Die Abdankung der politischen Klasse und die Erosion der Demokratie
Die Politik reagiert auf die neuen Kommunikationsverhältnisse mit einer gefährlichen Umarmungsstrategie. Eigentlich müsste es ihre Aufgabe sein, Bollwerke gegen die Überformung des Politischen zu errichten. Statt diejenigen, die am lautesten schreien, mit Zuwendung zu bedenken, müsste sie dafür Sorge tragen, dass Wahrheitskriterien nicht von Aufmerksamkeitskriterien überlagert werden, dass politische Positionen nicht gänzlich hinter der Personalisierung verschwinden und dass der Meinungsstreit unter möglichst breiter Beteiligung aller Teile der Gesellschaft geführt wird. Doch statt für die Verteidigung eines politischen Diskursraums zu kämpfen, der diesen Namen auch verdient, passt die Politik sich gleich doppelt an – an die selektiven Perspektiven der Medien und die nur zyklische, aber hochgradig von Interessen geleitete Aufmerksamkeit der Bürger. Statt sich also der allgemeinen Erregungsflut entgegenzustemmen und für die Versachlichung der Diskussion zu werben, versucht die Politik immer häufiger, sich an die Spitze der Welle zu setzen. Dies zeigt, dass sie nach wie vor kein Mittel gefunden hat, um den Inszenierungserfordernissen der Medien und dem Desinteresse des Publikums an komplexen Abwägungen ein eigenes, authentisches Bild des Politischen entgegenzusetzen. Um überhaupt Zugang zur Öffentlichkeit zu finden, imitiert die Politik die Aufmerksamkeitsregeln der Medien – oft um den Preis der Selbstaufgabe. |169|Denn sie verzichtet so nicht nur darauf, eigene Themen im gesellschaftlichen Diskurs zu setzen, sondern trägt zur weiteren Erosion der Demokratie bei, weil die Diskrepanz zwischen Reden und Handeln auf diese Weise immer größer wird, was die Glaubwürdigkeit der Politik stetig weiter untergräbt.
Die Lösung von Sachproblemen gerät dabei zunehmend in den Hintergrund, denn medialisierte Politik ist immer verkürzte Politik mit einem besonderen Fokus auf das Symbolische an der Spitze, nicht mit Blick auf die Veränderung in der Fläche. Die Medien sind mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln der persönlichen Beobachtung, der unmittelbaren Präsenz am Ort des Geschehens und der Konzentration auf die politischen Eliten nicht in der Lage, die Bandbreite des Politischen, das sich an vielen Orten gleichzeitig abspielen kann und kein eindeutiges Raum-Zeit-Personen-Kontinuum hat, hinreichend zu erfassen. Die eigentliche Prozesslogik des Politischen kann deswegen von den Medien nicht adäquat abgebildet werden, der politische Kern bleibt für sie unsichtbar. Zudem sind die Medien so darauf konditioniert, die Inszenierungsebene der Politik zu deuten und zu dekonstruieren, dass ihr deren Herstellungsebene regelmäßig aus dem Blick gerät. Die Medien suchen nicht dort nach politischer Gestaltungsmacht, wo diese ganz regulär und verfassungskonform verortet ist: am unteren Ende in den Ortsvereinen der politischen Parteien und den regionalen Parlamenten und am oberen in den höheren Etagen der Ministerialbürokratie, zum Beispiel bei jenen drei Dutzend Spitzenbeamten, die im Gegensatz zu den Ministern und Parlamentarischen Staatssekretären ihre Häuser wirklich im Griff haben. Die Medien fokussieren stattdessen stets auf die politische Spitze – selbst wenn diese von vielen Vorgängen gar keine Kenntnis hat. Nico Fried, erfahrener Parlamentsredakteur der Süddeutschen Zeitung, räumt dies in einem Interview |170|mit Leif Kramp und Stephan Weichert offen ein: »Wenn wir ein Defizit haben in der politischen Berichterstattung insgesamt, dann besteht das in etwas ganz anderem: Nämlich dass den Leuten, und das ist auch ein bisschen unser Versäumnis, überhaupt nicht klar ist, wie viel an Politik jenseits dessen, was berichtet wird, noch alles stattfindet. Damit meine ich Abgeordnetenausschüsse, Gesetzgebungsarbeit und solche Dinge.«143 Über das normale Arbeitspensum eines Berufspolitikers erfährt der Bürger aus den Medien tatsächlich sehr wenig. Im 16. Deutschen Bundestag, der Wahlperiode von 2005 bis 2009, wurden 113 aktuelle Stunden und 67 Fragestunden abgehalten. Es gab 59 Befragungen der Bundesregierung, 63 große und 3299 kleine Anfragen, zudem richteten die 612 Abgeordneten des Parlaments 2703 mündliche und 12 789 schriftliche Fragen an die Bundesregierung. Es gab 264 Gesetzesinitiativen und 441 Entschließungsanträge aus dem Bundestag heraus, insgesamt wurden 905 Gesetzesvorhaben beim Bundestag eingebracht, 616 davon wurden verabschiedet. Kaum etwas davon bekommt man im Fernsehen zu sehen und wenig davon ist Thema in der Politikberichterstattung der Qualitätszeitungen. Und weil Journalisten zu dieser Ebene der Politikherstellung keinen Zugang finden, da die Medien gar nicht in der Lage sind, die Fülle der aktuellen Politikprojekte flächendeckend zu beobachten, auszuleuchten und zueinander in Beziehung zu setzen, fischen sie weiter an der Oberfläche, gehen munter auf O-Ton-Jagd und versuchen unbeirrt, aus drei nicht zusammenhängenden Sachthemen auf Teufel komm raus ein personales Konfliktthema zu basteln. Auch für die tieferen weltanschaulichen Fundamente der Parteien interessieren sich die Medien in der Regel nicht. Und weil sie diese ignorieren, ist Politik für sie fast immer nur Schlagabtausch an der Oberfläche, kurzfristiges Taktieren, der schnelle Hieb auf den Gegner und die inhaltsleere |171|Geste vor den Fernsehkameras. Thomas de Maizière beschrieb diesen blinden Fleck der Medien vor einigen Jahren so: »Der Politiker ist in seinem Kerngeschäft unsichtbar. Er ist vorwiegend im Randgeschäft sichtbar: Bei Reden, bei Empfängen, bei Eröffnungen, als Zuschauer, kaffeetrinkend in Konferenzsälen oder mit einem Sektglas in der Hand. Als Arbeit des Politikers wird visuell überwiegend das dargestellt, was bei anderen Menschen eher mit Nicht-Arbeit verbunden wird. Natürlich ist eine Rede eine Arbeit. Manchmal ist auch das Zuhören einer Rede eine Arbeit. Das ist, was sichtbar wird. Aber das eigentliche Kerngeschäft des Politikers ist nicht sichtbar. Ich meine damit nicht Mauscheleien im Hinterzimmer. Ich meine Verhandlungen, ich meine Besuche ohne großen Begleitertross und Presse, ich meine Aktenstudium und Rücksprachen. Das ist jedenfalls nicht sichtbar für die Medienöffentlichkeit. Daraus folgt: Die Versuchung für den Politiker und für den Journalisten besteht in der Mediendemokratie darin, das Randgeschäft, also das sichtbare Geschäft, zum eigentlichen Kerngeschäft zu machen. Und das geht zu Lasten der Qualität von Politik.«144
Während es also der Politik nicht gelingt, ihre eigenen Anliegen adäquat in die Medien zu tragen, gilt umgekehrt, dass die Medien nicht in der Lage sind, ein konsistentes Bild des Politischen zu zeichnen. Diesen Effekt macht sich die Politik zunutze, um die Medien auf der Vorderbühne mit den von ihnen verlangten Inszenierungen zu bedienen, aber im Hinterzimmer ihr eigenes Programm weiter zu verfolgen. Die Politik schaltet also den Autopiloten ein, ignoriert die Medien nach Möglichkeit und sucht die Referenzpunkte für die Prüfung ihrer Realitätstüchtigkeit vor allem innerhalb der politischen Klasse selbst. Sie tritt damit den Weg ins Biotop an – oder den in den Bunker. Dort werden dann Konzepte wie Merkels berühmtes »Durchregieren« oder Schröders »Politik der ruhigen Hand« geboren, |172|die vor allem eines beweisen sollen: dass die Politik auch in feindlicher Umwelt noch aktionsfähig ist. Richard Meng, der nach vielen Jahren bei der Frankfurter Rundschau die Seiten gewechselt hat und nun Sprecher des Regierenden Bürgermeisters von Berlin ist, stellt fest: »Längst kehrt sich die Lehrbuchweisheit um, dass Öffentlichkeit für die Demokratie immer etwas Gutes sei. Kluge Politik kann unter solchen Umständen eher darin bestehen, dem öffentlichen Negativismus aus dem Weg zu gehen, als ihm (gut gemeinte) Vorlagen zu liefern, die dann nur noch als Alibi dienen, die ›Gegenseite‹ gehört zu haben.«145 Dauerhaft gut kann das nicht gehen. Ein weiterer Vertrauensverlust der Politik ist vorprogrammiert. Denn durch ihren Rückzug ins geschützte Reservat tritt die Politik aus der Gesellschaft ab, ohne dass das entstehende Vakuum gefüllt werden könnte.
Misstrauensgemeinschaften
Wenn die oft als harmonisch beschriebene Beziehung von Politik und Medien strukturell von Nicht-Verstehen geprägt ist, muss sich dies auch auf der personalen Ebene des Umgangs zwischen Politikern und Journalisten niederschlagen. Die Beziehungen hier lassen sich am ehesten als Zweckgemeinschaft beschreiben: Man braucht einander, doch man liebt sich nicht unbedingt. Jürgen Leinemann befand im Jahr 2005 über das Verhältnis der Politiker zu seiner Zunft: »Nein, sie trauen uns nicht wirklich mehr, glaube ich.«146 Und hätten sie denn nicht Gründe genug dafür? Hans Mathias Kepplinger, Professor der Kommunikationswissenschaft in Mainz, befragte 2008 187 Bundestagsabgeordnete und 235 Journalisten. Sein Resultat: 78 Prozent der Abgeordneten glauben, dass Medien in ihrer Berichterstattung |173|ihre Eigeninteressen ausspielen. 51 Prozent der Tageszeitungsjournalisten erklärten, Politiker hätten schon einmal durch Interventionen bei ihren leitenden Redakteuren versucht, eine Berichterstattung zu verhindern. Jedem zweiten Politiker, so gaben die Journalisten an, sei für den Machterhalt fast jedes Mittel recht. Politiker wiederum gaben sich überzeugt: Jeder zweite Journalist sei für mehr Auflage oder Quote zu allem bereit.147 Umgekehrt unterstellt der Kommunikationsberater Michael Spreng vielen Politikern, die Medien für ihre Zwecke instrumentalisieren zu wollen, ohne deren Rolle als Sachwalter der Öffentlichkeit zu akzeptieren: »Sie wollen die Medien benutzen. Viele Politiker haben, so würde ich das sagen, nur ein instrumentelles Verhältnis zu den Medien, aber kein Überzeugungsverhältnis.«148 Und so ist die demonstrative Nähe von Journalisten und Politikern in der Berliner Republik eher taktischer Natur. »Der latente Groll der Politiker auf die Journalisten und die Dauerklage der Journalisten über Politiker, deren einziges Bestreben es sei, sich in Szene zu setzen, ist der interne Grundton der Berliner Misstrauensgemeinschaft, die gleichzeitig ein Geschäft zum gegenseitigen Vorteil, nämlich dem der öffentlichen Präsenz, ist«, resümiert Tissy Bruns.149 Folgt man der Einschätzung Peer Steinbrücks, wird die in Berlin zu beobachtende »politisch-mediale Symbiose (…) immer bedenkenloser als wirtschaftliche Zugewinngemeinschaft organisiert, frei nach dem Motto ›Was mir nützt, soll dein Schaden nicht sein‹.«150 Nicht immer wird diese so schamlos inszeniert, wie im Fall des Phoenix-Moderators Hans-Ulrich Stelter, der – für alle lesbar – aus einer Bundestagssitzung an die CDU-Politikerin Julia Klöckner twitterte: »Sie haben sehr gut ausgesehen, auf der Regierungsbank sitzend. Phoenix hat Sie mehrfach gezeigt.«151 Hinter solchen Anbiederungen steht zunächst einmal der alte Deal des Tauschs von Publizität gegen Information: |174|Politiker geben Informationen preis und erhalten im Austausch positive Erwähnungen in den Medien. Was sich in der voll entfalteten Mediendemokratie geändert hat, ist die Tatsache, dass die Nähe zu Journalisten für Politiker mittlerweile oft wichtiger ist als der Kontakt mit der eigenen Basis, den Bürgerinnen und Bürgern. Eine Strategie, wie sie Gerhard Schröder als niedersächsischer Ministerpräsident in den 1990er-Jahren einschlug, nämlich sich mit den Medien gegen die eigene Partei zu profilieren, wäre noch zehn Jahre zuvor undenkbar gewesen. Heute aber versorgt jeder aufstrebende Hinterbänkler seine medialen Gewährsleute mit Stellungnahmen und Informationen, um sich auf diese Weise ein Netzwerk in den Medien aufzubauen. So entsteht der ewige Strom nie endender O-Töne und abweichender Stellungnahmen aus den eigenen Reihen, welche vor allem die Fraktionsvorsitzenden und Parlamentarischen Geschäftsführer, die für die Kommunikationsdisziplin der Abgeordneten zuständig sind, in den Wahnsinn zu treiben droht.
Unter der oberflächlichen Vertrautheit der Berliner Bussi-Kultur ist längst eine Kultur des Beobachtens und Belauerns entstanden. Spitzenpolitiker werden systematisch von den Medien abgeschirmt, es bedarf mehr und mehr der professionellen Mittler in Gestalt der Kommunikationsberater und Sprecher, um die Spielregeln des Umgangs miteinander festzulegen. Vor herausragenden Ereignissen wie den TV-Duellen der Bundestagswahlkämpfe werden Dutzende Seiten von Papier beschrieben, um das genaue Reglement des Verfahrens zu fixieren.
Immer wieder kommt es vor, dass einflussreiche Journalisten einen lange von ihnen favorisierten Politiker fallen lassen. Oft reicht schon das vage Gerücht, der Thron eines Parteigranden würde wackeln, und schon dreht sich der gesamte Tenor der Berichterstattung. Der Spiegel-Redakteur Christoph |175|Schwennicke galt lange als ein Bewunderer des SPD-Vorsitzenden Franz Müntefering. Im August 2009 erschien dann im Spiegel ein Kommentar Schwennickes, in dem es hieß: »Müntefering ist der Mann, der aus der Zeit gefallen ist. Die Fußballvergleiche (›Wir sind in der 80. Minute, und es steht 0:2‹) gehen längst auf den Wecker, das Münte-Deutsch (›Ich kann Partei‹) ist nicht mehr putzig, sondern grammatisch falsch, die Kunstpausen und Zigarillo-Rauchfäden sind nicht mehr cool, sondern blasiert. Aber er macht weiter, er kann nur so, wie der gealterte Achtziger-Jahre-DJ.«152 Als dieser Artikel erschien, wussten alle im politischen Berlin, dass Schwennicke und mit ihm der Spiegel vom Idol Müntefering abgefallen waren. Von da ab war Müntefering keine drei Monate mehr im Amt. Nicht immer verlaufen Zu- und Abwendungen so drastisch, oft halten sich Hingezogenheit und Abstoßung über eine lange Zeit die Waage, bis ein endgültiges Urteil gefällt ist. Der Spiegel-Journalist Jürgen Leinemann, der wohl die bedeutendsten politischen Porträts des bundesdeutschen Journalismus geschrieben hat, schildert in seinen Erinnerungen eine Szene vom Wahlkampfauftakt der Union 1994 in der Dortmunder Westfalenhalle, die deutlich macht, wie empfänglich selbst gestandene Journalisten für die Nähe zur Macht sind. Leinemann berichtet: »Der Bundeskanzler schob sich durch ein Spalier von Jublern und Fans zur Tribüne. Eine inszenierte Prozession. (…) ›Helmut! Helmut!‹, brüllten sie neben mir. Ich stand am Rande der Gasse, die Ordner offen hielten, sah den Kanzler gewaltig heranquellen und wahllos links und rechts nach Händen greifen, die sich ihm entgegenstreckten. Er schwitzte. Nackter Triumph verklärte sein Gesicht – das war es, wofür er sich quälte. Die Erregung stieg, je näher Kohl kam. Nur nicht verwechselt werden mit den Jublern um mich herum. Erstens sowieso nicht, zweitens war ich hier als professioneller Beobachter. Ich verhakte meine |176|Arme vor der Brust, stützte mit dem linken Arm den rechten und mit dem das Kinn. Doch dann – Helmut Kohl war fast vorbei – langte er noch einmal nach rechts aus, grapschte an allen ihm zustrebenden Händen vorbei nach mir, zerrte meine Hand unter dem Kinn weg und schüttelte sie. Ich erstarrte. Blickte in das feixende Gesicht von Finanzminister Theo Waigel: ›Helmut!‹, rief der, ›das war doch der Leinemann vom Spiegel.‹ Da drehte der Kanzler sich um, sah mich an und spottete: ›Das weiß ich doch. Der soll anständige Geschichten schreiben.‹ Fort war er, während Waigel sich amüsierte: ›Hast du gesehen, wie der erschrocken war?‹ So war es. Erschrocken. Aber irgendwie war ich geschmeichelt. Und darüber erst recht erschrocken. Selten hatte ich Reize und Gefahren der Bonner Kumpanei zwischen Politikern und Journalisten so intensiv empfunden wie in diesem Augenblick. Einerseits – das wäre ja noch schöner, wenn ich nach fast zwanzig Jahren Bonn-Berichterstattung einfach zu übersehen wäre. Andererseits – war ich nicht die Hamburger Feindpresse? Ich fühlte mich durch Auszeichnung gezeichnet.«153
In dieser von Leinemann berichteten Episode findet sich die Hin- und Hergerissenheit in allen Facetten wieder, mit der Journalisten Spitzenpolitikern gegenübertreten. Auf der einen Seite sind sie für Zeichen von Nähe und Vertraulichkeit hoch empfänglich, auf der anderen haben sie ein Bewusstsein dafür, eigentlich auf die andere Seite der Macht zu gehören. Zudem: Auch wenn sich Journalisten und Politiker scheinbar auf Augenhöhe begegnen, lässt sich von Waffengleichheit in den seltensten Fällen sprechen. Ein Spitzenpolitiker hat einen Wahlkreis, eine politische Strömung der er sich zurechnet, enge Vertraute, die er als Mitarbeiter beschäftigt, zahlreiche Ehrenämter und überhaupt ein Netzwerk, das ihn trägt. Journalisten dagegen sind Solitäre. Sie werden nicht vom Volk gewählt, sondern |177|von einem Verlag eingestellt. Ihre Macht stützt sich nur auf ihre eigenen Fähigkeiten und das Renommee ihres Mediums. In ihrer täglichen Praxis sind sie auf Austausch (und auch auf mitunter fragwürdige Deals) mit Politikern angewiesen. In ihrem Selbstverständnis müssen sie dagegen ihre Unabhängigkeit im Urteil hochhalten. Das erzeugt nur schwer auflösbare kognitive Dissonanzen. Es gehört zum Lieblingshabitus der Journalisten, sich selbst als die unerschrockenen Retter der öffentlichen Belange zu inszenieren. Doch viel zu oft ist ihre Kritik an den Politikern wohlfeil und wiederholt nur bereits fünfmal Gesagtes, was nicht gerade eine risikoreiche Strategie des Kampfes um das Gute ist. Für Tissy Bruns dienen viele Attacken der Medien auf Politiker vor allem der Selbstvergewisserung der eigenen Rolle: »Der Zweifel an uns selbst hat einen verlässlichen Blitzableiter: die Politiker auf der anderen Seite der Barrikade. Nach dem Motto ›Viel Feind, viel Ehr‹ erhebt sich unser Selbstbewusstsein auch über die inneren Anfechtungen. Wenn Politiker uns tadeln, dann haben wir etwas richtig gemacht. Dabei kostet es wenig, einen Fraktionschef oder Minister in Grund und Boden zu schreiben; Journalisten im 21. Jahrhundert brauchen mehr Zivilcourage, wenn sie ihren Chefredakteuren widersprechen.«154
An den Politikern geht der verschärfte Ton der journalistischen Kritik nicht spurlos vorbei. Sie sind dünnhäutiger geworden, verletzlicher – und teilen auch immer häufiger aus, wenn sich die Gelegenheit dazu bietet. Altkanzler Helmut Schmidt bekannte im Mai 2010 bei einer Veranstaltung in Hamburg, er habe in seinem Leben vielen Menschen Unrecht getan und es gäbe vielleicht einiges, das er bereuen sollte. Aber, schränkte Schmidt ein: »Die Journalisten und ihre Behandlung gehören nicht dazu.«155 Der über 90-Jährige kann es sich leisten, so zu reden. Politiker, die noch im Geschäft sind, ballen angesichts |178|mancher medialer Eskapaden nur noch die Fäuste in der Tasche und beißen die Zähne zusammen.
Am deutlichsten kommt dieses Misstrauen zum Ausdruck, wenn es um die Autorisierung von Interviews geht. Diese – in Deutschland einmalige – Praxis ist einer der Hauptkampfpunkte zwischen Politikern, ihren Sprechern und den Medien. Journalisten haben, wenn ihre zur Freigabe eingereichten Interviewabschriften mit vielen Änderungen und Streichungen autorisiert zurückkommen, regelmäßig das Gefühl, um ihre Geschichte betrogen worden zu sein. Und den Politikern und ihren Mitarbeitern sitzt die Angst im Nacken, dass etwas im Text stehen geblieben sein könnte, das in den Medien skandalisierbar ist. Denn diese spüren sofort, wenn neue Begriffe in die Debatte eingeführt werden, wenn von Politikern Positionen bezogen werden, die nicht bis in letzte Detail abgesprochen und auf eine einheitliche Linie getrimmt sind. Daraus können sie dann Unstimmigkeiten im Regierungslager ableiten, Widersprüche konstruieren, Zwistigkeiten herausstellen. Diese regelmäßig einsetzenden unerbittlichen Exegesen des Gesagten führen aufseiten der Politik zu einer Kultur der Wiedergabe vorgestanzter Worthülsen, um ja keine offene Flanke für überbordende Interpretationen zu bieten.
Doch dies ist nur die eine Seite der Medaille. Denn zwischen den Akteuren im politischen Berlin existiert nach wie vor ein dichtes Netzwerk informeller Kommunikation, das in der Regel auch dann Bestand hat, wenn an der Oberfläche ein heftiger Streit ausgetragen wird. Nur in den seltensten Fällen kommt der vertrauliche Austausch zwischen Medienleuten und Politikern vollkommen zum Erliegen. Dies ist eine der Paradoxien der Mediengesellschaft: Hinter der gut ausgeleuchteten Vorderbühne, auf der angeblich alles zur Sprache kommt, gibt es noch ein geheimes Hinterzimmer, in dem die hoch sensiblen |179|Themen verhandelt werden. Ein solcher Ort, wo seit Jahrzehnten vertraulich Informationen ausgetauscht werden, sind die geheimnisumrankten Hintergrundkreise. Sie stellen einen privilegierten Informationszugang für ausgewählte Journalisten dar, weil sich Politiker dort offen und ohne dass aus den Gesprächsinhalten zitiert werden darf, der Diskussion mit Journalisten stellen. Für die Zusammensetzung der rund 30 Berliner Hintergrundkreise gibt es verschiedene Ordnungsprinzipien. Viele von ihnen sind parteipolitisch verortet. So ist der Brückenkreis eher liberalkonservativ, der Weißblaue Stammtisch CSU-nah und der Ruderclub klar konservativ. Doch es gibt auch funktional gegliederte Hintergrundkreise: der Provinzkreis organisiert die Hauptstadtkorrespondenten der großen Regionalzeitungen, das Rote Tuch versammelt Frauen, die Antenne Rundfunkjournalisten. Der wohl einflussreichste Hintergrundzirkel ist der Wohnzimmerkreis, dem u.a. Günter Bannas (F.A.Z.), Gunter Hofmann (Die Zeit) und Tissy Bruns (Der Tagesspiegel) angehören.156 Hinzu kommen Hintergrundgespräche wie die einst legendäre Scholz-Runde des SPD-Politiker Olaf Scholz, zu denen die Politiker selbst einladen. Die Hintergrundkreise haben sowohl für Politiker, die eine Nachricht absetzen wollen, wie für Journalisten, die sich mit ihren Kollegen auf eine Linie der Kommentierung verständigen möchten, eine zentrale Funktion. In Hintergrundgesprächen werden von den Politikern Testballons lanciert, Gerüchte über Konkurrenten gestreut und Medienmeinungen eingeholt und bewertet. Die Journalisten konfrontieren Politiker hier mit Wissen, das sie aus geheimen Quellen erfahren haben und nicht veröffentlichen können, und suchen nach Bestätigungen für ihre Kenntnisse. Für beide Seiten sind die Hintergrundkreise eine ambivalente Angelegenheit: Dort wird hinter verschlossenen Türen besprochen, was die Öffentlichkeit mit welchem Tenor wann |180|erfahren soll. Politiker geben geheime Informationen preis und appellieren gleichzeitig an die Verantwortung der Journalisten, diese nicht zu veröffentlichen. Sie sagen also das, was sie eigentlich nicht sagen können. So kann man ihnen nicht vorwerfen, Informationen zurückgehalten zu haben, und trotzdem halten sie bestimmte Themen aus der Öffentlichkeit heraus. Die Verantwortung liegt nun bei den Journalisten, die sich in schwierigen Abwägungsprozessen zwischen der Nähe zur politischen Klasse und dem Unterrichtungsanspruch des Publikums entscheiden müssen. Diese Entscheidung kann mal in die eine, mal in die andere Richtung ausfallen. Zumindest im Hinterzimmer gibt es also noch wirkliche Aushandlungsprozesse zwischen Medien und Politik, deren Resultate keineswegs von vornherein feststehen. Doch dies sind Orte, von denen man die Bürger sorgfältig fernhält.
Telepolitik
Die für alle sichtbare Vorderbühne bilden dagegen vor allem die Talkshows, die zu zentralen Orten der politischen Kommunikation geworden sind. Hier wird Politik frei von allen Ambivalenzen als unaufhörlicher Streit klar geschiedener Positionen inszeniert. Hier darf der deutsche Politiker so sein, wie er gerne wäre, aber definitiv nicht ist: entschlossen, tatkräftig, unbeirrt und frei von Zweifeln. Talksendungen sind bei Politikern deshalb so beliebt, weil sie ihnen eine weitgehend unkontrollierte und von redaktionellen Eingriffen freie Präsenz auf dem Bildschirm ermöglichen. Wegen dieser Vorzuüge neigen die Politiker dazu, ihre Wirkung grotesk zu überschätzen. Denn Talkshows haben zwar große Reichweiten, stehen aber bei den Zuschauern nicht hoch im Kurs. In den Augen der meisten |181|Menschen sind sie reine Laberveranstaltungen. Und ganz unrecht haben sie damit nicht: Politik wird hier weniger erklärt als vielmehr zerredet, politischer Informationsgewinn und -nutzen sind in der Regel gering, wenn Fachexperten, Parteipolitiker und Betroffene gemeinsam neunzig Minuten lang durch ein aktuelles politisches Thema mäandern. Die Dialoge in den Talkshows sind in den seltensten Fällen echte Zwiegespräche. In der Regel dienen sie nur dazu, die Plattform für die eigene, schon lange im Vorfeld ersonnene Forderung herzustellen.
Trotz dieser offensichtlichen Dürftigkeit des Polit-Talks ist die Dominanz der Talk-Formate bis heute ungebrochen. Derzeit gibt es im deutschen Fernsehen 34 abendliche Talksendungen. Im Durchschnitt haben diese vier Gesprächsgäste. Dies macht 136 Gäste pro Woche oder 7072 im Jahr. Seit dem Herbst des Jahres 2011 sendet die ARD von Montag bis Freitag an jedem Abend eine Talksendung. Auch wenn das dort zu besichtigende Personal stets mehr oder minder dasselbe ist, ist hier ein reges Geschäftsfeld für die Etablierung von Medienprominenten entstanden. Eine Zeitlang war es sogar üblich, in PR-Beraterverträge die Platzierung der Kunden in bestimmten Talkshows aufzunehmen. Zu den Dauergästen des deutschen Talkbetriebs gehören zum Beispiel der bayerische Landesminister Markus Söder, der FDP-Politiker Gerhart Baum, der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach, der niedersächsische Kriminologe Christian Pfeiffer, Heiner Geißler von der CDU und Gregor Gysi von der Linkspartei, die Journalisten Hans-Ulrich Jörges, Roger Köppel und Michael Jürgs oder der Ökonom Hans-Werner Sinn. Sie alle reden sich Abend für Abend die Köpfe heiß. Man kann fast den Eindruck haben, die politische Klasse suche die Verständigung mit sich selbst und ihren Wählern vor allem auf dem Bildschirm. Bundestagpräsident Norbert Lammert legte seinen Parlamentskollegen einmal |182|eine mehrjährige Talkshow-Pause ans Herz, weil die beachtliche Präsenz von Politikern in immer mehr Talkshows keine nachhaltige Verbesserung des Ansehens der Politiker bewirkt habe. Dass seine Kollegen sich daran halten, kann als ausgeschlossen gelten. Selbst wenn in Politiker- und Journalistenkreisen stets etwas abfällig über »Plasberg gestern Abend« oder »Will am Sonntag« geredet wird, gilt doch die Präsenz in diesen Sendungen als Ausweis von A-Prominenz. Das ist nur folgerichtig, sind doch Talkshows der Inbegriff der Personalisierung von Politik. Talkshow-Redaktionen orientieren sich bei der Planung ihrer Sendungen ausschließlich am zu Verfügung stehenden Personal, jedes Thema ist von vornherein mit einer Besetzungsliste unterlegt. Dabei arbeiten die Redaktionen erstaunlich schmerzfrei. Es schert sie nicht, dass man die Personen, die man an einem Sonntag als Studiogäste umwirbt, gerade letzten Sonntag in Grund und Boden polemisiert hat. Dies führt zu merkwürdigen Ungleichzeitigkeiten: Talkshows huldigen mitunter Politikern, deren Politik sie fundamental kritisieren. Vor diesem Hintergrund muss man sich fragen, ob die Politik gut beraten war, das Fernsehen zum eigentlichen Austragungsort politischer Auseinandersetzungen zu machen. Wenn Peer Steinbrück urteilt, dass das »Desinteresse am Parlamentarismus auch damit zu tun hat, dass die Politik den Ort ihrer Bestimmung verlassen hat«, kann dies durchaus wortwörtlich verstanden werden.157
Politikerleben
Warum ist die Talkshow-Fixierung der Politiker so ungebrochen, wenn doch eigentlich klar ist, dass diese das Ansehen der Politik eher untergraben als befördern? Die eine Antwort liegt |183|darin, dass das Fernsehen für jeden Politiker ein funktionales Karrierevehikel ist. Die zweite Antwort lautet, dass die Politik hofft, durch Fernsehauftritte jene Barrieren zu überwinden, welche die Medien zwischen der Politik und dem Zugang zur breiten Öffentlichkeit errichtet haben. Eine der Hauptfähigkeiten von Politikern besteht deswegen in der Antizipation der Medienaufmerksamkeit, also einer Vorwegnahme der vermuteten Reaktion der Medien auf ein politisches Angebot durch eine bestimmte Form der Inszenierung, durch die Orientierung an den als relevant erachteten Nachrichtenfaktoren und den Gebrauch von Symbolen, die für die Medien Aussagekraft haben. Die Politik dringt so zwar zum Publikum durch, gerät aber regelmäßig in Versuchung, mit überzogener Inszenierung, mit personalisierten Homestory-Angeboten oder mit »Politainment«158 auf die vermutete Nachfrage zu reagieren. Manchen Politikern ist dabei jedes Mittel recht. Auf den FDP-Politiker Jürgen Möllemann geht die Feststellung zurück, dass Ansehen und Aufsehen zwei Seiten derselben Medaille seien. Die Folge ist, dass ein neuer Typus des Politikers durch den Umweg über das Fernsehen die politischen Parteien erobert. »Als Hoffnungsträger der politischen Szene gelten gemeinhin die jungen, schnellen Smarties der Mediengesellschaft, die am Morgen schon ihr drittes Interview mit flotten Sprüchen schräg zur offiziellen Parteilinie abgesondert haben, wenn die Kollegen noch beim Frühstück sitzen«159, urteilt Jürgen Leinemann. Entsprechend groß ist der Einfluss der Medien auf die Auswahl des politischen Personals. Eine vom damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker eingesetzte Expertenkommission kam schon 1994 in einem Bericht zu dem Schluss, von den Politikern verlange der Fernsehauftritt »vor allem darstellerische Qualitäten, die in keinem notwendigen Zusammenhang zu politischen Leistungen stehen, aber über den politischen Erfolg entscheiden, |184|denn als erfolgreich gilt der Politiker mit den darstellerischen Fähigkeiten auch dann, wenn seine politischen Leistungen deutlich dahinter zurückbleiben«.160 Politiker, die über die richtigen Anlagen für den telegenen Auftritt verfügen, werden heutzutage systematisch aufgebaut. Klaus Kocks, als selbsternanntes »brain to hire« das enfant terrible der Beraterszene, erläuterte in einem Gespräch mit Hamburger Journalistikstudenten sein Patentrezept für die Schaffung medienaffiner Politiker: »Man muss eine relativ komplexe Persönlichkeit in ein Rollenkonzept überführen. Dieses Rollenkonzept muss einfach, klar und erinnerbar sein. Und es muss tradierten, in unserer Kultur verwurzelten Rollenkonzepten entsprechen.« Letztlich gehe es um »fiktionale Glaubwürdigkeit«, um die Frage, wie gut ein Politiker auf öffentlicher Bühne die einmal gewählte Rolle ausfülle. »Da kann er authentisch oder weniger authentisch spielen. Authentizität ist eine bestimmte Art der Inszenierung, auf die wir mit der Zubilligung von Vertrauen reagieren.«161
Politiker werden so mehr und mehr zu Politik-Schauspielern, die für jede Rolle, die sie einnehmen, das passende Inszenierungsmuster parat haben. Bildschirmpräsenz gerät so im Lauf der Zeit zur raison d’être jedes Politikerlebens – und damit zum Substitut für das reale Leben. Politiker beziehen ihr Selbstbewusstsein, ihren inneren Antrieb und auch ihre Bereitschaft, die Widrigkeiten des Politikerlebens zu dulden, immer stärker aus ihrer Medienpräsenz. Damit wird das Licht der Öffentlichkeit zur Droge, der die überwiegende Mehrheit von ihnen verfallen ist. Herausgehobene Medienpräsenz ersetzt im unüberschaubaren Dickicht des Politikbetriebs, wo kaum eine Handlung einzelnen Personen zuzurechnen ist, die konkreten Erfolgserlebnisse. Sie wird zum Tätigkeitsnachweis, bestätigt die eigene Wichtigkeit und zeigt den Leuten daheim im Wahlkreis, dass ihr Mann oder ihre Frau in Berlin Erfolg hat. Gleichzeitig |185|entschuldigt ein kurzfristig anberaumter Fernsehauftritt das verpasste Klassentreffen, den versäumten Abend im Freundeskreis und das ausgefallene Essen mit der Familie – denn schließlich können einem ja alle im Fernsehen zugucken, auch wenn man selbst nicht da ist. Vor allem aber bedeutet TV-Präsenz ungeteilte Aufmerksamkeit. Und nach dieser sehnen sich alle Politiker, die in der Kakophonie einer parlamentarischen Demokratie mitmischen, und sie lässt sie auch 80-Stunden-Wochen scheinbar unberührt überstehen. Medienpräsenz ist ein Teil von Machtausübung, und an der Ausübung von Macht haben Politiker Lust. Das ständige Agieren in hyperbeschleunigten Kontexten zwischen Headlines und Deadlines ist für die allermeisten von ihnen nicht Last, sondern Lust, es gibt ihnen den Kick, den sie brauchen, um sich ihrer eigenen Bedeutung zu versichern. Lässt die Anspannung nach, sinkt der Adrenalinspiegel, setzt bei vielen Politikern fast unmittelbar der Phantomschmerz ein. Politische Überzeugungen sind bei diesem ständigen Spiel mit dem ultimativen Thrill zwar nicht bedeutungslos, treten aber im Verlauf einer Politikerkarriere immer stärker hinter persönliche Antriebe zurück. »Macht ist«, bekannte Jürgen Möllemann freimütig, »wenn man ehrlich ist, das zentrale Motiv, Politik zu machen. Ich will nicht nur sagen, was gemacht werden muss, ich will es machen.«162
Doch Politik ist nicht nur Sucht an sich, sondern begünstigt auch korrespondierende Suchtverhalten. Da ist auf der einen Seite der enorme Druck. Politiker agieren immer an verschiedenen Fronten gleichzeitig: im Wahlkreis, innerhalb der eigenen Partei und Fraktion, auf der Medienbühne, im Hinterzimmer, gegenüber den Wählern. Der Zwang, auf allen Ebenen gleichzeitig Höchstleistungen zu vollbringen, verbindet sich für die meisten Politiker mit einer zerstückelten persönlichen Lebensführung: die Sitzungswochen in Berlin, die sie meist in |186|spartanischen Abgeordnetenwohnungen verbringen, die sitzungsfreie Zeit daheim im Wahlkreis. Dazwischen Auslandsreisen, Parteitage, Konferenzen. Und immer wieder Kommunikation, Fühlunghalten, sich der eigenen Leute durch SMS oder Telefonate versichern. Dass ein solches Leben suchtanfällig macht, dürfte wohl auf der Hand liegen. Dies galt schon für Bonn. »Der Bundestag ist eine unglaubliche Alkoholikerversammlung, die teilweise ganz ordinär nach Schnaps stinkt«, stellte der Parlamentsneuling Joschka Fischer zu Beginn seiner Bonner Zeit fest.163 Einige Jahre später, im November 1988, sendete das ARD-Magazin Panorama einen Film über die »Suchtgefahr bei Abgeordneten und Ministern«. Dort sah man den FDP-Abgeordneten Detlef Kleinert, von Joschka Fischer regelmäßig als der »schwankende Teil der Koalition« verhöhnt, wie er, aus »Ossis Bundeshaus Bar« kommend, im Plenum das Wort ergriff und sich über die Aussage seines Vorredners empörte, die Mehrheit des Bundestags sei der Diskussion mit den Bürgern nicht gewachsen. Kleinert lallte: »Wir haben es nicht nötig, uns hier von einigen, die eine Außenseiterrolle zur persönlichen Hochsteigerung missbrauchen wollen, haben wir es nicht nötig, dieses Parlament missbrauchen zu lassen.«164
Heute in Berlin ist das nicht viel anders. Der schleswig-holsteinische FDP-Politiker Wolfgang Kubicki berichtete im März 2010 in einem skandalträchtigen Interview mit der Zeit, warum er trotz seines erheblichen Einflusses in der FDP in Kiel bleibe, statt in die Bundespolitik zu wechseln. Das klang dann so: »Ich würde in Berlin zum Trinker werden, vielleicht auch zum Hurenbock. Ich bin inzwischen zum dritten Mal verheiratet, und ich will auf keinen Fall auch diese Ehe ruinieren.« Denn das politische Leben in Berlin sehe doch so aus: »Sie sind den ganzen Tag unter Druck, abends wartet Ihr Apartment auf Sie, sonst niemand. Es gibt einen enormen Frauenüberschuss, denn |187|wenn Sie den gesamten Politikbetrieb nehmen, kommen Sie auf schätzungsweise 100 000 Leute, in Parlament, Regierung, Verwaltung, Botschaften, Verbänden und Medien, davon 60 Prozent Frauen. Ich weiß doch, wie es läuft: Da sind dann diese Abende, an denen Sie nur abschalten wollen, Stressabbau. Da sitzt Ihnen plötzlich eine Frau gegenüber, die Ihnen einfach nur zuhört. Und dann geht die Geschichte irgendwann im Bett weiter. Dazu der Alkohol: Sie könnten, weil Sie ständig in Terminen sind, den ganzen Tag trinken. Eine Flasche Wein ist da gar nichts, leicht zu verteilen auf fünf Termine. Und abends geht es richtig los. Sie betreten bestimmte Restaurants und sehen schon diese glasigen Augen in den Rotweingesichtern Ihrer Kollegen. ›Kubicki‹, rufen die beseelt, während Sie noch in der Tür stehen, ›Kubicki, setz dich zu uns.‹ Aber wissen Sie, auch mein Leben ist endlich. Ich bin jetzt 58, ich will meine politische Karriere überleben.«165 Auch wenn dieses Interview absonderliche Passagen enthält – der Leser lernt zum Beispiel, dass Kubicki sich am besten mit seiner Sammlung alter Kriegsfilme wie Steiner, das eiserne Kreuz entspannen kann –, gibt es doch seltene Binneneinblicke in die Psyche eines Spitzenpolitikers. So berichtet Kubicki davon, dass er beim Publik-Werden eines Skandals, bei dem es um die Vermischung seiner politischen und anwaltlichen Tätigkeit ging, zehn Minuten lang sehr intensiv überlegt habe, ob er sich das Leben nehmen solle. Nach seinem damaligen Rücktritt sei der F.A.Z.-Redakteur Volker Zastrow zu ihm gekommen und habe ihm prophezeit: »Kubicki, Ihre politische Karriere hat sich damit erledigt. Kubicki, Sie sind wie ein Boxer, der sich einen schlimmen K.o. eingefangen hat. They never come back.« Doch Zastrow irrte. Auch Kubicki gehört zu jenen Polit-Junkies der Republik, die immer zurückkommen. Heute ist er Vorsitzender der FDP-Fraktion im schleswig-holsteinischem Landtag und Mitglied im Bundesvorstand der FDP.
|188|Das von Kubicki beschriebene doppelte Suchtpotenzial der Politik als Sucht nach Politik und dem von Politik ausgelösten Suchtverhalten ist auch von anderen Spitzenpolitikern so geschildert worden. Der ehemalige Bundeswirtschaftsminister Michael Glos befand: »Ein Abgeordnetenleben in der Hauptstadt ist ein permanenter Ausnahmezustand. Die Versuchungen sind vielfältig. Ich kann mich an keinen sogenannten parlamentarischen Abend eines Verbandes, einer Botschaft, einer Lobby erinnern, bei dem das Alkoholangebot nicht reichhaltig war. Ich habe Kolleginnen und Kollegen durch den Alkohol sterben sehen. Das hat auch etwas mit der Einsamkeit des Politikers zu tun.«166 Der damalige niedersächsische Ministerpräsident Gerhard Schröder beschrieb schon 1993 in seinem Buch Reifeprüfung die von der Politik ausgehenden Suchtgefahren und porträtierte sich selbst als einen »Gefährdeten«, der sich durch die Ausübung von Macht verändere. Seine Parteikollegin Heide Simonis, damals noch Finanzministerin, später Ministerpräsidentin von Schleswig-Holstein, sinnierte im Jahr 1992: »Wenn es mir ausschließlich darum gegangen wäre, etwas zu ändern, wäre ich vermutlich bei der Gewerkschaft oder in der Kirche gelandet. Offensichtlich habe ich mir in der Politik auch eine gewisse Außenwirkung versprochen, die Möglichkeit, andere zu beeinflussen. Und das befriedigt auch die persönliche Eitelkeit.«167 In ihrer Autobiographie Unter Männern beschreibt Simonis auch die Entzugsphantasien, die alle Spitzenpolitiker umtreiben: »Die Angst vor der Leere und Stille, wenn plötzlich um einen herum keine Kameras und Mikrofone mehr sind, man von heute auf morgen keine Einladungen mehr bekommt. Wenn man bemerkt, dass die Leute, die früher immer hinter einem hergerannt sind, jetzt anderen nachlaufen.«168 Die Folge der Angst vor einem Ausscheiden aus der Klasse der A-Prominenz sind vielfach schwere Identitätskrisen, Burn-out-Syndrome |189|und Angstzustände – und da die Politiker um diese Gefahr wissen, drehen sie sich wie in einem Hamsterrad, um die Angst vor der großen Leere zu überspielen. Lothar Späth kokettierte in seiner Amtszeit als baden-württembergischer Ministerpräsident immer mal wieder mit der Idee, er könne ja theoretisch auch alles hinschmeißen – um gleich hinzuzufügen, dass er in der Praxis wie ein Zirkuspferd sei: »Da klimpert die Musik, und dann muss ich lostraben.«169
Heide Simonis hat auch über ein Thema Auskunft gegeben, das ansonsten tabu ist: den Umgang der Politiker mit ihren Körpern, mit Krankheiten und den Folgen der ständigen Überlastung. Denn für Politiker sind Krankheiten nicht nur ein medizinisches Problem, sondern auch eine berufliche Existenzbedrohung. Immer stellt sich auch sofort die Frage, welche Bedeutung die Krankheit für die weiteren Karriereaussichten hat. Wer als Kandidat für ein Spitzenamt als gesundheitlich angeschlagen gilt, darf sich sicher sein, dass Gegner in der eigenen Partei oder bei der Konkurrenz wispernd daraus Kapital schlagen. Und wer im Amt erkrankt, kann ebenso sicher davon ausgehen, dass seine Führungsfähigkeit in Zeitungskommentaren und Stammtischgesprächen in Frage gestellt wird. Simonis selbst war 2002 an Brustkrebs erkrankt. Rückblickend rühmt sie sich, trotz dieser schweren Erkrankung »nicht einen Tag gefehlt« zu haben: »Am Samstag bin ich operiert worden. Damit mich keiner sieht, haben die das am Wochenende gemacht. Am Montag bin ich mit dem Tropf unterm Arm losgezogen und habe Herrn Stoltenberg posthum die Ehrenbürgerwürde verliehen. Und nachts bin ich dann wieder ins Krankenhaus zurück.« Den Tropf hatte Simonis bei diesem Auftritt unter einer riesigen Stola verborgen. Resultat der Aktion war aus Simonis’ Sicht, dass es ihr »nicht besonders gut ging, hinterher«, doch sie hätte weder dem politischen Gegner noch den Medien die Angriffsfläche |190|einer Erkrankung im Amt öffnen wollen. »So einfach soll man es denen nicht machen.«170
Simonis steht mit dieser Art des Umgangs mit ihrer Erkrankung in einer Reihe mit zahlreichen anderen Politikern, die ihre Krankheiten verschwiegen, heruntergespielt oder ignoriert haben – oft, bis es fast zu spät war. Denn weder im Selbstbild noch in den übervollen Terminkalendern von Spitzenpolitikern ist Platz für Krankheiten, für Phasen der Schwäche, in denen sich ein überanstrengter Körper zurückholen darf, was ihm über Jahre und Jahrzehnte abverlangt wurde. Schon Reichspräsident Friedrich Ebert verstarb im Februar 1925 mit nur 54 Jahren an einer Blinddarmentzündung, weil er die anstehende Operation wegen eines für ihn wichtigen Verleumdungsprozesses über seine Rolle während der Novemberrevolution immer wieder aufschob. Helmut Kohl litt im September 1989 an einem sehr schmerzhaften Prostatageschwulst, als er auf dem Bremer CDU-Parteitag den Putschversuch seiner innerparteilichen Gegner um Lothar Späth und Rita Süssmuth abwehren musste. Erst danach wurde er heimlich in ein Krankenhaus gebracht. Der SPD-Vorsitzende Willy Brandt kam im November 1978 ins Krankenhaus, angeblich hatte er nur eine schwere Grippe. Berichte über einen Herzinfarkt bezeichnete ein SPD-Sprecher als »schamlose Sensationsmache«. Aus wenigen Tagen Krankenhaus wurden für Brandt fünf Wochen. Diagnose: Herzinfarkt. Erst an Weihnachten war der Altkanzler wieder zu Hause. Und der damalige Außenminister Hans-Dietrich Genscher verschleppte im Frühjahr 1989 über Tage und Wochen eine Infektion. Einem Bericht Nico Frieds zufolge soll er auf den Rat seines Arztes, Genscher möge doch ins Krankenhaus gehen, geantwortet haben, er sei kein Sparkassenvorstand, der sich ohne öffentliches Aufhebens einfach ins Bett legen könne. Im Juli desselben Jahres hatte er einen Herzinfarkt. |191|Ein ähnliches Schicksal traf 2004 Peter Struck. Dieser erlitt einen Schlaganfall, ließ aber verlautbaren, es handele sich nur um Kreislaufprobleme. Selbst Bundeskanzler Gerhard Schröder erzählte Struck erst nach einigen Tage die Wahrheit und rechtfertigte sich Jahre später damit, er habe als Bundesminister keine Schwäche zeigen dürfen: »In Amerika können die Politiker das besser. Die reden auch von ihren Krankheiten, das gehört dazu. Bei uns gilt immer noch das Image: Die Jungs und Mädels da oben müssen zu hundert Prozent leistungsfähig sein. Ich fände es besser, wenn es anders wäre. Aber irgendwie geht es nicht. Ich hatte auch früher schon mal einen Herzinfarkt. Ich weiß nicht, was passiert wäre, wenn ich mich hingestellt und gesagt hätte: Leute, ich bin noch nicht ganz auf dem Damm, aber langsam wird es wieder. Ich glaube, eine solche Schwäche würde einem der politische Betrieb letztlich nicht verzeihen.«171 In seinen Erinnerungen warf Struck den Medien vor, seine Erkrankung über Gebühr sensationalisiert zu haben: »Hinter der Bedenken anheizenden Berichterstattung versteckte sich große Sensationslust, weil es viele Redaktionen nicht ertragen konnten, nicht bis ins letzte Detail in mein Privatleben vorzudringen. Ich habe in jenen Wochen viel gelernt über den Druck, den Medien ausüben können. Journalisten suchten verzweifelt nach Stimmen, die ihre These bestätigten, dass ein Verteidigungsminister mit Schlaganfall nicht tragbar sei. Es fand sich aber offensichtlich niemand, der für so einen Unsinn zur Verfügung stehen wollte.« Struck ist sich bis heute sicher: »Selbst wenn es harte Wochen waren, bin ich heute überzeugter denn je, dass es richtig war, mir zunächst das Recht auf Genesung genommen und dann erst die Öffentlichkeit über den Befund informiert zu haben.«172 Wie Struck handeln die meisten Politiker: Sie geben eine Erkrankung erst zu, wenn diese zumindest halbwegs auskuriert ist. Eine Ausnahme |192|gibt es im politischen Betrieb: den Rollstuhlfahrer Wolfgang Schäuble, der seit einem Attentat am 12. Oktober 1990, in dessen Verlauf der geistig verwirrte Dieter K. drei Mal auf ihn schoss, querschnittsgelähmt ist, was sich weder kaschieren noch verstecken lässt. Deswegen hat Schäuble seinem Handicap stets selbst ein Thema gemacht, öffentlich über »einen Krüppel als Kanzler« räsoniert und bei seinen mit den Jahren häufiger werdenden gesundheitlichen Krisen stets die Öffentlichkeit Anteil haben lassen. Schäuble tut dies aber nicht, weil er aus eigenem Antrieb eine andere Strategie im Umgang mit seiner Behinderung an den Tag legen möchte als die Mehrzahl seiner von Krankheiten betroffenen Kollegen. Er thematisiert seine Angewiesenheit auf den Rollstuhl, weil sie so offensichtlich ist, dass er gar nicht anders kann, als offensiv mit ihr umzugehen.
Das gelingt ihm ganz gut: Schäuble erscheint mit seinem Rollstuhl auch auf den Titelseiten seriöser Zeitungen, das Vehikel ist so etwas wie sein Markenzeichen geworden. Von Franklin D. Roosevelt, der von 1933 bis 1945 Präsident der USA war, wusste nur eine verschwindende Minderheit der Amerikaner, dass er im Rollstuhl saß. Deswegen allerdings zu glauben, dass die Zurschaustellung des Privaten von Politikern und die Berichterstattung über ihre persönlichen Lebensverhältnisse, Krankheiten und Gebrechen eine gänzlich neue Entwicklung sei, wäre ein Trugschluss. Schon immer hat es mediale Instrumentalisierungen des Privatlebens von Politikern gegeben – ausgelöst sowohl von der Politik- wie von der Medienseite. Und schon immer waren diese medialen Darbietungen des Privaten für die Politiker mit der Gefahr verbunden, nach hinten loszugehen. Die Finger lassen können die meisten vom Spiel mit der Presse dennoch nicht, und manchmal rettet sie eine strategische Allianz mit den Medien tatsächlich aus höchster Bedrängnis. Beispiele hierfür sind Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder |193|und Bundespräsident Christian Wulff: Beiden Politikern gelang es, die eigentlich hässliche Tatsache, dass sie ihre Ehefrauen verließen, mit Hilfe des stern (Schröder) bzw. der Bild (Wulff) öffentlich so umzudeuten, dass sie davon sogar profitierten. Gerade der als glatt geltende Wulff, der zwar vielleicht einmal jung, aber nie ein junger Wilder war, konnte sein Image aufpolieren: Selbst Mr. Perfect, so die Wahrnehmung vieler Menschen, ließ sich einmal durch sein Herz zu unkontrollierten Handlungen hinreißen. Das klassische Vorbild für diese Form der Flucht nach vorn lieferte der US-Vizepräsident Richard Nixon im Jahr 1952. Nixon sah sich damals Korruptionsvorwürfen ausgesetzt. In einem eigens angesetzten Fernsehauftritt trat er gemeinsam mit seinem kleinen Hund Checker auf und erklärte rührselig, dies sei das einzige Geschenk, das er jemals angenommen habe. Wenn man ihm seinen Hund wegnehmen wolle, so werde er sich von diesem trennen. Das Mitleid des Publikums war natürlich auf seiner Seite.
Das Privatleben der Politiker – die Frauen, die Kinder, der Ferienort – steht bei politischen Inszenierungen meist im Mittelpunkt. Doch Inszenierungen sind nicht darauf beschränkt. Sie zielen darauf ab, einem Politiker eine bestimmte Aura, ein Charisma zu verleihen und eine Identität zwischen seinem politischen Programm und seiner Person herzustellen. Von daher können politische Inszenierungen ein Vorteil sein, denn sie verschaffen einer bestimmten Position eine höhere Kenntlichkeit. Gleichzeitig setzen sie aber auf die auratische Überhöhung von Personen und Positionen und verdecken so die nackten Fakten. Die Zunahme der Inszenierungsdimension in der Politik hat substantielle Veränderungen der politischen Parteien und damit auch des Politischen an sich bewirkt. Issueless politics, Inszenierungen ohne tieferen Sinngehalt, nehmen inflationär zu. Sachverhalte, die sich jeder Regelbarkeit entziehen, werden |194|pompös zur Chefsache erklärt. Es entsteht der Eindruck politischer Handlungsfähigkeit, ohne dass es dazu irgendeine Entsprechung in der Realität gäbe. Bemerkenswert ist, dass oft allein diese Vortäuschung von entschlossenem Handeln genügt, um Unmut zu beschwichtigen und ein Thema im Diskurs als von der Politik bearbeitet zu markieren. Vielfach bleibt Politikern gar nichts anders übrig, als sich auf die von Medien und Publikum geforderte Pose einzulassen, wenn sie auch genau wissen, dass sie am Ende nicht einlösen können, was ihnen gerade abverlangt wird.
Spektakel als Debakel
Doch Politiker sind nicht nur Getriebene. Sie kennen die Gesetze der Mediengesellschaft und können zumindest Akzente setzen. Viele glauben, die um sie herum wirkenden Kräfte unter Kontrolle zu haben. Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit etwa gab zu Protokoll, er könne Journalisten fast nach Belieben instrumentalisieren: »Ich weiß, auf was sie abfahren, und wenn ich eine Nachricht produzieren will, weiß ich, wo ich sie hinsetze.«173 Er ist nicht der einzige Politiker, der so denkt. Jürgen Rüttgers bot als nordrhein-westfälischer Ministerpräsident gezielt Einblicke in sein Privatleben, um sein politisches Image als erdverbundener Landesvater zu inszenieren. Dabei mutierte er wahrhaft zum Pantoffelhelden: Journalisten empfing er in Hausschuhen im heimischen Pulheim, seine Ehefrau servierte den Tee und versicherte, dass ihr Mann jeden Samstag die Brötchen hole. War Rüttgers früher ein ungeduldiger Modernisierer gewesen, gab er nun den sanften Arbeiterführer und einzig wahren Erben Johannes Raus. Dass all dies nur erfunden war und mit dem echten Rüttgers wenig zu tun |195|hatte, zeigte ein Papier seines Chefstrategen Boris Berger, der Rüttgers’ Image des soliden Biedermanns und Menschenverstehers noch vor Amtsantritt sorgsam choreografiert und seinem Chef auf den Leib geschrieben hatte. Berger empfahl Rüttgers in einem Vermerk einen »ambulanten Regierungsstil« – er meinte damit häufiges Herumreisen im Land –, auch um dadurch unabhängiger von der »verwöhnten und zynischen Landespressekonferenz« zu werden: »Ziel muß ein über das ganze Land angelegtes Netzwerk sein, das für Sie aufgebaut wird und in dem Sie im Mittelpunkt stehen, ohne in der operativen Pflege gebunden zu sein.« Weiter forderte Berger: »Die Termine, die Bilder und Geschichten, die dann von Ihren Reisen erzählt werden sollen, müssen sich dann immer hieran orientieren. Ziel muß doch sein, in Zeiten, wo aufgrund großen Reformbedarfs die Politik den Menschen keine materiellen Wohltaten mehr zukommen lassen kann und aufgrund der zu erwartenden Einsparungen im Landeshaushalt, die zwangsläufig zu Protesten und Widerständen führen wird, Ihnen als MP immer wieder die Rolle des ›Kümmerers‹ zu geben, der die Seele des Landes kennt, versteht und streichelt. Sie dürfen nicht derjenige sein, der die bösen Wahrheiten über zu bringende Opfer verkündet – das sollten die Minister machen –, sondern Sie müssen in die Lage versetzt werden, die emotionalen Bedürfnisse des Landes zu befriedigen.« Für Rüttgers Wahl zum Ministerpräsidenten im Juni 2006 legte Berger eine detaillierte Regieplanung fest: »Ihre Wahl zum MP muß ganz zweifellos eine besondere Inszenierung kriegen – das heißt der Abend vor der Wahl, der Morgen und die Termine am 22.06. im Anschluß. Wo und wann gehen Sie zum Gottesdienst – vielleicht sinnvoll wäre hierfür der Abend vorher in Köln oder Aachen. Eventuell könnte am Morgen vor der Wahl oder nachmittags ein Besuch am Grabe Konrad Adenauers (…) oder Arnold Gehlens stattfinden, die ja |196|Vorgänger im Amte waren [sic!]. Nach der Wahl sollte ein Empfang stattfinden – wo soll der gemacht werden? Gut wäre, wenn wir bis dahin eine Örtlichkeit hätten in Düsseldorf, wo Sie zukünftig ›Hof halten‹ wollen, dort könnte dies gemacht werden. Wer soll als Ehrengast geladen sein (…) Nachmittags müsste im Stil eines ambulanten, ganzländischen Regierungsstil ein Termin in Westfalen – Münster Rathaus (Konzert im Friedenssaal) – und abends ein Termin im Ruhrgebiet (Essen oder Duisburg) statt finden (vielleicht ein Konzert in der Philharmonie). (Irgendwann an diesem Tag müssten Sie dann ja auch noch das Kabinett benennen – vielleicht kann man das in die Inszenierung mit einbauen). Wichtig wird auch die Frage des Einzugs in die Staatskanzlei sein – wann machen Sie das, welche Bilder sollen da entstehen, wie wird die Übergabe mit MP Steinbrück inszeniert; was sind die ersten Amtshandlungen, an wen geht der erste Anruf, der erste Brief, der erste Termin, die erste Mitarbeiterbesprechung, die Ansprache an die Mitarbeiter der Staatskanzler; etc.«174 Rüttgers folgte als Ministerpräsident diesen Inszenierungsratschlägen seines spin doctors, wenn auch unsicher und unbeholfen. Den Weg von der Düsseldorfer Staatskanzlei zum Parlament legte er regelmäßig zu Fuß zurück. Doch er wirkte dabei so unnahbar, dass kaum jemand sich traute, ihn anzusprechen. Dass die Sanftmut, mit der Rüttgers Nordrhein-Westfalen zu regieren vorgab, nur vorgetäuscht war, wurde spätestens deutlich, als sein Oberstratege Berger im Landtagswahlkampf 2010 die »Omme einer Alten namens Hannelore«175 zur Strecke bringen wollte. Gemeint war die SPD-Spitzenkandidatin Hannelore Kraft. Als Bergers Regieplanung durch Indiskretionen öffentlich wurde, entstand ein Inszenierungswiderspruch, für den die NRW-Wähler Rüttgers im Mai 2010 mit Abwahl bestraften und Hannelore Kraft zur Ministerpräsidentin machten.
Rüttgers ist nicht der einzige Politiker, der versucht hat, auf die Unwägbarkeiten der Medien- und Stimmungsdemokratie mit systematisch inszenierter Volksnähe zu reagieren. Gerade in letzter Zeit hat der Populismus Hochkonjunktur. Natürlich gab es in der deutschen Politik schon immer Populisten: die dröhnenden Volksredner wie Franz-Josef Strauß und Horst Seehofer, die den eigenen Erfolg kühl kalkulierenden Tabubrecher wie Jürgen Möllemann und die smarten Darlings wie Guido Westerwelle, die privatisierenden Populisten und diejenigen, die zwar ihr Intimleben unterm Deckel halten, aber jede Gelegenheit nutzen, sich populistisch mit dem kleinen Mann gemein zu machen. Es ist kein Zufall, dass gerade hoch beschleunigte Mediengesellschaften für Populismus anfällig sind: Die volatile Stimmungsdemokratie befördert den Zwang zu Popularität, die Bereitschaft der Politiker, dem Volk um des kurzfristigen Vorteils willen nach dem Mund zu reden. Populismus verspricht eine größeren Nähe zwischen Wählern und Gewählten und eine Aufhebung der vielfältigen politischen Blockaden, die in einem komplexen Mehrebenensystem an der Tagesordnung sind. Wo parlamentarische Politik langsam und schwergängig ist, suggeriert der Populismus einfache und schnelle Lösungen. Zudem lässt er dort Alternativen aufscheinen, wo noch kurz zuvor alles vorherbestimmt und bereits entschieden wirkte. »Das Erstarken populistischer Kräfte folgt der Logik, dass dann, wenn es in der Demokratie keine Alternativen gibt, Alternativen zur Demokratie attraktiv werden«, schreibt der Rechtswissenschaftler und Schriftsteller Bernhard Schlink.176 Für die Sozialwissenschaftlerin Karin Priester ist Populismus »das Ergebnis einer gestörten Kommunikationsbeziehung von Politik und Volk«.177 Das Erfolgskalkül populistischer |198|Strategien besteht deswegen vor allem darin, sich unter Berufung auf den »wahren Willen« des Volkes gegen die angeblich der Realität entfremdete politische Klasse aufzulehnen, diese aufzufordern, endlich Tacheles zu reden, und eine grundlegende Kurskorrektur einzufordern. Politiker, die einen solchen Weg einschlagen, müssen sich zu Nicht-Politikern erklären, zu mit dem Volk verbündeten Outsidern des etablierten Politikbetriebs. Sie gehen ein Scheinbündnis mit dem Volk gegen »die da oben« ein. Dies kann in Gestalt der Politikerschelte geschehen, wie sie Bundespräsident Horst Köhler zum Prinzip seiner Amtsführung erhoben hatte, kann in vermeintlichen Tabubrüchen wie Westerwelles »Man muss doch noch sagen dürfen« zum Ausdruck kommen und bis zu Roland Kochs plumpem Bedienen xenophober Stereotype reichen.
Keinem anderen aber ist die Inszenierung des Nicht-Politischen in den vergangenen Jahren so gut gelungen, wie dem Freiherrn Karl-Theodor zu Guttenberg, der auch Monate nach seinem Rücktritt als aktiver Politiker noch ganz vorn unter den beliebtesten Politikern des Landes rangierte. Aufstieg und Absturz von Guttenberg nahmen die steilste Verlaufsbahn, die je ein Politiker in der Bundesrepublik durchlaufen hat. Binnen zweier Jahre hatte sich Guttenberg vom CSU-Nachwuchstalent in eine politische Wunderwaffe verwandelt. Siebzig Prozent der Deutschen zeigten in Umfragen Sympathien für ihn, nicht nur der Spiegel sah in Guttenberg den künftigen Kanzler. Fast alle deutschen Medien spekulierten im Jahr 2010 monatelang darüber, ob der Verteidigungsminister erst Horst Seehofer als bayerischen Ministerpräsidenten beerben müsse oder gleich Angela Merkel nachfolgen könne. Dabei kannten noch drei Jahre zuvor nur Eingeweihte den CSU-Bundestagsabgeordneten und transatlantischen Sicherheitspolitiker. Getragen von einer Welle der populären Verehrung machte Guttenberg seinen |199|Weg im politischen Establishment in atemberaubendem Tempo. Dabei wirkte sein Aufstieg so, als ob er eigentlich hinabstiege, von seinem schönen Schloss in die Niederungen der Tagespolitik. In den Augen vieler Leute war Guttenberg einer, der es gar nicht nötig hatte, sich mit Politik abzugeben, und sich dennoch auf sie einließ. Als Adliger wurde er so zum Shootingstar und Identitätsanker des politikfrustrierten Bürgertums. Seine Herkunft und sein privates Vermögen – der Besitz der Familie Guttenberg wird auf über 400 Millionen Euro geschätzt – ermöglichten dem fränkischem Freiherrn dabei eine Pose der Unabhängigkeit, so als ob derjenige, der Politik als Beruf nicht nötig hat, von ihr auch nicht vereinnahmt und verdorben werden kann. Dieser Gestus ermöglichte es ihm, innerhalb des Regelkorsetts der Politik eine vollkommen regelkonforme Blitzkarriere zu machen und gleichzeitig den Eindruck zu erwecken, die Regeln der Politik würden für ihn nicht gelten. Anders zu sein war seine Hauptbotschaft, aus seiner Geringschätzung des politischen Normalbetriebs hat Guttenberg nie einen Hehl gemacht. Dabei scheute er auch nicht davor zurück, andere zu diskreditieren. Am Ende einer Veranstaltung mit Soldaten stellte der Verteidigungsminister fest, nun dürfe man Fragen stellen. Und sollte nicht jeder zum Zuge kommen, solle man ihm die offenen Fragen schicken. »Und zwar nicht etwa über den Dienstweg, dann erreicht es mich in einem halben Jahr, sondern direkt an mich und mein Büro.«178 Damit machte er zwar die ganze Bundeswehr schlecht, die offenbar so schlampig arbeitet, dass Post sechs Monate bis zum Minister braucht, doch er selbst sah so ziemlich gut aus. Dabei hätte er auf der Hardthöhe auch einfach die Anweisung erteilen können, dass persönlich an den Minister adressierte Eingaben direkt ans Ministerbüro gehen. Die Profilierung als der Andere auf Kosten der Anderen war Guttenbergs Erfolgsprinzip. So |200|setzte er sich bewusst von der Kaste der Berufspolitiker ab, ließ diese langweilig und spießig erscheinen und sonnte sich in dem Licht, das vor dem so gemalten Hintergrund umso heller auf ihn strahlte.
Guttenbergs Umgang mit dem tradierten Politikbetrieb hatte etwas Hasardeurhaftes: Er nutzte seine herausgehobene Popularität zu immer neuen Regelbrüchen. Etwa, als er mit dem Talkmaster Johannes B. Kerner nach Afghanistan flog, um dort eine Sendung aufzuzeichnen, die man ebenso gut in Deutschland hätte einspielen können. Die Bundeswehr zahlte hierfür sogar einen Zuschuss von 17 000 Euro an die Produktionsfirma. Allen anderen Politikern wäre dies als sinnlose Verschleuderung von Steuergeld angekreidet worden, doch Guttenberg kam damit nicht nur durch, sondern erhielt obendrein Beifall vom Boulevard, dem die ganze Chose wieder herrliche Bilder von Prominenten im exotischen Setting Afghanistan beschert hatte. Inhaltlich war die Kerner-Show übrigens dilettantisch, die Redakteure kamen mit den militärischen Dienstgraden gründlich durcheinander und promovierten z.B. einfache Patrouillenführerinnen zu ranghohen Offizieren mit strategischer Verantwortung. Insofern war die Talkshow im Wüstensand typisch für Guttenbergs Politikstil, der sich dadurch auszeichnete, Politik nicht notwendig gründlich zu machen, sondern nur sorgfältig zu inszenieren. Wäre es Guttenberg in seiner Zeit als Verteidigungsminister wirklich um die Bundeswehrreform gegangen, dann hätte er diese ernsthaft vorbereiten und sich Verbündete in den eigenen Reihen und auch in der Opposition suchen müssen. Stattdessen wählte Guttenberg die Rolle des unerbittlichen Solitärs und spielte auf Sieg oder Untergang. Unterm Strich bediente er damit ein Politikverständnis im Sinne Carl Schmitts. Mit seinem manichäischen »alles oder nichts« betrieb er das Gegenteil von Politik, weil er |201|suggerierte, dass nur der entschlossene Schlag gegen den Gegner zum Erfolg führe, wo er doch eigentlich Verbündete über die Lagergrenzen hinweg gebraucht hätte.
Diese Haltung spiegelte sich auch in seiner Rhetorik wider. Schon ganz zu Anfang seiner Ministerzeit galt Guttenberg als der große Klartextredner, der auch unbequeme Wahrheiten offen ausspricht. Diese allgemein verbreitete Wahrnehmung ist umso erstaunlicher, da kaum jemand wiedergeben kann, was Guttenberg eigentlich im Verlauf seiner politischen Laufbahn Substanzielles gesagt hat. Sein Satz, dass in Afghanistan Krieg herrsche, wenn auch nicht völkerrechtlich, so doch zumindest »umgangssprachlich«, wurde allgemein als Befreiung empfunden, als Aufbrechen eines deutschen Denktabus. Bei näherem Hinsehen entpuppte er sich als reine Worthülse. Patrick Bahners unterzog Guttenbergs Satz in der F.A.Z.einer näheren Analyse. Er wies darauf hin, dass das Völkerrecht den Begriff des Krieges seit Jahrzehnten nicht mehr kennt, aus seiner Verwendung also auch keine völkerrechtlichen Konsequenzen erwachsen können. Denn was in der Alltagssprache weiter Krieg heißt, ist in der Definition des Rechts der bewaffnete Konflikt. Bahners schrieb: »Mittlerweile ist in der Öffentlichkeit der Eindruck allgemein, die Rechtfertigung der deutschen Afghanistan-Mission sei durch und durch euphemistisch. Der gegenwärtigen Bundesregierung und insbesondere dem Verteidigungsminister ist das Kunststück gelungen, zu einem Zeitpunkt, da der strategische Sinn des Einsatzes zweifelhafter ist denn je, durch eine Verlautbarungsoffensive noch einmal Unterstützung an der Heimatfront zu mobilisieren: durch das Versprechen, endlich Klartext zu reden.«179 Ein Klartext freilich, der völlig frei von Konsequenzen blieb. Nicht anders steht es um die Ereignisse jener Nacht im Kanzleramt im Mai 2009, als es um die Rettung von Opel durch Staatshilfen ging. Guttenberg |202|inszenierte sich in dieser Situation als Gralshüter ordnungspolitischer Grundsätze. Der damalige Wirtschaftsminister stand, so das öffentlich perpetuierte Bild, in der großen Koalition allein gegen alle, drohte angeblich mit Rücktritt, blieb dann aber doch im Amt. Nur was genau er zu seiner Dienstherrin Angela Merkel in der Opel-Frage gesagt hatte und welche Konsequenzen er daraus ziehen wollte, ist bis heute unbekannt. Letztlich ersetzte Guttenberg einen differenzierten Politikbegriff, wie ihn Politiker schon aus Präzisionsgründen unabdingbar brauchen, durch einen moralisch aufgeladen, unbestimmt bleibenden Habitus, den er selbst immer wieder als »Haltung« umschrieb. Mit diesem Begriff begründete der fränkische Freiherr seine Positionierung zur Frage der Opel-Rettung, und er nutzte ihn später exzessiv, als er in Bedrängnis geriet. In Talkshows sagte er dann regelmäßig Sätze wie: »Dem Sturm, der über mich hinüberfegt, halte ich stand« oder: »Man kneift nicht, man kneift generell nicht«. Doch so hoch Guttenberg dieses Prinzip in der Theorie hielt, so schlecht hielt er es in der Praxis durch. Im Sommer 2009 mitten im Wahlkampf legte sein Wirtschaftsministerium ein Papier mit ordnungspolitischen Grundsätzen der CDU/CSU vor, das mit der Ablehnung von Mindestlöhnen und der Forderung nach Steuersenkungen voll auf der programmatischen Linie der Union lag. Doch nach den ersten Protesten zog der Minister es eilig zurück, erklärte, dass dieses nicht hinreichend mit ihm abgesprochen sei, und versprach, persönlich ein neues Konzept zu erarbeiten. Danach hat man nie wieder von der Sache gehört.
Dann ereilte Guttenberg die Kundus-Affäre. Am 4. September 2009 hatte der deutsche Oberst Georg Klein im deutschen Feldlager Kundus die Bombardierung von zwei von den Taliban entführten Tanklastern angeordnet. Über 100 Menschen starben bei dem Luftangriff, darunter viele Zivilisten. Zum Zeitpunkt |203|des Angriffs war Guttenberg noch Wirtschaftsminister. Als er nach der Bundestagswahl das Verteidigungsministerium übernahm, sagte er, der Angriff sei »militärisch angemessen« gewesen. Kurz darauf revidierte er diese Aussage und begründete seinen Meinungswechsel damit, dass er von seinen Untergebenen nicht ausreichend über den Hergang des Angriffs informiert worden sei. Den Generalinspekteur der Bundeswehr, Wolfgang Schneiderhan, und seinen Staatssekretär Peter Wichert entließ er, weil diese ihm einen Feldjägerbericht mit zusätzlichen Informationen vorenthalten hätten. Seither gibt es zwischen den Beteiligten einen nicht auflösbaren Streit um den Ablauf der Sitzung, die zur Entlassung des Beamten und des Offiziers geführt hat. Die Aussagen von Guttenberg und Wichert widersprechen sich, man ist sich nicht einmal einig, wie viele Leute bei dem Gespräch im Raum waren. Guttenberg behauptet fünf, Wichert und Schneiderhan sagen, es seien vier gewesen.
Ähnlich erratisch war das Bild, das Guttenberg während des vermeintlichen Skandals um die Bedingungen der Offiziersausbildung auf dem Segelschulschiff Gorch Fock abgab. Auslöser war der tödliche Unfall der Offiziersanwärterin Sarah Seele im November 2010. Im Gefolge gab es Medienveröffentlichungen über die Zustände an Bord, vor allem Bild skandalisierte, mehrere Zeitungen sprachen von einer »Meuterei auf der Gorch Fock«. Statt in Ruhe abzuwarten, was die Berichte der zuständigen Stellen ergaben, und das Ganze den militärischen Hierarchien zu überlassen, zog Guttenberg auch diese vermeintliche Affäre wieder direkt an sich, wie er stets alles zur Chefsache erklärt hatte, was breit in den Boulevardmedien auftauchte. Zunächst wollte er abwarten, was die Untersuchungen ergaben. In der dritten Januarwoche 2011 machte er dann eine spektakuläre Kehrtwendung und enthob den Kapitän der Gorch |204|Fock, Norbert Schatz, seines Kommandos. Unklar bleibt, was Guttenberg zu diesem Schritt trieb, obwohl er noch Stunden zuvor im Bundestag angekündigt hatte, mögliche personelle Konsequenzen nicht aufgrund von Spekulationen, sondern allein auf der Basis von Fakten treffen zu wollen. Das Einzige, was sich in den nächsten Stunden änderte, war die Ankündigung der Bild-Zeitung, einen weiteren Bericht über Verfehlungen der Gorch-Fock-Offiziere zu veröffentlichen. Dessen Erscheinen überhaupt nur abzuwarten, schien Guttenberg nun nicht mehr opportun. Nach Darstellung der Bild am Sonntag fiel die Entscheidung Guttenbergs zur Abberufung von Schatz während einer gemeinsamen Autofahrt des Ministers mit einem Reporter der Zeitung: »Der gepanzerte Audi A8 schießt mit knapp 200 Kilometern pro Stunde durch die Freitagnacht zwischen dem osthessischen Fulda und dem unterfränkischen Esselbach, als Karl-Theodor zu Guttenberg der Kragen platzt. ›Es reicht!‹«180 Wegen immer neuer Berichte über seltsame Ekelrituale und Quälereien auf der Gorch Fock habe sich der Minister für die Dienstenthebung des Kapitäns und die Rückbeorderung des Schiffes nach Deutschland entschieden. Diese Berichte fanden sich freilich vor allem in der Bild selbst. Dort wurde das Zitat einer anonym bleibenden »ehemaligen Kadettin« gedruckt, die behauptete, das Schiff sei »der größte schwimmende Puff Deutschlands«. Zudem wurden die unbelegten Gerüchte über sexuelle Übergriffe an Bord in einen möglichen Zusammenhang mit dem Tod der Kadettin Jenny B. gebracht, die im September 2008 unter nie ganz geklärten Umständen über Bord des Schulschiffs gestürzt war und später tot aufgefunden wurde. Mit der Amtsenthebung des Kapitäns hatte Bild mal wieder gesiegt. Das Schlagzeilentrommelfeuer über die Zustände auf der Gorch Fock mündete in einen spektakulären Abgang. Bild am Sonntag feierte Guttenberg nach dem |205|Schatz-Rauswurf: »Das Einhorn gilt als das edelste aller Fabeltiere. Ihm werden seit Jahrhunderten Wunderkräfte zugeschrieben wie die Erweckung von Toten. So gesehen ist Karl-Theodor zu Guttenberg das Einhorn der deutschen Politik.« Die Begründung der Zeitung: »Für kurze Zeit stand in dieser Woche Guttenbergs Ruf als Aufklärer und Erneuerer auf dem Spiel, war doch der unschöne Eindruck entstanden, der Minister wisse nicht oder erfahre zu spät, was in seiner Truppe vor sich geht. Für einen Augenblick wirkte er wie ein Getriebener der schlechten Nachrichten. Doch dann berappelte sich Guttenberg. Mit der Abberufung des Kommandeurs der ›Gorch Fock‹ und noch mehr mit der zumindest vorübergehenden Stilllegung des traditionsreichen Seglers bewies der Baron, dass mit ihm in diesen Dingen nicht zu spaßen ist. Und mit dem Auftrag an den Generalinspekteur, einen umfassenden Report über schräge Rituale zu erstellen, nutzt der Minister die jüngsten Vorfälle, um den Umbau der Bundeswehr voranzutreiben.«181
Spätestens mit Guttenbergs spontaner Entscheidung zur Kommandoenthebung von Schatz, der später durch Untersuchungsberichte rehabilitiert wurde, entstand unter den Politikerkollegen, aber auch in der seriösen Presse das Bild eines Ministers, der sich von Bild treiben lässt. Unübersehbar war die Zeitung zum Sprachrohr des Freiherrn geworden und stellte ihn immer wieder ins Rampenlicht: Guttenberg auf dem Times Square, Guttenberg in Afghanistan, Guttenberg im Kanzleramt, Guttenberg in Bayreuth. So entstand eine politisch-mediale Verbindung, die zumindest zeitweise, so die F.A.Z., den Charakter einer strategischen Partnerschaft trug. Der offensichtliche Einfluss der Bild-Zeitung auf den Minister verstörte nicht nur die Opposition. Selbst Unionskollegen aus dem Kabinett sahen die Nähe Guttenbergs zum Springer-Blatt kritisch. |206|Denn es schien ein Geschäft auf Gegenseitigkeit zu sein, wie Steffen Hebestreit in der Berliner Zeitung beobachtete: Stets nahm Bild alle »Neider, Nörgler und Niederschreiber«aufs Korn, wenn sich Kritik an Guttenberg regte. Zuverlässig handelte er im Gegenzug, wenn Bild nach action verlangte, und räumte dafür nicht nur Untergebene aus dem Weg, sondern auch die eigenen Überzeugungen. Bild forderte, Guttenberg lieferte und durfte sich hinterher bestätigten lassen, im Einklang mit Volkes Stimme zu handeln. Die seriöse Presse monierte bald, so richtig zu Hochform laufe Guttenberg nur auf, wenn Auftritte in Boulevardmedien oder Talkshows winkten. Im Tagesgeschäft sei der Minister oft schlecht informiert. Er werde erst bei Mediendruck tätig, überreagiere dann aber. »Wem fühlt sich Guttenberg verpflichtet? Parlament oder Zeitung?«, fragte Stefan Reinecke in der taz und brachte damit eine verbreitete Stimmung auf den Punkt.182 An dieser Stelle zerbrach die mediale Symbiose, die Boulevardjournalismus und Qualitätsmedien im Umgang mit Guttenberg zunächst eingegangen waren. Bis zur Gorch-Fock-Affäre galten hier die typischen Regeln einer intermedialen Arbeitsteilung: Der Boulevard zog Guttenberg als Hoffnungsträger hoch, die Demoskopie verschaffte ihm einen Spitzenplatz in den Beliebtheitsrankings und damit war die Person gesetzt. Jetzt kamen auch seriöse Medien nicht mehr daran vorbei, sich extensiv mit den »fabelhaften Guttenbergs« auseinanderzusetzen, was ihnen nicht nur die Legitimation für tiefschürfende Porträts und viele Bilder verschaffte, sondern auch die Gelegenheit zum selbstreferentiellen Räsonnement, weil man so wunderbar die Frage diskutieren konnte, wie denn ein Politiker, der eigentlich noch gar nichts geleistet hat, so populär sein kann. Doch irgendwann war die Liaison der Guttenbergs mit Bild so eng und exklusiv, dass andere Medien umschwenkten und sowohl Bild als auch |207|den Verteidigungsminister ins Visier nahmen. Insofern lassen sich die Umstände von Guttenbergs Abgang auch als Showdown einer Auseinandersetzung werten, in der es um Einfluss und Macht des Boulevardjournalismus in Deutschland ging.
Guttenberg, die Bild und der Medienpopulismus
Es war an einem kalten Tag Ende Februar 2011, als die Bild-Zeitung mit einem letzten Fanfarenstoß versuchte, Guttenberg zu retten und quasi nebenbei die direkte Demokratie in Deutschland einzuführen. An jenem Tag sollte Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg in einer Aktuellen Stunde des Bundestags zu seiner über weite Strecken plagiierten Doktorarbeit Stellung nehmen. Bild flankierte die parlamentarische Anhörung mit einer groß aufgezogenen Umfrage, die schon in der logistischen Vorbereitung die heute üblichen Online-Abstimmungen bei weitem übertraf: 227 175 Leser stimmten per Telefon oder Fax für einen Verbleib Guttenbergs im Amt. Auch wenn manche Ungereimtheit bestehen blieb – Bild hatte parallel dazu eine Umfrage online stehen, in der 55 Prozent der Nutzer für einen Rücktritt Guttenbergs votierten –, war klar: Gegen die geballte Macht des Springer-Verlags und der Straße kam auch die Kanzlerin nicht an, obwohl sie als promovierte Physikerin in dieser Situation vermutlich wusste, was angesichts der so offensichtlich abgeschriebenen Doktorarbeit geboten, vernünftig und dem Anstand geschuldet gewesen wäre. Sie hielt ihren Minister ungeachtet aller Vorwürfe im Kabinett und handelte sich mit ihrer hilflosen Verteidigungsstrategie viel Ärger ein. Guttenberg blieb noch drei Tage im Amt, obwohl er nach allen Regeln der politischen Kultur, die bislang in Deutschland galten, längst hätte zurücktreten müssen. Doch eigene Partei |208|wie Opposition wussten in dieser Situation um die Gefahr, die von einer offensiven Rücktrittsforderung an Deutschlands einzigen Pop-Politiker ausging. Bild-Kolumnist Franz Josef Wagner hatte die Warnung deutlich ausgesprochen: »Worum geht es bei den Plagiatsvorwürfen (…)? Um die Reinheit der Wissenschaft? Oder darum, einen Superstar zu entzaubern?« Wagners unmissverständlicher Appell: »Macht keinen guten Mann kaputt. Scheiß auf den Doktor.«183 Niemand aus der politischen Klasse konnte Guttenberg in dieser Situation wirklich bedrängen, das offensichtlich Gebotene zu tun, da seine enorme Popularität ihn schützte. Der Schaden für die Demokratie war zu diesem Zeitpunkt längst eingetreten: Bei einem Rücktritt Guttenbergs war zwangsläufig eine Welle der Empörung zu erwarten, dass die verkommenen politischen Eliten den Hoffnungsträger wegen kleinerer Verfehlungen vom Hof jagen – obwohl die doch »alle Dreck am Stecken haben«. Ein Verbleib Guttenbergs im Amt hingegen bedeutete einen Bruch mit den Regeln bürgerlichen Anstands, denn einen Betrüger in einem politischen Spitzenamt zu halten war bislang mit dem Verständnis der politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland nicht vereinbar. Selbst wenn der Spuk bis zu Guttenbergs schließlichem Rücktritt nur noch drei Tage dauerte: Bild hatte neue Regeln geschrieben. Wieder einmal wurden die Grenzen des Anstands und der Seriosität angesichts einer populistischen Inszenierung ein Stück weit verschoben. So steuert das Land, befeuert von Bild und Bunte, unaufhaltsam in Richtung neuer Kommunikationsverhältnisse, in denen Anti-Politiker mit ihren gezielten Attacken auf die politische Klasse Stück für Stück Geländegewinne erzielen.