Zwischen allen Stühlen - Köln

Die Beziehung zwischen dem 1. FC Köln und Peter Neururer beschränkt sich nicht auf einen Arbeitsvertrag. Neururer ist seit Kindertagen Anhänger des Geißbockclubs. Wegen des FC ist er zum Studium nach Köln gezogen, er ist ständiger Gast bei den Trainingseinheiten am Geißbockheim. 1978 sitzt er auf der Tartanbahn im Hamburger Volksparkstadion, als Köln St. Pauli am letzten Spieltag der Saison bezwingt und Deutscher Meister wird - trotz eines eigentümlichen 12:0 von Verfolger Mönchengladbach gegen Dortmund. Neururer hat den FC zu Europapokal-Spielen begleitet, das Geld für die Flugtickets hat er sich durch Kellnern dazuverdient. Und noch heute ertönt manchmal ein seltsames Geräusch aus Neuru-rers Mobiltelefon: ein Geißbock-Meckern, Zeichen für eine aktuelle Info-SMS des Clubs.

Im Frühjahr 1996 ist es um den FC alles andere als gut bestellt, der dänische Trainer Morten Olsen ist nach einem 1:1 bei Fortuna Düsseldorf bereits am 2. Saisonspieltag beurlaubt worden und seinem Nachfolger, dem Ex-FC-Nationalspieler Stephan Engels, traut man im Club mittlerweile nicht wirklich mehr zu, das Ruder herumreißen zu können. Der FC trudelt seinem ersten Abstieg seit Bestehen der Bundesliga entgegen.

In dieser Situation erweisen sich Peter Neururers Kontakte zur »Bild«-Zeitung wieder einmal als nützlich. Aus seiner Zeit in Hannover kennt Neururer den »Bild«-Redakteur Bernd Stubmann, der unter anderem der »Ghostwriter« der bissigen

Kolumnen von Max Merkel ist. Stubmann kennt seinerseits Karl-Erich Jäger, den Sportchef der Kölner »Bild«-Ausgabe. Und Karl-Erich Jäger kennt sie alle beim 1. FC Köln. Er spricht mit dem Manager, Ex-Nationalspieler Bernd Cullmann, über Neururer.

Doch nicht Cullmann meldet sich am Telefon, sondern zunächst ein alter Bekannter Neururers: Wolfgang Loos. Die beiden haben gemeinsam beim ASC Schöppingen in der Oberliga Westfalen gespielt und dabei im Trainingslager sogar einmal das Zimmer geteilt. In der Zwischenzeit hat Loos beim 1. FC Köln eine Anstellung als Geschäftsstellenleiter erhalten, er kümmert sich um das Operative im Club.

Ob Neururer sich vorstellen könne, den FC zu retten, fragt Loos, der nicht wirklich weiß, dass er gerade mit einem der größten Anhänger des Clubs verbunden ist. Die Vertragsverhandlungen, bei Peter Neururer ohnehin nie eine langwierige Veranstaltung, gestalten sich in diesem Fall noch kürzer: Nach der o:i-Heirrfepielniederlage gegen den Mitabstiegskandidaten aus Kaiserslautern übernimmt Neururer den Tabellen-17. Sein erstes Spiel ist gleich ein Derby gegen Leverkusen. Der Traum ist wahr geworden: Peter Neururer ist Trainer seines Lieblingsvereins.

Schon bald trifft er in Köln nach Wolfgang Loos auf einen weiteren alten Bekannten: Rolf Herings. Das kölsche Urgestein kümmert sich um das Torwarttraining und die Kondition der FC-Lizenzspielermannschaft. Neururer kennt Herings von seiner Ausbildung an der Sporthochschule, wo Herings sein Dozent für Leichtathletik und später in der Fußballlehrerausbildung war. Herings spricht die Studenten mit Vornamen und »Sie« an, die Studenten sagen »Herr Herings«.

Neururer erscheint also zu seiner ersten Trainingseinheit am Kölner Geißbockheim. Er öffnet die Tür zu jenem Trakt, in dem sich Umkleiden und Büros befinden und geht in sein Trainerzimmer, in dem er bereits vom Noch-Trainerduo Stephan Engels und Heinz Flohe erwartet wird. Kurz darauf öffnet sich die Tür, und im Raum steht Rolf Herings.

»Hürens, Pitter, do häs et ja jetz jeschaff«, sagt Herings.

»Hör mal zu, Rolf, da haste Recht. Jetzt hab ich mein Lebensziel erreicht.«

Rolf?

Herings, seit heute Neururers Mitarbeiter und nicht mehr dessen Dozent, zuckt merklich, das Duzen hat er augenscheinlich nicht erwartet. Der neue Trainer eröffnet Herings, dass er seinen Torwarttrainerjob behalten kann. Für den Posten des Co-Trainers und den des Konditionstrainers habe er, Neururer, eine andere Lösung parat. Herings schluckt kurz, dann sagt er im Stile eines Mafia-Paten: »Hürens, Pitter, dat eine sach ich dir. Ich han hä beim FC zig Trainer üwerläv. Und dich, dich üwerläv ich ens och noch.«

Als Peter Neururer nach Köln kommt, nimmt er einen Imagewechsel vor. Wenn er sich jetzt an Spieltagen auf die Bank setzt, trägt er keine Blouson-Trainingsanzüge mehr. Beim 1. FC Köln, dem »feinen Club«, wie Toni Schumachers Mutter es einst so formuliert hat, trägt Neururer Anzug -darunter ein Hemd mit einem Werbeaufnäher am Kragen, weil dieser Sponsor einen Teil seiner Gehaltszahlungen übernimmt. Über dem Hemd allerdings baumeln stets komische Krawatten. Die sucht ihm seine kleine Tochter Kristin aus. Die Kölner Medien machen sich aus den bunt-gemusterten Bindern einen Spaß. Neururer ist es egal, zumal die ersten Wochen erfolgreich verlaufen.

Nach einem unerwarteten 2:i-Sieg im Derby in Leverkusen holt Neururer aus den folgenden fünf Spielen zehn Punkte und auch bei Bayern München verliert der FC nur knapp mit 2:3.

Doch trotz der Erfolge beschleicht ihn in jeder Trainingseinheit das Gefühl, er halte eine Lehrprobe - wegen Herings. Der Torwarttrainer beobachtet jede Bewegung, jede Anweisung Neururers genauestens. Dieser empfindet die Situation als seltsam, unangenehm. Herings erledigt derweil seinen Job, die Torhüter Bodo Illgner und Michael Kraft auf ihre schwierigen Ligaeinsätze vorzubereiten, in gewohnt erstklassiger Manier. Nach ein paar Wochen kommt er plötzlich während des Trainings aufNeururer zu: »Hürens, Pitter, dein Training war Weltklasse, selten so was Gutes gesehen.«

Häufig in seiner Karriere hat Peter Neururer das Privileg nicht genießen dürfen, mit ausreichend Geld in der Hand und Zeit einen seinen Vorstellungen entsprechenden Kader zusammenstellen zu können. Oft ist er mitten in der Saison gekommen, wenn sein jeweils neuer Club in Schwierigkeiten steckt. Dann gilt es für den Trainer - wie jetzt auch beim 1. FC Köln - möglichst schnell herauszufinden, wie die Mannschaft tickt. Die Spieler in Köln kennt Neururer aus zahlreichen Beobachtungen. Er kennt sie aber weder persönlich, noch kennt er ihr Zusammenwirken, weiß also auch nicht, welche Gruppierungen es innerhalb des Teams gibt.

Bei ersten Zusammentreffen stellt Neururer seiner neuen Mannschaft sich und seine Arbeitsweise in zehn Minuten knapp vor, dann teilt er leere DIN-A4-Blätter aus. Er erklärt den Spielern, dass der nun folgende anonyme Test ihm diene, sie besser kennenzulernen. Anschließend stellt er den Profis Fragen, die so schlicht und unmissverständlich formuliert sind, dass sie von jedem der Anwesenden problemlos beantwortet werden können.

»Wir fahren in ein 14-tägiges Trainingslager. Die Bedingungen sind schlimm: Handyverbot, kein Fernseher auf dem Zimmer. Mit wem würdest auf keinen Fall das Zimmer teilen? Und: Mit wem würdest du auf jeden Fall das Zimmer teilen?«

Die zweite Frage bezieht sich aufs Sportliche. Neururer gibt ein Spielsystem vor. Er fragt:

»Wie sieht deine Wunschelf in diesem System für das kommende Spiel aus?«

In Köln erhält Neururer aus diesem Test eindeutige Antworten: Stürmer Toni Polster wird von allen Spielern - sich selbst also auch - in die erste Elf gesetzt. Bei der Frage nach demjenigen, mit dem man sich im Trainingslager unter keinen Umständen das Zimmer teilen wird, erhält Polster ebenso die Bestmarke 24 von 25 Stimmen - seine eigene also mutmaßlich nicht. Peter Neururer sieht ein Problem aufziehen. Solange Polster Tore schießt, wird er einfach nur nicht gemocht von seinen Kollegen. Was aber, wenn der Österreicher nicht mehr trifft?

In der Berichterstattung über den 1. FC Köln ist seit jeher vom »problematischen Umfeld« die Rede. Was damit gemeint ist, hat nicht zuletzt auch der Trainer Peter Neururer erfahren dürfen. Im Kern ist mit diesem problematischen Umfeld jene Situation beschrieben, wie sie in Köln durch die in harter Verkaufskonkurrenz zueinander stehenden Boulevardtageszeitungen »Express« und »Bild« geschaffen wird. Als Neururer 1996 Kölner Trainer wird, weiß er nicht, dass die verkaufte Auflage des »Express« in Köln deutlich über der der »Bild«-Lokalausgabe liegt. Die »Politik« in der Domstadt macht also das im Verlag DuMont-Schauberg erscheinende Blatt, nicht -wie nahezu überall anders sonst in der Republik - die Gazette mit den vier Buchstaben.

Nachdem er sich an seinem ersten Diensttag vielen Leuten im Verein und nicht zuletzt der Mannschaft persönlich vorgestellt hat, erhält Neururer einen Anruf aus der »Bild«-Redaktion: Ob er am folgenden Tag bei einer Anrufaktion mitmachen könne, bei der die Leser ihm, dem neuen FC-Trainer, Fragen per Telefon stellen können. Neururer sagt zu, um 12 Uhr soll die Sache steigen.

Ein paar Minuten später ruft der »Express« an. Am Telefon ist Neururers alter Studienkollege, Ulrich »Uli« Pernau. Pernau arbeitet inzwischen zusammen mit dem Ex-»Bild«-Mann Wilfried Pastors - der Neururer vor Jahren zu seinem Trainerjob auf Schalke verholfen hat - im Sportressort des »Express«:

»Hallo, Peter, wir würden gern mit dir morgen eine Lesertelefonaktion machen. Hast du Zeit?

»Ja, klar, wann denn?«, fragt Neururer.

»Passt morgen um 12?«

»Oh, Uli«, sagt Neururer, »das klappt nicht, da bin ich schon bei >Bild<.« Der Trainer ahnt nicht, dass er mit dieser Absage den Grundstein für viele seiner späteren Probleme in Köln legt.

Aber erst einmal gelingt es Neururer und seiner Mannschaft, im letzten Saisonspiel den Abstieg zu verhindern. Durch ein Tor von Stürmer Holger Gaißmayer gewinnt der FC mit 1:0 in Rostock, unmittelbar danach erhält der »Retter« Peter Neururer eine Anfrage, ob er am Abend als Gast ins ZDF-Sportstudio nach Mainz kommen wolle. Dorthin sind Trainer und Protagonisten eines spannenden letzten Spieltags eingeladen worden: neben dem Iiölner Trainer auch Rudi Völler, der im Trikot von Leverkusen gegen Kaiserslautern zittern musste. Das ZDF scheut keine ICosten und Mühen, Neururer wird mit einem Privatflieger in Rostock abgeholt. Eigentlich passt ihm das alles nicht, denn er will lieber mit seiner Mannschaft auf der Rückfahrt nach Köln feiern, als jetzt noch einen Pressetermin wahrnehmen zu müssen. Aber das Sportstudio ist die erste Adresse für Leute aus dem deutschen Fußballgeschäft, also nimmt man das mit.

Der Privatflieger ist eine einmotorige Maschine, im Cockpit sitzen Pilot und Co-Pilot. Letzterer übernimmt auch den Job des Stewards. Schon beim Besteigen des engen Passagierraums hat der 1,88 Meter große Neururer Schwierigkeiten. Ihm ist nicht besonders wohl angesichts des bevorstehenden Trips in dem kleinen Flieger. Vor seinem Sitz befindet sich ein Kasten. »Herr Neururer, das ist Ihre Bar«, sagt der Co-Pilot/ Steward, »bedienen Sie sich bitte.« In der »Bar« findet sich ausschließlich Rotwein. Gegessen hat der Trainer an diesem ereignisreichen Tag eine ganze Weile schon nichts mehr, der Wein trifft auf keine Grundlage. Neururer bedient sich.

Als er später am ZDF-Sendezentrum auf dem Mainzer Lerchenberg ankommt, wird er von der Redaktion mit einem Getränk in den Farben seines Arbeitgebers empfangen: Rot-Weiß ist nicht wirklich im Angebot, also gibt es einen Rose. Auch davon trinkt Neururer mehr als ein Glas.

Weil ihm inzwischen im Magen ein wenig flau ist, lässt sich der Trainer des 1. FC Köln eine Pizza und Cola bestellen. Doch der Bote vom Lieferservice trifft erst zu jenem Zeitpunkt ein, als Neururer auf die Torwand schießen darf. Links hinter der Torwand erkennt Neururer den jungen Mann aufgrund des obligatorischen Transportkartons in den Händen. Aber jetzt muss er erst mal schießen. Neururer zieht ab, trifft den Ball nicht richtig, dafür aber den Pizzaboten. Das Studio brüllt vor Lachen, die Zuschauer am Bildschirm sehen nicht, wie hinter den Kulissen die Pizzen durch die Luft fliegen.

... als der Sportdirektor kommt

Im Sommer 1996 geht der Trainer Peter Neururer mit dem 1. FC Köln in seine erste Spielzeit von Beginn an. Der Start mutet nach dem Fast-Abstieg geradezu unwirklich an. Nach Siegen gegen Fortuna Düsseldorf, 1860 München und den SC Freiburg ist der FC Tabellenzweiter. In Köln träumt schon wieder jeder von der Teilnahme am internationalen Wettbewerb, die ganz großen Optimisten trauen der Mannschaft sogar zu, ein Wörtchen bei der Vergabe des Meistertitels mitzusprechen. Nach einem Zweitrundenaus im Pokal beim FSV Zwickau ist es mit der Euphorie für zwei Wochen dahin, ehe der FC zu Hause gegen den Erzrivalen aus Mönchengladbach mit 4:0 gewinnt - es ist der höchste Kölner Sieg gegen eine »Elf vom Niederrhein« in der Bundesliga-Geschichte. Danach allerdings verfällt Neururers Mannschaft in eine Mittelmäßigkeit, aus der sie bis zum Ende der Saison auf Platz zehn landend nicht mehr herauskommt.

Zu Beginn der folgenden Saison ist Präsident Klaus Hartmann, zu dem Neururer ein ausgesprochen gutes Verhältnis entwickelt hat, entschlossen, die Position eines Sportdirektors zu schaffen und angemessen zu besetzen. Auch Neururer findet diese Idee gut. Ein weiterer Ansprechpartner im sportlichen Bereich, sagt er sich, kann nicht schaden. Hartmann fragt den Trainer, ob er jemanden für den Job wüsste. Neururer schlägt drei Personen vor: Heribert Bruchhagen, den er aus gemeinsamen Zeiten bei Schalke kennt, Rolf Rüssmann, auch ein ehemaliger Schalker, der sich als Manager bei Borussia Mönchengladbach einen Namen gemacht hat. Der dritte Vorschlag Neururers ist Karl-Heinz Thielen, ehemaliger Nationalspieler des FC und in den 1970er- und ig8oer-Jahren in verschiedenen administrativen Positionen für den Club tätig gewesen. Knapp zwei Wochen nach dieser Anfrage, Peter Neu-rurer hat gerade seinen Vertrag verlängert, informiert Klaus Hartmann den Trainer, dass man Carl-Heinz Rühl, einen ehemaligen Spieler des FC, als neuen Sportdirektor verpflichtet habe.

Rühl hat acht, überwiegend erfolgreiche Jahre als Manager des Karlsruher SC hinter sich, ist danach in gleicher Funktion kurz bei Hertha BSC Berlin tätig gewesen. Aber Neururer hat den kommenden Mann in keiner guten Erinnerung. Als Rühl Manager in Karlsruhe gewesen ist, das weiß Neururer aus guter Quelle, hat Rühl, während der damalige KSC-Trainer »Winnie« Schäfer noch im Amt ist, bereits mit dessen potenziellen Nachfolgern verhandelt. Neururer mag diese Art der »Vorsorge« nicht. Als Hartmann ihm also Rühl als seinen neuen Sparringspartner auf der sportlichen Ebene im Verein ankündigt, sagt Neururer Hartmann:

»Herr Präsident, wenn Calli Rühl hier Sportdirektor wird, dann können Sie meinen gerade verlängerten Vertrag sofort zerreißen.«

»Herr Neururer, ich bitte Sie«, sagt Hartmann, »arbeiten Sie mit Herrn Rühl vertrauensvoll zusammen. Stellen Sie Ihre persönliche Abneigung hintenan. Hier zählt an allererster Stelle der 1. FC Köln.«

»Einverstanden«, sagt Neururer.

Er trifft den neuen Sportdirektor am folgenden Morgen auf der Geschäftsstelle. Neururer sagt Rühl, dass er mit ihm eigentlich nicht habe zusammenarbeiten wolle, dass er andere Leute für den Job vorgeschlagen habe und wegen Rühl sogar bereit gewesen sei, den Club zu verlassen -wegen der Vorkommnisse seinerzeit in Karlsruhe. Hartmann, so Neururer weiter, habe ihn jedoch gebeten, mit Rühl zusammenzuarbeiten, der Bitte werde er entsprechen. »Lass uns«, sagt Neururer zum Abschluss zu Rühl, »gemeinsam für den FC Gas geben!« Rühl nickt, die beiden geben sich die Hand.

Was Rühl über den Trainer wirklich denkt, kann Neururer kurz darauf im »Express« lesen. Dem hat Rühl ein Interview gegeben, das unter der Überschrift erscheint: »Neururer so tot wie Olsen«. Das Originalzitat Rühls lautet: »Olsen war tot. Mit Neururer ist es jetzt das gleiche Problem.«

Zwar kontert Neururer die Entgleisung Rühls öffentlich mit Witz - »Ich fühle mich als Leiche sehr wohl« aber intern stellt er Rühl umgehend zur Rede. Neururer wirft dem Sportdirektor an den Kopf, er zünde ein Feuer an, das gar nicht existiere. Rühl streitet ab, die im »Express« wiedergegebene Äußerung gemacht zu haben. Neururers alte Studienfreunde, die »Express«-Redakteure Pernau und Pastors, bestätigen Neururer die Authentizität des Zitats. Sie besitzen einen Ton-bandmitschAitt des Gesprächs. Neururer weiß, dass es jetzt für ihn losgeht. Dass es um seinen Job geht.

Anfang Juni 1997 hat sich Peter Neururer das WM-Qualifikationsspiel der deutschen A-Nationalmannschaft in Kiew gegen die Ukraine angesehen. Auch das tags zuvor anstehende U-21-Spiel hat er beobachtet, dabei ist ihm im ukrainischen Team ein Spieler namens Andrij Schewtschenko sehr positiv aufgefallen. Neururer fragt bei seinen beiden Ex-Spielern, dem Ukrainer Wladimir Ljuty und dem Russen »Sascha« Borod-juk, nach dem jungen Talent. Die beiden bestätigen ihm die Klasse Schewtschenkos noch einmal eindrücklich. Neururer hat einen Zugang zum wichtigsten Mann bei Dynamo Kiew, dem Verein von Schewtschenko, denn Neururer kennt Trainer Valerij Lobanowski. Und auf Nachfrage kennt er auch die Summe, für die »Schewa« zu haben ist: 150000 Mark.

Als er Rühl vorschlägt, der möge sich doch mal diesen tollen, jungen ukrainischen Offensivspieler ansehen, blockt der Sportdirektor ab. Er schlägt stattdessen vor, den Kroaten Goran Vucevic vom FC Barcelona zu verpflichten, der dort in der zweiten Mannschaft kickt. Ein exzellenter Techniker, ruhig am Ball, sehr gut bei Standards.

»Den können wir holen«, sagt Rühl.

»Kannst du allenfalls fürs Fußballtennis verpflichten«, sagt Neururer, der Vucevic bei Barca schon mal hat spielen sehen, aber eben einen agileren Spielertyp sucht.

»Mag sein«, sagt Rühl, »aber wir kommen günstig an den ran.«

»Calli, das geht nicht. Der wird für uns kaum Spiele machen, er hat die Qualitäten einfach nicht.«

Doch Rühl setzt sich durch, Vucevic kommt mit viel Vorschusslorbeeren. Er kostet über drei Millionen Mark Ablöse zuzüglich eines exorbitanten Gehalts. Zwischen 1997 und 1999 macht Goran Vucevic für den 1. FC Köln 16 Bundesliga-Spiele, er erzielt ein Tor.

Rühl, der von den Spielern wegen seiner künstlichen Hüfte und einem daraus resultierenden Gehfehler »Käpt'n Ahab« genannt wird, verliert in der Kölner Mannschaft an Respekt. Die Spieler bekommen mit, dass der Mittfünfziger das eigene Team nicht besonders gut kennt - und zudem mit den Regu-larien des UI-Cups nicht besonders vertraut ist. Zum einen kennt er weder den Termin der Auslosung für die erste Runde des Wettbewerbs, noch weiß er, dass das verlorene Halbfinale - nach einem 2:1 im Hinspiel scheidet der FC durch ein 0:1 im Rückspiel bei HSC Montpellier aus - eine große Bedeutung hat. Hätte Köln diese Auseinandersetzung mit den Franzosen überstanden, wäre man für den UEFA-Pokal qualifiziert gewesen.

Nach drei sieglosen Spielen gewinnt der FC am 5. Spieltag der Saison 1997/98 mit 5:3 gegen den VfL Wolfsburg. Neururers Mannschaft verbessert sich von Tabellenplatz 14 auf 9. Der Trainer gibt seinen Spielern für den folgenden Montag frei, er selbst geht abends in Gelsenkirchen essen. Da die Besitzer ihres Stammlokals »La Scala« sich vor Kurzem entschlossen haben, den Montag zum Ruhetag zu erklären, besucht Familie Neururer einen anderen Italiener. Weil die Kinder noch klein sind, trifft man bereits um 18 Uhr in dem neu ausgewählten Restaurant ein. Man setzt sich, bestellt Vorspeisen, die nicht so recht den Geschmack treffen, man lässt sie zurückgehen. Die Hauptspeise erfüllt die Erwartungen ebenfalls nicht - aber das ist kein Drama, Peter Neururer zahlt und schlägt seiner Frau Antje vor, dass er zu Hause noch Spaghetti all'arrabbiata für alle kocht. Abfahrt. Neururer kocht, die Familie isst. Um acht Uhr klingelt das Telefon.

»Neururer?«

»Calli Rühl hier. Du, Trainer, wenn es dir so schlecht geht, dann sag Bescheid, dann machst du mal 14 Tage Pause.«

»Wie bitte, mir soll es schlecht gehen?«, fragt Neururer. »Ich habe keine Probleme.«

»Wieso, du bist doch ins Krankenhaus eingeliefert worden?«

»Bitte, was? Ich soll ins Krankenhaus eingeliefert worden sein? Ich bin topfit und stehe hier zu Hause am Telefon, da, wo du auch angerufen hast.«

Am Tag danach vermeldet der »Express«, Neururer habe während eines Abendessens mit seiner Familie in einem Gelsenkirchener Restaurant einen Kreislaufkollaps erlitten. Einen weiteren Tag später, am 24. September 1997, titelt das Blatt: »Bewußtlos kippte Neururer von seinem Stuhl - statt Cognac-Soße kam der Notarzt«.

Neururer ahnt, was da vor sich geht. Er greift sich den Spielplan, die Reihenfolge der Spiele lautet: auswärts beim Hamburger SV, zu Hause gegen die Bayern, dann bei Hertha BSC. Der Trainer sagt zu seiner Frau. »Nach dem Spiel gegen Hertha Ende September kannst du für uns ein Ferienhaus buchen, irgendwo in Portugal. Da fliegen wir mit den Kindern hin.«

»Wie, Urlaub buchen?«, sagt Antje Neururer. »Die schmeißen dich doch im Leben nicht raus. Du bist in Köln doch der Publikumsliebling, es läuft doch alles.«

Doch ihr Mann ist sich sicher: »Nach dem Spiel bin ich entlassen«, sagt er - und so kommt es auch.

Der für den 1. FC Köln beim »Express« verantwortliche Redakteur ist Hans-Jürgen Schäfer. In seiner Zeit als FC-Reporter zeichnet Schäfer immer eine sehr große Nähe zur Mannschaft aus, er ist sehr gut informiert. Als der FC vor der Saison 1996/97 ein Trainingslager auf Norderney abhält, ist Schäfer dabei und erhält dort zunächst Kenntnis von Peter Neururers Hundeallergie. Immer, wenn der Terrier des Hotelbesitzers durch den Speisesaal flitzt, bekommt Neururer Atemnot.

Schäfer hat den Weg von Köln auf die Nordseeinsel in seinem italienischen Cabrio zurückgelegt und fallt vor Ort dadurch auf, dass er dem Mannschaftsbus ständig hinterherfährt, was Spielern und Trainer auf die Nerven geht.

Der Reporter parkt seinen Wagen mit geöffnetem Verdeck in der Nähe des Teamhotels. Als die Mannschaft eines Morgens das Hotel verlässt, ist von Schäfer nichts zu sehen, nur sein Auto steht da. Da kommen eine Handvoll Spieler auf die Idee, einen nah bei Schäfers Auto liegenden Findling ins Wageninnere auf den Fahrersitz zu wuchten. Den schweren Stein allein herauszubekommen - für Schäfer unmöglich.

Als die Mannschaft vom Training wieder zurück zum Hotel kommt, begegnet sie einem aufgebrachten »Express«-Re-porter: »Wer war das?«, schreit Schäfer. Außer grinsenden Gesichtern erhält er keine Antwort.

Oft ist Neururer von Schäfer genervt, aber der Trainer hat durchaus Respekt vor der Arbeit, die der Reporter leistet. Denn Schäfer recherchiert in der Regel gründlich und setzt nicht nur irgendwelche Behauptungen in die Welt. So treffen sich der Trainer und der Journalist zusammen mit Geschäftsführer Loos, einer wertvollen Informationsquelle Schäfers, zum Skat im Mannschaftshotel. Es geht um ein wenig Geld, am Ende des Abends hat Schäfer 100 Mark verloren, Loos und Neururer haben gezielt gegen den Journalisten gespielt.

Das Geld will sich Schäfer zurückholen, er bietet Neururer eine Fußballwette an: Die beiden treten im Elfmeterschießen gegeneinander an - im Tor steht Nationaltorwart Bodo Illgner. Nach dem nächsten Training kommt es zu diesem Elfmeterschießen. Die ganze Mannschaft steht hinter dem Tor - sie feuert ihren Trainer an, der vorher kurz mit seinem Torwart gesprochen hat: »Bodo - irgendeinen Ball von Schäfer wirst du schon halten, aber von meinen, da hältst du keinen, klar?«

Der Keeper nickt.

Neururer ist als Erster dran, per Handzeichen signalisiert er Illgner, unbemerkt von Schäfer, dass er nach rechts unten schießen wird. Illgner fliegt in die linke Ecke, wie auch bei den vier weiteren Versuchen Neururers erreicht er den Ball nicht. Schäfer verliert das Duell klar, will aber gleich noch mal um den doppelten Einsatz spielen. Neururer unterbricht den eifrigen Reporter: »Hör mal, du kannst dich doch mit einem Profi nicht auf eine solche Wette einlassen.« Die Schulden werden Schäfer umgehend erlassen. Auch dank solcher kleiner Spaßaktionen ist die Stimmung im Trainingslager ausgezeichnet.

Schäfers wohl größter Informant ist Kölns Starspieler Toni Polster. Polster nennt Schäfer freundlich »Schäfchen«, und so schlecht Polster auch spielt, die Benotung im »Express« fällt in dieser Phase stets eher wohlwollend aus, was in der Mannschaft mitunter für Ärger sorgt: »Wir haben doch alle scheiße gespielt. Warum kriegt der Toni dann eine bessere Note?«

Aber Polster genießt in Köln beileibe nicht nur im »Express« eine bevorzugte Behandlung. Der erfahrene Österreicher, ein ungeheuer effektiver Strafraumstürmer, der zwar treffsicher, aber zu lauffaul für ein gutes Forecheclcing ist, hat eine großartige Außenwirkung.

Er ist charmant, gewitzt, verfügt über eine ausgeprägte positive Ausstrahlung. Man lässt ihn gewähren. Einmal fährt der Österreicher etwa mit seinem aufgemotzten Mercedes zu einem Termin beim Sponsor Ford vor. Nach einer Pokalniederlage gegen den von Ralf Rangnick trainierten SSV Ulm tritt »Toni« nach der Rückfahrt am selben Abend noch mit der Girlband »Fabulöse Thekenschlampen« auf dem Kölner Ringfest auf; sie geben die Nummer »Toni, lass es polstern« zum Besten. Doch statt ihn für das peinliche Ausscheiden im Pokal auszupfeifen, klatschen die vor der Bühne stehenden FC-Fans Polster Beifall. Der Auftritt ist nicht genehmigt, große Konsequenzen hat er für den Stürmer gleichwohl nicht. Toni ist eben ein Volksheld. Und Peter Neururer ist einer, über den man gern auch mal schallend lacht in dieser Kölner Zeit.

Auf einer Tankstelle in Hürth bei Köln können Spieler und auch der Trainer Neururer »auf Karte des FC« tanken. Man fährt vor, hängt den Tankrüssel hinein, unterschreibt einen Zettel - und weg. Eines Tages nach dem Training fährt Neururer eine der Zapfsäulen mit seinem Dienst-Ford an. Der Trainer ist mit seinem Co-Trainer Günter Güttier auf dem

Weg zu einer Spielbeobachtung. Noch schnell den Firmenwagen volltanken. Neururer stellt sich auf die linke Seite der Zapfsäule, steckt den Schlauch rein, da erhält er auf seinem Handy einen Anruf. Neururer nimmt das Gespräch an, lässt das Benzin laufen und geht weg. Er beendet das Telefonat, ist völlig in Gedanken und vergisst, dass er unterschreiben und zuvor noch den Schlauch aus dem Tank nehmen muss. Neururer setzt sich ans Steuer und fährt einfach los.

Das Nächste, was er hört, ist ein fürchterlicher Knall. Durch das Rückfenster kann er sehen, wie Benzin durch die Gegend schießt. Neururer hat Teile seines eigenen Tanks herausgerissen, auch die Tanksäule ist massiv in Mitleidenschaft gezogen. Der geschätzte Schaden beläuft sich auf circa 200 000 Mark. Der Trainer ist allerdings nicht der Erste aus dem FC-Tross, die gleiche Sache war vierzehn Tage zuvor schon Manager Bernd Cullmann passiert- breit grinsend titelt der Boulevard: »FC zu doof zum Tanken.« Auch Neururer muss bei der Zeile schmunzeln, aber es werden eben immer wieder Geschichten mit dem Protagonisten Neururer veröffentlicht, von denen er glaubt, dass sie bewusst gesteuert sind.

Eines Abends sucht Neururer in Begleitung seines Co-Trainers den zu dieser Zeit in Sportlerkreisen angesagten Italiener »Maca-Ronni« am Kölner Rudolfplatz auf. Er hat sich dort mit einer alten Freundin verabredet, der ehemaligen Schwimm-Weltrekordlerin Christel Justen, die Jahre nach ihrer Karriere zugegeben hat, gedopt zu haben: 2005 stirbt Christel Justen infolge von Herzrhythmusstörungen im Alter von 47 Jahren. Die beiden umarmen sich bei der Begrüßung. Der »Express« berichtet am folgenden Tag von einem Treffen mit einer Freundin - und man kann aus dem Artikel durchaus den Eindruck gewinnen, dass der FC-Trainer seine Frau betrügt.

Neururer hat das durchaus als Hetzjagd empfunden. Irgendwann entscheidet er, Redakteuren des »Express« keine Interviews mehr zu geben. Die Schreiber können gern zur Pressekonferenz vor und nach den Spielen kommen, dort auch Fragen stellen - alles Weitere aber fällt aus. Zwischen »Express« und Neururer sind die Fronten verhärtet. Peter Neururer ahnt, dass es zu spät für ihn ist, um das Blatt noch mal zu wenden.

Der Trainer weiß um die gegenseitige Abhängigkeit von Journalisten auf der einen sowie Spielern, Vereinsoffiziellen und Trainern auf der anderen Seite. »Wenn man die enge Verbindung zu Medienvertretern in diesem Geschäft >Bundesliga< nicht hat«, sagt er, »dann ist man verloren. Aber wenn aus dem Miteinander ein Gegeneinander wird - ist man als Trainer immer zweiter Sieger.«

Nach den drei von Neururer zuvor prognostizierten Niederlagen gegen den Hamburger SV, Bayern München und Hertha BSC Berlin schließt sich das Kapitel 1. FC Köln für den Trainer nach anderthalb Jahren. Die Trennung von dem Verein, dessen Fan er ist, verläuft unaufgeregt. Neururer trifft sich mit dem Geschäftsführer Wolfgang Loos und Präsident Klaus Hartmann im Haus des Präsidenten und bespricht mit den beiden die Modalitäten seiner Beurlaubung. Allen ist klar, dass Neururer als der für den sportlichen Bereich verantwortliche Mann gehen muss. Neururer glaubt auch, dass er an der in Köln seit jeher hohen Erwartungshaltung gescheitert ist- nicht nur an Calli Rühl allein. Den einzigen Vorwurf, den Neururer sich macht: »Nachdem ich frühzeitig sehr aggressiv angegangen wurde, hätte ich mich zur Wehr setzen sollen. Stattdessen habe ich mich einfach meinem Schicksal ergeben.«