18. Nachkommenschaft
Die Schnecke legt dreißig bis fünfzig Eier
ab,
welche an homöopathische Kügelchen erinnern…
Unter dem Mikroskop betrachtet, biethen die
durchscheinenden Eihüllen einen wunderschönen Anblick,
denn sie sind mit glitzernden Kalkkristallen besetzt,
so daß das Junge in ihrem Innern eine mit Diamanten
besetzte Robe zu tragen scheint.
Ernest Ingersoll, In a Snailery, 1881
An jenem Abend erwartete ich eine Freundin, die von weit her kam, um mich zu besuchen, doch ich konnte an nichts anderes denken als an die verschwundene Schnecke. Also schaute meine Freundin gleich nach ihrer Ankunft ins Terrarium. Sie hob ein Stückchen Moos hoch, und darunter, in einem selbst gegrabenen Loch, saß die Schnecke mit einem weiteren, viel größeren Gelege.
Ich hatte das Terrarium ein wenig austrocknen lassen, so dass die Bedingungen fürs Eierlegen jetzt günstiger waren. Die Schnecke hatte unter dem Moos eine Höhle gegraben und dort, wo sie gut getarnt waren und gleichmäßig feucht blieben, ihre Eier abgelegt. Das Terrarium war der Traum jeder werdenden Schneckenmutter, ein geschützter Ort, um Nachkommen in die Welt zu setzen.
Meine Schnecke hatte die veränderten Feuchtigkeitsverhältnisse wahrgenommen und angemessen darauf reagiert, und das tat sie auch weiterhin – die auf der Erde abgelegten Eier besuchte sie regelmäßig, die vergrabenen hingegen nur wenige Male. Aber warum sollte ein Gastropode nicht genauso kompetent wie ein Homo sapiens für seine Nachkommenschaft sorgen können?
Ich erfuhr später, dass ich möglicherweise der erste Mensch bin, der eine Schnecke bei der Pflege ihrer Eier beobachtet und seine Eindrücke schriftlich festgehalten hat. Malakologen wären vermutlich davon ausgegangen, dass eine Schnecke, die ihre Eier besucht, diese eher fressen als pflegen würde. Da das erste Gelege so klein war und nicht unter, sondern auf der Erde lag, konnte ich sehen, dass nach keinem der Besuche Eier fehlten. In der freien Natur hätte eine Schnecke bei solchen Besuchen eine Spur hinterlassen, die Räuber zu den Eiern hätte führen können, doch meine Schnecke hatte so etwas nicht zu befürchten. Und da sie von ihrer Kolonie getrennt war, kam dem Erhalt ihres Erbguts entscheidende Bedeutung zu, was sie vielleicht zu einer besonders sorgsamen Pflege der Eier veranlasst hatte.
Während Schneckeneier durch zu große Feuchtigkeit gefährdet werden, vertragen sie ein erstaunliches Maß an Trockenheit. «Die Lebensfähigkeit von Schneckeneiern ist nachgerade unglaublich», schreibt Ernest Ingersoll.
Sie wurden so gründlich getrocknet, dass man sie zwischen den Fingern hätte zerkrümeln können, und im Ofen gedörrt, bis sie zu kaum mehr wahrnehmbarer Winzigkeit zusammengeschrumpft waren, doch sobald sie der Feuchtigkeit ausgesetzt wurden, erlangten sie wieder ihr ursprüngliches Volumen, und die Jungen gediehen genauso gut wie sonst.
Durch ihr ausgiebiges Eierlegen verlor meine Schnecke sichtlich an Gewicht – ihr Körper wurde im Verhältnis zum Gehäuse deutlich kleiner. Etwa eine Woche lang schlief sie mehr als sonst, und dann begann sie, mit wahrem Heißhunger Champignons zu fressen.
Ich erlebte nicht mit, wie die Jungen aus dem ersten Gelege schlüpften. Es geschah vermutlich nachts, und ich hätte nicht nur eine Taschenlampe, sondern auch eine Lupe gebraucht, um es zu sehen. Eines Morgens bemerkte ich, dass einige der Eier verschwunden waren, und als ich genauer hinschaute, sah ich ein paar winzige Schnecken herumkriechen; hätten sie sich nicht bewegt, hätte ich sie gar nicht entdeckt. «Die Jungen erscheinen in einer hübschen, blasenartigen Schale», schreibt der Autor von Schnecken und ihre Gehäuse. Ihre Schalen sind durchscheinend und «so zart», wie William Kirby notiert, dass ein «kräftiger Sonnenstrahl ihnen den Garaus macht».
Die Jungen hielten sich gern auf der Unterseite der Muschel auf, wahrscheinlich weil es dort feucht und dunkel war und sie ihren Kalziumbedarf decken konnten. Manchmal schliefen sie unter einer Scheibe Champignon und kamen erst wieder in Sicht, wenn sie abends zum Frühstücken auf die Pilzscheibe kletterten, von dessen weißem Fruchtfleisch sie sich abhoben. Die Anzahl der Jungen erhöhte sich im Lauf der Woche, und mir wurde klar, dass es weitere Gelege geben musste. Vielleicht hatte die Schnecke sie in der ersten Legehöhle abgelegt, denn dorthin kehrte sie mehrmals zurück, wobei ich nicht richtig sehen konnte, was sie da tat. Aber vielleicht gab es auch noch andere Legehöhlen.
Mit fortschreitendem Wachstum der kleinen Schnecken wurden auch ihre Gehäuse größer und weniger durchscheinend. Die einzelnen Gelege mussten im Abstand mehrerer Wochen erfolgt sein, denn die Jungen ließen sich leicht auseinanderhalten. Eines Abends kroch eine der jüngeren Schnecken hinter einem ihrer älteren Geschwister die Glaswand des Terrariums hinauf. Dann kletterte sie auf sein Gehäuse. Die ältere Schnecke drehte sich um und schaute die jüngere an, und die beiden wedelten einander heftig mit ihren Fühlernasen zu, doch es gelang der älteren nicht, die jüngere abzuschütteln. Ein Streit zwischen Geschwistern, so wie es aussah. Ich wollte mich eigentlich nicht einmischen, doch als es mir gelang, mich für einen Moment aufzusetzen, löste ich die kleinere Schnecke vom Gehäuse der größeren und setzte sie neben den Haufen zerdrückter Eierschalen. Dort futterte sie den restlichen Abend lang zufrieden vor sich hin, was mich auf den Gedanken brachte, dass sie sich vielleicht einfach wegen des Kalks auf das Gehäuse ihres Geschwisters gesetzt hatte.
Ich fragte mich, wie lange es wohl dauern würde, bis die kleinen Schnecken ausgewachsen waren. Bei dem Gedanken, mit hundert fruchtbaren Schnecken dazusitzen, wurde mir ganz anders – das galt es dann doch besser zu vermeiden. Highsmiths Erzählung Der Schneckenforscher beginnt mit einer ihrer typischen unheilvollen ersten Zeilen: «Als Peter Knoppert begann, die Beobachtung von Schnecken zu seinem Hobby zu machen, ahnte er nicht, dass aus seiner ersten Handvoll von Exemplaren in kürzester Zeit Hunderte werden würden.»
Während die Notdurft meiner ersten Schnecke kein Problem dargestellt hatte – ab und zu ein kleiner, säuberlicher Schnörkel auf der Muschel oder der Glaswand des Terrariums –, führten die Ausscheidungen so vieler, zumal so schnell wachsender Schnecken zu einem ziemlich sudeligen Gesamtbild.
Ich fragte mich, wie meine eigentlich doch eher einzelgängerische Schnecke mit dieser selbstverschuldeten Bevölkerungsexplosion zurechtkam. In der freien Natur fällt rund die Hälfte der Eier eines Geleges dem Wetter, Räubern oder bereits geschlüpften hungrigen Geschwistern zum Opfer, doch im Terrarium war das natürlich anders. Ich konnte nur raten, wie viele Jungschnecken es insgesamt waren, denn sie zu zählen war unmöglich; tagsüber versteckte sich jede woanders, und nachts waren sie alle zugleich unterwegs. Meine einzelne Schnecke zu beobachten, war ein friedlicher und beruhigender Zeitvertreib gewesen, doch zuzusehen, wie sich diese Unmengen von Nachkommen alle gleichzeitig bewegten, hatte eine geradezu hypnotische Wirkung. Ich musste mir eingestehen, dass es mich überwältigte.
Über mehrere Monate hinweg verbesserte sich mein Zustand allmählich – nicht so grundlegend, dass es von einem Tag auf den anderen oder auch von Woche zu Woche spürbar gewesen wäre, doch immerhin konnte ich jetzt mehrmals am Tag für ein paar Minuten auf einem Stuhl sitzen. Ich wollte versuchen, wieder zu Hause zu wohnen, auch wenn ich mir nicht sicher war, ob ich mit weniger Hilfe zurechtkommen würde. Es war eine gewaltige Herausforderung, weshalb ich beschloss, meine erste Schnecke und einen ihrer Nachkommen bei meiner Pflegerin zurückzulassen. Einige meiner Freunde, fasziniert und amüsiert von meinen begeisterten «Schneckenberichten», adoptierten ebenfalls bereitwillig Jungschnecken. Der Rest der zahlreichen Nachkommenschaft wurde dort ausgesetzt, wo die Mutter herstammte. Und bei dieser Gelegenheit wurde dann auch eine offizielle Zählung durchgeführt: Meine Schnecke hatte hundertachtzehn Nachkommen in die Welt gesetzt.