EPILOG

Vielleicht leben Sie dann allmählich,
ohne es zu merken, eines fernen Tages
in die Antwort hinein.

Rainer Maria Rilke, Briefe an einen jungen Dichter, 1903

 

Meine Schneckenbeobachtungen stammen aus einem einzigen Jahr meiner fast zwanzigjährigen Krankheit. Ich habe sie und ein paar Nicht-Schnecken-Geschichten mit den Ergebnissen meiner späteren wissenschaftlichen Lektüre verschmolzen. Die Recherche für dieses Buch und der Prozess des Schreibens erfolgten, der Geschwindigkeit und dem Rhythmus der Hauptfigur entsprechend, sehr langsam und vorwiegend nachts. Wieder ließ ich mich sehr umfassend auf das Leben der Schnecke ein.

Zur Zeit meiner Beobachtungen wusste ich vieles über meine kleine Gefährtin noch nicht, und das Gleiche galt für meine Krankheit. Ich wollte gern wissen, welcher Art meine Schnecke angehörte, und es sollte mehrerer Anläufe und der Hilfe einiger Experten bedürfen, um dieses Rätsel zu lösen. Eine noch größere Herausforderung war es, den mysteriösen Krankheitserreger zu identifizieren, der mein Leben für immer in andere Bahnen gelenkt hatte, doch ich würde dem Schuldigen auf die Spur kommen. Was blieb, war die ungewisse Zukunft – meine und die aller Lebewesen.

 

 

Eine Frage der Spezies

 

Meine Schnecke und ihre Nachkommen waren wild lebende Tiere. Sie waren Vertreter einer halben Milliarde Jahre gastropodischer Evolution. Ich wollte ihren Platz in dieser altehrwürdigen Ahnenfolge in Erfahrung bringen.

Aus John Burchs Buch How to Know the Eastern Land snails [Die ostamerikanischen Landschnecken erkennen] erfuhr ich, dass meine Schnecke zur Ordnung der Pulmonata beziehungsweise Lungenschnecken gehörte, die sich dadurch auszeichnen, dass sie zum einen eben eine Lunge besitzen und zum anderen für ihre Ruhezustände jeweils ein temporäres Epiphragma bilden – im Gegensatz zu einigen anderen Schneckenarten, die ein dauerhaftes, an ihrem Fuß befestigtes Operculum besitzen, mit dem sie, jedes Mal, wenn sie sich in ihr Gehäuse zurückziehen, gleichsam die Tür hinter sich zumachen können.

Es gibt weltweit sechzig Familien von Lungenschnecken, die wiederum rund zwanzigtausend Arten umfassen, also forschte ich weiter und fand heraus, dass meine Schnecke zur Unterordnung der Stylommatophora («Stielaugenträger») beziehungsweise Landlungenschnecken und zur Familie der Polygyridae gehörte (großer Körper, zurückgebogene Mündungslippe).

Was Gattung und Art betraf, tappte ich allerdings im Dunkeln. Um diese zu bestimmen, bedurfte es eines Experten, denn mir waren die nötigen Informationen – etwa, ob sich im Innern des Gehäuses ein zahnartiger «Knubbel» befand, was ich bei einer lebenden Schnecke nicht überprüfen konnte – nicht zugänglich.

Ich wandte mich an Tim Pearce, den stellvertretenden Direktor und Leiter der Abteilung Mollusken im Carnegie Museum of Natural History, sowie an den Biologen Ken Hotopp von der Umweltorganisation Appalachian Conservation Biology. In einer Reihe von E-Mails tauschten sich Tom und Ken über die Identifikationsmerkmale aus, die sie auf meinen Fotos von der Schnecke erkennen konnten. Sie berücksichtigten die Tiefe des Gehäuses, die Zahl der Windungen und sogar die Farbe der Augenpunkte und kamen schließlich überein, dass es sich bei meiner Schnecke um eine Neohelix albolabris handeln müsse – neo für neu, helix für Spirale und albolabris für weißlippig –, eine Art, die in den feuchten Waldgebieten Nordamerikas heimisch ist, von Ontario im Norden bis Georgia im Süden, und von der Ostküste bis hin zum Mississippi.

 

 

Unsichtbare Grenzen

 

Auf der Erde gibt es mehrere Millionen potentieller Krankheitserreger, von denen etwa tausend den Menschen als Wirt brauchen. Der Krankheitserreger, der mich befallen hatte, war auf seine ganz eigene Weise auch ein Autor: Er schrieb die Anweisungen um, die innerhalb der einzelnen Zellen meines Körpers befolgt werden, und damit schrieb er letztlich mein gesamtes Leben um und erklärte fast all meine Zukunftspläne für null und nichtig.

Meine Krankheit hatte mit grippeartigen Symptomen und einer partiellen Lähmung der Skelettmuskulatur begonnen. Binnen weniger Wochen hatte sie sich zu einem systemischen lähmungsartigen Schwächezustand mit lebensbedrohlichen Komplikationen ausgewachsen. Nach einer langsamen, teilweisen Genesung über einen Zeitraum von drei Jahren erlitt ich mehrere schwere Rückfälle. Mit Hilfe diverser Spezialuntersuchungen wurde schließlich eine autoimmun bedingte Dysautonomie diagnostiziert, eine Funktionsstörung des vegetativen Nervensystems, die eine Lähmung des Kreislaufsystems und Magen-Darm-Trakts bewirken kann.

Eine Dysautonomie kann dazu führen, dass man kaum stehen oder aufrecht sitzen kann, weil die Blutgefäße den Kreislauf nicht gegen die Schwerkraft in Gang halten können. Astronauten haben dieses Problem, wenn sie wieder in das Gravitationsfeld der Erde zurückkehren. Am einen Ende des Spektrums einer solchen «orthostatischen Intoleranz» steht die Synkope: Der oder die Betroffene steht auf und wird sofort ohnmächtig. Am anderen Ende stehen Fälle wie meiner: Der aufgerichtete Körper wird, während er vergebens versucht, den nötigen Blutdruck aufrechtzuerhalten, immer schwächer. Die Fähigkeit, eine aufrechte Körperhaltung einzunehmen, ist eine relativ neue evolutionäre Anpassung, und sie ist immer noch erstaunlich fragil. Das Gewicht der Welt lastet nicht nur metaphorisch gesprochen auf mir, sondern im ganz wörtlichen Sinne. Waagerechte Flächen sind meine Rettungskissen auf meinem Weg durchs Leben.

Darüber hinaus wurde ein Chronisches Erschöpfungssyndrom (CES) diagnostiziert, auch als Myalgische Enzephalomyelitis (ME) bekannt, ein unpassend benanntes, postinfektiöses Leiden, das mit einem dauerhaft reduzierten Blutvolumen, Störungen des vegetativen Nervensystems und deaktivierten Genen einhergeht.

Im siebten Jahr meiner Krankheit führten weitere Untersuchungen zu einer präziseren Diagnose: Ich litt an einer Mitochondriopathie, einer erworbenen mitochondrialen Erkrankung. Die Mitochondrien sind die «Kraftwerke» der Körperzellen, und in den Skelettmuskeln und der autonomen Muskulatur sind sie besonders häufig vertreten. In einem hochkomplexen, zweihundert Schritte umfassenden Prozess wandeln sie Nährstoffe und Sauerstoff in Energie um. Jeder von uns wird mit einer gewissen Anzahl einzigartiger genetischer Mutationen geboren, und im Lauf unseres Lebens «erwerben» wir weitere hinzu. Eine bestimmte Mutation, die von einem bestimmten Krankheitserreger zum Vorschein gebracht wird, kann zu einer mitochondrialen Fehlfunktion führen, die wiederum eine Stoffwechselkrankheit nach sich ziehen kann.

In meinem Fall könnte dieser Krankheitserreger der Virus gewesen sein, der in dem kleinen Ort in Europa kursierte, wo ich meinen Urlaub verbrachte. Vielleicht war auch irgendwas in dem Leitungswasser, das ich eines Nachts im Hotel trank. Und schließlich saß ja auf dem Rückflug auch noch dieser kranke Chirurg neben mir, wobei ich zu diesem Zeitpunkt bereits ernste, seltsame Symptome entwickelt hatte. Im fünfzehnten Jahr meiner Krankheit erfuhr ich von der durch Zecken übertragenen Frühsommer-Meningoenzephalitis (FSME), die durch Viren der Familie Flaviviridae, zu der auch der West-Nil-Virus gehört, verursacht wird. Die FSME kann mit einer Borreliose einhergehen, die sich bei mir aber, falls ich sie mir denn zugezogen hatte, von selbst legte. Soweit man weiß, ist die FSME bisher nicht über den Atlantik nach Nordamerika gelangt, so dass meine Ärzte in den USA damals die Symptome nicht hätten erkennen können. Der eigenartige, in zwei Phasen erfolgende Ausbruch der FSME entspricht jedenfalls dem meiner Krankheit: auf anfängliche grippeartige Symptome folgen einige Wochen später ein systemischer, lähmungsartiger Schwächezustand sowie Störungen des vegetativen Nervensystems mit schlechter Langzeitprognose.

 

 

Koda

 

Krankheitserreger, jene kritischen Bestandteile des Urschlamms, aus dem alles Leben hervorgegangen ist, haben sämtliche Spezies mitgestaltet, und es war ein Krankheitserreger, der mich in so engen Kontakt mit einer Schnecke gebracht hatte.

Zwar bin ich mir durch meine Krankheit meiner Sterblichkeit immer sehr bewusst, doch ist mir klar, dass es letztlich nicht auf mein Überleben ankommt, nicht einmal auf das meiner Spezies, sondern darauf, dass das Leben als solches sich weiterentwickelt. Welche Spezies werden nach dem rasanten holozänen Massenaussterben noch übrig sein? Und welche neuen Lebewesen werden sich entwickeln, von denen wir überhaupt keine Vorstellung haben – denn wer hätte sich uns schon vorstellen können?

Im Moment können wir Menschen uns glücklich schätzen, diese Erde zusammen mit den Mollusken zu bewohnen, auch wenn wir in deren viel längerer Geschichte eine relativ neue Erscheinung sind. Ich hoffe, dass die Landschnecken, tagsüber in irgendeinem Unterschlupf verborgen, nachts langsam und elegant dahingleitend, noch viele Millionen Jahre ihr geheimnisvolles Leben in den vielfältigen Landschaften dieser Erde fortsetzen werden.