8. Teleskopfühler

 

Die Fühler [der Schnecke] sind so ausdrucksvoll
wie die Ohren eines Maultiers, sie vermitteln den Eindruck
gleichgültigen Vergnügens, wenn sie herunterhängen, und
enormer Wachsamkeit, wenn sie aufgerichtet sind, wie es
der Fall, wenn die Schnecke auf Wanderschaft ist.

Ernest Ingersoll, In a Snailery [Im Schneckengarten], 1881

 

Wenn meine Schnecke aktiv war, ragte ihr muskulöser Kopffuß aus dem Gehäuse hervor, doch beim geringsten Anzeichen einer Störung zog sie ihn in die größte, äußerste Windung des Gehäuses zurück. Ihr weicher Körper, der die lebenswichtigen Organe enthielt – Lunge, Herz, Magen-Darm-Trakt –, war durch einen Mantel mit dem Gehäuse verbunden, der auch als Wasserspeicher diente. Sie konnte ungefähr ein Zwölftel ihres Körpergewichts an Wasser speichern und auf diese Weise ähnlich wie ein Kamel Trockenperioden überstehen.

Die Atmung meiner Schnecke vollzog sich zu etwa gleichen Teilen über die Haut und durch ein Atemloch, eine kleine Öffnung rechts unter dem Kopf. Dieses sogenannte Pneumostom ermöglicht einen Luftaustausch durch Diffusion, es öffnet sich in größeren Abständen, etwa viermal pro Minute, je nachdem, was die Schnecke gerade tut. Wir Menschen müssen als homoiotherme – warmblütige – Lebewesen eine konstante Körpertemperatur aufrechterhalten, die Temperatur meiner poikilothermen – wechselwarmen – Schnecke hingegen passte sich ihrer jeweiligen Umgebung an. So verbrauchte sie nur halb so viele Kalorien wie ein Säugetier von vergleichbarer Größe.

Meine Schnecke war mit zwei Fühlerpaaren ausgestattet: Das untere Paar maß etwa sechs Millimeter, das obere war ungefähr doppelt so lang und trug Augen. Die Schnecke konnte ihre Augen im Nu in die hohlen Fühler einziehen und diese wiederum genauso schnell in ihren Kopf. «Die erste verblüffende Eygenart [der Schnecke] ist, dass das Thier seine Augen auf den Spitzen seiner größten Fühlhörner hat», verkündete Oliver Goldsmith 1774 in seiner A History of the Earth and Animated Nature. Und Ende des neunzehnten Jahrhunderts erklärte James Weir in The Dawn of Reason [Die Morgendämmerung der Vernunft] etwas präziser: «Die Augen der Schnecke sitzen in teleskopischen Wachtürmen.»

Wenn meine Schnecke nach Futter suchte oder an einem Champignon knabberte, zitterten und zuckten ihre Fühler unablässig. Sie reckten sich verlockenden Gerüchen entgegen, wurden jedoch sofort zurückgezogen, wenn etwas irgendwie unangenehm roch. Die Schnecke konnte ihre Fühler einzeln in fast jede Richtung bewegen, bis zu einem Winkel von neunzig Grad; sie schwang sie langsam vor und zurück, hin und her, so wie ein Schiff im Dunkeln die Suchscheinwerfer kreisen lässt, um Seezeichen zu erfassen.

Während wir Menschen fünf Sinne haben und uns hauptsächlich mit Hilfe der visuellen Wahrnehmung orientieren, verlässt sich die Schnecke fast ausschließlich auf drei Sinne: den Geruchs-, den Geschmacks- und den Tastsinn, wobei ersterer der wichtigste ist. Hören konnte meine Schnecke nicht, sie lebte in einer Welt der Stille. Und ihre «Sicht» war äußerst eingeschränkt – nur eine grobe Wahrnehmung von Hell und Dunkel, die ihr bei der Orientierung half. Helles Licht konnte ein Hinweis auf eine heißere, trockenere und problematischere Umgebung sein; Dunkelheit deutete auf ein weniger gefährliches, kühleres und feuchteres Umfeld hin. Ein plötzlicher Schatten konnte sie vor einem Räuber warnen.

Es waren ihre mit Geruchs- und Tastrezeptoren versehenen Fühler, die meine Schnecke so intelligent und zielbewusst wirken ließen. Sie sind für das Überleben einer Schnecke von so wesentlicher Bedeutung, dass sie im Fall einer Verletzung nachwachsen können, so wie der Arm eines Seesterns. In einem Artikel mit dem Titel Im Reich des Chemischen erklärt David H. Freedman:

 

Die Landschnecke widmet ungefähr die Hälfte ihrer Hirntätigkeit dem Tasten und Riechen. Diese Aufgaben sind geschickt auf ihre beiden Fühlerpaare verteilt: Das eine [obere] Paar schwenkt die Schnecke durch die Luft, um Gerüche aufzufangen, das andere [untere] taucht sie zu einer letzten Überprüfung wie eine Zunge in vielversprechende Substanzen, ehe sie diese zu sich nimmt.

 

Mithilfe von Geschmacksknospen auf ihren unteren Fühlern konnte meine Schnecke salzig, bitter und süß unterscheiden. Die Tausenden von Chemorezeptoren auf ihren oberen Fühlern ähnelten denen in der menschlichen Nase. Schnecken «sehen» die Welt über den Geruch, so wie viele Insekten, und sie können über wenige in der Luft schwebende Moleküle Aromen ausmachen.

In ihrem natürlichen Lebensraum bestimmte meine Schnecke den Ursprung eines Geruchs und die Entfernung, aus der er herangetragen wurde, auf der Grundlage von Windgeschwindigkeit und -richtung. Durch mein Zimmer wehte kein Waldgeruch, und das Kaleidoskop von unbekannten Gerüchen – nach Menschen, Menschennahrung, Tee, Seife, Papier, Tinte – muss für die Schnecke, besonders als sie noch im Veilchentopf lebte, überraschend gewesen sein.

Im Gegensatz zur menschlichen Nase, die für ihre Absonderungen berüchtigt ist, sind die nasenartigen Fühler der Schnecke der einzige schleimfreie Teil ihres Körpers. Und anders als der Mensch mit seinen stationären, nebeneinander angeordneten Nasenlöchern hat die Schnecke durch ihre beiden voneinander unabhängigen Fühlernasen eine Art stereoskopischen Geruchssinn. Ich stellte mir vor, wie eine Gruppe Menschen, deren Arme vollständig von Geruchsrezeptoren bedeckt waren, durch die Innenstadt lief. Während sie an Cafés, Bäckereien, Restaurants vorbeigingen, wedelten ihre Arme heftig in Richtung der Düfte. Ein solcherart ausgestatteter Restaurantkritiker könnte nach einer ausladenden Armbewegung nicht nur über seine eigene Vorspeise, sondern auch über die der Gäste an den Nachbartischen berichten.

Zwar hatte die Schnecke also ein hoch entwickeltes Geruchssystem, doch fragte ich mich, wie sie wohl ein Leben so ganz ohne Bilder und Klänge erlebte. In ihrem heimischen Wald konnte meine Schnecke weder das Moos sehen, über das sie glitt, noch die Pflanzen, an denen sie hinaufkletterte. Sie konnte die Bäume nicht sehen und auch die Sterne am Himmel nicht. Sie konnte weder das Vogelgezwitscher bei Tagesanbruch hören noch das mitternächtliche Geheul der Kojoten. Sie konnte nicht einmal ihre eigenen Verwandten sehen, geschweige denn irgendwelche Räuber. Sie konnte ihre Welt nur riechen, schmecken und fühlen.

Helen Kellers Autobiographie The World I live in [Meine Welt], in der sie aus ihrer eigenen, menschlichen Perspektive die unglaubliche Vielfalt von Tast- und Geruchseindrücken schildert, vermittelt wahrscheinlich noch am ehesten eine Vorstellung davon, wie die Schnecke ihre Umgebung wahrnahm:

 

Ich könnte nicht sagen, ob mir das Riechen oder das Tasten die Welt besser erschließt. In den Strom der Tastwahrnehmungen münden immer und überall die Bäche des Geruchs…

Tastwahrnehmungen sind dauerhaft und eindeutig. Gerüche wandeln sich und sind flüchtig, ihre Note, Intensität und räumliche Zuordnung verändern sich. Gerüchen eignet zudem etwas, das mir ein Gefühl für Entfernungen gibt. Ich möchte es Horizont nennen: die Linie, an der sich, da sie die äußerste Reichweite des Geruchssinns markiert, Geruch und Phantasie treffen.

 

Ich fragte mich, ob meine Schnecke einen «Geruchshorizont» hatte und wie weit wohl der Duft eines Pilzes durch die Luft getragen wurde. Die Navigation der Schnecke ist ein komplexer Vorgang, eine Reaktion auf ständig wechselnde Gerüche, Licht und Dunkel, die taktile Wahrnehmung von Luftbewegungen sowie, über die Berührungsrezeptoren in ihrem Kriechfuß, von Vibrationen und Unterschieden im Gelände. Auf diese Weise erforschte und erfasste die Schnecke den urwüchsigen Wald, aus dem sie stammte, ebenso wie die Kiste, auf der ihr Veilchentopf stand, und das Terrarium.

 

Ich sichtete Fachliteratur über Gastropoden, um mehr über meine Gefährtin zu erfahren. Ich fand heraus, dass Schnecken sehr empfindlich auf toxische Substanzen reagieren, die durch Umweltverschmutzung in ihre Nahrung geraten, und ebenso auf Veränderungen der äußeren Bedingungen – Temperatur, Feuchtigkeit, Wind, Vibration. Das konnte ich gut nachvollziehen, denn aufgrund meines dysfunktionalen vegetativen Nervensystems reagierte ich in diesen Bereichen ebenfalls sehr empfindlich.

Da ich die meisten Medikamente nicht vertrug, bekam ich Präparate in solch winzigen Dosen verschrieben, dass ein Apotheker einmal anmerkte, es komme ihm vor, als dispensiere er Arzneien für eine Maus. Die Regulierung meiner Körpertemperatur funktionierte nicht mehr. Im einen Moment fröstelte ich, im nächsten war mir heiß, insofern erschien mir das Leben eines Kaltblüters sehr verlockend. Vor meiner Krankheit hatte ich geschlafen wie ein Stein, ohne die Fenster zu verdunkeln, doch jetzt musste es im Zimmer stockfinster sein. Das Klingeln des Telefons durchfuhr meinen ganzen Körper mit der Wucht eines Tsunami, also stellte ich es ab. Ich konnte nur langsame, gleichförmige Musik anhören, einzeln hervorgehobene Töne empfand ich als quälend. Meine musikalische Unterhaltung beschränkte sich daher auf die Ruhe gregorianischer Gesänge in kaum hörbarer Lautstärke. Ich fragte mich, ob die Schnecke die Schallwellen spürte und wie es die Benediktiner wohl fänden, für einen Gastropoden zu singen.