Alles eine Frage der Intelligenz - Saarbrücken
Vor der Saison 1991/92 meldet sich der 1. FC Saarbrücken bei Peter Neururer. Der Zweitligist gilt nicht unbedingt als besonders großartig geführt und hat in den letzten Jahren wegen anhaltender Finanzprobleme immer wieder seine Leistungsträger abgeben müssen: 1990 ist der Ghanaer »Tony« Yeboah für 600.000 Mark zu Eintracht Frankfurt gegangen und dort zu einem Goalgetter der Extraklasse gereift. Im selben Jahr hat auch Norbert Schlegel den FCS für 400.000 Mark in Richtung Hertha BSC Berlin verlassen. Und in der Sommerpause ist soeben Abwehrspieler Adrian Spyrka für kolportierte 600.000 Mark zum 1. FC Köln transferiert worden.
Als Neururer zum Vorstellungsgespräch in Saarbrücken eintrifft, nimmt er sehr schnell auf, mit was für einer Art von Vorstand er es in diesem Fall zu tun hat. Es sind Menschen von gehobenem geistigem Niveau aus dem Dunstkreis des sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Oskar Lafontaine, um deren Fußballfachkenntnis es gleichwohl nicht allzu gut bestellt ist. Neururer entscheidet sich spontan für einen gewagten Ritt und läuft dabei zu großer rhetorischer Form auf. Sein Bewerbungsvortrag ist ein Mix aus Psychoanalyse, Trainingslehre und Physiologie. Inhaltlich reich an Informationen, wenig wasserfest, jedoch mit großem Pathos vorgetragen - vor allem aber lässt die Rede eine gewisse Ziel-genauigkeitvermissen. An sich istes eine jener Vorstellungen, bei denen es für alle Beteiligten besser ist, wenn davon nichts nach außen dringt, um das öffentliche Bild vom Profigeschäft »Fußball« nicht weiter zu beschädigen.
Dass Peter Neururer den Job auf der Bank des FCS bekommt, mag schließlich auch damit zusammenhängen, dass sein Amtsvorgänger - Interimstrainer Diethelm Ferner mal beiseitegelassen - nicht nur »rhetorisch ein anderer Typ als ich war«. Mindestens ist Klaus Schlappner jedoch eine merkwürdige Wahl des politisch links einzusortierenden Vorstands. Der aus Lampertheim in Hessen stammende Pepitahutträger »Schlappi« war 1968 aus Protest gegen die Hippiebewegung bei den Kommunalwahlen in seiner Heimat für die NPD angetreten.
Bis heute ist sich Neururer übrigens nicht sicher, ob die Vorstandsmitglieder in Saarbrücken eigentlich wirklich verstanden haben, was er ihnen an jenem Tag erzählt hat. Vielleicht sind sie.auch einfach nur froh gewesen, Schlappner endlich ad acta legen zu können. Am Ende alles unerheblich, denn Neururer hat einen neuen Job, und er freut sich schon darauf, neue Spieler zu verpflichten. Der Neue auf der Bank nimmt an, dass aus den getätigten Verkäufen der letzten Jahre wohl ein bisschen Geld in der Vereinskasse hängen geblieben sein dürfte. Damit beabsichtigt Neururer, die Mannschaft für die Saison in der Zweiten Bundesliga Süd zu verstärken. Doch nachdem er seinen Vertrag unterschrieben hat, eröffnet ihm Vereinspräsident Norbert Walter eine unschöne Wahrheit: 150 000 Mark kann der neue Trainer für neue Spieler ausgeben. Das ist auch in der Zweiten Liga zu dieser Zeit - nichts.
Also zieht Neururer los und kauft Billigware: Michael Kostner kommt von Kickers Offenbach, Jürgen Lange aus dem belgischen St. Truiden und Thomas Zechel von Schalke 04. Die Mannschaft ist eine Wundertüte, am Ende der
Saison aber gelingt Unerwartetes, geradezu Spektakuläres: Der 1. FC Saarbrücken und sein Trainer Peter Neururer spielen ganz oben mit.
Einen Tag vor seinem 37. Geburtstag empfangt Neururer mit Saarbrücken im Ludwigspark zum Spitzenspiel den SV Waldhof Mannheim. Die Mannschaft von Trainer Klaus Toppmöller liegt einen Punkt und einen Platz hinter den Tabellenführern aus Saarbrücken. Es ist das mitentscheidende Spiel um den Aufstieg, 29 000 Zuschauer sind gekommen. Sogar die üblicherweise leere Kurve rechts neben dem Marathontor, durch das die Spieler das Stadioninnere betreten, ist gut gefüllt. Wegen der schlechten Sicht ist sie bei den heimischen Fans nicht sonderlich beliebt. Als Neururer an diesem Tag ins Stadion hineingeht, nimmt er zuerst gar nicht richtig wahr, was in der Kurve vor sich geht. Erst im Verlauf des Spiels bemerkt er, dass die dort geschwenkten Fahnen nicht die Farben Saarbrückens oder Mannheims - Schwarz-Blau - tragen, sie sind Blau-Weiß. Königsblau-Weiß.
Die Gastgeber gewinnen das Spiel gegen Mannheim glücklich und klar mit 4:0 (Tore: Schüler, Kostner, Preetz, Akpo-borie) und sind mit drei Punkten Vorsprung auf den SC Freiburg drei Spieltage vor Saisonende so gut wie aufgestiegen. Dennoch bleiben die Jubelarien im Rahmen, ganz geschafft hat man es ja noch nicht. Perfekt gemacht wird der Aufstieg tatsächlich erst am 32. und letzten Spieltag mit einem 3:1 beim Chemnitzer FC und der gleichzeitigen Niederlage der Mannheimer in Jena.
Nach dem Abpfiff des Spitzenspiels gegen Waldhof laufen plötzlich Fans auf Peter Neururer zu. Es sind die Schalke-Anhänger aus der Marathonkurve, sie sind eigens angereist, um ihren Ex-Trainer in diesem Spitzenspiel vor seinem Geburtstag zu unterstützen. Knapp drei Jahre nach seinem Abgang hat man den Retter Neururer auf Schalke doch noch nicht so ganz vergessen. Ähnliches wiederholt sich in der Folgesaison nach Saarbrückens Aufstieg, als Neururer mit seiner Mannschaft am 21. Spieltag auf Schalke antritt. 30 200 sind ins Parkstadion gekommen. Es ist der erste Auftritt von Neururer als Gästetrainer bei seinem alten Verein. Neben ihm auf der Bank sitzt mit Rüdiger »Abi« Abramczik ein wahres Schalker Urgestein. Als Saarbrücken in der 43. Minute durch Sawitschew mit 1:0 in Führung geht, jubeln auch die Schalke-Fans in der Nordkurve. Man gönnt Neururer das Törchen und am Ende auch den einen Punkt beim 2:2.
In diesem Erstligajahr, das das letzte für den Club bis heute geblieben ist, verpflichten die Saarländer den in der Jugend auf Schalke groß gewordenen Wolfram Wuttke. Der inzwischen 30-Jährige kommt von Espanyol Barcelona, wo er als überzähliger Ausländer nicht mehr gebraucht wird. Wuttke wird sofort zum absoluten Leistungsträger und genießt aufgrund seiner fußballeriseiien Fähigkeiten eine große Anerkennung bei seinen Mannschaftskollegen. Der Mittelfeldspieler ist, was Neururer »einen positiven Einzelgänger« nennt. Ein Individualist, der aber durch seine Eigenbrötlerei weder der Mannschaft noch dem Teamgeist schadet. Andere sagen, Wuttke habe in seiner unerfüllten und von vielen Brüchen gekennzeichneten Karriere immer wieder nur sich selbst geschadet.
Am 6. Spieltag der Saison 1992/93 trifft Saarbrücken zu Hause auf den 1. FC Kaiserslautern, jenen Verein, für den Wuttke vor seinem Wechsel nach Spanien vier Jahre lang aktiv gewesen und von dem er nicht im Frieden geschieden ist. Spiele zwischen Saarbrücken und Kaiserslautern haben -wenn die beiden Teams dann mal in einer Liga spielen - aufgrund der regionalen Nähe ohnehin Brisanz. Durch Wuttkes Teilnahme steigt diese spürbar an.
Am Abend vor dem Spiel erhält Neururer einen Anruf. Er hört Wuttkes dünne Stimme: »Trainer, ich lieg im Bett. Ich hab Schüttelfrost, Fieber. Ich kann morgen nicht spielen«, sagt der Mittelfeldspieler. »Kommen Sie bitte sofort vorbei.«
Neururer, der aus steuerlichen Gründen in Frankreich wohnt, setzt sich in sein Auto und fährt die paar Minuten zu jenem schlichten Kettenhotel gleich hinter der Grenze, in dem Wuttlce untergebracht ist. Als Neururer durch die offen stehende Tür Wuttkes Zimmer betritt, kommen ihm Rauchschwaden entgegen. Wuttke liegt im Bett. Des Trainers Blick fällt auf einen Aschenbecher, der sich im selben Zustand wie Wuttke befindet: voll bis oben hin.
»Dir geht es aber wohl verdammt schlecht«, sagt Neururer.
»Ja, mmmh, ich schwitze und ...«
»Dir geht es aber verdammt schlecht, oder?«, wiederholt Neururer und poltert: »Was ist denn mit dir los, hast du sie nicht mehr alle auf dem Zaun, oder was?!«
Dann spricht Wuttke, und Neururer erfahrt, dass seinen erfahrensten Mann große Ängste plagen. Wuttke, Saarbrückens Leistungsträger und Topverdiener, ist sich nicht sicher, wie die hartgesottenen FCK-Auswärtsfans ihn im Stadion empfangen werden. Er hat Panik, dem zu erwartenden Druck nicht standzuhalten. Wuttke zittert, er schwitzt, er ist stark angetrunken, er ist fertig, er kann nicht mehr.
Neururer entscheidet die Frage, ob die Mannschaft ohne Wuttke auflaufen soll, schnell. Natürlich weiß er, dass er sein Team ausgerechnet gegen den Regionalrivalen erheblich schwächt. Doch er weiß auch, dass Wuttke in dieser Saison sein vielleicht wichtigster Spieler im Kader ist. Instinktiv entscheidet Neururer: Er steht zu Wuttke. Weder Mannschaft, Offizielle noch Öffentlichkeit erfahren, dass Wuttke und Neururer an diesem Abend in einem tristen Hotelzimmer eine Verabredung treffen. Wären mehr Personen in die Sache involviert gewesen, hätte das die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass das Geheimnis keins geblieben wäre. Und im Fall eines Misserfolgs der Mannschaft gegen Kaiserslautern hätte es damit eng werden können. Für Wuttke genauso wie für den ihn deckenden Trainer.
So gibt Peter Neururer am Spieltag bekannt, der Spieler Wuttke stehe für die Partie im Ludwigspark wegen eines grippalen Infekts kurzfristig nicht zur Verfügung. Und Neururer und Wuttke haben Glück. Nach dem 2:o-Heimsieg des FCS durch einen Doppelpack von US-Stürmer Eric Wynalda ist die Erkrankung Wuttkes kein Thema mehr.
Zu einem anderen Thema wird derweil der zu Saisonbeginn aus Karlsruhe an die Saar gewechselte Arno Glesius. Der von der Mosel stammende, kraftstrotzende Stürmer gefallt Neururer wegen seines ausgesprochen positiven Naturells, aber die Naivität des Winzersohns verblüfft den Trainer mindestens zweitaal.
Als die Saarbrücker zu Beginn der Saison die Reise zu einem Auswärtsspiel im Mannschaftsbus bestreiten, hält sich Glesius nicht an die Sitzordnung. Statt sich wie alle seine Mitspieler in den hinteren Teil des Busses zu begeben, lässt er sich gleich vorne in die für den Assistenztrainer reservierte Zweierbank hinter dem Fahrer fallen. Die, das hat Glesius erfahren, wird an diesem Tag frei bleiben, weil Neururers Co nicht im Bus mitfährt.
Der rechts von Glesius auf seinem Stammplatz sitzende Cheftrainer ist vom Verhalten seines Stürmers irritiert, seine Verwirrung nimmt allerdings zu, als Glesius aus seiner Sporttasche eines dieser DIN A4 großen Sammel-Kreuzworträtsel-biicher nebst Stift zückt und sich ans Lösen macht. Üblicherweise beschäftigen sich Spieler in der Zeit vor Smartphones und iPads auf Mannschaftsbusfahrten mit dem Hören von Musik, dem Kartenspielen mit Kollegen, andere lesen ein Buch, eine Zeitung oder sie dösen einfach vor sich hin. Aus Neururers Irritation wird Interesse, er beugt sich zu Glesius herüber:
»Na, Arno. Läuft's?«, fragt der Trainer.
»Ja«, sagt der Spieler. »Ich hab gerade den australischen Laufvogel mit drei Buchstaben rausgekriegt: Uhu.«
Neururer muss sich spontan ein Lachen verkneifen, sagt dann:
»Ich glaube, das ist nicht der Uhu, sondern der Emu, wenn ich das richtig weiß.«
»Na, bravo«, sagt Glesius, »immerhin ein Buchstabe richtig.«
Im Verlauf der Spielzeit kann die sportliche Leistung von Neururers Mannschaft dieses unterhaltsame Niveau leider nur zu selten auch auf dem Platz anbieten. Am 15. Mai, vier Spieltage vor Saisonschluss, muss derTabellen-15. und damit gerade soeben nicht auf einem Abstiegsplatz stehende FCS im Auswärtsspiel beim Hamburger SV antreten. Nach einer satten Heimniederlage von 0:4 gegen Borussia Mönchengladbach lässt die Ausgangslage für das Spiel an der Elbe wenig Interpretationsspielraum: Ein Sieg, mindestens ein Punkt muss her, denn bei einem sagenhaft schlechten Torverhältnis weisen die Saarländer mit 23 Punkten gerade mal einen Zähler Vorsprung auf den VfL Bochum auf Rang 16 und die mit Bochum punktgleichen Kölner auf. Zwei Punkte dahinter: das Schlusslicht Uerdingen, das am Vorabend mit 1:2 in Kaiserslautern verloren hat.
Im alten Hamburger Volksparkstadion sind 13 200 Zuschauer erschienen, um sich das Kellerkind aus Saarbrücken anzusehen. Der Hamburger SV liegt auf einem gesicherten Mittelfeldplatz in der Tabelle und spielt unter dem brummigen Trainer Benno Möhlmann in diesem Jahr alles andere als Zauberfußball. Zu Hause hat man viele Punkte liegen lassen, es könnte also etwas gehen für die Gäste. Und tatsächlich zeigt Neururers Mannschaft in Hamburg guten Fußball, bestimmt das Geschehen, schießt aber kein Tor.
Kurz nach der Pause - in Hamburg steht es immer noch 0:0 - geht Abstiegskonkurrent Köln in seinem zeitgleich stattfindenden Heimspiel gegen Karlsruhe, Arno Glesius' Ex-Club, mit 1:0 in Führung. In der 68. Minute - immer noch steht es im Volkspark 0:0 - vermeldet die Anzeigetafel im Stadion das 2:0 für Köln gegen Karlsruhe. Bei Dresden gegen Bochum steht es zu diesem Zeitpunkt 0:0. Damit ist der FCS auf einen Abstiegsplatz abgerutscht, die Spieler auf dem Rasen lassen die Köpfe hängen. Auf der Bank hingegen nervt Arno Glesius seinen Trainer:
»Bringende mich, Trainer, ich mach auf jeden Fall ein Tor.«
»Dann los«, sagt Neururer, »geh zum Linienrichter und sag ihm, dass du beim nächsten Aus eingewechselt wirst.«
Glesius sprintet die Linie hinunter, doch ehe er den Unparteiischen erreicht hat, macht er kehrt und rennt zurück zur Trainerbank: »Trainer, was soll ich dem Linienrichter noch mal sagen?«
Glesius kommt in der 71. Minute aufs Spielfeld für Juri Sawitschew. 13 Minuten später schießt Florian Weichert das 1:0, vier Minuten später Carsten Bäron das 2:0 für den HSV. Nach zwei üblen Heimklatschen gegen Bremen (0:4) und den VfB Stuttgart (1:4) steigt Saarbrücken ab. Von den letzten 16 Spielen hatte man keins gewinnen können. Arno Glesius kommt auf vier Saisoneinsätze und erzielt dabei kein Tor. Am 30. Juni 1993 endet Peter Neururers Vertrag, auf eine Verlängerung verzichtet der Trainer. In seinem letzten Spiel beim 1. FC Saarbrücken wird er Zeuge eines Vorfalls, der ihm in seinen bisher 25 Dienstjahren in dieser Form auch nur dies eine Mal widerfahrt. Verwickelt ist darin ein Kollege, der nach außen immer als Saubermann galt: der im Januar 2012 verstorbene Willi Entenmann.
Es ergibt sich folgende Situation: Neururer ist mit seiner Mannschaft schon abgestiegen, muss am letzten Spieltag zum »Club« nach Nürnberg. Der FCN und sein Trainer Entenmann sind Tabellen-15., liegen einen Platz vor der Abstiegszone und müssen die Partie gegen Saarbrücken unbedingt gewinnen, um die Klasse noch zu halten. Verlieren die Club-berer oder spielen sie nur Unentschieden, kann der Tabellen-16. VfL Bochum an ihnen vorbeiziehen. Bochum hat das bessere Torverhältnis, muss allerdings zu Hause gegen Wattenscheid auch erst einmal gewinnen. Für den »Club« wäre es der vierte Bundesliga-Abstieg, noch dazu mit einem stark besetzten Team: Im Tor steht Andy Köpke, in der Abwehr spielen Marco Kurz, Thomas Brunner, Rainer Zietsch, Reinhold Hintermaier, im Mittelfeld Hans Dorfner und Manfred Schwabl, im Sturm Dieter Eckstein, Christian Wück und Uwe Rösler.
Saarbrücken wiederum gilt damals in der Liga zumindest in einer Hinsicht als erfolgreiche Mannschaft: im Stellen von Abseitsfallen. Bei Standardsituationen für den Gegner lässt die FCS-Abwehr dessen Stürmer dank eines im Training nachhaltig einstudierten Prozederes immer wieder gern ins Abseits laufen. Der Gegner weiß nie, wer bei den Saarländern das auslösende Kommando gibt, er kann sich also nicht auf dieses taktische Mittel einstellen.
In der Woche vor dem Spiel in Nürnberg erhält Neururer einen merkwürdigen Anruf. Am anderen Ende der Leitung meldet sich Willi Entenmann, der Trainer des nächsten Gegners. Zwar kennen sich die beiden, Neururer hat gemeinsam mit Entenmann im Herbst 1987 an der Sporthochschule in Köln die Fußballlehrerlizenz abgelegt, dennoch wundert Neururer sich. Und er wundert sich noch ein bisschen mehr, weil Entenmann ihm nach kurzem Begrüßungsgeplänkel eröffnet, dass Neururers Spieler Thomas Kristl und Michael Kostner im Falle des Klassenerhalts der Nürnberger in der kommenden Saison einen Vertrag beim »Club« erhalten. Neururer nimmt das zur Kenntnis, er steckt jetzt in einem Dillemma: Im letzten Spiel kann er nicht auf die beiden abwanderungswilligen Leistungsträgerverzichten, denn er hat keine auch nur annähernd gleichwertigen Ersatzspieler. Und für den Fall, dass er auf die beiden unter vorgeschobenen Gründen verzichten würde, muss er sich aus Bochum den Vorwurf der Wettbewerbsverzerrung gefallen lassen.
Neururer hat Kristl und Kostner als Sportsmänner kennengelernt,' und so belässt er es bei einem kurzen Sechs-Augen-Gespräch, in dem er den beiden erklärt, dass er davon ausgeht, dass sie im Leben nicht auf die Idee kämen, das Spiel abzuschenken. Trotz des unfasslichen Anrufs und des Wissensvorsprungs, den Neururer genießt, will er die Saison sportlich fair zu Ende bringen.
Es ist Samstag, der 5. Juni 1986. Vor mehr als 42.000 Zuschauern geht Neururers Mannschaft im Nürnberger Stadion durch einen Treffer von Juri Sawitschew in der 20. Minute mit 1:0 in Führung. Doch in seiner Mannschaft jubelt nur der Torschütze - alle anderen Spieler zeigen keine Reaktion. Neururer versteht, was er sieht, nicht. Denn schließlich geht es ja - trotz feststehendem Abstieg - noch um die Geldprämien.
Zwei Minuten nach dem i:o für die Gäste, fällt der Ausgleich durch Dieter Eckstein nach einem Freistoß für Nürnberg. Die ansonsten perfekt funktionierende Abseitsfalle des FCS funktioniert nicht. Reinhold Hintermaier bringt den Club in der 33. Minute mit 2:1 in Führung, ehe Saarbrückens Thomas Kristl eine Minute vor der Halbzeit seinen Mitspieler Michael »Balu« Kostner anschießt und mit diesem Eigentor die Führung der Nürnberger auf 3:1 hochschraubt. Ausgerechnet Kristl und ausgerechnet Kostner. Ausgerechnet jene beiden Spieler, die in der kommenden Saison weiter in der Ersten Liga spielen können - mit Nürnberg.
Auf der Bank weiß Neururer sofort, dass dieses Eigentor keinesfalls betrügerischer Absicht, sondern Nachlässigkeit zu schulden ist. »So ein Tor kannst du nicht initiieren«, denkt er. In der 86. besorgt Thomas Brunner den 4:1-Endstand. Bochum gewinnt zeitgleich sein Heimspiel gegen den Lokalrivalen Wattenscheid 09 mit 3:1 und steigt ab.
Thomas Kristl wechselt in der kommenden Spielzeit tatsächlich nach Nürnberg, Michael Kostner nimmt indes ein Angebot des Hamburger SV wahr. Willi Entenmann wird fünf Monate später in Nürnberg entlassen, der »Club« steigt mit seinem neuen Coach Rainer Zobel in die Zweite Liga ab.
Nach der Zeit in Saarbücken kehrt Peter Neururer mit seiner Familie aus Frankreich in den Westen Deutschlands zurück. Sein Sohn Jörn wird eingeschult, die Familie lässt sich in Gelsenkirchen-Buer nieder, 500 Meter Luftlinie entfernt liegt das Parkstadion, die Heimat des FC Schalke 04. Neururer meldet sich arbeitssuchend. Sein Auftritt beim Arbeitsamt in Gelsenkirchen sorgt für großes Aufsehen -bundesweit. Denn Neururer fahrt dort in seinem Porsche-Cabrio vor, eine Geschmacklosigkeit, für die er sich später öffentlich entschuldigen wird, die aber an diesem Tag auch Neururers dem Anlass gemäße Kleidung nicht kompensieren kann: Beim Gang aufs Arbeitsamt trägt der arbeitslose Bundesliga-Trainer Trainingsanzug und Adiletten.
Das Bild passt perfekt zu jenem Image, das in der Öffentlichkeit zu dieser Zeit von Neururer existiert und das sich bis heute in weiten Teilen erhalten hat: Neururer ist der bunte Vogel in den geschmacklosen Trainingsanzügen aus Ballonseide, der auf der Bank Kette raucht, immer Schnauz und manchmal zu große Pilotensonnenbrillen trägt. Ein cleverer Aufsteiger aus dem Ruhrgebiet mit einer sensationell großen Klappe. Ein nicht mehr ganz Namenloser, der um jeden Preis auffallen, weiter nach oben will. »Der von mir gewünschte Effekt trat ein«, sagt Neururer im Blick zurück. »Auf einmal war ich wer.«
In Saarbrücken lenkt er die Blicke ganz bewusst auf sich. Neururer gilt als der große Motivator, der große Psychologe, weil er es irfit einer vermeintlichen Gurkentruppe geschafft hat, in die Erste Fußball-Bundesliga aufzusteigen. Dabei lässt er wirklich keine Gelegenheit aus, einen seiner Sprüche anzubringen, deren Pointen in ihrer Mischung aus intelligenter Flapsigkeit und Witz einzigartig sind, die aber nicht bei jedem gut ankommen. Vor allem dann nicht, wenn die Leistung der Mannschaft alles andere als lustig ist. Da wird aus dem großen Motivator Neururer in Saarbrücken plötzlich der miese Sprücheklopfer. Dass er die kunterbunten Trainingsanzüge etwa anziehen muss, weil deren Hersteller ein Teil seines Gehalts übernimmt, dringt nicht an die Öffentlichkeit, Neururer thematisiert es auch nicht - er würde ja dem Sponsor und damit seinem Verein schaden.
Das Ende in Saarbrücken führt bei Neururer zu einem Umdenken. »Ich habe in Bezug auf mich Sprüche rausgehauen, die in keinem Verhältnis zu meiner Position standen«, sagt Neururer heute. »Ich habe bewusst Vorstände provoziert und das nach außen getragen.« Die des 1. FC Saarbrücken bezeichnet er nicht nur einmal als »Idioten«. Seine Großmäuligkeit kennt allerdings auch Grenzen. Während sein Studienkollege Christoph Daum, der andere »Lautsprecher der Liga«, in seiner Kölner Zeit den Trainerkollegen und Meisterschaftskontrahenten Jupp Heynckes von Bayern München öffentlich angreift, bleibt Neururer seiner Linie treu: Über die Arbeit von Trainern bei anderen Vereinen verliert er öffentlich nie ein schlechtes Wort.
Neben dem Entschluss, sich mit Äußerungen über Ver-einsinterna in der Öffentlichkeit zurückzunehmen, stellt er auch das Rauchen auf der Bank während des Spiels ein. Ausschlaggebend dafür ist ein Femsehbericht in der damals noch existierenden Bundesliga-Sendung »ran« des Privatsenders Sat.i über das Spiel seiner Mannschaft beim Tabellendritten Borussia Dortmund.
Der amtierende Vizemeister wird von Ottmar Hitzfeld trainiert und kann sich zu diesem Zeitpunkt Hoffnungen auf den Gewinn der Meisterschaft machen. Saarbrücken spielt nicht schlecht, verliertaber 0:3. In dem Berichtwird Neururer eingeblendet. Er sitzt in einem mit Werbeträgern zugenähten Harlekinstrainingsanzug auf der Bank. Die Kamera schwenkt hinüber zu Ottmar Hitzfeld in Anzug, Hemd, Krawatte. Die Bilder sprechen eine eindeutige Sprache: hier der Proll-Trai-ner Neururer - dort der Gentleman-Trainer Hitzfeld. Dazu erlaubt sich die freche Spaßvogel-Redaktion von »ran« noch einen Bildtrick: Als Neururer den Zigarettenrauch durch die Nase ausbläst, lässt man diesen Vorgang ein paarmal hin-tereinanderweg laufen: Rauch rein, Rauch raus, Rauch rein, Rauch raus, Raus rein... Es ist ein Bild, das sich einprägt und dessen Botschaft lautet: Neururer ist ein Gossen-Trainer. Das hat Folgen.
Als er diese Bilder in der Wiederholung sieht, fasst Neururer einen Entschluss: Ich ändere mich. Später wird Neururer bei Spielen auch sein Outfit wechseln. Statt Trainingsanzug trägt er Sakko und dunkle Jeans, manchmal sogar Krawatte. Dass Neururer sich verändert hat, transportieren die Journalisten nicht in die Öffentlichkeit. Was auch damit zu tun haben mag, dass Neururer nach dem Abstieg mit Saarbrücken erst mal für eine Zeit aus der Ersten Fußball-Bundesliga verschwindet.