|17|1. Die zerbrechliche Demokratie

Jahrzehntelang galt die (west)deutsche Demokratie als ein Stabilitätswunder. Ausgerechnet die Deutschen hatten es geschafft, in ihrem Land eine vorbildliche Form der Volksherrschaft zu errichten. Weder die APO noch die Ölkrise vermochten die Republik ernsthaft zu erschüttern. Demokratie in Deutschland nach 1945 – das war nicht nur eine bestimmte, stark von der alten deutschen Kleinstaaterei bestimmte Ausprägung der repräsentativen Demokratie. Untrennbar verbunden waren damit auch eine bestimmte Haltung zum Westen, die soziale Marktwirtschaft, ein gut ausgebauter Wohlfahrtsstaat, eine spezifische Form der Konfliktpartnerschaft in den Betrieben und ein gesellschaftlicher Konsens über die Aufgaben und die zu ihrer Erfüllung benötigten Ressourcen des Staates.

Obwohl dieses ökonomische Gründungsfundament der Bundesrepublik schon ab Mitte der 1970er-Jahre in die Krise geriet, weil die wirtschaftlichen Wachstumsraten nicht mehr ausreichten, um den voranschreitenden Ausbau des Sozialstaats zu finanzieren, und weil infolge eines neuen Globalisierungsschubs mit jeder Rezession die Sockelarbeitslosigkeit stieg, fand der politische Überbau unverändert Akzeptanz. Nach 1989 konnten die Institutionen der bundesdeutschen parlamentarischen Demokratie unverändert auf das Beitrittsgebiet der ehemaligen DDR ausgedehnt werden. Repräsentative Umfragen begannen zwar schon bald nach der deutschen Einheit eine bedenkliche Unzufriedenheit der Ostdeutschen mit der parlamentarischen Demokratie zu zeigen, doch wurde dies allgemein |18|auf die ökonomische Misere der Ostdeutschen geschoben, was mit der impliziten Erwartung verbunden war, dass eine Steigerung des Wohlstands auch zu einer Versöhnung mit der parlamentarischen Demokratie führen würde.

An der Milleniumswende im Jahr 2000, 55 Jahre nach dem Ende des Dritten Reiches, hätte niemand im In- oder Ausland Zweifel daran gehabt, dass die deutsche Demokratie eine der stabilsten der Welt ist.

Elf Jahre später hat sich dieses Bild verändert. Natürlich haben die demokratischen Institutionen des Landes nach wie vor Bestand. Doch die Zweifel an ihrer Verlässlichkeit bei der Bearbeitung der anstehenden Probleme, an ihrer Legitimität angesichts stetig schwindender Wahlbeteiligungen und an ihrem Einfluss angesichts eines globalisierten Kapitalismus sind nicht mehr zu überhören. Das beginnt mit der schwindenden Akzeptanz der Parteien. Die einst allmächtige CSU in Bayern ist zu einer Regionalpartei geschrumpft, die von Wahl zu Wahl um ihre Mehrheiten fürchten muss. Die SPD, einst die stolzeste Partei des Landes, wurde bei den Bundestagswahlen im September 2009 auf bislang unvorstellbare 23 Prozent reduziert und musste im Frühjahr 2011 in Baden-Württemberg eine Koalition mit den Grünen eingehen – als Juniorpartner. Der Ansehensverlust der Demokratie betrifft aber nicht nur die politischen Parteien. Auch die Wahlbeteiligung hat ein historisches Tief erreicht. 2006 nahmen an der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt nur noch 44,4 Prozent der Wähler teil. Bei der Bundestagswahl 2009 gingen rund 30 Prozent der Wahlberechtigten, etwa 18 Millionen Menschen, nicht mehr zur Stimmabgabe. Noch 2005 hatten nur 22,3 Prozent der Wähler den Gang zur Wahlurne verweigert. Und bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen im Mai 2010 betrug die Wahlbeteiligung nur 59,3 Prozent – obwohl der Ausgang als offen galt, es also alle |19|Gründe gab, die eigene Stimme in die Waagschale zu werfen. Immer unklarer ist im Vorfeld von Wahlen, wohin sich die Waage neigen wird. Noch in den 1970er-Jahren gab es bei Bundestagswahlen eine stabile Beteiligung von 90 Prozent und von den abgegebenen Stimmen entfielen wiederum 90 Prozent auf die Volksparteien CDU/CSU und SPD. Solche Ergebnisse sind heute undenkbar. Die Wähler – wenn sie überhaupt noch zur Wahl gehen – werden unberechenbar, entscheiden erst in letzter Minute und wenden sich schon kurz nach der Stimmabgabe wieder von der Partei ab, die sie unterstützt haben. Das verändert das Land und seine einst so stabilen Koordinaten. Im Herbst 2009 wurde die SPD im Bund abgestraft, im Frühjahr 2011 verlor die CDU mit Baden-Württemberg ihr wichtigstes Stammland. Althergebrachte Bindungen und Traditionen zählen immer weniger. Heute stellen die Bürger alles in Frage. Und sie teilen Denkzettel aus, wenn ihnen etwas nicht passt.

Vor allem aber macht die schleichende Abnutzung auch vor der Idee der Demokratie nicht halt. Eine repräsentative Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung enthüllte im Jahr 2008 eine grundsätzliche Distanz der Bürger zur Demokratie. Nur noch zwei von drei Befragten glaubten, dass die Politik in der Lage sei, die in Deutschland anstehenden Probleme zu lösen. 25 Prozent gaben an, mit der Demokratie, »wie sie bei uns heute ist«, nichts zu tun zu haben. Weitere 34 Prozent bezeichneten diese Haltung zwar als falsch, aber nachvollziehbar.1 Diese Zahlen sind Zeichen einer ermatteten Demokratie. Das Aufbruchspathos der Republikgründung ist genauso dahin wie die Begeisterung über die lange Prosperität und Stabilität der zweiten deutschen Republik. Willy Brandts berühmter Satz »Wir wollen mehr Demokratie wagen« wäre – so der Spiegel-Redakteur Dirk Kurbjuweit – »heute kein Satz mehr, der diese Gesellschaft erreichen kann. Viele würden gar nicht mitbekommen, |20|dass er gesagt wurde, anderen wäre es egal, und die meisten würden dem Politiker, der den Satz sagt, nicht glauben, dass er ihn ernst meint.«2

Die Verhältnisse kommen ins Rutschen

Woher kommt diese Unzufriedenheit mit der Demokratie? Denn eigentlich geht es den Deutschen doch gut. Kein großer Terroranschlag hat das Land bislang erschüttert, die Wirtschaft hat die Weltfinanzkrise in Windeseile überwunden, sogar die Deutsche Bahn fährt – zumindest meistens. Und doch gibt Deutschland im Jahr 2011 ein merkwürdiges Bild ab: Das Land ist gereizt und erregt, in ständig schwankenden Spannungszyklen gefangen und doch zugleich in Stagnation verharrend. Es ist fast ein bisschen so, wie Thomas Mann im Zauberberg die Stimmung unter den Sanatoriumsbewohnern beschreibt: »Was gab es denn? Was lag in der Luft? – Zanksucht. Kriselnde Gereiztheit. Namenlose Ungeduld! Eine allgemeine Neigung zu giftigem Wortwechsel, zum Wutausbruch, ja zum Handgemenge.«

Die Gereiztheit ist eine Folge von Unsicherheit. Die Menschen spüren ganz offensichtlich, dass sich in Deutschland etwas verändert, dass lange selbstverständliche Gewissheiten und eingeübte Formen des Umgangs zwischen Politik und Bürgern mehr und mehr in Frage gestellt werden. Darauf reagieren sie nervös, mit Abwehr und auch mit Verdruss. Denn außer Frage steht: Deutschland, das erst 1990 zu seiner heutigen Form gefunden hat, verändert sich in atemberaubendem Tempo. Da ist zum einen der Machtverlust der Politik. Der Nationalstaat hat im Zuge der Europäisierung freiwillig Einfluss nach Brüssel und Straßburg delegiert und im Prozess der Globalisierung |21|unfreiwillig seine vormals fast uneingeschränkte Macht mehr und mehr an potente wirtschaftliche Akteure, informelle Zusammenschlüsse und supranationale Institutionen abgegeben. Schon im Jahr 2000 befanden sich unter den 100 größten wirtschaftlichen Einheiten der Welt 52 Konzerne, aber nur noch 48 Staaten. Die globalen Unternehmen bringen ihre Interessen überall zur Geltung, wo sie diese berührt sehen. Das Wissen um den Machtverlust der Politik teilen Politiker und Bürger. Es sind nicht zuletzt die Politiker selbst, die ihre eigene Ohnmacht immer wieder thematisieren – wenn auch nur selten so plakativ wie die für die Regulierung des Finanz- und Bankensektors verantwortlichen Abgeordneten des Europäischen Parlaments, die im Sommer 2010 Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft in einem dramatischen Appell um Hilfe baten, weil sie bei ihrer Arbeit von Lobbyisten umstellt seien.3 Folgt man der aktuellen Deutschen Parlamentarier Studie des Düsseldorfer Politikwissenschaftlers Ulrich von Alemann, glauben von den dort befragten 2400 Bundestags- und Landtagsabgeordneten nur 19 Prozent, dass sie im Kampf gegen die Armut etwas ausrichten können. Nur 16 Prozent der befragten Politikerinnen und Politiker sind der Meinung, auf die Gesundheitspolitik Einfluss zu haben. Ähnlich niedrig sind die Werte in anderen Politikfeldern. Die Parlamentarier erklären damit de facto, überflüssig zu sein.4

Hinzu kommt eine tiefe Entfremdung zwischen Wählern und Gewählten, eine Krise der Repräsentation, welche maßgeblich zur schleichenden Erosion der Demokratie beiträgt. Im Mai 2011 rangierte das Thema »Unzufriedenheit mit der Politik« auf Platz eins einer repräsentativen Forsa-Umfrage nach den größten Problemen des Landes. 35 Prozent der Befragten wählten diese Kategorie – so viele wie nie zuvor. Vier von fünf Befragten klagten, die Politik sei sprunghaft und unberechenbar geworden. Nur 37 Prozent fanden, die Politiker machten |22|ihre Arbeit im Großen und Ganzen gut, 56 Prozent waren gegenteiliger Ansicht.5 Die Entfremdung ist mittlerweile so stark, dass selbst Politiker sie offen eingestehen. Der Bundestagsabgeordnete Harald Koch (Die Linke) schrieb in einer Stellungnahme für das Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement im Februar 2011: »Die Bevölkerung als Souverän ist von den ihre Lebenswirklichkeit betreffenden Entscheidungsprozessen oftmals entfremdet. Viele politische Entscheidungen stoßen auf geringe Akzeptanz oder gar absolutes Unverständnis. Parlamente, die Bürgerinnen und Bürger nicht mehr mitnehmen, Entscheidungen nicht transparent und nachvollziehbar machen, verlieren an Rückhalt in der Bevölkerung.« Und die SPD-Bundestagsabgeordnete Ute Kumpf sekundierte: »Es gibt aber nicht erst seit dem Sommer 2010 Zweifel an der Leistungsfähigkeit und Legitimation unseres Systems, der sich in Protesten ausdrückt oder an einer Wahlmüdigkeit abzulesen ist.«

Postdemokratie

Diese Diagnosen sind nicht neu. Der britische Politikwissenschaftler Colin Crouch hat in den letzten Jahren mit seinen Thesen zur »Postdemokratie« Furore gemacht. Crouch griff damit einen Begriff von Jacques Rancière auf, der 1995 in einem Aufsatz zu dem Schluss gekommen war, dass in den Gegenwartsgesellschaften demokratische Politik mehr und mehr durch die »Herrschaft der Meinungsbefragung« sowie einen von Expertenwissen gesteuerten politischen Verwaltungsbetrieb ersetzt worden sei.6 Crouch zufolge existieren in der Postdemokratie die demokratischen Strukturen zwar formal fort, doch die Mehrheit der Bürger ist in tiefe Apathie versunken, während die entscheidenden Aushandlungsprozesse zwischen |23|den mächtigen Konzernen und den Resten der einstmals einflussreichen politischen Klasse in Hinterzimmer delegiert werden, wo fernab der Öffentlichkeit die öffentlichen Belange verhandelt werden. Die demokratische Legitimität wird dann quasi im Nachgang von professionellen PR-Experten besorgt, die »die öffentliche Debatte während der Wahlkämpfe so stark kontrollieren, dass sie zu einem reinen Spektakel verkommt, bei dem man nur über eine Reihe von Problemen diskutiert, die die Experten zuvor ausgewählt haben«.7 Crouch und Rancière sind nicht die einzigen Wissenschaftler, die das Bild einer völlig ermatteten demokratischen Öffentlichkeit zeichnen. Der Soziologe Ingolfur Blühdorn spricht im Hinblick auf die gegenwärtige Verfassung vieler westlicher Länder von einer »simulativen Demokratie«. Blühdorn geht in seinen Analysen davon aus, dass es in den letzten Jahrzehnten in den meisten Ländern einen rasant ausgeweiteten Zugang zu Wissen und Informationen gegeben hat. Dies führt aber nach seiner Interpretation keineswegs zu einer verbesserten demokratischen Partizipation. Denn zugleich hat sich die Komplexität in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik so sehr gesteigert, dass die Menschen in der Überfülle von Fakten und Meinungen immer mehr die Orientierung und die Fähigkeit zur Bewertung von Situationen verloren haben. Daraus resultiert Verunsicherung, die wiederum zum Rückzug der Bürger aus dem öffentlichen Raum und zur Flucht ins Private, mithin zu einer Beschränkung auf Eigeninteressen und zum Erlöschen der Öffentlichkeit, führt. Die politische Arena bleibt in Blühdorns Analyse den Profis vorbehalten, deren Treiben die Bürger wahlweise apathisch oder verachtend beobachten. Am Ende steht ein System, in dem die Bürger ihre Freiheit allein als Konsumenten suchen, die Politik meiden und die Lösung gesellschaftlicher Probleme an eine schmale Kaste von Funktionären delegieren.8

|24|Jene Entwicklung hin zu einem immer größeren Desinteresse an den Institutionen der Demokratie, die in den Analysen von Crouch, Rancière und Blühdorn beinahe zwangsläufig ist und von dunklen Mächten (zu denen Crouch vor allem die Wirtschaft zählt) aktiv vorangetrieben und gesteuert wird, lässt sich auch anders interpretieren: nämlich als tatkräftige Selbstentmachtung von Bürgern und Politik. Diese ist vor allem deswegen möglich, weil es eine Krise der Öffentlichkeit gibt, deren Ausdruck eine Entkoppelung der »politischen Klasse« – allein die weite Verbreitung dieses Begriffs verweist auf die wachsende Distanz von Politikern und Bürgern – und der von ihr vorangetriebenen Themen, Entwicklungen und Veränderungen von den Interessen, Wahrnehmungen und Deutungshorizonten der Bevölkerung ist. Dazwischen schieben sich als immer mächtigere Einflussagenten die Medien, die mit ihren eigenen Aufmerksamkeits- und Selektionsmechanismen ein verzerrtes Bild des Politischen zeichnen und so die Diskrepanz immer weiter vergrößern – obwohl sie doch eigentlich für die Vermittlung zwischen Politikersichten und Bürgerinteressen zuständig wären. Die demokratische Oberfläche bleibt zwar gewahrt, doch darunter entsteht etwas Neues, Gelangweiltes und Abgeflachtes. Der Blick der Menschen auf die Politik wird immer zynischer, die Distanz zwischen Regierenden und Regierten immer größer, das gegenseitige Unverständnis zunehmend unüberbrückbar. »In den vergangenen 20 Jahren«, schreibt Susanne Gaschke in der Zeit, »hat sich etwas verändert, das schlimm werden könnte. Es wächst eine Verdrossenheit, die in den Reaktionen auf Thilo Sarrazins Buch nur ihren jüngsten Ausdruck findet: Offenbar verspüren immer mehr Menschen, die sich selbst als durchaus verantwortungsbereite Bürger wahrnehmen, eine Entfremdung von Politik und Medien. Sie haben das Gefühl, dass ihre Erfahrungen und Probleme |25|von den politischen Repräsentanten entweder gar nicht gesehen oder willentlich ignoriert werden oder – schlimmer noch – dass man sie ihnen wegpädagogisieren will.«9

Die Folge dieses wachsenden Misstrauens zwischen Regierenden und Regierten ist eine breite Abwendung der Bürger von der Politik. Laut der bereits erwähnten Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung konnten sich 2008 beängstigende 47 Prozent der Befragten prinzipiell vorstellen, nicht an einer Bundestagswahl teilzunehmen, zehn Prozent bekundeten, ihre Stimme bei Bundestagswahlen grundsätzlich nicht abzugeben, und nur ein knappes Drittel gab an, »politikinteressiert« zu sein. Mit dieser Abwendung von der Politik werden alte Selbstverständlichkeiten in Frage gestellt, die das Land jahrzehntelang geleitet und getragen haben: dass die Deutschen ihre Demokratie wertschätzen und als ein unbedingt zu verteidigendes Gut betrachten, dass sie die Verhältnisse in Deutschland als im Großen und Ganzen gerecht betrachten, dass es annähernd eine Übereinstimmung zwischen der offiziellen Ausrichtung der Politik und dem Denken der Menschen gibt. Die sich mehrenden Anzeichen für eine tiefe und scheinbar unüberbrückbare Kluft zwischen Regierenden und Regierten wirft zwangsläufig Fragen nach der Zukunft der Demokratie auf. Eine Durchmusterung der Zustände in unserem Land vermag jedenfalls keine Sicherheit mehr zu geben, dass wir vor populistischen Anwandlungen von links und rechts gefeit sind, dass die Stabilität der deutschen Demokratie wirklich dauerhaft gegeben ist.