1. Ackerveilchen

 

Vor meinen Füßen
Wann bist du dorthin gelangt?
Du kleine Schnecke.
Kobayashi Issa (1763–1827)

 

In den ersten Frühlingstagen ging eine Freundin von mir im Wald spazieren und entdeckte zufällig auf dem Weg eine Schnecke. Sie hob sie auf und trug sie in der offenen Hand vorsichtig zu dem Studio, in dem ich zur Genesung untergebracht war. Am Rand des Rasens sah sie ein paar Ackerveilchen stehen. Mit einem Pflanzenheber grub sie einige davon aus, pflanzte sie in einen Terrakottatopf und setzte die Schnecke unter die Blätter. Dann brachte sie den Topf zu mir in die Wohnung und stellte ihn neben mein Bett.

«Ich habe eine Schnecke im Wald gefunden. Ich habe sie dir mitgebracht, sie sitzt hier unter den Veilchenblättern.»

«Wirklich? Warum hast du sie denn mitgebracht?»

«Ich weiß auch nicht. Ich dachte, du hast vielleicht Freude daran.»

«Lebt sie noch?»

Sie hob das eichelgroße, braune Schneckenhaus hoch und betrachtete es.

«Ich glaube schon.»

Warum, fragte ich mich, sollte ich an einer Schnecke Freude haben? Was in aller Welt sollte ich mit ihr anfangen? Aufstehen und sie in den Wald zurückbringen konnte ich nicht. Sie interessierte mich nicht sonderlich, und falls sie wirklich noch lebte, war die Verantwortung – gerade für etwas so Abwegiges wie eine Schnecke – einfach zu groß.

Meine Freundin umarmte mich, verabschiedete sich und fuhr davon.

 

Mit vierunddreißig Jahren wurde ich auf einer kurzen Europareise von einem mysteriösen viralen oder bakteriellen Krankheitserreger befallen, der schwerwiegende neurologische Symptome hervorrief. Ich hatte mich für unverwundbar gehalten. Aber das war ich nicht. Und ich hatte geglaubt, falls es doch einmal Probleme geben sollte, würde mich die moderne Medizin schon wiederherstellen. Aber dem war nicht so. Auch den Fachärzten mehrerer großer Kliniken gelang es nicht, den Urheber der Infektion zu identifizieren. Über Monate hinweg war ich immer wieder im Krankenhaus, und es kam zu lebensbedrohlichen Komplikationen. Ein noch nicht zugelassenes Medikament, das mir schon in der Erprobungszeit zugänglich gemacht wurde, stabilisierte meinen Zustand, doch es sollte mehrere zermürbende Jahre dauern, bis ich zumindest teilweise genesen war und wieder arbeiten konnte. Meine Ärzte meinten, die Krankheit liege hinter mir, und ich wollte ihnen glauben. Ich war so froh, mein altes Leben fast vollständig wiederzuhaben.

Doch dann erlitt ich aus heiterem Himmel mehrere tückische Rückfälle und war schließlich wieder bettlägerig. Weitere aufwendigere Untersuchungen brachten zutage, dass die Mitochondrien in meinen Zellen nicht mehr richtig funktionierten; alle nicht bewusst gesteuerten Körperfunktionen, darunter auch Herzfrequenz, Blutdruck und Verdauung, waren gestört. Das mittlerweile zugelassene Medikament, das mir zunächst geholfen hatte, zeigte nun gefährliche Nebenwirkungen; wenig später sollte es wieder vom Markt genommen werden.

 

Auch wenn der Körper zu nichts mehr zu gebrauchen ist, jagt der Geist doch weiter wie ein Bluthund auf den gewohnten Neuronenbahnen dahin und versucht, die Antworten zu einem Wust von Fragen aufzuspüren – das Warum, Was und Wann und das unvorstellbar ferne Wie. Eine erschöpfende Suche, und die Antworten entziehen sich. Manchmal herrschten in meinem Kopf nur Lustlosigkeit und Leere, zu anderen Zeiten waren meine Gedanken in wildem Aufruhr, und ich wurde von unsagbarer Traurigkeit und einem kaum erträglichen Verlustgefühl übermannt.

Bei guter Gesundheit erscheint es einem selbstverständlich, dass das Leben einen Sinn hat, und es ist erschreckend, wie rasch eine Krankheit diese Gewissheit zunichtemachen kann. Ich schaffte es mit Mühe und Not, den einzelnen Moment zu bewältigen, und jeder dieser Momente zog sich hin wie eine endlose Stunde, doch zugleich verstrichen ganze Tage unbemerkt. Auch ungenutzt durchlebte Zeit vergeht, als hätte die Zeit einen unstillbaren Hunger und vertilgte den Tag komplett, ohne einen Krümel, eine Spur, eine Erinnerung zu hinterlassen.

 

Man hatte mich in einem Studio untergebracht, wo ich besser versorgt werden konnte. Mein Bauernhaus, das ungefähr fünfundsiebzig Kilometer entfernt lag, wurde verschlossen. Ich wusste nicht, ob und wann ich je wieder dorthin würde zurückkehren können. Vorläufig war mir eine Rückkehr nach Hause nur möglich, indem ich die Augen schloss und mich erinnerte. Ich sah den Vorfrühling, die violetten Ackerveilchen – gleich denen an meinen Bett –, die sich im ganzen Garten ausbreiteten. Und die duftenden rosa Stiefmütterchen, die ich in dem kleinen Waldgarten nördlich meines Hauses gepflanzt hatte – auch die blühen jetzt bestimmt. Obwohl sie in diesen nördlichen Regionen eigentlich nicht winterfest waren, überdauerten sie irgendwie. In Gedanken konnte ich ihren süßen Duft riechen.

Vor meiner Krankheit waren meine Hündin Brandy und ich oft durch den ausgedehnten Wald hinter dem Haus zu einem versteckten, in den Bergen entspringenden Bach gelaufen. Sein vom Wetter und den Jahreszeiten erzählendes Lied begleitete uns, während wir mal hier, mal dort auf Steinen, die halb aus dem Wasser lugten, das Bachbett überquerten. Auf dem Rückweg fand ich an einer sehr sumpfigen Stelle auf kleinen Inseln aus Wurzelwerk und Moos winzige wilde Veilchen, weiß mit zartlila gestreiftem Kelch.

 

Die Ackerveilchen an meinem Bett waren frisch und lebendig, im Gegensatz zu den sonst üblichen Schnittblumen, die andere Freunde mitbrachten. Die Schnittblumen hielten immer nur ein paar Tage, und sie hinterließen trübes, übelriechendes Wasser. In meinen Zwanzigern hatte ich mir mein Geld als Gärtnerin verdient, daher war ich froh, dieses kleine Stückchen Garten direkt neben meinem Bett zu haben. Ich konnte die Veilchen sogar mit meinem Wasserglas gießen.

Aber was war nun mit der Schnecke? Was sollte ich mit ihr anfangen? So klein sie war, hatte sie doch friedlich vor sich hingelebt, als meine Freundin sie aufhob. Welches Recht hatten wir, in ihr Leben einzugreifen? Wobei ich mir nicht vorstellen konnte, wie das Leben einer Schnecke überhaupt aussah.

Ich erinnerte mich nicht daran, auf meinen zahllosen Spaziergängen im Wald je Schnecken gesehen zu haben. Vielleicht, dachte ich mit Blick auf das unscheinbare braune Tier, lag das an ihrem unauffälligen Äußeren. Den Rest des Tages blieb die Schnecke in ihrem Gehäuse, und ich war zu erschöpft von dem Besuch meiner Freundin, um noch einen weiteren Gedanken an meine Schnecke zu verschwenden.