sich, ihm zu folgen. Der Sitha bewegte sich schnell und sicher und weit näher am Abgrund, als der Graf es gewagt hätte. Dabei schaute er nicht einmal nach unten. »Was meint Ihr mit ›manche tragen diese Namen‹?«, fragte der Graf. »Gab es auch Tinukeda’yas, die keine Unterirdischen waren?«
»Ja. Die Unterirdischen, wie Ihr sie nennt, waren nur eine kleine Gruppe, die sich vom Hauptstamm abgespalten hatte. Der Rest von Ruyans Volk blieb in der Nähe des Wassers, denn ihr Herz hing schon immer an den Meeren. Viele von ihnen wurden, was die Sterblichen ›Seewächter‹ nennen.«
»Niskies?« In seiner langen Laufbahn, die ihn oft auf Reisen in südliche Gewässer geführt hatte, war Eolair mit vielen Seewächtern in Berührung gekommen. »Es gibt sie immer noch. Aber sie sehen ganz anders aus als die Unterirdischen.«
Jiriki wartete, bis der Graf ihn eingeholt hatte, und ging dann, vielleicht aus Höflichkeit, langsamer. »Das war der Segen und zugleich der Fluch der Tinukeda’ya. Sie passten sich im Lauf der Zeit ihrem Wohnort an. Ihr Blut und Gebein besitzen die Fähigkeit, sich zu verändern. Ich glaube, wenn Feuer die Welt zerstörte, wären die Kinder des Meeres die einzigen Überlebenden. Schon bald würden sie lernen, Rauch zu essen und in heißer Asche zu schwimmen.«
»Das ist erstaunlich«, meinte Eolair. »Die Unterirdischen, denen ich begegnete, Yis-fidri und seine Gefährten, machten einen so scheuen Eindruck. Wer hätte gedacht, dass sie zu solchen Kunststücken fähig sind?«
»In den südlichen Marschen gibt es Eidechsen«, versetzte Jiriki mit einem Lächeln, »die ihre Farbe entsprechend dem Blatt, Baumstamm oder Stein, auf dem sie gerade hocken, verändern können. Sie sind auch scheu. Es wundert mich nicht, dass gerade die ängstlichen Wesen sich am geschicktesten verstecken können.«
»Aber wenn Euer Volk den Unterirdischen – den Tinukeda’ya – diese Stadt geschenkt hat, warum fürchten sie Euch dann so? Als die Herrin Maegwin und ich zuerst hierherkamen und sie fanden, waren sie außer sich vor Angst, weil sie glaubten, wir stünden in Euren Diensten und wollten sie zu Euch zurückbringen.«
Jiriki blieb stehen und starrte gebannt in die Tiefe. Als er sich wieder zu Eolair umdrehte, stand so tiefer Schmerz in seinem Gesicht, dass selbst die Fremdartigkeit der Züge nicht darüber hinwegtäuschen konnte. »Sie haben recht, sich zu fürchten, Graf Eolair. Amerasu, die Weise, die uns vor kurzem genommen wurde, nannte unseren Umgang mit den Tinukeda’ya eine große Schande für uns. Wir haben sie nicht gut behandelt und ihnen Dinge vorenthalten, deren Kenntnis ihnen zustand … weil wir dachten, sie würden uns besser dienen, wenn wir sie im Unwissen ließen. Als Jenjiyana, damals Herrin des Hauses der Tanzenden Jahre, ihnen in grauer Vorzeit diesen Ort überließ, waren viele andere Häuser der Morgendämmerung damit nicht einverstanden. Auch heute noch gibt es Zida’ya, die glauben, wir hätten Ruyan Vés Kinder als Diener behalten sollen. Eure Freunde fürchten sich mit gutem Grund.«
»Davon erzählen die alten Sagen unseres Volkes nichts«, meinte Eolair staunend. »Ihr malt ein hartes, trauriges Bild, Prinz Jiriki. Warum erzählt Ihr mir das alles?«
Der Sitha begann, die zersprungenen Stufen weiter hinunterzusteigen. »Weil dieses Zeitalter kurz vor seinem Ende steht, Graf Eolair. Das bedeutet nicht, dass ich an eine glücklichere Zukunft glaube – obwohl diese Möglichkeit wohl noch immer besteht. Aber so oder so, unsere Epoche geht zu Ende.«
Wortlos setzten sie ihren Weg in die Tiefe fort.
Eolair verließ sich auf die schwache Erinnerung an seinen letzten Besuch, um Jiriki durch die verfallende Stadt zu führen, obgleich die nur von seiner angeborenen Höflichkeit bezähmte Ungeduld des Sitha verriet, dass Jiriki genauso gut hätte vorangehen können. Während sie so durch die hallenden, verlassenen Straßen wanderten, hatte Eolair wieder, wie damals, das Gefühl, Mezutu’a sei weniger eine Stadt als vielmehr der Bau vieler scheuer, aber freundlicher Tiere. Diesmal aber waren ihm Jirikis Worte über das Meer noch frisch im Gedächtnis, sodass er Mezutu’a zugleich als Korallengarten sah, in dem die Gebäude – durchzogen von leeren Türöffnungen und düsteren Tunneln, unterbrochen von Türmen, verbunden durch steinerne Stege, dünn wie gesponnenes Glas – eines aus dem anderen herauswuchsen. Er fragte sich, ob sich die Unterirdischen vielleicht im tiefsten Herzen eine Sehnsucht nach der See bewahrt hätten, sodass die Stadt und das, was ihre neuen Bewohner dazugebaut hatten, allmählich zu einer Art unterseeischer Grotte geworden war, die nicht vom blauen Wasser, sondern vom Gestein des Berges vor der Sonne geschützt wurde.
Als sie aus dem langen Tunnel mit seinen Schnitzereien aus lebendem Stein in das riesige Rund der Arena traten, bildete sich um Jiriki, der jetzt voranging, plötzlich eine Aura aus fahlem, kreidigem Licht. Der Sitha starrte nach unten und hob die schmalen Hände schulterhoch empor, bewegte sie in einer sorgfältigen Gebärde und setzte erst dann seinen Weg fort. Nur seine Anmut, der eines jungen Hirschs vergleichbar, lenkte davon ab, wie schnell er lief.
In der Mitte der Schüssel ragte noch immer der große Kristallscherben empor. Unter der Oberfläche pulsierten und wanderten die Farben hin und her. Die Steinbänke ringsum waren leer, die Arena stand verlassen.
»Yis-fidri!«, rief Eolair laut. »Yis-hadra! Ich bin es, Eolair, der Graf von Nad Mullach!« Seine Stimme rollte durch das Rund und brach sich an den fernen Wänden der Höhle. Niemand antwortete. »Yis-fidri, hier ist Eolair! Ich bin zurückgekommen!«
Als sich niemand meldete und auch sonst kein Lebenszeichen zu bemerken war – weder Schritte noch der Glanz der Rosenkristallstäbe der Unterirdischen –, ging Eolair zu Jiriki hinunter.
»Das habe ich befürchtet«, seufzte er. »Dass sie fliehen würden, wenn ich Euch mitbrächte. Ich hoffe nur, dass sie nicht auch die Stadt verlassen haben.« Er furchte die Brauen. »Vermutlich halten sie mich für einen Verräter, weil ich einen ihrer einstigen Herren hierhergebracht habe.«
»Mag sein.« Jiriki schien zerstreut, fast verkrampft. »Bei meinen Ahnen!«, flüsterte er. »Vor dem Scherben von Mezutu’a zu stehen! Ich kann fühlen, wie er singt.«
Eolair näherte seine Hand dem milchigen Stein, bemerkte aber nur eine leichte Erwärmung der Luft.
Jiriki streckte die Hände nach dem Scherben aus, ohne ihn jedoch zu berühren. Es war, als umarme er etwas Unsichtbares, das die Form des Steins hatte, aber doppelt so groß war.
Die Muster aus Licht fingen an, bunter zu leuchten, als steige etwas aus dem Inneren des Steins zur Oberfläche empor. Jiriki verfolgte aufmerksam das Farbspiel und ließ langsam seine Finger kreisen. Doch fasste er den Scherben kein einziges Mal an, sondern legte nur in der Luft seine Arme um ihn, als führe er das unbewegliche Gebilde in einem feierlichen Tanz.
Eine lange Zeit verging. Eolairs Beine begannen zu schmerzen, und er ließ sich auf einer Steinbank nieder. Ein kalter Luftzug drang aus der Arena zu ihm herauf und kitzelte ihn im Nacken. Er kauerte sich tiefer in seinen Mantel und beobachtete Jiriki, der noch immer vor dem schillernden Stein stand und stumme Zwiesprache mit ihm zu halten schien.
Einigermaßen gelangweilt spielte der Graf mit den langen, schwarzen Haaren seines Pferdeschwanzes. Er war nicht sicher, wie lange Jiriki schon so vor dem Stein stand, aber es musste eine ganze Weile gedauert haben, denn Eolair war für seine Geduld berühmt und verlor sie selbst in dieser Zeit, die alle in den Wahnsinn trieb, nur sehr langsam.
Plötzlich zuckte der Sitha zurück und trat einen Schritt von dem Scherben weg. Er schwankte auf der Stelle und drehte sich dann zu Eolair um. In seinen Augen glomm ein Licht, das mehr war als nur der Abglanz des unsteten Schimmers, der von dem Stein ausging.
»Das Sprechfeuer«, sagte er.
Eolair war verwirrt. »Was meint Ihr?«
»Das Sprechfeuer in Hikehikayo. Es ist auch ein Zeuge – ein Meisterzeuge, wie der Scherben. Irgendwie ist es uns ganz nah. Ich kann es nicht abschütteln und den Scherben deshalb nicht auf andere Dinge richten.«
»Was sind das für andere Dinge?«
Jiriki schüttelte den Kopf und warf einen schnellen Blick auf den Stein, bevor er fortfuhr. »Das ist schwer zu erklären, Graf Eolair. Ich will es so ausdrücken: Wenn Ihr Euch im Nebel verirrt hättet und einen Baum fändet, auf den Ihr klettern und von dem aus Ihr über den Nebel hinwegschauen könntet, würdet Ihr es nicht versuchen?«
Eolair nickte. »Gewiss, aber ich verstehe trotzdem nicht, was Ihr meint.«
»Nur dies: Wir, die wir auf der Straße der Träume wandeln, fanden dort neuerdings den Weg versperrt – so wie dichter Nebel Euch hindern kann, das Haus zu verlassen, auch wenn Ihr dringend fortmüsst. Die Zeugen, die mir zur Verfügung stehen, gehören zu den kleineren. Ohne die Kraft und das Wissen von jemandem wie unserer Ersten Großmutter Amerasu helfen sie auch nur in kleinen Dingen. Der Scherben von Mezutu’a ist ein Meisterzeuge. Schon bevor wir Jao é-Tinukai’i verließen, habe ich daran gedacht, ihn zu suchen. Soeben jedoch habe ich herausgefunden, dass da etwas ist, das mich daran hindert, von ihm Gebrauch zu machen. So, als wäre ich auf den Baum gestiegen, von dem ich gerade sprach, hätte die obere Grenze des Nebels erreicht und müsste nun feststellen, dass noch etwas anderes meine Aussicht verhindert. Etwas versperrt mir den Weg.«
»Ich fürchte, ich verstehe Euch noch immer nicht, Jiriki, obwohl ich eine Ahnung habe, was Ihr meint.« Eolair überlegte kurz. »Könnte man sagen, dass Ihr aus einem Fenster schauen wollt, aber jemand hat es von der anderen Seite zugehängt?«
»Ja. Gut beschrieben.« Jiriki lächelte, aber Eolair erkannte die Müdigkeit in den fremdartigen Zügen des Sitha. »Und ich wage nicht fortzugehen, ohne wenigstens versucht zu haben, durch dieses Fenster zu blicken.«
»Dann will ich auf Euch warten. Aber wir haben nur wenig zu essen und zu trinken mitgebracht. Außerdem fürchte ich, dass mein Volk mich bald brauchen wird.«
»Was Essen und Trinken anbelangt«, meinte Jiriki zerstreut, »so könnt Ihr meinen Vorrat haben.« Er näherte sich wieder dem Scherben. »Wenn Ihr meint, zurückkehren zu müssen, dann sagt es mir – aber versprecht mir, Graf Eolair, dass Ihr mich nicht anfasst, bevor ich Euch die Erlaubnis dazu gebe. Ich weiß selbst nicht genau, wie ich vorgehen muss, und es ist für uns beide sicherer, wenn Ihr Euch nicht einmischt, ganz gleich, was Ihr zu sehen scheint.«
»Ich werde nichts ohne Eure Aufforderung tun«, versprach Eolair.
»Gut.« Jiriki streckte die Hände aus und begann von neuem, sie langsam kreisen zu lassen.
Seufzend lehnte sich der Graf von Nad Mullach auf seiner Steinbank zurück und versuchte, eine bequemere Stellung zu finden.
Eolair erwachte aus einem sonderbaren Traum – er war vor einem ungeheuren Rad geflohen, hoch wie die Baumwipfel, zersplittert wie uralte Deckenbalken – und wusste sofort, dass etwas nicht stimmte. Das Licht war jetzt heller und pulsierte wie ein Herzschlag, hatte aber eine ungesunde, blaugrüne Farbe angenommen. Die Luft in der riesigen Höhle war gespannt und still wie vor einem Gewitter, und in Eolairs Nase brannte ein Geruch wie nach einem Blitzschlag.
Jiriki stand noch immer vor dem schimmernden Scherben, ein winziger Fleck in einem Meer aus blendender Helle. Aber während er sich vorher so straff gehalten hatte wie ein Mircha-Tänzer vor dem Regengebet, schienen seine Glieder jetzt verzerrt, und sein Kopf war nach hinten gedrückt, als presse eine unsichtbare Hand das Leben aus ihm heraus. Außer sich vor Sorge stürzte Eolair auf ihn zu. Er wusste nicht, was er tun sollte. Der Sitha hatte ihm verboten, ihn zu berühren. Aber als Eolair nahe genug war, um Jirikis Gesicht zu erkennen, das in der gewaltigen Woge übelkeiterregenden Gleißens fast unterging, stockte ihm der Atem. Das konnte der Sitha nicht gemeint haben!
Seine goldgefleckten Augen waren nach oben gerollt. Unter den Lidern war nur noch ein weißer Halbmond sichtbar. Die Lippen waren hochgezogen, die Zähne gefletscht wie bei einem in die Enge getriebenen wilden Tier. An Hals und Stirn spannten sich die Adern, als wollten sie ihm aus der Haut platzen. »Prinz Jiriki!«, schrie Eolair. »Jiriki! Könnt Ihr mich hören?«
Der Mund des Sitha öffnete sich ein Stück. Seine Kiefer mahlten. Ein lauter, röhrender Schrei ertönte und hallte im weiten Rund wider, tief und unverständlich, aber so eindeutig voller Schmerz und Angst, dass Eolair verzweifelt die Ohren mit den Händen bedeckte und sein Herz vor Mitgefühl und Grauen fast zersprang. Er streckte vorsichtig eine Hand nach Jiriki aus und bemerkte verblüfft, wie die Haare auf seinem Arm sich aufrichteten und seine Haut prickelte.
Nur einen winzigen Augenblick zögerte er noch. Er schalt sich einen Dummkopf, schickte ein schnelles, stummes Stoßgebet zu Cuamh Erdhund, sprang vor und packte Jirikis Schultern.
In der Sekunde, als er ihn berührte, fühlte er sich wie aus dem Nichts von einer titanischen Gewalt überschwemmt, einem brausenden schwarzen Strom aus Entsetzen, Blut und leeren Stimmen, der ihn durchflutete und seine Gedanken mitriss wie eine Handvoll Blätter in einem Wasserfall. Doch in dem kurzen Moment, bevor sein Ich ins Nichts gewirbelt wurde, sah er seine Hände, die auf Jirikis Schultern lagen, und den Sitha, der unter Eolairs Gewicht den Halt verlor und vornüber auf den Scherben stürzte. Ein riesiges Feuerwerk von Funken sprang hervor, noch heller als das blaugrüne Gleißen, eine Million glitzernder Lichter, als würden die Seelen aller Glühwürmchen der ganzen Welt auf einmal befreit und tanzten und hüpften. Dann wurde alles dunkel. Eolair merkte, dass er fiel, wie ein Stein fiel, ein Stein, den man in endlose Leere wirft …
»Ihr lebt.«
Die Erleichterung in Jirikis Stimme war unverkennbar. Eolair öffnete die Augen und gewahrte einen bleichen, verschwommenen Fleck, aus dem nach und nach das Gesicht des Sitha wurde, der sich dicht über ihn beugte. Die kühlen Hände berührten seine Schläfen.
Eolair winkte ihn matt von sich fort. Der Sitha gehorchte und ließ ihn sich aufrichten. Eolair empfand eine unbestimmte Dankbarkeit, dass der andere nicht versuchte, ihm zu helfen, auch wenn er lange brauchte, um seinen zitternden Körper zur Ruhe zu bringen. In seinem Kopf hämmerte es, als riefe Rhynns Kessel die Krieger zur Schlacht. Er musste kurz die Augen schließen, um sich nicht zu übergeben.
»Ich warnte Euch davor, mich zu berühren«, sagte Jiriki, aber es lag kein Vorwurf in seiner Stimme. »Es tut mir sehr leid, dass Ihr so für mich gelitten habt.«
»Was … was ist geschehen?«
Jiriki schüttelte den Kopf. Er bewegte sich ungewohnt steif, aber wenn Eolair dachte, wie lange der Sitha ausgehalten hatte, was er selbst nur einen kurzen Moment ertragen konnte, erfüllte ihn Ehrfurcht. »Ich bin selbst nicht sicher«, erklärte der Prinz. »Irgendetwas wollte nicht, dass ich die Straße der Träume erreichte oder den Scherben benutzte – etwas, das sehr viel mächtiger und klüger ist als ich.« Er verzog das Gesicht und zeigte die weißen Zähne. »Ich hatte recht, Simon vor der Traumstraße zu warnen – hätte ich mich nur an meinen eigenen Rat gehalten! Meine Mutter Likimeya wird vor Wut außer sich sein.«
»Ich dachte, Ihr müsstet sterben«, stöhnte Eolair. Ihm war zumute, als werde hinter seiner Stirn ein großer Ackergaul beschlagen.
»Wenn Ihr mich nicht aus der Falle gestoßen hättet, in der ich gefangen war, hätte mich wohl Schlimmeres als der Tod erwartet.« Er lachte plötzlich scharf auf. »Ich schulde Euch den Staja Ame, Graf Eolair – den Weißen Pfeil. Leider hat ihn schon jemand anderes von mir bekommen.«
Eolair rollte sich auf die Seite und versuchte aufzustehen. Er brauchte mehrere Anläufe, schaffte es aber endlich mit Jirikis Hilfe, die er diesmal gern annahm, auf die Füße zu kommen. Der Scherben schien sich beruhigt zu haben. Gedämpft flackerte er inmitten der leeren Arena und warf zögernde Schatten hinter die Steinbänke. »Weißer Pfeil?«, murmelte Eolair. Sein Kopf tat weh, und die Muskeln waren steif, als hätte man ihn hinter einem Karren von Hernysadharc nach Crannhyr geschleift.
»Ich werde es Euch bald erklären«, versprach Jiriki. »Wahrscheinlich werde ich mich an diese Art Schmach gewöhnen müssen.«
Sie gingen auf den Tunnel zu, der aus der Arena führte. Eolair hinkte. Jiriki stand etwas fester auf den Beinen, bewegte sich aber immer noch langsam.
»Schmach?«, fragte Eolair matt. »Was meint Ihr damit?«
»Von Sterblichen gerettet zu werden. Es scheint mir zur Gewohnheit zu werden.«
Das Echo ihrer unsicheren Schritte verhallte im Dunkel der riesigen Halle.
»Hier, Miez-Miez-Miez. Komm, Grimalkin!«
Es war Rachel etwas peinlich. Sie wusste nicht so genau, wie man Katzen anredete. Früher hatte sie von den Tieren bloß erwartet, dass sie ihre Arbeit machten und die Zahl der Ratten kleinhielten. Das Streicheln und Verwöhnen überließ sie ihren Kammerfrauen. Ihrer Ansicht nach gehörte es nicht zu ihren Pflichten, an Untergebene, ob zwei- oder vierfüßig, Koseworte und Süßigkeiten zu verteilen. Jetzt aber hatte sie ein Anliegen – zugegeben, ein törichtes und schwachköpfiges –, und darum vergaß sie ihren Stolz eine Zeitlang.
Dank dem barmherzigen Usires, dass mich hier keiner sieht.
»Miez-Miez-Miez.« Rachel schwenkte das Stückchen Pökelfleisch. Sie gab sich Mühe, ihre Rückenschmerzen und den harten Stein unter ihren Knien zu vergessen, und rutschte noch eine halbe Elle vor. »Ich will dich doch nur füttern, du Rhiap-bewahr-uns schmutziges Ding.« Mit finsterem Gesicht wedelte sie mit dem Fleischbrocken. »Oder sollte ich dich doch lieber in den Kochtopf stecken?«
Doch selbst die Katze, die ein kleines Stück außerhalb von Rachels Reichweite mitten im Gang stand, schien zu wissen, dass die Drohung nicht ernst gemeint war. Nicht wegen Rachels Weichherzigkeit – sie hätte ihr ohne Gewissensbisse eins mit dem Besen übergezogen –, sondern weil das Essen von Katzenfleisch für sie so unvorstellbar war, wie auf einen geweihten Altar zu spucken. Inwieweit sich Katzenfleisch von Kaninchen oder Reh unterschied, wusste sie nicht und wollte es auch nicht wissen. Anständige Leute aßen so etwas nicht, das genügte.
Trotzdem hatte sie in der letzten Viertelstunde ein paarmal mit dem Gedanken gespielt, das halsstarrige Biest mit einem Tritt die steile Treppe hinabzubefördern und sich einen Plan auszudenken, bei dem tierische Hilfe nicht nötig war. Das Ärgerlichste war freilich, dass der guten Idee mit der Katze offenbar auch kein Erfolg beschieden war.
Rachel sah auf ihre zitternden Arme und fettigen Finger.
Das alles, um einem Ungeheuer zu helfen? Du kommst vom Weg ab, Frau, und wirst verrückt wie ein Mondkalb.
»Miez…«
Die graue Katze kam ein paar Schritte näher und betrachtete Rachel aus Augen, die vor Misstrauen leuchteten wie das helle Lampenlicht. Rachel sagte im Stillen das Elysia-Gebet und versuchte lockend mit dem Pökelfleisch zu wackeln. Wachsam näherte sich die Katze, krauste die Nase und leckte einmal vorsichtig an dem Happen. Nachdem sie dann so getan hatte, als putze sie sich ganz unbeteiligt die Schnurrhaare, schien sie Mut zu fassen. Sie schnappte nach dem Fleisch, riss etwas davon herunter, wich zurück, um es zu fressen, und kam dann wieder. Rachel ließ ihre andere Hand über ihren Rücken gleiten. Das Tier erschrak, aber als Rachel keine heftige Bewegung machte, nahm die Katze das letzte Stückchen Fleisch und verschlang es mit einem Biss. Rachel strich mit den Fingern ganz leicht über das Fell, und die Katze stieß mit der Nase fragend an ihre leere Hand. Rachel kraulte das Tier hinter den Ohren und widerstand dabei tapfer der Versuchung, das mäklige kleine Biest zu erwürgen. Endlich hatte sie der Katze ein Schnurren entlockt und stand schwerfällig auf.
»Morgen«, erklärte sie. »Mehr Fleisch.« Sie drehte sich um und stapfte müde den Gang hinauf zu ihrem verborgenen Zimmer. Die Katze sah ihr nach und beschnüffelte den Steinboden nach Krümeln, die ihr vielleicht entgangen waren. Dann legte sie sich hin und leckte sich das Fell.
Jiriki und Eolair traten blinzelnd wie Maulwürfe ins helle Licht hinaus. Der Graf bereute bereits seine Entscheidung, gerade diesen Eingang zu den unterirdischen Stollen gewählt zu haben, der so weit von Hernysadharc entfernt lag. Wären sie durch die Höhlen gegangen, in denen die Hernystiri damals Schutz gesucht hatten, wie Maegwin und er beim ersten Mal, hätten sie die Nacht in einer der noch kürzlich bewohnten Behausungen der Höhlenstadt verbringen und sich den langen Heimritt sparen können.
»Ihr seht nicht gut aus«, bemerkte der Sitha.
Eolairs Kopf hatte zwar endlich aufgehört zu dröhnen, aber die Muskeln taten ihm nach wie vor ordentlich weh.
»Ich fühle mich auch nicht gut.« Der Graf sah sich um. Noch immer lag an manchen Stellen Schnee, aber das Wetter hatte sich in den letzten Tagen erheblich gebessert. Es war verlockend, gleich hier zu übernachten und erst morgen zum Taig zurückzureiten. Er sah mit schmalen Augen zur Sonne auf. Erst früher Nachmittag. Die Zeit unter der Erde war ihm viel länger vorgekommen … wenn es noch derselbe Tag war. Bei dem Gedanken grinste er mürrisch. Vielleicht doch lieber ein schmerzhafter Ritt zum Taig als eine Nacht in der kalten Wildnis.
Die Pferde, Eolairs Fuchswallach und Jirikis weißer Hengst, in dessen Mähne Federn und Glöckchen eingeflochten waren, standen am äußersten Ende ihrer langen Leinen und weideten das magere Gras ab. Schnell waren sie gesattelt; dann galoppierten Mensch und Sitha Richtung Südosten nach Hernystir.
»Die Luft hat sich verändert!«, rief Eolair. »Fühlt Ihr es auch?«
»Ja.« Jiriki hob den Kopf wie ein witterndes Raubtier. »Aber ich weiß nicht, was es bedeuten könnte.«
»Es ist wärmer. Das ist mir genug.«
Als sie die ersten Häuser von Hernysadharc erreichten, war die Sonne schon hinter dem Grianspog versunken, und der Himmel glänzte rot. Seite an Seite ritten sie die Taigstraße hinauf und suchten sich ihren Weg durch den lebhaften Fußgänger- und Karrenverkehr. Sein Volk wieder frei und bei seinen Geschäften zu sehen linderte Eolairs Schmerzen. Zwar ging noch lange nicht alles seinen gewohnten Gang, und die meisten Menschen auf der Straße hatten die hageren Züge und den starren Blick des Hungers, aber wenigstens bewegten sie sich ungehindert im eigenen Land. Viele schienen vom Markt zu kommen und hielten ihre Einkäufe eifersüchtig fest, auch wenn es nicht mehr war als eine Handvoll Zwiebeln.
»Und was habt Ihr nun in Erfahrung gebracht?«, fragte Eolair endlich.
»Von dem Scherben? Viel und wenig.« Jiriki sah die Miene des Grafen und lachte. »Ah, Ihr seht aus wie mein Menschen-Freund Seoman Schneelocke! Es ist wahr, wir Kinder der Morgendämmerung geben keine zufriedenstellenden Antworten.«
»Seoman?«
»Ihr nennt ihn ›Simon‹, glaube ich.« Jiriki nickte. Das milchweiße Haar flog im Wind. »Er ist ein merkwürdiger Welpe, aber tapfer und von gutem Herzen. Auch klug, obwohl er das geschickt verbirgt.«
»Ich glaube, ich bin ihm begegnet. Er ist bei Josua Ohnehand auf dem Stein, dem Ses … Sesu …« Er schwenkte die Hand, als wollte er den Namen herbeiwinken.
»Dem Sesuad’ra. Ja, das ist er. Jung, aber ein Spielball zu vieler Mächte, als dass es Zufall sein könnte. Er wird noch eine Rolle spielen.« Jiriki starrte nach Osten, als suche er dort den jungen Sterblichen. »Amerasu – unsere Erste Großmutter – lud ihn in ihr Haus. Das war eine ungeheure Ehre.«
»Mir kam er eigentlich nur wie ein großer und ein wenig unbeholfener junger Mann vor«, meinte Eolair kopfschüttelnd, »aber ich habe schon lange aufgehört, der äußeren Erscheinung zu trauen.«
Jiriki lächelte. »Dann seid Ihr ein Mann, in dessen Adern das alte Hernystiriblut noch kräftig fließt. Lasst mich noch eine Weile über das nachdenken, was ich in dem Scherben fand. Danach wollen wir zusammen zu Likimeya gehen, und ich werde ihr und Euch berichten, was ich denke.«
Als sie Herns Hügel hinaufritten, bemerkte Eolair eine Frau, die mit langsamen Schritten durch das Gras wanderte. Er hob die Hand.
»Einen Augenblick, bitte.« Er reichte dem Sitha seine Zügel, schwang sich aus dem Sattel und folgte der Frau, die sich in kurzen Abständen bückte, als pflückte sie Blumen zwischen den Grashalmen. Ein ungeordneter Vogelschwarm flatterte hinter ihr her, stieß jäh hinab und hob sich schwirrend wieder in die Luft.
»Maegwin?«, rief Eolair. Sie blieb nicht stehen, und er musste seinen Schritt beschleunigen, um sie einzuholen. »Maegwin?«, fragte er, als er bei ihr war. »Geht es Euch gut?«
Lluths Tochter drehte sich um. Sie trug einen dunklen Mantel, darunter aber ein leuchtendgelbes Kleid. Eine Sonnenblume aus gehämmertem Gold bildete die Gürtelschnalle. Sie sah hübsch und zufrieden aus. »Graf Eolair«, sagte sie mit ruhigem Lächeln, bog sich nach unten und ließ eine neue Handvoll Samenkörner aus ihrer Faust rieseln.
»Was tut Ihr da?«
»Ich pflanze Blumen. Die lange Schlacht mit dem Winter hat selbst die Blumen des Himmels verdorren lassen.« Wieder beugte sie sich hinab und streute Körner. Hinter ihr balgten sich lärmend die Vögel.
»Was heißt das, ›die Blumen des Himmels‹?«
Sie sah erstaunt zu ihm auf. »Was für eine sonderbare Frage. Denkt doch, Eolair, was für herrliche Blumen aus diesen Samen sprießen werden. Stellt Euch vor, wie wundervoll es aussehen wird, wenn die Gärten der Götter wieder in Blüte stehen.«
Eolair starrte sie hilflos an, aber schon ging Maegwin weiter und verstreute ihre kleinen Körnerhäufchen. Die Vögel, vollgestopft, aber nimmersatt, folgten ihr. »Aber Ihr befindet Euch auf Herns Hügel!«, rief er ihr nach. »Ihr seid in Hernysadharc, dem Ort, an dem Ihr aufgewachsen seid!«
Maegwin hielt inne und zog den Mantel enger. »Ihr seht nicht gut aus, Eolair. Das ist nicht recht. Niemand sollte krank sein an einer Stätte wie dieser.«
Jiriki schritt leicht über das Gras und führte die beiden Pferde. In einiger Entfernung blieb er stehen, um nicht zu stören.
Zu Eolairs Überraschung trat Maegwin auf den Sitha zu und versank in einen tiefen Knicks. »Willkommen, Brynioch, Herr!«, rief sie, erhob sich wieder und deutete mit der Hand auf den noch immer geröteten westlichen Horizont. »Was für einen herrlichen Himmel du uns heute wieder geschenkt hast! Sei bedankt, o Strahlender.«
Jiriki sagte nichts, sondern schaute mit katzenhaft gelassener Neugierde Eolair an.
»Wisst Ihr nicht, wer das ist?«, fragte der Graf Maegwin. »Es ist Jiriki von den Sithi. Er ist kein Gott, sondern einer von denen, die uns von Skali errettet haben.« Als sie nicht antwortete, sondern nur nachsichtig lächelte, wurde seine Stimme lauter. »Maegwin, das ist nicht Brynioch. Ihr seid nicht bei den Göttern. Es ist Jiriki, zwar unsterblich, aber aus Fleisch und Blut wie Ihr und ich.«
Maegwin lächelte jetzt den Sitha schelmisch an. »Guter Herr, Eolair scheint fiebrig. Hast du ihn vielleicht auf deinem heutigen Weg über den Himmel der Sonne zu nah gebracht?«
Der Graf von Nad Mullach war entsetzt. War sie wirklich wahnsinnig oder spielte sie nur ein rätselhaftes Spiel?
»Maegwin!«, fuhr er sie an.
Jiriki berührte seinen Arm. »Kommt mit mir, Graf Eolair. Wir wollen darüber sprechen.«
Maegwin machte einen zweiten Knicks. »Du bist sehr freundlich, Brynioch, Herr. Ich werde jetzt mit deiner Erlaubnis meine Arbeit fortsetzen. Es ist wenig genug, um dir für deine Güte und Gastlichkeit zu danken.«
Jiriki nickte. Maegwin drehte sich um und setzte ihren langsamen Gang über den Hügel fort.
»O ihr Götter!«, murmelte Eolair. »Helft mir! Sie hat den Verstand verloren. Es ist noch ärger, als ich befürchtet hatte.«
»Selbst jemand, der nicht von Eurer Art ist, kann sehen, dass ihr großes Leid widerfahren ist«, sagte Jiriki.
»Was kann ich tun?«, klagte der Graf. »Und was geschieht, wenn sie nicht wieder zur Vernunft kommt?«
»Ich habe eine Freundin – Ihr würdet sie eine Base nennen –, die Heilerin ist«, meinte Jiriki. »Ich weiß nicht, ob sie etwas für diese junge Frau tun kann, aber ich denke, ein Versuch wird nicht schaden.«
Er wartete, bis Eolair wieder in den Sattel gestiegen war, schwang sich dann mit einer einzigen fließenden Bewegung selbst aufs Pferd und führte den schweigsamen Grafen den Hang hinauf zum Taig.
Als sie die näherkommenden Schritte hörte, hätte Rachel sich fast tiefer in den Schatten gedrückt, bevor ihr einfiel, dass das ja nicht nötig war. Innerlich schalt sie sich eine Törin.
Die Schritte waren so langsam, als stammten sie von jemandem, der sehr schwach war oder eine schwere Last trug.
»Wohin gehen wir?« Es war ein heiseres Flüstern, tief und rauh, eine Stimme, die nur noch selten benutzt wurde. »Wohin gehen wir? Gut, gut, ich komme ja mit.« Ein dünnes, schnaufendes Geräusch, das Lachen oder Weinen sein konnte.
Rachel hielt den Atem an. Als Erste erschien die Katze, mit erhobenem Kopf und nach fast einer Woche jetzt ganz sicher, dass hier ein guter Happen auf sie wartete. Gleich hinter ihr folgte der Mann, schlurfte aus dem Schatten ins Licht der Lampe. Ein langer, graumelierter Bart überwucherte sein blasses, narbiges Gesicht, und die von seiner zerlumpten, schmutzigen Kleidung nicht bedeckten Körperteile waren bis auf die Knochen abgemagert. Seine Augen waren geschlossen.
»Langsam«, krächzte er. »Bin schwach. Kann nicht so schnell.« Er hielt an, als spüre er im Gesicht, auf den Lidern der zerstörten Augen, das Lampenlicht. »Wo bist du, Katze?«, fragte er unsicher.
Rachel bückte sich, um die Katze zu streicheln, die mit dem Kopf gegen ihren Knöchel stieß. Sie reichte ihr das Stückchen Pökelfleisch, auf das sie wartete, und richtete sich wieder auf.
»Graf Guthwulf.« Nach Guthwulfs Flüstern schien ihr die eigene Stimme so laut, dass sie selbst erschrak. Der Mann zuckte zusammen, wich zurück und wäre um ein Haar gestürzt. Aber anstatt zu fliehen, hielt er schützend die zitternden Hände vor sich.
»Lasst mich in Ruhe, verfluchte Ungeheuer!«, schrie er. »Sucht euch ein anderes Opfer! Lasst mich in meinem Elend! Soll mich das Schwert doch haben, wenn es das will.«
»Lauft nicht fort, Guthwulf!«, sagte Rachel hastig, aber als er zum zweiten Mal ihre Stimme hörte, drehte der Graf sich um und stolperte den Gang wieder hinunter.
»Ich werde Euch Essen hierlassen!«, rief sie ihm nach. Das zerlumpte Gespenst antwortete nicht, sondern verschwand im Schatten hinter dem Lampenschein. »Ich werde es hinstellen und wieder gehen. Jeden Tag! Ihr braucht nicht mit mir zu sprechen.«
Als das Echo verklungen war, legte sie der Katze eine kleine Portion Dörrfleisch hin, die sofort hungrig verspeist wurde. Die Schüssel mit Fleisch und Trockenobst stellte sie in eine staubige Wandnische, die die Katze nicht erreichen konnte. Dort musste die lebende Vogelscheuche sie entdecken, sofern sie den Mut zur Rückkehr fand.
Rachel, die immer noch nicht recht wusste, warum sie das alles tat, nahm ihre Lampe und machte sich auf den Weg zurück zum Treppenhaus, das in die höheren, vertrauteren Bereiche des Burglabyrinths führte. Sie hatte es getan; es gab kein Zurück mehr. Aber warum? Sie würde sich nun wieder in die Oberburg wagen müssen, denn die Vorräte, die sie gehamstert hatte, reichten nur aus, um eine sehr bescheidene Esserin zu ernähren, nicht aber zwei Erwachsene und eine unersättliche Katze.
»Rhiap, rette mich vor mir selbst«, brummte sie.
Vielleicht lag es daran, dass es die einzige Wohltätigkeit war, die sie in diesen furchtbaren Zeiten ausüben konnte. Aber Rachel war nie ein fanatischer Gutmensch gewesen. Zu viele Bettler waren allem Anschein nach gesund und kräftig und grausten sich wahrscheinlich nur vor der Arbeit.
Aber die Zeiten hatten sich geändert und Rachel mit ihnen. Vielleicht war sie aber auch bloß einsam, überlegte sie. Sie schnaubte und eilte den Gang hinauf.