Wo Politik auf Wut trifft
Die unübersehbare Krise der deutschen Demokratie lässt sich als Resultat mehrerer miteinander verknüpfter Entwicklungen verbuchen, die jede für sich als normale und unausweichliche Modernisierungsfolge gewertet werden kann. In der Summe führen diese Tendenzen jedoch zu einer fundamentalen Veränderung unseres Gemeinwesens. Will man diese plakativ auf den Punkt bringen, muss man von einem dreifachen Versagen sprechen: dem der Bürger in ihrer Rolle als citoyens, dem der Medien als Mittler im politischen Diskurs und Moderatoren des gesellschaftlichen Gesprächs und dem der Politiker als der professionellen Sachwalter des Gemeinwesens.
Beginnt man mit der Durchmusterung dieses Versagens bei den Bürgern, lässt sich feststellen, dass das Aufkommen der Stimmungsdemokratie mit einem neuen Typus des Bürgers korrespondiert, der immer weniger citoyen und immer mehr bourgeois und Konsument ist, der seine Marktmacht – sei es als Wähler, sei es als Mediennutzer – dazu gebraucht, egoistisch eigene Anliegen durchzusetzen, ohne an die Folgen für das Gemeinwesen zu denken. Das politische Engagement der Bürger richtet sich immer weniger auf Fragen, welche die grundlegende Ausgestaltung des Zusammenlebens betreffen. Stattdessen fokussiert es auf private Interessen im Nahbereich. Politische Projekte werden selektiv auf eigene Vor- und Nachteile abgeklopft. Wagt es die Politik, Privilegien in Frage zu stellen, setzt sofort ein ungebändigter Proteststurm ein. Selbstverständlich |210|gibt es berechtigte Wut und natürlich gibt es staatliche Projekte, deren Megalomanie nur durch geballten Widerstand gebremst werden kann. Was aber Sorgen machen muss, ist die dahinterstehende Haltung: Politikverachtung, die sich mit fundamentalistischer Besitzstandswahrung paart. In einem Leserbrief an die Bild-Zeitung hieß es einmal wunderbar schizophren: »Erst machen die Politiker keine Reformen, und jetzt gehen sie auch noch an die Rente ran.«184
Die Privatisierung der Demokratie geht dabei Hand in Hand mit einer stetig wachsenden Politikunkenntnis. Die Befunde der Medienwirkungsforschung sind erschreckend: Knapp 30 Prozent der von einem Forscherteam der Universität Jena befragten Fernsehzuschauer sind durch Fernsehnachrichten nicht zu erreichen, weil sie diese entweder gar nicht sehen, sich nicht an sie erinnern können oder deren Inhalt nicht verstehen. Ein erheblicher Teil der Zuschauer ist nicht in der Lage, Qualitätsunterschiede etwa zwischen Kabel1-Nachrichten und der ARD-Tagesschau zu bemerken. Dieser Trend hat sich in den letzten Jahren verstärkt. Vor allem der Osten des Landes wird durch die Fernsehgewohnheiten der Menschen weiter entpolitisiert mit Folgen, die laut dem Jenaer Kommunikationswissenschaftler Georg Ruhrmann »für den Aufbau und den Bestand der Demokratie unabsehbar sind«.185
An den Medien dürften solche erschreckenden Befunde des Versagens, insbesondere wenn man sie am eigenen Vermittlungsanspruch misst, eigentlich nicht vorbeigehen, liegt doch bei ihnen ein erheblicher Teil der Verantwortung für die politische Bildung und Information der Bevölkerung. Umso erstaunlicher ist, dass die meisten Redaktionen gar nicht erst den Versuch machen, einerseits das Politische als solches zu thematisieren und andererseits die Leser oder Zuschauer auch nur ein bisschen zu fordern. Stattdessen schnappen sie sich nach dem |211|Atomausstieg sofort den Taschenrechner und kalkulieren die Verbraucherpreise neu. Die Medien bereiten ihren Stoff stereotyp und unbeirrt nach Repräsentationsregeln auf, die letztlich nur zu Überdruss führen können. Statt ein gesellschaftliches Gespräch zu initiieren, das das Verbindende betont und auf Verständigung ausgerichtet ist, produzieren sie tagtäglich eine Kakophonie unzusammenhängender, sich widersprechender Nachrichten, die kein Bild des Ganzen mehr zu zeichnen vermögen. Der Mahlstrom aus vorgefertigten Statements und albernen PR-Bildern, der so entsteht und auch noch als politischer Diskurs verkauft wird, bewirkt eine unübersehbare Ermüdung der Menschen nicht nur an der Politik, sondern letztlich auch an den Medien selbst, die ihnen dieses Bild der Welt servieren. Der Overkill bestenfalls anpolitisierter News und Nichtigkeiten auf allen Kanälen führt offensichtlich nicht zu besser informierten Bürgern, sondern eher zu deren weiterem Rückzug aus den öffentlichen Belangen. Idole und Identifikationsfiguren werden binnen kurzer Zeit verschlissen, die Zeitkontingente der Menschen für Unwichtiges aufgebraucht, ihre Aufmerksamkeitskapazitäten systematisch überreizt.
Bleibt das Versagen der Politik, die in der Mediengesellschaft ihren eigenen Gestaltungsanspruch weitgehend aufgegeben hat und vorwiegend »medienoptimiert« agiert, also eher Handlungsfähigkeit vortäuscht, als wirklich zu handeln. Die merkwürdige Unfähigkeit der Medien zu einer angemessenen Darstellung der Welt korrespondiert mit der Unfähigkeit der Parteien, die wirklich wichtigen Fragen angemessen zu adressieren und dadurch Bindekraft in die Gesellschaft hinein zu entfalten. Auf die Erosion ihrer Gestaltungsmacht im nationalstaatlichen Rahmen hat die Politik bislang genauso wenig Antworten gefunden wie auf die nachlassende Attraktivität der Parteien. Statt sich auf die geänderten Verhältnisse einzustellen |212|und Handlungsfähigkeit zurückzugewinnen, lässt die Politik sich wie die Gummiente in der Badewanne vom Plätschern der Wellen treiben. Für eine nach wie vor üppig alimentierte gesellschaftliche Elite, von der Führung und Vorbild erwartet werden, ist diese Haltung entschieden zu wenig.
Das Zusammenspiel von Bürgern, die der unerfüllte gesellschaftliche Regelungsbedarf nicht weiter stört, einer Politik, die sich in ihrer viel beklagten Handlungsunfähigkeit längst zufrieden eingerichtet hat, und einer medialen Repräsentation derselben, die gleichermaßen frei ist von Entsprechungen in der Lebenswelt der Menschen wie von einem tieferen Verständnis der Politik, führt zu einer Krise der politischen Öffentlichkeit, die nur demokratiebedrohend sein kann. Die tektonischen Verschiebungen der Kommunikationsverhältnisse und Aushandlungsprozesse in der Nahzone von Politik, Bürgern und Medien begannen zunächst unmerklich und gewinnen nun mehr und mehr an Tempo. Es muss verwundern, dass dies von allen Beteiligten einfach hingenommen wird. Denn nach wie vor gilt die seit der Aufklärung hochgehaltene Erkenntnis, dass eine funktionierende Öffentlichkeit der wichtigste Garant für den Bestand der Demokratie ist. Sie ist nicht nur der Ort, an dem ständig Transparenz über das Handeln der Mächtigen hergestellt wird, sondern bildet auch jene Arena, in der die Bürger untereinander aushandeln, welchem Kurs das Gemeinwesen folgt, welche politischen Projekte mit welcher Intention verfolgt werden und wer sich daran beteiligt. Dies setzt voraus, dass die Öffentlichkeit auch tatsächlich jene Themen bearbeitet, die gesellschaftlichen Regelungsbedarf entfalten, und sich nicht von Inszenierungen, Hypes und Werbeunterbrechungen ablenken lässt. Sonst ist Öffentlichkeit als zentrale Ressource für die handelnde Politik verloren. Diese hat dann kein Zentrum mehr, keine legitimierten Akteure und auch keine Adressaten. |213|»Ohne ein Mindestmaß an Symmetrie in den Kommunikationsbeziehungen zwischen den politischen Spitzen und der Gesellschaft, ohne ein ausreichendes Maß an informativer und argumentativer Öffentlichkeit und ohne einen Grundzug von Verständigungsbemühen in der öffentlichen Kommunikationsatmosphäre einer Gesellschaft kann es keine Demokratie geben, die ihren Namen verdient«, stellt Thomas Meyer fest.186
Die Rolle des kritischen Bürgersinns geht dabei über die Legitimierung des politischen Entscheidungsapparats, die Bereitstellung von sogenannter Input-Legitimität, weit hinaus. »Demokratische Öffentlichkeit«, schreibt der Soziologe Dieter Rucht, »soll über den Zustand von Gesellschaft informieren, kollektive Willensbildung ermöglichen, politische Entscheidungen mit aktiver bürgerschaftlicher Beteiligung stimulieren sowie getroffene Entscheidungen legitimieren.«187 Hierfür muss eine funktionierende politische Öffentlichkeit mindestens drei Aufgaben erfüllen: Sie muss erstens Transparenz schaffen, damit in der öffentlichen Diskussion klar markiert wird, welche Probleme anstehen, wie die Handlungsalternativen aussehen und was dies für einzelne Gruppen und den individuellen Bürger bedeutet. Hier steht die Kontrollfunktion von Öffentlichkeit im Zentrum, die verhindert, dass die Staatsmacht hinter dem Rücken ihrer Bürger agiert. Zweitens muss Öffentlichkeit zur Findung ausgleichender Kompromisse beitragen. Diese diskursiv herbeizuführen, ist eine der vornehmsten Möglichkeiten der Bürger, sich an der Demokratie zu beteiligen. Unterschiedliche Positionen, Anliegen und Vorstellungen müssen im kommunikativen Austausch auf ihre Auswirkungen abgeklopft und gegeneinander gestellt werden. Die Meinung, die sich hier herausschält, ist dann wiederum für die politisch Verantwortlichen eine Richtschnur für ihre Handlungen. Und drittens muss Öffentlichkeit dazu beitragen, die einzelnen, |214|parallel laufenden politischen Projekte in den größeren Zusammenhang einer gesellschaftlich-politischen Konzeption zu stellen. Hier hat Öffentlichkeit also eine Orientierungsfunktion, die es dem Einzelnen überhaupt erst möglich macht, sich in der Gesellschaft zu verorten, und die es umgekehrt der Gesellschaft erst erlaubt, sich als eine solche zu begreifen.
Wenn die politische Öffentlichkeit aufgrund vielfältiger Blockaden diese Funktionen nicht mehr erfüllen kann, trägt sie zwar vielleicht noch dazu bei, die auseinanderstrebenden Teile der Gesellschaft lose miteinander zu verkoppeln und einige Themen vom gemeinschaftsstiftenden Charakter einer Fußball-WM zu setzen, die in allen Segmenten der Gesellschaft diskutiert werden. Ein Abbild des politischen Prozesses liefert sie aber nicht mehr. Die ins Destruktive umgeschlagene Öffentlichkeit untergräbt dann die Legitimität politischer Institutionen, weil deren Agieren eben auf Öffentlichkeit angewiesen ist. Staatliche und politische Einrichtungen handeln nämlich stets so lange in der Annahme, mit dem Rückhalt der Bürger zu agieren, bis ihnen Impulse aus der Öffentlichkeit vermitteln, dass Teile ihres Handelns in Frage gestellt werden. Gerät aber die Praxis staatlichen und politischen Handelns gar nicht mehr in das Blickfeld der Öffentlichkeit, gibt es auch keine Signale mehr, dass bestimmte politische Handlungen auf Protest stoßen. Dann ist die Postdemokratie da. Stuttgart 21 ist hierfür ein Beispiel: Jahrelang wurde das Projekt von Kommissionen, Kommunalregierungen und Parlamentsausschüssen vorangetrieben, doch zu breiterer öffentlicher Wahrnehmung fand es erst mit dem ersten Spatenstich im Schlossgarten. Die Welle der Wut und Ablehnung kam zu spät, um die Planung noch ohne größere Verwerfungen für das einmal Beschlossene zu beeinflussen – einen sechswöchigen Baustopp lässt sich die Deutsche Bahn mittlerweile mit fünfzig Millionen Euro entschädigen –, |215|und so kam es schließlich zur Explosion. Dies zeigt: Die Öffentlichkeit erträgt Verzerrungen und Verkürzungen, ohne vollkommen funktionslos für die Demokratie zu werden – eine totale Entkoppelung von dem, was in der Politik geplant und gedacht wird, übersteht sie dagegen nicht.
Alka-Seltzer für eine verkaterte Gesellschaft
In dem Maße, in dem in Stuttgart und anderswo die Beschädigung der deutschen Demokratie sichtbar wird, gewinnt die Suche nach Therapien an Tempo. Der Ruf nach mehr direkter Demokratie wird dabei lauter und lauter. Ob die stärkere Beteiligung der Bürger an konkreten Entscheidungen aber die richtige Kur ist, bleibt abzuwarten. Denn auf blockierte Strukturen der öffentlichen Kommunikation dadurch zu reagieren, dass man diejenigen entscheiden lässt, die an den Blockaden nicht unmaßgeblich Anteil haben, kann auch heißen, den Bock zum Gärtner zu machen. Auf den ersten Blick versprächen Plebiszite, etwa über den Stuttgarter Bahnhofsneubau, für die politische Klasse Entlastung: Politiker könnten sich durch die Delegation strittiger Entscheidungen an das Volk im Rahmen fakultativer Referenden aus der Verantwortung stehlen. Allerdings würden sie dann ihrer Aufgabe, in Vertretung des Volkes eigenständig politische Lösungen zu entwickeln, nicht länger nachkommen. Dies wäre unterm Strich ein weiterer Schritt zum Abtritt der professionellen Politik. Seine Folge wäre vermutlich nicht nur eine schlechtere Regelung der Belange des Gemeinwesens, bedient würde damit auch eine zynische Haltung, gemäß der das Volk ein paar Mal im Jahr die Gelegenheit bekäme, die aus seiner Sicht völlig verlotterte Kaste der Politiker so richtig abzuwatschen. Deswegen ist zu befürchten, dass der Ruf nach einer Revitalisierung |216|der Demokratie durch mehr Plebiszite, eine Direktwahl des Bundespräsidenten und mehr Bürgerbeteiligung auf der kommunalen Ebene die Abnutzungsprobleme der Demokratie nicht beheben wird.
Umso erstaunlicher ist es, dass auch die Politik selbst mehr Bürgerpartizipation als Allheilmittel gegen die Erosion der Demokratie in Stellung bringt. Die Politiker versprechen sich von der Stärkung direktdemokratischer Elemente offenbar eine höhere Prozessqualität politischer Entscheidungen und damit eine Stärkung der demokratischen Legitimation staatlichen Handelns. Doch sägen sie damit nicht an dem Ast, auf dem sie sitzen? Liefert direkte Demokratie die Politik den kurzfristigen Stimmungen und Zyklen der öffentlichen Meinung nicht noch viel brutaler aus, als es ohnehin schon der Fall ist? Verstärkt sie nicht genau jenen Zug zum Populismus und zur Vermeidung unpopulärer Entscheidungen, der schon heute den Politikern vorgeworfen wird? Hier nur zwei Befunde: 62 Prozent der Deutschen hätten im Jahr 2010 für eine Beschränkung der Zuwanderung gestimmt, 61 Prozent gegen einen EU-Beitritt der Türkei.188 Knapp die Hälfte der in einer Allensbach-Studie Befragten äußerte die Erwartung, dass der Ausgang von Volksabstimmungen im beträchtlichen Maß vom Medientenor beeinflusst werden würde.189 Das Plebiszit würde so zur populistischen Wunderwaffe, aufwendige Infrastrukturprojekte wären kaum noch möglich, da jede Standortentscheidung nur von der lokalen Willensbildung abhängig wäre.
In der Zunahme von Volksbefragungen lauert also ständig die Gefahr einer »Bürgerbeteiligung ohne Bürgersinn«, weil die Betroffenen in allererster Linie ihre eigenen Interessen zur Grundlage der Entscheidung machen. Thomas de Maizière, einer der nicht sehr zahlreichen Skeptiker direkter Demokratie, warnt vor dem Stillstand, den allzu viel Orientierung am |217|Bürgerwillen hervorbringen kann: »Es gibt ein starkes Gefühl: Alles soll so bleiben, wie es ist. An den Bahnhof hab ich mich gewöhnt! Migration? Schlimm genug, wenn es das in Neukölln gibt. Hauptsache, in Dahlem bleibt es, wie es ist! Das ist ein Strukturkonservatismus auf hohem materiellem Niveau. Er wird getrieben durch eine diffuse Furcht und den Willen zur Besitzstandswahrung. Wenn das unwidersprochen bleibt, steht die Politik alleine für Veränderung und die Bürgerschaft für Stillstand.«190 Hinzu kommt: Eine weitere Zunahme von Volksentscheiden, zu denen sich Parteien und Regierungen jedes Mal neu positionieren müssten, würde zu einer Situation des Dauerwahlkampfs führen, in dem Politiker und Parteien stets die Getriebenen wären und ad hoc auf jede Stimmungsaufwallung reagieren müssten. Schon jetzt ist die Zahl von Volksbegehren und -entscheiden von nur zwölf in den 1980er-Jahren auf rund 140 in der Dekade von 2000 bis 2010 gestiegen.191 Die meisten von ihnen scheitern zwar an mangelnder Beteiligung, führen aber trotzdem zu Polarisierung und harten Auseinandersetzungen. Politik mit Augenmaß und Ausgleich wird so immer schwieriger, denn man kann mit guten Gründen bezweifeln, dass eine stärker auf direkte Partizipation ausgerichtete politische Kultur in der Lage wäre, zentrale Zukunftsfragen adäquat zu adressieren. Die politische Energie der Bürger fokussiert primär auf konkrete, ihre unmittelbare Lebenswelt betreffende Fragen wie Bauprojekte, die lokale Infrastruktur oder die örtlichen Bildungsangebote. Die abstrakteren, aber meist ungleich wichtigeren Zukunftsfragen der Gesellschaft nach der Gestaltung der Sozialsysteme, dem demografischen Wandel, der technologischen Zukunftsstrategie oder den Koordinaten der Außenpolitik thematisieren lokale Bürgerbündnisse dagegen nicht. Oft produzieren Volks- und Bürgerbegehren unauflösliche Widersprüche: Wie verhält sich der verbreitete Wunsch |218|nach der Beibehaltung des Gymnasiums als elitärer Schulform zur OECD-Forderung nach einer signifikanten Erhöhung der Zahl der Schulabgänger mit Hochschulzugangsberechtigung und zum bei uns schmählich missachteten Postulat der Chancengleichheit? Die neue Protestkultur der Wutbürger ist vielleicht eine Ressource, um die gesellschaftliche Diskussion wieder lebendiger zu machen, ein Mittel, um Teilhabe herzustellen, die Demokratie umfassend zu revitalisieren und zukunftsfähig zu machen, ist sie dagegen nicht.
Dies ist nicht als grundsätzliches Plädoyer gegen die Einführung von mehr plebiszitären Elementen zu verstehen. Bürgerpartizipation kann durchaus Vorteile haben – man muss nur wissen, worauf man sich einlässt. Eine Volksabstimmung über ein konkretes Vorhaben wie Stuttgart 21 könnte zum Beispiel aus einem Konflikt Staat gegen Bürger eine Auseinandersetzung unter den Bürgern machen, den Staat damit als Objekt des Volkszorns aus der Schusslinie nehmen und das Ergebnis – wie immer es ausfällt – zu einem Akt wirklicher demokratischer Entscheidung machen, was zur Beruhigung der aufgeheizten Situation beitragen könnte. Mehr Partizipation kann auch helfen, die Demokratie repräsentativer zu machen, indem sie bislang nicht beachtete Themen in die Debatte einführt und neue Alternativen kenntlich macht. Bürgerbefragungen können zudem einen Anteil daran haben, in den Medien verzerrt kolportierte Stimmungsbilder zu korrigieren. All dies sei zugestanden. Und dennoch gilt: Die Einführung direkter Demokratie als Ausweg aus einer zunehmend blockierten Republik macht keinen Sinn, solange die Kommunikationsverhältnisse der Mediengesellschaft den Wert der Demokratie an sich gering schätzen und erodieren lassen, solange der öffentliche Diskurs nur in den Kategorien von »Schocks und Hypes« verläuft, wie Bernd Ulrich in der Zeit feststellte. Schocks sind dabei schwere Erschütterungen |219|wie die Euro-Krise, der Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche und das Reaktorunglück von Fukushima, Hypes dagegen künstlich befeuerte Erregungen wie die Sarrazin-Debatte, die Wikileaks-Enthüllungen oder Joachim Gaucks Bundespräsidenten-Kandidatur. Beide, Schocks und Hypes, werden unsere Gesellschaft weiter begleiten. Man müsse anerkennen, so Ulrich, »dass heutzutage jeder Versuch aussichtslos ist, die Emotionen der Bürger zu unterdrücken oder totzuschweigen. Weder Wut wie bei Stuttgart 21 und bei Sarrazin noch Sehnsucht wie bei Joachim Gauck oder Karl-Theodor zu Guttenberg lassen sich auf Dauer kanalisieren.«192
Plebiszite als Placebos
Da die Politiker zumindest in reflektierten Momenten durchaus um die Risiken des ungebremsten Volkswillens in der Stimmungsdemokratie wissen, inszenieren sie Bürgerbeteiligung oft lieber, als diese wirklich zuzulassen – was die Abwärtsspirale der Demokratie nur weiter beschleunigt, denn wer schon gefragt wird, will auch, dass seine Antwort einen Unterschied macht. Jürgen Kaube hat in der F.A.Z.eine Episode geschildert, die zeigt, wie die Menschen auf den taktischen Umgang der Politik mit dem Bürgereinfluss reagieren. Die Geschichte spielt im Sommer 2010, als Angela Merkel ihre »Energie-Reise« – damals ging es noch um die von Merkel beabsichtigte Laufzeitverlängerung, nicht um die nun von ihr durchgesetzte Abschaltung der AKWs – durch Deutschland machte und zum Abschluss nach Darmstadt kam. Von dort erreichte die F.A.Z.-Redaktion wenig später ein Anruf: »Die Anruferin, eine Dame Anfang siebzig, berichtete vom Auftritt der Kanzlerin. Man habe diese auch nach der Atomenergie und den Laufzeiten gefragt, |220|und die Kanzlerin habe sinngemäß geantwortet, Genaues könne sie noch nicht sagen. Das Gutachten, das dazu in Auftrag gegeben worden sei, liege nämlich erst seit heute, dem Tag des Besuchs in Darmstadt, vor. Das fand die Anruferin erstaunlich. ›Wieso macht die Kanzlerin eine Reise mit dem Thema Energiepolitik, wenn sie noch nicht sagen kann, welche Energiepolitik sie vorhat?‹ Und nach einer kurzen Pause: ›Aber vielleicht war sie ja genau deshalb in Sachen Energiepolitik unterwegs, weil noch kein Gutachten vorlag. Sie wollte noch so tun, als sei alles offen. Sie wollte noch nichts sagen können.‹« Kaube schlussfolgert aus diesem Anruf: »Selbst in der Mitte der Gesellschaft traut man der Politik inzwischen einen rein taktischen Umgang mit den Bürgern zu. Selbst dort fragt man nicht mehr, was sie sagen, sondern warum sie es wohl sagen. Die Proteste in Stuttgart, Hamburg, Gorleben sind insofern nicht nur Proteste in der Sache. Sie betreffen viel mehr die Form von Politik. (…) Politiker, so der Eindruck, suchen den Dialog beispielsweise genau dann, wenn sie wissen, dass es gar keine Voraussetzungen für ihn gibt – damit der Eindruck des Dialogs bestehen bleibt, ohne den Preis des Dialogs in Kauf nehmen zu müssen. Das Modell dafür ist das Genehmigungsverfahren für Großprojekte. Oder eine Schulreform. Oder eine Hochschulreform. Oder eine Rechtschreibreform. Oder Europa. Immer geht es angeblich um vitale Probleme unserer Gesellschaft, aber ständig irrt sich das Volk in ihnen so sehr, dass man es – bei der Verfassung nach 1989, beim Euro, bei Maastricht, bei Integrationsfragen, bei der Atomenergie oder beim Schulsystem – nie in der Sache fragen darf.«193
Einen ähnlichen Nachweis hat Andreas Zielcke von der Süddeutschen Zeitung über den Ablauf des Planungsverfahrens für Stuttgart 21 geführt. Den Gegnern des Bahnprojekts, so Zielcke, werde vorgeworfen, sie hätten ausreichend Zeit zum Mitreden |221|gehabt und diese Chance ungenutzt verstreichen lassen. Doch nach einer Sichtung der Stuttgarter Archive lasse sich nur resümieren: »Diese Unterstellung ist schlicht falsch.«194 Schon 1995 habe sich die Stadt Stuttgart ohne jede Bürgeranhörung oder -beteiligung in einer Rahmenvereinbarung zur Mitwirkung an dem Bahnhofsprojekt verpflichtet. Alle späteren Gerichtsurteile hätten genau diese Verpflichtungserklärung ins Zentrum gestellt und betont, die Stadt Stuttgart könne nicht durch Bürgerentscheide oder Volksbegehren dazu gezwungen werden, eine rechtswidrige Handlung zu begehen. Genau dies sei aber der Fall, wenn sie von ihrer eingegangenen Verpflichtungserklärung abrücke. Der Zug war also schon abgefahren, die Weichen unwiderruflich gestellt, lange bevor es überhaupt eine öffentliche Diskussion über das Bahnhofsprojekt gab. Es war ein bisschen wie in Douglas Adams Per Anhalter durch die Galaxis, wo die Pläne für die Zerstörung der Erde schon seit Jahren auf Alpha Zentauri aushingen und von jedem Erdenbewohner hätten eingesehen werden können. Diese hätten dafür nur einmal auf Alpha Zentauri vorbeischauen müssen.
Genau dieser manipulative Umgang mit der Einbindung der Bürger aber hat hoch problematische Folgen für die Demokratie. Das Volk wird offenbar nur dann zu Rate gezogen, wenn es den Strippenziehern gerade passt. Dies zeigen zumindest die bisherigen Experimente. 1993 wurde Rudolf Scharping in einer Mitgliederbefragung zum neuen SPD-Vorsitzenden erkoren. Diese Mitgliederbefragung ging auf den Landesverband Nordrhein-Westfalen zurück, der auf diese Weise den Niedersachsen Gerhard Schröder als Parteivorsitzenden verhindern wollte. Schon zwei Jahre später putschte Oskar Lafontaine Scharping aus dem Amt – mit einer einfachen Parteitagsmehrheit. Eine Mitgliederbefragung zur Vorsitzendenwahl hat es seitdem in der SPD nicht mehr gegeben. Ein Jahrzehnt später hatte die Ablehnung |222|des EU-Verfassungsvertrags durch die skeptischen Bürger in Irland, den Niederlanden und Frankreich zur Folge, dass die wesentlichen Inhalte des Abkommens in eine Vertragsform überführt wurden, die keiner Zustimmung in Referenden unterlag. Nicht viel anders verhält es sich heute mit Stuttgart 21: Als Wahlkämpfer forderte der baden-württembergische Grüne Winfried Kretschmann eine Volksabstimmung über den Bahnhofsbau. Nun, als Regierungschef, muss er darauf hoffen, dass diese an mangelnder Beteiligung scheitert, damit er die rechtlichen Verpflichtungen erfüllen kann, die das Land Baden-Württemberg im Hinblick auf den Bahnhof eingegangen ist. Die Liste ließe sich fortsetzen. »In der öffentlichen Diskussion über Plebiszite fällt auf, wie häufig sie rein taktisch und instrumentell unter dem Gesichtspunkt befürwortet werden, ob eine Volksabstimmung helfen würde, in einer bestimmten Frage die Oberhand zu behalten«, urteilt Renate Köcher.195 Unter dem doppelten Druck von Bürgerdrängen und Sachzwängen entsteht so eine Situation, wo direkte Demokratie von den Politikern zwar einhellig gefordert, aber selbst da nur höchst unzureichend praktiziert wird, wo sie rechtlich schon heute möglich ist. Dies ist vermutlich für die Demokratie schlimmer, als wenn man auf die Fiktion der Bürgereinbindung bei der Planung von Großprojekten ganz verzichten würde. Denn die Politik simuliert zur Erhöhung ihrer Legitimation eine Form direktdemokratischer Einbindung, die sie bei ihren Entscheidungen weder einlösen kann noch wirklich einlösen möchte. Für die Akzeptanz demokratischer Politik ist dies eine schwere Belastung, denn es kommt zur Entkoppelung zwischen öffentlichem Diskurs und arkaner Herrschaftsausübung. Eben dadurch, dass der Diskurs für die Entscheidungsfindung keinerlei Verbindlichkeit hat, beginnt er sich den Realitäten zu entheben. Die Emotionen dürfen dann ruhig hochkochen, der |223|Volkszorn schäumen – die Politik richtet es danach im stillen Kämmerlein. Auf der öffentlichen Bühne dagegen darf sich die erregte Republik von lästiger Verantwortung befreit ganz ihren Gefühlszuständen hingeben.
Der Wert der repräsentativen Demokratie
Da dieser Weg ganz eindeutig in die Sackgasse führt, müssen wir Alternativen suchen. Die erfolgsversprechendste besteht darin, die Legitimationskrise der parlamentarischen Demokratie zu überwinden und den Wert des repräsentativen Systems wieder ins Bewusstsein zu rufen. Denn die indirekte Demokratie, die über einen langen Zeitraum das zentrale Erfolgsprinzip der zweiten deutschen Republik war, revitalisiert sich nicht durch die Selbstabdankung der Politik und die Machtrückgabe an die Wähler. Thomas Schmid urteilt in der Welt: »Es wäre falsch, darauf zu setzen, man könne den Souverän auf Trab und zur Zustimmung bringen, indem man ihm eine Karotte namens direkte Demokratie vor die Nase hält. Denn es ist ein Irrtum zu glauben, die direktere Demokratie wäre die bessere Demokratie. Und es ist in hohem Maße beunruhigend, dass selbst unter dem Fachpersonal für Politik – nennen wir es hier einmal die politische Klasse – diese grundlegende Einsicht offensichtlich nicht fest verankert ist. Erst der Umstand, dass sie nicht direkt, sondern repräsentativ ist, macht unsere Demokratie zu einem Juwel. Ihre Repräsentativität ist kein Mangel, für den man sich schämen müsste, sondern ein großer Vorzug.«196 Tatsächlich wird erst durch die vielfältigen Vermittlungs- und Häutungsprozesse, die zwischen der spontanen, medial beeinflussten Willensbildung des Volkes und den politischen Entscheidungen in Parlamenten liegen, der unmittelbare Wille des Volkes – |224|sofern man von diesem angesichts der Heterogenität der Meinungen und Einstellungen überhaupt sprechen kann – in praktikable, vielfältig austarierte politische Aktionsprogramme übersetzt, werden Interessen in einem 80-Millionen-Land überhaupt erst handhabbar. Thomas Schmid schreibt weiter: »Die ganze Kunst des Politischen ist eine Kunst des Repräsentativen. Der ursprüngliche Volkswille kennt nur Himmel und Hölle, Schwarz und Weiß, Ja oder Nein. Vermittlung ist da nicht vorgesehen, Kompromiss und Ausgleich sind auch nicht angelegt. Der direkteste Demokrat ist der, der sich holt, wonach ihm der Sinn steht.«197 Möglich wäre so nur noch eine binäre Ja/Nein-Demokratie, die die Komplexität des Politischen hoffnungslos unterfordern würde und leicht zur Diktatur einer engagierten Minderheit verkommen könnte. Richtig praktizierte repräsentative Demokratie dagegen bedeutet kluge, auf Vertrauen begründete Delegation von Macht auf Zeit in der begründeten Annahme, dass die komplizierten Aushandlungswege der Politik am Ende Ergebnisse zeitigen, die für die Mehrheit der Menschen positive Effekte haben und so den Zusammenhalt dauerhaft sichern. Dieses Prinzip zu verteidigen, ist eine lohnenswerte Aufgabe.
Grenzen der Medialisierung
Deswegen lautet die eigentliche Frage für die Zukunftsfähigkeit unserer Demokratie, wie wir wieder zu einer Diskursordnung kommen, die einen entschiedenen Gegenpunkt zur mäandernden Stimmungsdemokratie setzt, das allgemeine Anspruchs- und Servicedenken hinterfragt und ernsthafte Versuche zur Rehabilitierung des Politischen unternimmt. Erste Gegenbewegungen zur alles überlagernden Erregung sind bereits |225|zu erkennen. Eine besteht in der Umgehung der Medien durch die Politik. Diese versucht schon seit längerem, an den Medien vorbei wieder direkte Kommunikation zu ihren Wählern aufzubauen. Gerhard Schröders »Glaubt denen nicht« und Angela Merkels wöchentliches Videopodcast sind hier nur zwei unterschiedliche Ausprägungen derselben Strategie. Doch auch innerhalb des Mediensystems sind Veränderungen zu erkennen. Gunter Hofmann hat beobachtet, dass die heute scheinbar alles beherrschende Medienlogik schon den Keim zu ihrer Überwindung in sich trägt: »Sogar das Fernsehen kann dabei helfen, das viel vom klassischen Geschäft der Politik übernimmt. Es schafft auch wieder den Resonanzboden für Kontroversen, für kleine Gegenöffentlichkeiten, die sich – und sei es im Internet – rapide und weltweit verbreiten können. Und in dem Sinne provoziert es geradezu auch eine differenzierte Wortewelt, die auf Nuancen und Differenzen, auf Begründungen und Alternativen Wert legt, also einen streitbaren Journalismus, der sich, Inseln im flirrenden Einerlei, als ›politische Öffentlichkeit‹ behauptet.«198 Am wichtigsten aber ist: Die scheinbar unaufhaltsame Medialisierung findet dort ihre Grenzen, wo es richtig ernst wird. Tief in ihrem Innern wissen die Menschen, dass die Politik auch in einer entgrenzten und globalisierten Welt noch Verantwortung trägt und weiter unsere Zukunft bestimmt. Wenn es wirklich darauf ankommt – bei großen Wirtschaftskrisen, Terrorgefahr oder Epidemien –, wollen die Bürger ihre Politiker am Schreibtisch, im Flugzeug oder in der Kabinettssitzung sehen, keinesfalls aber schwadronierend in der Talkshow oder liebestoll in der Homestory. Eine ganze Reihe deutscher Politiker hat diese Erfahrung in den vergangenen Jahren gemacht. Rudolf Scharpings im Jahr 2001 kunstvoll inszeniertes Planschen im Swimmingpool wirkte auch deshalb so deplatziert, weil die von ihm befehligte Bundeswehr zu dieser |226|Zeit auf dem Balkan in einem schwierigen Auslandseinsatz stand. Dies zeigt: Die beabsichtigten Wirkungen von Inszenierungen können sich nicht nur ins Gegenteil verkehren, Inszenierungen nutzen sich auch ab, werden langweilig und führen zum Überdruss. Der SPD-Vordenker Matthias Machnig prognostizierte schon zur Jahrtausendwende, dass der Wunsch der Menschen nach Authentizität umso größer werde, je gestylter und künstlicher die politische Welt um sie herum sich geriere.
Als Tony Blair, der Großmeister des politischen Spins, im Mai 2007 als britischer Premierminister zurücktrat, schrieb die Süddeutsche Zeitung: »Tony Blair ist nicht nur der letzte amtierende Protagonist des Dritten Weges. Mit ihm wird auch jener ganz spezifische, manchmal fast halbweltliche Glamour aus der Politik verschwinden, den Clintons Zigarren, Schröders Prol-Kumpeligkeit und Blairs Pop-Existenz symbolisiert haben. Es war dies eine Gruppe von Politikern, die sich manchmal outrageous und oft polarisierend benahmen, die ebenso in der politischen Wochenpresse wie in den Klatschblättern zu Hause waren.«199 Heute ist Tony Blair, der 1997 mit einer kunstvoll inszenierten »Cool Britannia«-Kampagne und mit enthusiastischer Unterstützung der traditionell besonders aggressiven britischen Boulevardpresse die Downing Street 10 eroberte und jahrelang als charismatischster Regierungschef Europas galt, eine der unbeliebtesten Personen in Großbritannien. Und das ist nicht nur auf seine kriegstreiberische Haltung im Irakkrieg zurückzuführen, sondern auch auf den allgemeinen Überdruss, den sein durch und durch auf Inszenierung bedachter und von Kontrollwahn durchzogener Regierungsstil im Lauf der Jahre bei den eigentlich geduldigen Briten erzeugte.
Es gibt ganz offensichtlich nach wie vor so etwas wie eine kommunikative Rationalität, eine dem Volk innewohnende politische Vernunft, die sich auch durch den Dauerkonsum minderwertiger |227|Medienangebote nicht ausrotten lässt. Trotz aller Unterhaltungsfixierung: Unterm Strich wollen die Bürger bei der Regelung der gemeinsamen Angelegenheiten offenbar lieber Sinn statt Spin. Zu fragen ist, ob wir nicht bereits heute einen Wendepunkt erreicht haben, an dem die Inszenierung des Politischen endlich wird – zumindest dann, wenn sie allzu offensichtlich im Widerspruch zur Realität steht. Folgt man Gunter Hofmann, gibt es bemerkenswerte Hinweise in diese Richtung: »Das Publikum, auf das die Akteure schielen, entscheidet souverän, ob es die Politiker trotz ihrer Inszenierungen wählt oder abwählt, nicht wegen ihres Talents zur Symbolpolitik. (…) Die Mediendemokratie ist da, nun lasst uns wieder zur Sache kommen.«200 Die Medialisierung der Politik hat also dort Grenzen, wo die Bürger selbst erkennen, dass sie das Politische brauchen. Umgekehrt gilt, dass auch die Politisierung der Medien endlich ist, weil diese in der Demokratie ebenfalls gebraucht werden. Die gesellschaftlichen Teilsysteme Politik und Medien mögen sich gegenseitig überformen und manchmal wie miteinander verschmolzene Lavaströme wirken. Sie bleiben aber in ihren zentralen Funktionszuweisungen – Probleme zu lösen im Fall der Politik, Diskurse zu moderieren im Fall der Medien – doch für sich distinkt und klar geschieden. Dies deutet darauf hin, dass es nach wie vor einen zwar beschädigten, aber doch noch funktionsfähigen Kern der politischen Öffentlichkeit und auch einen zur Vernunft befähigten Journalismus gibt.
Deliberative Demokratie
Um diesen Kern zur Geltung zu bringen, braucht Öffentlichkeit einen gesellschaftlichen Ort, der als nicht vermachtetes Forum des öffentlichen Austauschs über die alle gemeinsam betreffenden |228|Belange dienen kann. Der Philosoph Jürgen Habermas hat die Eröffnung solcher neuer Diskursräume schon vor vielen Jahren als deliberative Demokratie bezeichnet und zum Zentrum seiner Theorie demokratischer Öffentlichkeit gemacht. »Deliberare« bedeutet so viel wie »mit sich und anderen zu Rate gehen« und verweist auf die gemeinsame Willensbildung unter freien Bürgern. Die politischen Institutionen der repräsentativen Demokratie arbeiten nach Habermas’ Vorstellung nur dann im Sinne des Gemeinwohls, wenn den Parteien und Parlamenten eine demokratische Öffentlichkeit der Bürger vorgelagert ist, in der durch das Miteinander-Reden und das Abwägen der Argumente ein Gemeinsinn hergestellt wird, der durch seine Umfassendheit und Unvoreingenommenheit einen Geltungsanspruch und somit kommunikative Macht entfaltet, die erst in einem zweiten Schritt in die legislative und administrative Macht der Parlamente und des Staates umgemünzt wird. Es geht bei der deliberativen Demokratie also um die Aufhebung des Schismas von gesellschaftlichem Raisonnement und staatlichem Handeln. Denn Demokratie funktioniert in Habermas’ Konzeption nur dort, wo über das Politische als das alle gemeinsam Betreffende mit der Absicht gesprochen wird, das Reden auch in gemeinschaftliches Handeln umzusetzen. Und Gemeinschaftlichkeit wird eben über kommunikative Verständigung hergestellt. Hierfür wird die Unterstützung der Medien als Diskursmoderatoren benötigt, doch sie allein sind schon deswegen keine hinreichende Bedingung für eine neue Gemeinsamkeit, da sie den Leser oder Zuschauer immer nur als Einzelperson adressieren und isoliert erreichen, also nicht zur Vergemeinschaftung beitragen und so auch kein gemeinschaftliches Handeln ermöglichen. Gebraucht werden deswegen auch Zonen des Austauschs, in denen die Bürger unmittelbar miteinander reden und ihre Interessen kommunikativ in Ausgleich |229|bringen. »Wir leben in pluralistischen Gesellschaften«, stellt Habermas fest. »Das demokratische Entscheidungsverfahren kann über tiefe weltanschauliche Gegensätze hinweg nur solange eine legitimierende, alle Bürger überzeugende Bindungskraft entfalten, wie es der Kombination aus zwei Forderungen genügt. Es muss Inklusion, also die gleichberechtigte Beteiligung aller Bürger, mit der Bedingung eines mehr oder weniger diskursiv ausgetragenen Meinungsstreites verbinden. Denn erst deliberative Auseinandersetzungen begründen die Vermutung, dass das demokratische Verfahren auf lange Sicht mehr oder weniger vernünftige Ergebnisse ermöglicht. Die demokratische Meinungsbildung hat eine epistemische Dimension, weil es dabei auch um die Kritik falscher Behauptungen und Bewertungen geht. Daran ist eine diskursiv vitale Öffentlichkeit beteiligt. Das kann man sich intuitiv an dem Unterschied klarmachen, der zwischen konkurrierenden ›öffentlichen Meinungen‹ und der Veröffentlichung demoskopisch erfasster Meinungsverteilungen besteht. Die öffentlichen, durch Diskussion und Polemik erzeugten Meinungen sind bei aller Dissonanz bereits durch einschlägige Informationen und Gründe gefiltert, während die Demoskopie gewissermaßen latente Meinungen in ihrem Roh- und Ruhezustand nur abruft. Natürlich erlauben die wilden Kommunikationsflüsse einer von Massenmedien beherrschten Öffentlichkeit nicht die Art von geregelten Diskussionen oder gar Beratungen, wie sie in Gerichten oder parlamentarischen Ausschüssen stattfinden. Das ist auch nicht nötig, weil die politische Öffentlichkeit nur ein Verbindungsglied darstellt. Sie vermittelt zwischen den institutionalisierten Diskursen und Verhandlungen in staatlichen Arenen auf der einen Seite, den episodischen und informellen Alltagsgesprächen potentieller Wähler auf der anderen Seite. Die Öffentlichkeit leistet zur demokratischen Legitimation des staatlichen Handelns |230|ihren Beitrag, indem sie politisch entscheidungsrelevante Gegenstände auswählt, zu Problemstellungen verarbeitet und zusammen mit mehr oder weniger informierten und begründeten Stellungnahmen zu konkurrierenden öffentlichen Meinungen bündelt. Auf diese Weise entfaltet die öffentliche Kommunikation für die Meinungs- und Willensbildung der Bürger eine stimulierende und zugleich orientierende Kraft, während sie das politische System gleichzeitig zu Transparenz und Anpassung nötigt.«201
Für die Verwirklichung dieses Projekts einer von Machtzwängen und Taktik befreiten und damit an gegenseitiger Verständigung orientierten Öffentlichkeit werden nicht nur Bürger gebraucht, die eine Meinung haben und diese auch kundtun, und nicht nur Politiker, die die Kunst des Zuhörens wieder lernen, sondern auch die Medien, weil nur sie die nötige Reichweite haben, um alle Mitglieder der Gesellschaft in einen Austausch über den Kurs des Gemeinwesens einzubinden, der das gemeinsame Verständnis über die grundlegenden Fragen »Wo stehen wir?« und »Wo wollen wir hin?« herstellt.
Denn eine Entwicklung zurück zur lokalen townhall-Demokratie, in der die Anwesenden die gemeinschaftlichen Belange in freier Diskussion regeln, wird es nicht geben. Die great community ist längst zur great society geworden und hat eine Größe und Komplexität angenommen, in der gesellschaftliche Kommunikation medienvermittelt sein muss, wenn sie die Gesellschaft als Ganzes erreichen und die Organisation deren inneren Zusammenhalts sicherstellen will. Die kommunikative Organisationsleitung des Journalismus wird vor diesem Hintergrund heute dringender gebraucht, denn je. Man denke nur an die 250 000 Dokumente der US-Diplomatie, die Wikileaks im Herbst 2010 online stellte. Ohne die kommentierende und einordnende Aufbereitung durch Presseorgane wie den britischen |231|Guardian oder den Spiegel wären diese Aufzeichnungen zwar öffentlich zugänglich gewesen, doch nur wenige Menschen hätten aus ihnen irgendeine Form von Sinn generieren können. Gerade dieses Beispiel zeigt, dass politische Öffentlichkeit dann gelingt, wenn die hochgradig vermachteten und zentralisierten Massenmedien durch andere Kommunikationsforen, wie sie sich im Internet und anderswo bilden, flankiert und ergänzt werden. Diese sollen den professionellen Journalismus nicht verdrängen, sondern ergänzen. Zu diesen neuen Formen zivilgesellschaftlicher Kommunikation gehört der Bürgerjournalismus genauso wie die gerade entstehenden hyperlokalen Medien, aber auch Foren des bürgerschaftlichen Austauschs, die mit niedrigen Zugangsbarrieren ausgestattet und auf Verständigung im lokalen Nahraum ausgerichtet sind. Diese ergänzenden Instrumente der Öffentlichkeit können dazu beitragen, aus reinen Thematisierungen wieder ein Gespräch zu machen. Und sie können dabei helfen, das Gefühl der Verantwortung für die Qualität des gesellschaftlichen Gesprächs in den massenmedial vermittelten Journalismus selbst hineinzutragen.
Journalismus als Hoffnungsträger
Die Medien werden auch in Zukunft der wichtigste Kristallisationskern politischer Öffentlichkeit sein. Betrachtet man die materielle Ausstattung des deutschen Journalismus, verfügt er – trotz zweier schwerer Medienkrisen in einem Jahrzehnt – noch immer über eine hervorragende Ausstattung, um diese Aufgabe wahrzunehmen. Deutschland hat das teuerste öffentliche Rundfunksystem der Welt, das vom Gebührenzahler jährlich mit rund sieben Milliarden Euro finanziert wird, es |232|gibt sieben angesehene überregionale Zeitungen, die noch dazu in den fünf Metropolen Berlin, Hamburg, Frankfurt am Main, Düsseldorf und München gemacht werden und das dortige Leben abbilden. Hinzu kommt eine Palette von Regionalzeitungen mit zum Teil beachtlichem politischem Analysevermögen. Die Gesamtauflage der Tagespresse in Deutschland ist zwar seit Jahren rückläufig, beträgt im Jahr 2011 trotz der Einkreisung durch Fernsehen und Internet aber nach wie vor über 19 Millionen Exemplare, die jeden Tag fast 50 Millionen Leser erreichen. Die sieben überregionalen Qualitätstageszeitungen kommen tagtäglich auf immerhin 1,5 Millionen Exemplare und erreichen zusammen mit den Hamburger Wochenmagazinen fast zehn Prozent der Bevölkerung. Das ist vielleicht nicht allzu viel, ganz wenig ist es auch nicht.
Der deutsche Journalismus hat sich nach 1945 viele Jahre lang als Wächter der Demokratie, Anwalt der Bürger und Sachwalter des Gemeinwesens begriffen. Das war ein Fortschritt im Vergleich zum Kaiserreich und zur Weimarer Republik, wo die Medien Propagandisten von Partei- und Klasseninteressen gewesen waren – von ihrer Rolle als gleichgeschaltete Sprachrohre im Dritten Reich ganz zu schweigen. Heute droht die Gefahr, dass diese demokratischen Errungenschaften durch die umfassende Kampagnenorientierung der Medien, durch ihren politischen Machtanspruch und ihr von eigenen Marktinteressen gesteuertes Befeuern populistischer Stimmungen wieder zunichte gemacht werden. Medien können die Demokratie sichern, aber auch aushöhlen.
In seinem Kern ist Journalismus eine Funktion der kommunikativen Selbstverständigung einer Gesellschaft.202 In ihm steckt auch heute noch genügend emanzipatorische Kraft, um alternative Sichtweisen in den Diskurs einzuspeisen. Journalistinnen und Journalisten sind Bürgerinnen und Bürger wie alle |233|anderen auch – allerdings obliegt ihnen mit Blick auf die Öffentlichkeit eine besondere Aufgabe, nämlich die, den gesellschaftlichen Diskurs anwaltschaftlich zu betreuen. Dafür brauchen sie kein anderes Mandat als die Akzeptanz ihres Tuns in der Gesellschaft. Und hier sieht es momentan verbesserungsbedürftig aus, auch wenn die innermediale Diskussion Anlass zur Hoffnung gibt.
Der Weg aus dem Ghetto wird dem Journalismus allerdings nicht alleine gelingen. Die Politik von oben und die Bürger von unten müssen dem Journalismus helfen, sich die nötigen Freiräume zu erkämpfen, um sich wieder in den Dienst der Gesellschaft zu stellen. Würde der Journalismus den Ausbruch aus der oberflächlichen Marktlogik der Medien wagen und sich wieder stärker zum Betreuer der gesellschaftlich als wichtig empfundenen Themen machen, würden die Medien versuchen, innerhalb ihrer Strukturen das Ziel kommunikativer Verständigung der Gesellschaft zur Grundlage ihrer Handelns zu machen, könnten auch sie einen Beitrag dazu leisten, dass die Diskursfähigkeit unserer Gesellschaft wieder steigt. Ansätze dazu hat es immer gegeben, Inseln der Qualität, die auch unter schlimmsten Quoten- und Auflagendruck am Ziel gesamtgesellschaftlicher Verständigung festhielten. Der F.A.Z.-Herausgeber Frank Schirrmacher hat die mögliche zukünftige Rolle des Qualitätsjournalismus 2007 in seiner optimistischen Dankesrede zum Jacob-Grimm-Preis Deutsche Sprache so skizziert: »Jeder, der Augen hat zu sehen, wird erkennen, dass das nächste Jahrzehnt das Jahrzehnt des Qualitätsjournalismus sein wird; er schafft die Bindekräfte einer medial disparaten Gesellschaft. (…) Die, die sich nicht anstecken lassen, die ihre Qualität, also ihre Inhalte, unverändert lassen, werden sein, was diese Gesellschaft dringender benötigt denn je: der geometrische Ort, an dem die Summe des Tages und der Zeit gezogen |234|wird.«203 Dass es eines solchen Ortes bedarf, steht außer Frage, denn die Bürger sind in der immer komplexer werdenden Welt darauf angewiesen, dass es professionelle Schleusenwärter gibt, welche die Informationsflut stellvertretend für die Leser und Zuschauer sortieren und aufbereiten. Der Soziologe Richard Münch hat diese Funktion des Journalismus einst mit der Rolle einer Notenbank verglichen, die durch Zinspolitik die im Umlauf befindliche Geldmenge steuert: Journalismus könnte zum effizienten Verwalter des knappen Gutes Aufmerksamkeit werden und durch eine präzise, dabei gleichzeitig umfassende und analytisch anspruchsvolle Beschreibung der Zustände der kommunikativen Reizüberflutung entgegenwirken.204
Dies freilich erfordert Veränderungsbereitschaft in allen Segmenten des Journalismus, den Mut, ausgetretene Pfade zu verlassen und einen Blick auf die Welt zu werfen, der unverstellt und nicht ausschließlich von Quotendruck und strukturellen Präsentationserfordernissen geleitet ist. Die Journalistin Carolin Emcke hat diesen Perspektivenwechsel in ihrer Eröffnungsrede zur Jahrestagung 2010 des Netzwerks Recherche wundervoll ausgedrückt: »Wenn ich also (…) sagen darf, was für einen Journalismus es braucht für diese Welt, dann würde ich mir folgendes wünschen: Einen Journalismus, der misstrauisch ist und zweifelnd daherkommt, nicht besserwisserisch, sondern fragend, ich würde mir Geschichten wünschen, die ambivalent und offen sind, nicht eindeutig und geschlossen, und ich würde mir Journalisten wünschen, die leidenschaftlich und nachdenklich zugleich sind, die sich einlassen auf die Wirklichkeit jenseits des Hauptstadtbüros, die teilnehmend, nicht distanziert beobachten, dichte Beschreibungen von Gegenden liefern und den Blick für die feinen Unterschiede behalten, ich würde mir einen Journalismus wünschen, der alle Genres des |235|Internets entdeckt und bespielt, der sich die Räume dort erobert, wo es nötig ist, und sie sein lässt, wo es möglich ist, ich wünsche mir einen Journalismus, der nicht der Wirklichkeit hinterherhetzt, sondern sie kritisch hinterfragt, und, wie hat Henry Kissinger jüngst in einem Interview mit Newsweek gesagt: ›You have to know the difference between what is urgent and what is important.‹«205
All dieses Potenzial trägt der Journalismus in sich. Er ist selbst ein Hoffnungsträger der Emanzipation und der kommunikativen Vernunft. Er kann auf Verständigung orientiert sein – aber eben auch auf sinnlosen Krawall. Es wäre gar nicht so schwer für den Journalismus, auch unter den existierenden Medienbedingungen wieder dorthin zurückzufinden, wo er Beitrag zur und nicht Bedrohung für die Demokratie ist. Er müsste sich nur dazu entschließen, dafür zu sorgen, dass alle Argumente gehört werden, dass seine Themen und Thesen in der Lebenswelt der Menschen auch anschlussfähig sind und partikulare Interessen in der Diskussion auch als solche benannt werden. Und er müsste auch wieder Kritik an sich zulassen. Frank A. Meyer hat dies so formuliert: »Dem Leser, dem Bürger Sprache geben, das ist, das wäre, das war unsere Kernkompetenz. Des Bürgers Bürgermacht nämlich gründet auf der täglichen und alltäglichen Leistung, dass wir Journalisten ihm ein Instrument zur Klärung der Dinge in die Hand geben. Damit er mehr sein kann als nur Konsument. Deshalb ist das unzeitgemäße Wort Aufklärung das richtige Wort für diese Zeit. Wenn aber Journalismus wieder etwas mit Aufklärung zu tun haben soll, dann muss unser Thema wieder das Handwerk sein: das Ringen um das Wort, um die Sprache, um die Geschichte, um die Reportage, um das Interview, um den Kommentar, um den Essay. Kämpfer müssen wir sein, leidenschaftlich für unseren Journalismus.«206 Gelänge dem Journalismus der Weg zurück |236|zu seinen aufklärerischen Wurzeln, dann wäre er selbst eine ungemein wertvolle Ressource des bürgerschaftlichen Räsonnements. Er wäre dann eine Stimme der kommunikativen Vernunft und würde von einem Störfaktor der Verständigung wieder zum Moderator des Gesprächs, zu einem Mittler zwischen Politik und Bürgern.
Das Politische und das Mediale im 21. Jahrhundert
Welchen Weg also nimmt die Reise, wohin steuert unsere Demokratie? Neben der künftigen Entwicklung des Journalismus inner- und außerhalb des marktorientierten Mediensystems erscheint vor allem die Frage zentral, ob es den politischen Parteien gelingen wird, den Protest, der sich seit Stuttgart, Hamburg und Berlin mehr an ihnen vorbei als wirklich gegen sie gerichtet entwickelte, in eine Unterstützung für die parlamentarische Demokratie zurückzuverwandeln. Denn noch ist nicht entschieden, ob dieser Protest eine Art Paukenschlag für den Beginn eines neues Zeitalters des Bürgerengagements war oder doch mehr ein antipolitischer Ohne-uns-Reflex, ob es also in Zukunft um mehr Demokratie und eine bessere Qualität demokratischer Verfahren geht oder um einen letztlich richtungslosen Zorn, der sich mit den üblichen Verfahren demokratischer Aushandlungsprozesse nicht mehr kanalisieren lässt. Einer neuen Welle der Politisierung steht potenziell eine weitere Verschärfung der Apathie gegenüber. So oder so: Eine Rückkehr zu alten Verhältnissen, gar zu den beschaulichen der Bonner Republik, scheint ausgeschlossen. Die politischen Parteien werden nicht zu ihrer alten Aufgabe als Integratoren breiter sozialer Schichten und Weltanschauungsmilieus zurückfinden, die Bürger werden weiter selbstbewusst und oft auch |237|wütend in politische Prozesse eingreifen und der Strukturwandel der Medienlandschaft wird sich eher beschleunigen als verlangsamen. Das kann man beklagen, es entspricht aber dem Modernisierungstempo einer Gesellschaft wie der bundesdeutschen. Dies ist freilich kein Plädoyer dafür, alles so zu lassen, wie es ist. Denn es ist unbestritten, dass die Politik die Aufgabe hat, Gesellschaften immer wieder neu auf die veränderten Parameter der Zeit zu justieren. Hätte sie keinen Gestaltungsanspruch und blieben die Umweltbedingungen stets konstant, wäre Politik im Prinzip überflüssig. Doch wenn Politik der Versuchung erliegt, sich nur noch an der hohen Taktung der Medien und der gesellschaftlichen Eliten zu orientieren, hängt sie die Mehrheit der Menschen ab. Diese Tendenz verstärkt sich, desto mehr die Parteien die Erdung verlieren, sich von ihren Ortsvereins- und Hinterzimmertraditionen lösen und ihre politischen Angebote nur noch auf die schnelllebige mediale Superstruktur ausrichten.
Entscheidend ist deswegen, wie sich das Politische und das Mediale im 21. Jahrhundert zueinander verhalten werden. Ohne Frage bedrängen die Medien mit ihren bunten Bildern, ihren Verflachungen und Personalisierungen die Demokratie. Doch das Politische ist noch da. Es muss nur mühsam unter einer dicken Schicht unnützer Ablagerungen hervorgeholt werden. Dabei ist Pragmatismus angesagt. Bürger, Politiker und Journalisten müssen die übermächtig werdenden Erregungswellen hinter sich lassen und die vorherrschenden Schwarz-Weiß-Zeichnungen der Realität durch ein ambivalenteres Bild der Welt ersetzen, weil nun einmal die Welt weitaus ambivalenter und komplexer ist, als Agenturmeldungen oder Präsidiumsbeschlüsse dies nahelegen. Alle am öffentlichen Diskurs Beteiligten müssen sich von der apodiktischen Sicht eines letztlich von Eigeninteressen getriebenen »so ist es« lösen und versuchen, |238|die Welt in ihrer ganzen Kompliziertheit in den Blick zu nehmen.
Das alles hilft nicht nur gegen die Politikverdrossenheit, weil sich die Menschen plötzlich ernst genommen fühlen, sondern es macht auch die Suche nach dem »Wie soll es sein?« viel einfacher. Vor allem aber: Sobald über ein Problem unter Einbeziehung aller breit und offen diskutiert wird, lösen sich die Verhärtungen, entsteht Verständnis für die Position und Situation des jeweils anderen. Der Kommunikationswissenschaftler Carsten Brosda fordert: »Wir brauchen eine gesellschaftliche Debatte darüber, wie wir grundsätzlich politische Debatten führen wollen. Niemand will die politische Auseinandersetzung in ein akademisches Hauptseminar verwandeln, aber die Frage nach den Rahmenbedingungen des demokratischen Gesprächs lohnt allemal: Wie etablieren wir Demokratie als Gespräch? Welche Voraussetzungen hat dieses Gespräch? Welches Ethos brauchen seine Teilnehmer? Welche institutionellen Voraussetzungen braucht sein guter Verlauf? Und wie entwickeln wir die kommunikative Kompetenz, die ein aktives Publikum braucht?«207
Vielleicht waren die Ereignisse des letzten Jahres in Stuttgart und anderswo auch Vorboten einer heraufziehenden Diskursrepublik. Das von Heiner Geißler moderierte Schlichtungsverfahren in Stuttgart hatte ohne Frage viele Mängel. Doch zumindest für einen kurzen historischen Moment erbrachte es eine erhebliche Leistung: die Unerbittlichkeit eines medial orchestrierten Meinungsstreits in den Willen zur kommunikativen Verständigung zu transformieren und Politik jenseits der Häppchen und Inszenierungen plötzlich wieder interessant und – trotz oder gerade wegen der enormen Komplexität des Themas – des Engagements wert erscheinen zu lassen. Wichtig für die öffentliche Debatte der Zukunft erscheint, dass |239|alle Beteiligten sich als Diskursteilnehmer verstehen, nicht als Einpeitscher, Durchzieher und Abschießer. Wer sich öffentlich zu Wort meldet, muss sich auch den Geltungsansprüchen seiner Aussagen unterwerfen, muss seinen Willen zur Richtigkeit und auch Wichtigkeit seiner Äußerungen im Zweifelsfalle auch durch seine Taten beweisen. Da Verständigung überhaupt nur möglich ist, wenn wir uns gegenseitig glauben, dass wir es ernst meinen, und den jeweils anderen als Partner akzeptieren, spielt die Tonalität, mit der Politiker, Bürger und Medien aufeinander zugehen, eine herausgehobene Rolle. Alle drei Parteien müssen künftig mehr achtgeben auf die Verletzungen, die sie sich in der Auseinandersetzung zufügen. Der amerikanische Präsiden Barack Obama hat am 13. Januar 2011 bei der Trauerfeier für die Opfer des Amoklaufs von Tuscon einen bemerkenswerten Satz gesagt: »In Zeiten eines sehr polarisierten Diskurses sollten wir wieder in einer Art und Weise miteinander reden, die heilt und nicht verletzt. Ich bin überzeugt, wir können es besser.«208