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Dunkle Gänge
![D](/epubstore/W/T-Williams/Das-geheimnis-der-groaen-schwerter-die-nornenkonigin-bd-3/OEBPS/images/ValdemarD.png)
ie Treppe war steil und der Sack schwer, aber trotzdem empfand Rachel ein gewisses Vergnügen. Noch einen Gang – nur noch einmal würde sie sich in die spukhaften oberen Räume der Burg wagen müssen –, dann hatte sie es geschafft.
Gleich hinter dem dunklen Treppenabsatz, auf halber Höhe der Stufen, blieb sie stehen und setzte ihre Last ab. Dabei achtete sie sorgfältig darauf, dass die Krüge nicht klirrten. Den Eingang verdeckte ein Vorhang, von dem Rachel der Drache überzeugt war, es müsse sich um den ältesten, verstaubtesten Wandteppich der ganzen Burg handeln. Daran, dass sie ihn jeden Tag berührte und nicht saubermachte, konnte man ermessen, wie ungeheuer wichtig es für sie war, dass ihr Versteck unbemerkt blieb. Jedes Mal, wenn sie ihre Hand auf den verrottenden Stoff legen musste, krampfte sich ihr Herz zusammen, aber es gab Umstände, unter denen selbst die Reinlichkeit zurückstehen musste. Rachel verzog das Gesicht. Schlechte Zeiten verderben die guten Sitten, hatte ihre Mutter immer gesagt. Und wenn das nicht Ädons heilige Wahrheit war, was dann?
Rachel hatte die uralten Angeln mit größter Umsicht geölt. Als sie den Vorhang hob und auf die Klinke drückte, schwang die dahinterliegende Tür fast lautlos nach innen. Sie hob den Sack über die niedrige Schwelle und ließ dann den schweren Wandteppich zurückfallen, sodass die Tür wieder versteckt war. Dann entfernte sie den Blendschirm von ihrer Lampe, stellte sie in eine hochgelegene Wandnische und machte sich ans Auspacken. Als der letzte Krug aus dem Sack geholt war und Rachel mit einem in Lampenruß getauchten Strohhalm ein Bild des Inhalts daraufgemalt hatte, trat sie zurück und musterte ihre Vorratskammer. Sie hatte in den letzten Monaten hart gearbeitet und sich oft selbst über die Kühnheit ihrer Raubzüge gewundert. Jetzt fehlte ihr nur noch der Sack mit Dörrobst, den sie auf ihrem heutigen Beutegang erspäht hatte. Dann konnte sie hier unten den ganzen Winter überstehen, ohne zu riskieren, dass man sie ertappte. Sie brauchte diesen Sack. Mangel an Obst würde zu Verstopfung, wenn nicht zu Schlimmerem führen, und sie konnte es sich nicht leisten, krank zu werden, wenn es niemanden gab, der sie pflegen konnte. Sie hatte alles sehr sorgfältig geplant. In der ganzen Burg gab es keine Menschenseele mehr, der sie vertrauen konnte, und so musste sie sich wohl oder übel alleine durchschlagen.
Rachel hatte geduldig gesucht, bis sie endlich den richtigen Zufluchtsort fand. Dieses Mönchsversteck lag weit unten in einem seit langem nicht mehr benutzten Teil der unterirdischen Anlagen des Hochhorsts und hatte sich als hervorragend geeignet erwiesen. Inzwischen verfügte es dank ihrer unermüdlichen Jagdausflüge über eine Speisekammer, um die sie im geplagten Erkynland so mancher Edelmann beneidet hätte. Zusätzlich war sie ein paar Treppen weiter oben auf einen anderen unbenutzten Raum gestoßen, der zwar nicht so gut verborgen war, dafür aber einen schmalen Fensterschlitz aufwies. Unmittelbar darüber mündete das Abflussrohr von einer der steinernen Dachrinnen des Hochhorsts. Rachel hatte in ihrer Zelle bereits ein volles Wasserfass, und solange Schnee und Regen anhielten, konnte sie dort jeden Tag noch einen Eimer füllen und brauchte ihren kostbaren Trinkwasserschatz nicht einmal anzurühren.
Sie hatte außerdem Kleidung zum Wechseln und mehrere warme Decken sowie einen Strohsack angeschleppt und sich sogar einen Stuhl zum Sitzen besorgt, ein hochelegantes Stück, das sie immer wieder staunend betrachtete – mit einer Rückenlehne! Sie besaß Holz für den winzigen Kamin, und an den Wänden waren so viele Reihen von Krügen und Töpfen mit eingepökeltem Gemüse und Fleisch und so viele Pakete mit hartgebackenem Brot aufgestapelt, dass sie von der Tür kaum noch zu ihrem Lager kam. Aber das war die Sache wert. Rachel wusste, dass sie es mit so viel Proviant in dem versteckten Raum fast ein Jahr aushalten konnte. Was geschehen würde, wenn die Vorräte erschöpft waren, und welches Ereignis ihr ermöglichen würde, die Höhle zu verlassen und sich ans Tageslicht zurückzubegeben, davon hatte sie keine rechte Vorstellung … und konnte sich jetzt auch nicht den Kopf darüber zerbrechen. Sie würde die Zeit damit verbringen, auf ihre Sicherheit zu achten, ihr Nest sauberzuhalten und alles Weitere abzuwarten. Das war ihr von Kindesbeinen an eingedrillt worden: Tu dein Bestes und überlass Gott das Übrige.
Neuerdings beschäftigte sie sich in Gedanken viel mit ihrer Jugend. Die ständige Einsamkeit und Heimlichtuerei ihres täglichen Lebens hatten zur Folge, dass sie viel Zeit zum Nachdenken hatte. Wenn sie Unterhaltung und Trost suchte, blieben ihr nur die Erinnerungen. Es waren ihr Dinge eingefallen – eine Ädonmansa, bei der man befürchtet hatte, ihr Vater habe sich im Schnee verirrt, eine Strohpuppe, die ihre Schwester ihr gebastelt hatte –, an die sie seit Jahren nicht mehr gedacht hatte. Wie die Lebensmittel, die in der salzigen Dunkelheit der Krüge schwammen, warteten auch die Erinnerungen nur darauf, von ihr hervorgeholt zu werden.
Rachel schob den letzten Krug ein Stückchen nach hinten, sodass jetzt alle eine gleichmäßige Reihe bildeten. Auch wenn die Burg allmählich verrottete, hier in ihrem sicheren Hafen sollte alles seine Ordnung haben. Nur noch einen Gang, dachte sie. Dann kann ich endlich ausruhen.
Die Oberste der Kammerfrauen stand oben auf der Treppe und wollte gerade nach der Tür greifen, als sie plötzlich von einer Woge unendlicher Kälte erfasst wurde. Auf der anderen Seite der Tür näherten sich Schritte, ein stumpfes, tickendes Geräusch wie Wasser, das auf Stein tropft. Es kam jemand. Man würde sie finden!
Ihr Herz klopfte so schnell, als wollte es ihr aus der Brust springen. Wie in einem Alptraum konnte sie kein Glied regen.
Beweg dich, Dummkopf, beweg dich!
Die Schritte wurden lauter. Endlich gelang es Rachel, ihre Hand zurückzuziehen. Als sie begriff, dass sie doch zu einer Bewegung imstande war, zwang sie sich, ein paar Stufen hinabzusteigen. Wild blickte sie sich um. Wohin jetzt nur, wohin? Sie saß in der Falle.
Immer weiter wich sie zurück. Die Stufen waren glatt. Dort, wo die Treppe um die Ecke führte, gab es einen Treppenabsatz, ganz ähnlich jenem, auf dem sich ihr neues Heim befand. Auch hier hing als Schmuck ein muffiger, zerschlissener Teppich an der Wand. Sie griff danach, aber der schwere, staubverkrustete Stoff leistete Widerstand. Sicher war es zu viel erwartet, wenn sie dahinter einen weiteren verborgenen Raum erwartete, aber zumindest konnte sie sich flach an die Wand pressen und hoffen, dass derjenige, der oben gerade die Tür öffnete, kurzsichtig war oder es eilig hatte.
Aber da war eine Tür! Rachel fragte sich, ob in der ganzen weitläufigen Burg überhaupt ein Wandteppich hing, hinter dem es keinen versteckten Eingang gab. Sie zog an dem uralten Türgriff.
O Ädon am Baum, betete sie lautlos – bestimmt würden die Angeln quietschen! Aber die Angeln gaben keinen Ton von sich, und die Tür öffnete sich stumm im selben Moment, als oben an der Treppe die andere Tür über den Steinboden scharrte. Das Klappern der Stiefelabsätze wurde lauter und kam die Stufen herunter. Rachel zwängte sich durch die Tür und wollte sie hinter sich zuziehen. Als noch ein knapp handbreiter Spalt offenstand, blieb die Tür jedoch stecken und ließ sich nicht weiterbewegen.
Rachel blickte auf. Sie hätte gern ihre Laterne aufgeblendet, wagte es jedoch nicht. Dankbar bemerkte sie, dass draußen im Treppenhaus wenigstens eine Fackel flackerte. Sie zwang sich dazu, alles genau zu untersuchen, obwohl ihr schwarze Flecke vor den Augen tanzten und ihr Herz hastig pochte. Dort! Der obere Teil des Wandbehangs hatte sich in der Tür verfangen, so weit oben, dass sie nicht herankam. Sie packte den dicken, staubstarren Samt, um ihn freizuschütteln. Aber die Schritte waren schon fast auf dem Treppenabsatz. Rachel wich von dem offenen Türspalt zurück und hielt den Atem an. Mit dem Geräusch näherte sich auch eine eisige Kälte, die bis in die Knochen drang, als trete man aus einem heißen Zimmer hinaus in Mittwinterwinde. Rachel merkte, dass sie unwillkürlich anfing zu zittern. Durch den Türspalt wurden zwei schwarzgekleidete Gestalten sichtbar. Die leisen Töne ihres Gesprächs, eben erst hörbar geworden, verstummten jäh. Die eine Gestalt drehte sich so, dass Rachel in ihrem Versteck für einen Augenblick ihr bleiches Gesicht sehen konnte. Das Herz der Obersten der Kammerfrauen tat einen Satz. Das da draußen war eines von diesen Hexenwesen – ein Weißfuchs! Nun wandte es sich wieder ab, sagte mit leiser, aber seltsam melodischer Stimme etwas zu seinem Gefährten und schaute die Stufen hinauf, die die beiden gerade heruntergekommen waren. Neue Schritte hallten im Treppenhaus.
Noch mehr!
Obwohl es Rachel davor grauste, sich zu rühren oder überhaupt irgendetwas zu tun, das ein Geräusch verursachen konnte, begann sie sich zurückzuziehen. Sie starrte auf die nicht ganz geschlossene Tür und betete, die Ungeheuer davor möchten nicht bemerken, dass sie nur angelehnt war. Immer wieder tastete sie nach der Hinterwand des Raums. Sie ging so weit zurück, dass der Türspalt nur noch ein heller, dünner Strich war, aber noch immer stieß ihre Hand auf keinen Widerstand. Schließlich blieb sie stehen und drehte sich um, voller Entsetzen, weil ihr plötzlich eingefallen war, sie könnte über einen in diesem Raum aufbewahrten Gegenstand stolpern, der dann krachend zu Boden fiel.
Aber es war gar kein Raum. Rachel stand in der Mündung eines Ganges, der ins Dunkel hineinführte.
Sie hielt inne und zwang sich zum Nachdenken. Es war sinnlos, einfach stehen zu bleiben, vor allem, wenn hinter der Tür eine Rotte dieser Hexenwesen lauerte. In der kahlen Steinmauer gab es keinerlei Versteck, und sie wusste, dass sie jeden Augenblick irgendein Geräusch machen oder, noch schlimmer, mit viel Getöse ohnmächtig umfallen konnte. Und wer wusste, wie lange diese Schreckgespenster dort noch herumstehen und miteinander krächzen würden wie Aasvögel auf einem Ast? Vielleicht war ja, wenn sie erst alle versammelt waren, gerade dieser Gang ihr Ziel? Wenn Rachel jetzt weiterging, fand sich vielleicht doch ein besseres Versteck oder ein anderer Ausgang.
Sie wankte den Gang hinunter. Mit einer Hand streifte sie an der Wand entlang – und was für grässliche schleimige Dinge sie unter ihren Fingern fühlte! –, mit der anderen hielt sie die abgeblendete Laterne vor sich und achtete darauf, nicht gegen den Stein zu stoßen. Der dünne Lichtstreifen der Tür verschwand schon hinter der ersten Biegung und ließ sie in tiefer Finsternis zurück. Vorsichtig schob sie den Blendschirm der Laterne ein ganz kleines Stück zur Seite, sodass ein einzelner Strahl auf die Steinplatten vor ihren Füßen fiel. Dann marschierte sie eilig weiter.
Rachel hob die Lampe und spähte durch den einförmigen Gang in die unerforschte Dunkelheit. Hatte denn dieser Irrgarten unter der Burg überhaupt kein Ende? Sie hatte den Hochhorst so gut zu kennen geglaubt wie kaum ein anderer, aber die letzten Wochen waren in dieser Hinsicht eine Offenbarung für sie gewesen. Unter den Vorratskammern im Keller, über die sie früher nie hinausgekommen war, schien eine vollständige zweite Burg zu liegen. Ob Simon davon gewusst hatte?
Der Gedanke an den Jungen war wie immer schmerzlich. Kopfschüttelnd stapfte sie weiter. Noch waren keine Verfolger zu hören – Rachel, vor lauter Furcht ganz außer Puste, war endlich wieder zu Atem gekommen –, aber dennoch hatte es keinen Sinn, hier herumzustehen und auf sie zu warten.
Freilich, ein Problem war da noch zu lösen: Wenn sie nicht umzukehren wagte, was sollte sie dann tun? Auf ihren Ortssinn konnte sie sich in diesem Kaninchenbau schon lange nicht mehr verlassen. Was war, wenn sie falsch abbog und dann für immer in der Dunkelheit umherirrte, verloren und verhungernd?
Albernes Weib. Bieg einfach nicht von diesem Gang ab oder mach wenigstens ein Zeichen an die Stelle, wenn du es doch tust. Dann kannst du den Treppenabsatz und die Stufen immer wiederfinden.
Sie schnaubte, das gleiche unwirsche Prusten, das so manche Kammerfrau zum Plärren gebracht hatte. Rachel wusste, was es hieß, diszipliniert und überlegt vorzugehen.
Keine Zeit für Unfug.
Und doch war es ein seltsames Gefühl, hier durch diese Tunnel im Zwischenraum zu wandern. Ein bisschen erinnerte es sie an den Ort des Harrens, von dem Vater Dreosan erzählt hatte, jene Stätte zwischen Hölle und Himmel, an der die toten Seelen auf ihr Urteil warteten und sich eine zeitlose Zeit aufhalten mussten, wenn sie für die Erstere nicht böse, für den Letzteren nicht geläutert genug waren. Rachel war diese Vorstellung immer unangenehm erschienen. Reinliche Scheidungen waren ihr allemal lieber als diese Grauzonen. Wer Unrecht tut, wird verdammt und verbrannt. Wer ein reines, ädonitisch strenges Leben führt, darf in den Himmel fliegen und im ewigen Blau singen und sich ausruhen. Dieser Ort in der Mitte, von dem der Priester sprach, war lediglich ungemütlich und geheimnisvoll. Ein Gott, wie Rachel ihn anbetete, sollte sich auf solche Halbheiten nicht einlassen.
Das Licht der Lampe fiel auf eine Quermauer. Der Tunnel war in einen rechtwinklig kreuzenden Gang eingemündet, sodass sie nur nach rechts oder nach links weitergehen konnte. Rachel runzelte die Stirn. Hier musste sie schon vom geraden Weg abweichen. Es gefiel ihr nicht. Die Frage war nur, ob sie es riskieren konnte, umzukehren oder auch nur stehen zu bleiben? Sie glaubte nicht, dass sie sich schon weit von der Treppe entfernt hatte.
Die Erinnerung an die wispernden Weißgesichter draußen auf den Stufen ließ sie einen Entschluss fassen.
Sie tauchte einen Finger in den Lampenruß, stellte sich auf die Zehen und markierte die linke Wand des Tunnels, in dem sie sich befand. Diese Stelle würde sie bei ihrer Rückkehr sehen. Dann bog sie widerwillig in den rechten Arm des Quergangs ein.
Der Gang schlängelte sich endlos dahin. Immer wieder kreuzten ihn andere Gänge, oder er erweiterte sich zu kleinen, fensterlosen Galerien, leer wie ausgeraubte Gräber. Getreulich bezeichnete Rachel jede Richtungsänderung. Allmählich machte sie sich Sorgen wegen der Lampe, der sicher bald das Öl ausgehen würde, wenn sie nicht umkehrte. Da endete der Gang plötzlich vor einer uralten Tür.
Die Tür war unauffällig und besaß weder Schloss noch Riegel. Das Holz war alt und verquollen und so voller Wasserflecke, dass es gescheckt war wie ein Schildkrötenpanzer. Große, plumpe Eisenstücke dienten als Angeln, die mit Nägeln aus rotem Metall befestigt waren. Rachel sah nach unten und vergewisserte sich, dass es außer ihren eigenen keine Fußspuren gab. Dann schlug sie vor ihrer Brust einen Baum und zog am grobgeschmiedeten Griff. Knarrend öffnete sich die Tür ein Stück und blieb dann mit einem mahlenden Geräusch stehen, verklemmt vom Staub und Geröll der Jahrhunderte. Dahinter lag neue Dunkelheit, diesmal durchsetzt von rötlichem Licht.
Die Hölle!, war Rachels erster Gedanke. Vom Ort des Harrens zur Höllentür! Und dann: Mutter Elysia! Alte, du bist doch gar nicht tot! Sei vernünftig!
Sie trat durch die Tür.
Der Tunnel auf der anderen Seite unterschied sich von den bisherigen Gängen. Er war nicht mit behauenen Steinen verkleidet, sondern in den nackten Fels geschlagen. Der rote Lichtschimmer, der über die rohen Wände flackerte, schien von links zu kommen, als brenne weiter vorn hinter der nächsten Ecke ein Feuer.
Obwohl diese neue Entwicklung sie in große Unruhe versetzte, wollte Rachel doch gerade auf die Quelle des roten Lichts zugehen, als sie plötzlich aus der anderen Richtung, der rechten Seite des neuen Tunnels, ein Geräusch vernahm. Sofort huschte sie zurück durch die Tür, die jedoch noch immer klemmte und sich nicht schließen ließ. Der Drache drückte sich tief in den Schatten und versuchte den Atem anzuhalten.
Von wem das Geräusch auch stammte – er bewegte sich nicht sehr schnell. Als das leise Scharren näher kam, duckte sich Rachel, aber in ihre Furcht mischte sich heftiger Zorn. Der Gedanke, dass sie, die Oberste der Kammerfrauen, gezwungen war, sich in ihrem eigenen Heim in Ecken herumzudrücken, weil sich dort … Unholde … herumtrieben! Um ihr jagendes Herz zu beruhigen, stellte sie sich noch einmal den Augenblick vor, in dem sie auf Pryrates eingestochen hatte – ihre wahnsinnige Erregung dabei, die eigentümliche Befriedigung, nach den vielen öden, leidvollen Monaten endlich einmal etwas tun zu können. Aber jetzt? Ihr kräftiger Stoß hatte dem roten Priester anscheinend in keiner Weise geschadet. Was konnte sie da gegen eine ganze Horde von Dämonen auszurichten? Nein, es war besser, sich zu verstecken und den Zorn für eine bessere Gelegenheit aufzusparen.
Als die Gestalt an der verklemmten Tür vorbeikam, stellte Rachel mit großer Erleichterung fest, dass es doch nur ein Mensch war, ein dunkelhaariger Mann, im roten Schein der Felswände nur undeutlich zu erkennen. Sofort war Rachels Neugier wieder da, so heftig wie der Zorn, den sie gerade noch empfunden hatte. Wer lief so selbstverständlich in diesen dunklen Gängen herum?
Sie steckte den Kopf durch die Tür und sah der sich entfernenden Gestalt nach. Der Mann ging sehr langsam und ließ die eine Hand nicht von der Wand. Den Kopf hatte er in den Nacken gelegt und bewegte ihn langsam von links nach rechts, als versuche er an der dunklen Decke des Tunnels etwas zu lesen.
Barmherzigkeit, er ist blind!, begriff Rachel jäh. Das Zögern, die tastenden Hände, es gab keinen Zweifel. Gleich darauf wurde ihr klar, dass sie den Mann kannte. Sie warf sich zurück in die Schatten der Tür. Guthwulf! Das Ungeheuer! Was tut er hier? Für einen schrecklichen Moment dachte sie, dass Elias’ Schergen noch immer nach ihr suchten und die Burg mit äußerster Gründlichkeit nach ihr abkämmten. Aber warum schickten sie einen Blinden? Und seit wann war Guthwulf blind?
Bruchstückhaft fiel ihr etwas ein. Das war doch damals Guthwulf gewesen, der mit dem König und Pryrates auf dem Balkon stand? Der Graf von Utanyeat hatte mit dem Alchimisten gerungen, als dieser sich, Rachels Dolch im Rücken, auf sie stürzen wollte. Aber warum hatte Guthwulf das getan? Jeder wusste, dass Utanyeat, der hartherzigste von Elias’ Gefolgsleuten, die Hand des Hochkönigs war.
Hatte er ihr tatsächlich das Leben gerettet?
In Rachels Kopf drehte sich alles. Wieder spähte sie durch den Türspalt, aber Graf Guthwulf war hinter einer Biegung des Tunnels verschwunden. Er strebte auf das rote Glühen zu. Aus der tieferen Schwärze löste sich ein winziger Schatten, huschte an ihren Füßen vorbei und folgte ihm in die Dunkelheit. Eine Katze?
Die Welt unter der Burg wurde für Rachel immer mehr zum verwirrenden Traum. Sie blendete ihre Laterne auf und kehrte in die Richtung zurück, aus der sie gekommen war. Im Augenblick wünschte sie ihre Bekanntschaft mit Guthwulf nicht zu erneuern, blind oder sehend. Die Tür zu dem Gang mit den rauhen Wänden ließ sie angelehnt. Sie würde ihren eigenen, sorgfältigen Wegzeichen bis zum Treppenabsatz folgen und darum beten, dass die Weißfüchse sich entfernt hatten, um ihren unheiligen Geschäften nachzugehen. Es gab vieles, über das sie nachdenken musste, zu viel. Rachel hatte nur den einen Wunsch, sich an ihrem Zufluchtsort einzuschließen und zu schlafen. Im Gehen war Guthwulfs Kopf voll verführerischer, giftiger Musik – eine Musik, die zu ihm sprach, ihn anlockte und ihm zugleich mehr Angst einjagte als alles andere in seinem Leben.
Lange hatte er in der endlosen Finsternis seiner Tage und Nächte das Lied nur in seinen Träumen vernommen. Heute aber war die Musik endlich auch in den wachen Stunden zu hören gewesen, hatte ihn aus den Tiefen hier heraufgetrieben und selbst die flüsternden Stimmen, die seine ständigen Begleiter waren, aus seinem Kopf verscheucht. Es war die Stimme des grauen Schwertes, und es musste hier irgendwo in der Nähe sein.
Ein Teil des Grafen von Utanyeat wusste ganz genau, dass das Schwert nur ein Gegenstand war, ein stummer Metallstock am Gürtel des Königs, und ein Wiedersehen mit ihm das Letzte, das er sich auf dieser Welt wünschen sollte. Denn wo das graue Schwert war, befand sich auch König Elias. Ganz bestimmt hatte Guthwulf keine Lust, sich einfangen zu lassen – an seiner persönlichen Sicherheit lag ihm zwar wenig, aber er wollte lieber allein in den Abgründen unter der Burg sterben, als in seinem jetzigen Zustand vor die Menschen zu treten, die ihn gekannt hatten, bevor er ein so elendes Wrack geworden war. Doch der Ruf des Schwertes war von unwiderstehlicher Macht. Guthwulfs Leben bestand fast nur noch aus Echos und Schatten, kaltem Stein, Geisterstimmen und dem Tappen und Scharren seiner eigenen Schritte. Das Schwert jedoch lebte, und auf geheimnisvolle Weise war sein Leben stärker als Guthwulfs Leben. Es verlangte ihn nach der Nähe der Klinge.
Ich werde mich nicht fangen lassen, nahm er sich vor. Ich werde schlau sein und vorsichtig. Er würde sich nur so weit heranwagen, dass er die singende Kraft spürte …
Seine Gedanken wurden von etwas unterbrochen, das um seine Knöchel strich. Die Katze, seine Schattenfreundin. Er bückte sich, um das Tier zu berühren, mit den Fingern über den knochigen Rücken zu streichen, die schlanken Muskeln zu fühlen. Die Katze hatte ihn begleitet, vielleicht um ihn vor dummen Streichen zu bewahren. Er hätte fast gelächelt.
Als er sich wieder aufrichtete, lief Schweiß über seine Wangen. Die Luft wurde wärmer. Er konnte beinahe glauben, dass er sich nach den vielen Stufen und langen, aufwärtsführenden Rampen, die er hinaufgestiegen war, der Oberfläche näherte. Aber konnte sich in der Zeit, die er unterirdisch gelebt hatte, so viel verändert haben? War es möglich, dass der Winter geflohen und ein heißer Sommer an seine Stelle getreten war? Ihm kam es nicht vor, als könne eine so lange Zeit vergangen sein, aber die ewige Finsternis täuschte. Das hatte der blinde Guthwulf schon gelernt, als er noch oben in der Burg wohnte. Und das Wetter … nun, in dieser unheilvollen und verworrenen Zeit war alles möglich!
Jetzt fühlten sich sogar die Felswände unter den tastenden Fingern warm an. Wohin ging er? Guthwulf wollte nicht daran denken. Was immer vor ihm lag, das Schwert wartete auf ihn. Das Schwert, das ihn rief. Bestimmt konnte er noch ein Stück weitergehen …
Dieser Augenblick, als Leid in ihm gesungen, ihn erfüllt hatte …
Damals, als Elias ihn gezwungen hatte, es zu berühren, war es Guthwulf vorgekommen, als sei er ein Teil des Schwertes geworden. Eine fremdartige Melodie hatte ihn verschlungen. Wenigstens in diesem Augenblick waren er und die Klinge eins gewesen.
Leid brauchte seine Brüder. Zusammen würden sie eine noch gewaltigere Musik ertönen lassen.
So sehr ihm davor graute, hatte auch Guthwulf sich damals im Thronsaal des Königs nach dieser Vereinigung gesehnt. Jetzt erinnerte er sich und empfand die gleiche Sehnsucht. Ganz gleich, was er dabei aufs Spiel setzte, er musste dieses Lied wieder fühlen. Es war eine Art von Wahnsinn, das wusste er, aber er war zu schwach, sich dagegen zu wehren. Stattdessen würde er seine ganze List und Selbstbeherrschung brauchen, um sich ihm zu nähern, ohne entdeckt zu werden. Es war jetzt ganz nah.
Die Luft in dem engen Tunnel war zum Ersticken. Guthwulf blieb stehen und fühlte mit den Händen vor. Die kleine Katze war fort. Wahrscheinlich hatte sie sich an einen Ort zurückgezogen, der ihren Pfoten nicht so weh tat. Als er die Hand wieder auf die Tunnelwand legte, musste er sie nach kürzester Zeit wieder wegnehmen. Irgendwo weiter vorn hörte er ein gedämpftes, aber stetiges Brausen, ein fast lautloses Röhren. Was konnte dort sein?
Einst hatte ein Drache unter dieser Burg seine Höhle gehabt, der rote Lindwurm Shurakai, dessen Tod Priester Johan berühmt gemacht und der die Knochen für den Thron des Hochhorsts geliefert hatte – ein Ungeheuer, dessen feurigem Atem vor Jahrhunderten zwei Könige und zahllose Burgbewohner zum Opfer gefallen waren. War es möglich, dass dort noch immer ein Drache lebte, ein Sprössling Shurakais, aufgewachsen in der Finsternis? Nun, dann sollte er Guthwulf doch töten, wenn ihm der Sinn danach stand, ihn zu Asche verbrennen – der Graf hatte längst keine Angst mehr vor dem Tod. Er hatte nur noch einen Wunsch: zuvor ein letztes Mal im Lied des grauen Schwertes zu baden.
Der Weg stieg plötzlich steil nach oben, und Guthwulf musste sich vorbeugen, um überhaupt weiterzukommen. Die Hitze war gewaltig. Er stellte sich vor, wie seine Haut schwarz wurde und einschrumpfte wie das gebratene Fleisch eines Festtagsschweins. Während er sich die Steigung hinaufkämpfte, wurde das Röhren lauter, ein tiefes, unregelmäßiges Grollen wie Donner, eine wütende See oder der unruhige Atem eines schlafenden Drachen. Dann änderte sich das Geräusch. Guthwulf erkannte, dass der Gang sich erweiterte. Als er um die nächste Ecke bog, verrieten ihm die geschärften Sinne des Blinden, dass der Tunnel nicht nur breiter, sondern auch höher geworden war. Heiße Winde strömten ihm entgegen. Das grollende Geräusch erzeugte ein eigentümliches Echo.
Wenige Schritte später begriff er den Grund. Hinter der Felskammer musste eine andere, weit größere Höhle liegen, riesig in den Ausmaßen wie Sankt Sutrins ungeheurer Dom zu Erchester. Ein feuriger Abgrund? Guthwulf fühlte sein Haar in der heißen Brise flattern. Stand er etwa vor dem sagenhaften See des Gerichts, wo Sünder auf ewig in einen Flammenteich geworfen wurden? War es Gott selbst, der in der Festung des Felsens auf ihn wartete? Verwirrt und zerstreut, wie er inzwischen geworden war, wusste Guthwulf nicht mehr viel über sein Leben vor der Blendung. Das, woran er sich erinnerte, schien ihm voll törichter, sinnloser Taten gewesen zu sein. Wenn es also einen solchen Ort und eine solche Strafe gab, dann hatte er sie zweifellos verdient. Dennoch fand er es traurig, den starken Zauber des grauen Schwertes nie wieder spüren zu dürfen.
Er begann, kürzere Schritte zu machen und mit jedem Fuß, bevor er ihn wieder aufsetzte, einen vorsichtigen Bogen von einer Seite zur anderen zu beschreiben. Mit größter Aufmerksamkeit tastete er sich vorwärts und kam darum nur noch ganz langsam weiter. Endlich berührte sein Fuß leere Luft. Guthwulf hielt an, hockte sich nieder und strich mit den Fingern über den heißen Boden des Tunnels. Vor ihm lag ein steinerner Rand, der auf beiden Seiten weiter reichte, als er greifen konnte. Dahinter waren nichts als Leere und sengende Winde.
Er stand wieder auf und trat von einem Fuß auf den anderen, weil die Hitze durch seine Sohlen drang. Er lauschte dem dröhnenden Brausen. Da waren auch andere Geräusche. Das eine klang wie ein tiefes unrhythmisches Donnern, als prallten massive Metallstücke aufeinander. Das andere stammte von menschlichen Stimmen.
Wieder erscholl das Krachen von Metall auf Metall, und endlich weckte das Geräusch in ihm eine Erinnerung an sein früheres Leben auf der Burg. Das donnernde Dröhnen kam von den großen Türen des Schmiedeofens, der geöffnet und geschlossen wurde, wenn die Männer neuen Brennstoff in die Flammen warfen. Er hatte es oft gesehen, wenn er in seinem Amt als Hand des Königs die Gießerei inspiziert hatte. Offenbar befand er sich an einem der Tunneleingänge, die fast unmittelbar über dem riesigen Hochofen lagen. Kein Wunder, dass ihm beinahe die Haare brannten!
Aber das graue Schwert war da. Er wusste es mit der Sicherheit einer futtersuchenden Maus, die spürt, dass über ihr eine Eule dahinschwebt. Elias musste sich dort unten in der Schmiede aufhalten, das Schwert an der Seite.
Guthwulf wich von der Kante zurück und zermarterte sich das Hirn nach einer Möglichkeit, unbeobachtet auf den Boden der Schmiede zu gelangen.
Als er so lange auf derselben Stelle gestanden hatte, dass seine Füße brannten, musste er zurückgehen. Er tat es fluchend. Es gab keinen Weg zu dem Schwert. Er konnte tagelang durch die Tunnel irren, ohne einen anderen Zugang zu finden. Und wenn er ihn fand, war Elias bestimmt nicht mehr dort. Andererseits konnte er auch nicht einfach aufgeben. Das Schwert rief ihn, und es kümmerte sich nicht um Hindernisse.
Guthwulf stolperte zurück in den Gang, weg von der Hitze, obwohl das Schwert nach ihm schrie, ihm befahl, in die feurige Vergessenheit hinabzuspringen.
»O Gott, warum hast du mir das angetan?«, brüllte Guthwulf, und seine Stimme ging im Röhren des Hochofens unter. »Warum hast du mich mit diesem Fluch beladen?« Die Tränen trockneten schnell aus seinen Wangen.
Inch verbeugte sich vor König Elias. Im flackernden Licht der Schmiede ähnelte der riesenhafte Mann einem Affen aus den südlichen Dschungeln – ein Affe in Kleidern zwar, aber doch nur das schäbige Zerrbild eines Menschen. Die anderen Männer in der Gießerei hatten sich, als der König eintrat, flach auf die Erde geworfen. Ihre überall in der Höhle verstreuten Körper erweckten den Eindruck, als hätte Elias’ bloße Anwesenheit genügt, um hundert Männer tot umfallen zu lassen.
»Wir arbeiten, Majestät, wir arbeiten«, brummte Inch. »Aber es geht sehr langsam voran.«
»Ihr arbeitet?«, fragte Elias rauh. Während dem Schmiedemeister der Schweiß herunterlief, war die blasse Haut des Königs trocken. »Natürlich arbeitet ihr. Aber ihr habt den Auftrag, den ich euch gegeben habe, noch nicht ausgeführt, und wenn ich nicht umgehend einen Grund dafür erfahre, lasse ich dir die schmutzige Haut abziehen und an deinem eigenen Hochofen zum Trocknen aufhängen.«
Der große Mann sank in die Knie. »Wir arbeiten, so schnell wir können, Herr.«
»Aber nicht schnell genug.« Der Blick des Königs wanderte über die düstere Decke der Höhle.
»Es ist schwer, Gebieter – wir besitzen nur Teile der Pläne. Manchmal müssen wir wieder von vorn anfangen, wenn uns die nächste Zeichnung vorliegt.« Inch sah auf. Sein einziges Auge funkelte im stumpfen Gesicht, als er auf die Antwort des Königs wartete.
»Was soll das heißen – nur ›Teile der Pläne‹?« Hoch oben in der Wand über dem großen Schmiedeofen bewegte sich etwas. Der König kniff die Augen zusammen, aber der vorüberhuschende helle Fleck – ein Gesicht? – war schon wieder hinter aufsteigendem Rauch und hitzeflirrender Luft verschwunden.
»Majestät!«, rief jemand. »Da seid Ihr ja!«
Elias drehte sich langsam zu der Gestalt im Scharlachgewand um. Er hob milde überrascht die Brauen, antwortete jedoch nicht.
Pryrates kam herbeigeeilt. »Ich war erstaunt, Euch nicht vorzufinden.« Seine schnarrende Stimme klang sanfter und überzeugender als sonst. »Kann ich Euch helfen?«
»Ich brauche Euch nicht jeden Augenblick, Priester«, versetzte Elias kurz. »Es gibt Dinge, die ich allein erledigen kann.«
»Aber Ihr habt Euch nicht wohlgefühlt, Majestät.« Pryrates hob die Hand. Der rote Ärmel wogte, als wolle der Priester tatsächlich Elias’ Arm ergreifen und den König fortführen, aber stattdessen hob er die Finger an den eigenen Kopf und strich sich über den kahlen Schädel. »Ich fürchtete nur, dass Ihr, geschwächt wie Ihr seid, auf den steilen Stufen stolpern könntet.«
Elias sah ihn an. Seine Augen wurden so schmal, dass sie nur noch aus schwarzen Schlitzen zu bestehen schienen. »Ich bin kein Greis, Priester. Ich bin nicht mein Vater in seinen letzten Lebensjahren.« Er warf einen raschen Blick auf den knienden Inch und wandte sich erneut an Pryrates. »Dieser Tölpel sagt, die Pläne für die Verteidigung der Burg seien schwer verständlich.«
Der Alchimist musterte den Schmied mit den Augen eines Mörders. »Er lügt, Majestät. Ihr selbst habt sie genehmigt und wisst, dass das nicht stimmt.«
»Ihr gebt sie uns nur Stück für Stück, Priester.« Inchs Stimme war tief und schwerfällig, aber die Wut, die darin schwelte, kam noch deutlicher zum Ausdruck als vorher.
»Kein unnützes Geschwätz vor dem König!«, fauchte Pryrates.
»Ich sage die Wahrheit, Priester.«
»Ruhe!« Elias richtete sich auf. Die Hand mit den knotigen Knöcheln fiel auf den Griff des grauen Schwertes. »Ich wünsche Ruhe!«, schrie er. »Was meint dieser Mann? Warum erhält er die Pläne nur stückweise?«
Pryrates holte tief Atem. »Wegen der Geheimhaltung, König Elias. Ihr wisst, dass schon mehrere von den Schmiedearbeitern geflohen sind. Wir können nicht dulden, dass jemand die Pläne für die Verteidigung der Burg in ihrer Gesamtheit zu Gesicht bekommt. Was könnte ihn daran hindern, mit diesem Wissen sofort zu Josua zu rennen?«
Eine lange, stumme Pause entstand. Pryrates starrte den König an. Die Luft in der Schmiede schien sich zu verändern, dicker zu werden. Das Brüllen der Feuer klang seltsam gedämpft. Das flackernde Licht warf lange Schatten.
Elias schien plötzlich das Interesse zu verlieren. »Mag sein.« Erneut streifte der Blick des Königs die Stelle, an der er eine Bewegung bemerkt zu haben glaubte. »Ich werde dir ein weiteres Dutzend Männer herunterschicken – es gibt mindestens so viele Söldner, deren Gesicht mir nicht gefällt«, sagte er zu dem Aufseher der Schmiede. »Dann hast du keine Ausrede mehr.«
Ein Zittern überlief Inchs breite Gestalt. »Jawohl, Majestät.«
»Gut. Ich habe dir gesagt, wann die Arbeit an Mauern und Tor abgeschlossen sein soll. Du wirst fertig sein.«
»Jawohl, Majestät.«
»So«, sagte der König zu Pryrates. »Wie ich sehe, wird der König doch noch gebraucht, damit die Dinge so laufen, wie sie sollen.«
Der Priester neigte den glänzenden Schädel. »Ihr seid unersetzlich, Herr.«
»Aber ich bin auch ein wenig müde, Pryrates. Vielleicht hattet Ihr doch recht – ich fühle mich tatsächlich nicht wohl.«
»Jawohl, Majestät. Vielleicht Euer Heiltrank und dann ein kleiner Schlaf?« Und nun schob Pryrates tatsächlich die Hand unter Elias’ Ellenbogen und drehte den König sanft nach der Treppe, die hinauf in die eigentliche Burg führte. Gehorsam wie ein Kind setzte sich Elias in Bewegung.
»Aber auch wenn ich mich hinlege, Pryrates … schlafen werde ich jetzt wohl kaum.«
Er warf noch einen verstohlenen Blick auf die Wand über dem Hochofen und schüttelte sinnend den Kopf.
»Jawohl, Herr. Eine ausgezeichnete Idee. Kommt, wir wollen den Schmiedemeister weiterarbeiten lassen.« Pryrates sah Inch bedeutungsvoll an, dessen eines Auge den Blick starr erwiderte. Dann drehte sich der rote Priester mit ausdrucksloser Miene um und führte den König aus der Höhle.
Hinter ihnen rappelten sich langsam die am Boden liegenden Arbeiter auf, zu zerschlagen und erschöpft, um auch nur über das ungewöhnliche Ereignis zu tuscheln. Sie trotteten an ihre Arbeit zurück. Ganz anders Inch, der noch eine ganze Weile auf den Knien verharrte, das Gesicht so steinern, wie das des Priesters gewesen war.
Rachel ging den Weg vorsichtig wieder zurück und erreichte den Treppenabsatz. Sie war erleichtert, als sie durch den Türspalt spähte und das Treppenhaus leer vorfand. Die Weißfüchse hatten sich entfernt.
Bestimmt, um irgendeine Teufelei auszuhecken. Sie schlug das Zeichen des Baumes.
Rachel der Drache strich sich eine ergrauende Haarsträhne aus den Augen. Sie war sehr müde, nicht allein von ihrem Weg durch das Labyrinth der Gänge – es war ihr wie Stunden vorgekommen –, sondern auch, weil man sie um ein Haar entdeckt hatte. Sie war kein junges Ding mehr und mochte es gar nicht, wenn ihr Herz so hämmerte wie heute. Das war kein von guter, ehrlicher Arbeit erhitztes Blut.
Alt – du wirst alt, Rachel.
Sie war nicht so töricht, jetzt leichtsinnig zu werden, darum achtete sie darauf, sacht und leise aufzutreten, als sie die Treppe hinunterstieg. Vorsichtig spähte sie um jede Ecke und hielt die abgeblendete Laterne hinter dem Rücken, damit kein Lichtstrahl sie verriet. So kam es, dass sie Bruder Hengfisk, den königlichen Mundschenk, unter sich auf der Treppe stehen sah, bevor sie in den im Schatten zwischen zwei Wandfackeln wartenden Mann hineinlief. Aber auch so erschrak sie derart, dass sie entsetzt aufkreischte und ihre Laterne fallen ließ. Polternd sprang die Laterne von Stufe zu Stufe bis auf den Treppenabsatz – Rachels Treppenabsatz, hinter dem ihre Zuflucht lag! – und blieb vor den Sandalen des Mönchs liegen. Brennendes Öl lief auf die Steine. Ungerührt musterte der glotzäugige Mann die seine Füße umlodernden Flammen und sah dann zu Rachel auf. Er grinste breit.
»Barmherzige Rhiap!«, ächzte Rachel. »O göttliche Barmherzigkeit!« Sie versuchte die Treppe wieder hinaufzulaufen, aber der Mönch war geschwind wie eine Katze. Schon war er an ihr vorbei, machte kehrt und versperrte ihr den Weg. Noch immer lächelte er sein grausiges Lächeln. Seine Augen waren leere Teiche.
Rachel taumelte ein paar Stufen nach unten bis zum Treppenabsatz. Der Mönch folgte jeder Bewegung, Stufe um Stufe, immer im gleichen Takt und völlig stumm. Blieb Rachel stehen, stand auch er. Als sie schneller gehen wollte, überholte er sie und zwang sie, sich an die steinerne Wand des Treppenhauses zu pressen. Er strahlte eine fiebrige Hitze und einen merkwürdig fremdartigen Geruch nach heißem Metall und verrottenden Pflanzen aus.
Sie fing an zu weinen. Ihre Schultern zuckten, und sie konnte sich keine Sekunde länger auf den Beinen halten. Rachel der Drache rutschte an der Wand hinunter und blieb zusammengekauert am Boden sitzen.
»Gesegnete Elysia, Mutter Gottes«, betete sie laut, »reines Gefäß, das den Erlöser gebar, erbarme dich dieser Sünderin.« Sie kniff die Augen zu, so fest sie konnte, schlug einen Baum und fuhr fort: »Elysia, du über alle Sterblichen hoch Erhobene, Königin von Himmel und Meer, sprich für diese Bittende hier, damit Gottes Gnade der Sünderin lächelt.«
Zu ihrem Entsetzen stellte sie fest, dass ihr der Rest der Worte entfallen war. Sie duckte sich und versuchte sich zu besinnen – ach, ihr Herz, ihr Herz, es schlug so schnell! Dabei wartete sie darauf, dass das Ungeheuer sie packte, mit den abscheulichen Händen nach ihr griff. Aber als lange Momente vergingen und nichts geschah, siegte ihre Neugier über die Angst. Rachel schlug die Augen auf.
Hengfisk stand immer noch vor ihr, aber das Grinsen war verschwunden. Der Mönch lehnte an der Wand und zupfte an seinen Kleidern herum, als sei er verwundert, dass er sie anhatte. Er sah zu ihr auf. Etwas hatte sich verändert. Er schien von einer neuen Art Leben erfüllt – undeutlich, zögernd, aber irgendwie menschlicher als das, was sie eben noch angestarrt hatte.
Er sah hinunter auf die brennende Ölpfütze und die blauen Flammen, die an seinen Füßen leckten, und sprang auf einmal erschrocken zurück. Die Flammen flackerten. Die Lippen des Mönchs bewegten sich, brachten jedoch zunächst kein Wort heraus.
Dann stotterte er: »Vad es? … Uf nammen Hott … vad es …?«
Verstört glotzte er Rachel an. Aber schon regte sich etwas hinter seinen Augen. Seine Züge strafften sich, als zerre eine unsichtbare Hand an seinem geschorenen Hinterkopf. Die Lippen wurden hart, die Augen leer.
Rachel stöhnte auf. Irgendetwas ging hier vor, das sie nicht verstand, ein Kampf im Inneren des glotzäugigen Mannes. Sie konnte nur angstvoll zuschauen.
Endlich schüttelte sich Hengfisk wie ein Hund, der aus dem Wasser steigt, sah wieder auf Rachel und blickte sich dann im ganzen Treppenhaus um. Seine Miene hatte sich erneut verwandelt. Er wirkte wie ein Mensch, der unter einer erdrückenden Last gefangen ist. Gleich darauf drehte er sich ruckartig um und stolperte die Treppe hinauf. Rachel hörte, wie seine unregelmäßigen Schritte in der Dunkelheit verklangen.
Sie wankte zu dem Wandteppich und zog ihn mit ungeschickten, zitternden Fingern zur Seite. Als sie mühsam die Tür dahinter geöffnet hatte, stürzte sie hindurch und schob sie hinter sich zu. Als Erstes stieß sie den Riegel vor. Dann warf sie sich auf ihren Strohsack und zog sich die Decke weit über den Kopf. Bebend wie im Fieber blieb sie liegen.
Das Lied, das ihn aus den sichereren Tiefen nach oben gelockt hatte, wurde immer leiser. Guthwulf fluchte matt vor sich hin. Er kam zu spät. Elias ging und nahm das graue Schwert wieder mit in seinen Thronsaal, diese staubige, blutleere Gruft voller Malachitstatuen und Drachengebein. Wo die Musik des Schwertes erklungen war, gab es nur noch Leere, ein Loch, das an seiner Seele nagte.
Hoffnungslos bog er in den nächsten Tunnel ein, der sich nach unten zu senken schien, wich zurück von der Oberfläche wie ein Wurm, der von einem Spatenstich ans Licht gezerrt worden war. Ein Loch gähnte in ihm, ein Loch, durch das der Wind heulen und der Staub wehen würde. Er war leer.
Als die Luft sich leichter atmen ließ und die Steine unter seinen Fingern sich wieder kühl anfühlten, fand ihn das Kätzchen. Er hörte das summende Schnurren, mit dem es um seine Füße strich, aber er blieb nicht stehen, um ihm seine Zuneigung zu zeigen. In diesem Augenblick hatte er nichts, das er anderen geben konnte. Das Schwert hatte für ihn gesungen und ihn dann verlassen. Bald würden die törichten Stimmen zurückkehren, die Geisterstimmen, sinnlos, so sinnlos …
Langsam wie das große Rad der Zeit bewegte sich Guthwulf und ertastete sich den Rückweg in die Tiefen.