22. Nächtlicher Sternenhimmel
Der Mensch ist herausgehoben, nicht weil
wir
so hoch über anderen Lebewesen stünden,
sondern weil deren gründliche Kenntnis einen
höheren Begriff von Leben schafft.
Edward E. Wilson, Biophilia, 1984
Mein Garten erwachte, und ich lag so oft wie möglich draußen auf einer Chaiselongue, Brandy an meiner Seite. Wir sahen zu, wie sich das Sonnenlicht seinen Weg durch das Geäst des Holzapfelbaums suchte und Blaustern und Krokusse tüpfelte, hielten Ausschau nach den spitzen Nasen aus dem Boden emporlugender Tulpenblätter. Jede Woche blühten weitere meiner mehrjährigen Pflanzen auf, und in der Hecke, die den Garten einfasste, nisteten sich zahlreiche Vögel ein. Die Rubinkolibris kehrten von ihrem Tausende Kilometer entfernten Winterquartier zurück und ließen sich wie jeden Sommer in den alten Apfelbäumen nieder. Sie flitzten zwischen den Blumenbeeten vor dem Haus und der kleinen Mohnwiese dahinter hin und her und konkurrierten in einem uralten speziesübergreifenden Tanz mit den bunten Schmetterlingen um Nektar.
Ich konnte die Augen schließen und spüren, wie mich die Sonne am ganzen Körper wärmte und der Wind über mich hinwegstrich. Das einschläfernde Summen der Bienen und jene seltsamen, gedämpften Insektengeräusche, die von überallher erklingen, erfüllten meine Ohren und vermischten sich in meiner Wahrnehmung mit dem guten, intensiven Geruch erdigen Lebens.
Auf den Frühling folgte der Sommer, auf den Sommer der Herbst, der erste Schnee fiel, und ich dachte immer noch häufig an die Schnecke und ihre Nachkommen. Meine erste Schnecke war eine wunderbare Gefährtin gewesen, sie hatte keine Fragen gestellt, die ich nicht hätte beantworten, und keine Erwartungen an mich gerichtet, die ich nicht hätte erfüllen können. Ich hatte miterlebt, wie sie sich unterschiedlichen Lebensbedingungen angepasst hatte, ohne sich beirren zu lassen. Von Natur aus einzelgängerisch und langsam, hatte sie mich unterhalten und so manches gelehrt, und indem sie mich, still dahingleitend, mit ihrem Anblick erfreute, hatte sie mich durch eine schwere Zeit geführt und mir eine Welt eröffnet, die jenseits meiner Menschenwelt lag. Die Schnecke war mir eine echte Lehrmeisterin gewesen, ihr bescheidenes Dasein hatte mir Kraft gegeben.
An einem späten Winterabend schrieb ich in mein Tagebuch:
Ein letzter Blick in den Sternenhimmel und dann ins Bett. Es gibt viel zu tun, so schnell oder langsam, wie es mir eben möglich ist. Ich muss die Schnecke in Erinnerung behalten. Immer die Schnecke in Erinnerung behalten.