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Madame Le Cloaguens Rache
F
ür die Öffentlichkeit gehörte diese Untersuchung ganz und gar nicht zu Maigrets sensationellsten Fällen, denn die Zeitungen verloren rasch ihr Interesse an der Wahrsagerin aus der Rue Caulaincourt, nachdem sie anfangs viel Aufhebens von ihr gemacht hatten. Am Quai des Orfèvres dagegen ging die Angelegenheit in allen Einzelheiten und sogar mit einigen Zitaten – wahren und erfundenen – in das Gedächtnis und die Tradition der Institution ein.
Gleiches gilt für das Gewitter, das sich nach mehr als einem Monat Trockenheit und Hitze über Paris entlud.
»Solch ein Gewitter habe ich nur einmal erlebt«, weiß Lucas heute noch zu berichten. »Stellen Sie sich vor, wie wir dort im Salon mit den grünen Samtvorhängen saßen … Auf der einen Seite Janvier und ich, auf der anderen die beiden Frauen und der alte Mann …«
Zwanzig Minuten mochte es her sein, daß Maigret im Gefolge des Wirts von gegenüber gegangen war, und schon wurde Madame Le Cloaguen ungeduldig, stand auf und stellte sich ans Fenster, eine Hand am Vorhang, in der Haltung, die sie wohl eingenommen hatte, wenn sie nach den Beamten Ausschau hielt, die das Haus überwachten.
Ein Windstoß fuhr durch den Boulevard des Batignolles, wirbelte den Staub bis zu den Fenstern des dritten Stocks empor, rüttelte an den Markisen der Cafés, und plötzlich prasselte es nieder, zerplatzte auf der Straße, wurde auf den Bürgersteigen zur reißenden Flut, jagte die Passanten in allen Richtungen davon, versah die Taxis mit Schnurrbärten aus Wasser und verwandelte sie in Motorboote.
Nur das Gesicht von Madame Le Cloaguen, die dicht am Fenster stand, war noch deutlich im Halbdunkel des Zimmers zu erkennen. Lucas gedachte gerade voller Mitleid der Männer, die mit solchen Frauen geschlagen sind, als sie wütend zu ihm herumfuhr, auf den Boulevard zeigte und ausrief:
»Wohin geht er?«
Tatsächlich hatte Maigret die kleine Fernfahrerkneipe verlassen, schlug seinen Mantelkragen hoch und eilte in Richtung der Place Clichy davon, offensichtlich auf der Suche nach einem Taxi.
Daraufhin tat die Frau einen der Aussprüche, die dem klassischen Zitatenschatz des Quai des Orfèvres einverleibt werden sollten:
»Ich hoffe, er hat uns nicht vergessen!«
Das war der erste Zwischenfall, ein Zwischenfall von eher komischer Natur, während jener denkwürdigen Wartezeit. Lucas, krampfhaft bemüht, es Maigret in jeder Hinsicht gleichzutun, stopfte sich mit betonter Ruhe eine Pfeife. Dann bemerkte er den Blick des Alten, erinnerte sich, daß dieser Tabak kaute, und reichte ihm seinen Beutel.
»Ich muß austreten«, flüsterte der Alte mit den hellen Augen. »Wollen Sie mitkommen?«
Aber sicher! Lucas kam mit. Er hinderte den Alten sogar daran, die Tür zu schließen.
»Würden Sie wohl einen Augenblick mit in mein Zimmer kommen?«
Und aus den Tiefen eines Schrankes, aus einem alten, ausgetretenen Schuh zog er eine alte Pfeife mit abgebrochenem Mundstück hervor.
»Verstehen Sie? Jetzt haben sie mir nichts mehr zu sagen! Darf ich nun Ihren Tabaksbeutel nochmals haben?«
Er legte Wert darauf, daß es im Salon vor den beiden Frauen geschah. Betont langsam stopfte er die Pfeife und strich das Streichholz an, das der Beamte ihm reichte.
Madame Le Cloaguen war am Ende ihrer Geduld.
»Ich sehe wahrhaftig keinen Grund dafür, daß man uns hier warten läßt.«
Doch ihre Leiden begannen erst. Die Minuten verstrichen und die alte Pfeife erfüllte den Salon mit ihrem Gestank. Ein Fensterladen schlug gegen die Fassade, der Regen prasselte nieder, die Menschen eilten immer noch im Laufschritt durch die Straßen oder drängten sich im Schutz der Hauseingänge zusammen. Endlich, nach einer knappen Stunde, hielt ein Taxi vor dem Haus, jemand stieg aus, die Schritte zweier Menschen auf der Treppe, dann ertönte die elektrische Türglocke. Janvier ging öffnen.
»Sie sind’s, Herr Richter? Treten Sie ein! … Nein, er ist nicht hier. Er ist nach drüben gegangen, um zu telefonieren, dann ist er in Richtung Place Clichy gelaufen.«
Der Untersuchungsrichter, der von einem hochaufgeschossenen, mageren Schreiber begleitet wurde, setzte sich, nachdem er die beiden Frauen verlegen begrüßt hatte, denn er wußte von nichts. Maigret hatte ihm nichts gesagt, sondern ihn lediglich gebeten, sich mit seinem Schreiber zum Boulevard des Batignolles zu begeben.
Der Salon, in dem es schon normalerweise dämmrig war, war finster geworden. Von Zeit zu Zeit ließ ein besonders greller Blitz die Anwesenden zusammenfahren. Die einen wie die anderen saßen sie reglos da, wie in einem Eisenbahnabteil, schweigsam wie im Wartezimmer eines Arztes. Sie beobachteten sich. Lucas reichte seinen Tabak dem Alten, der die erste Pfeife beendet hatte und sich mit kindlicher Freude die zweite stopfte.
Janvier sah zur Uhr, und fortan wurde die allgemeine Reglosigkeit nur noch durch diese Bewegung unterbrochen – bald war es der Richter, bald der Schreiber, der sie ausführte.
Sieben Uhr. Halb acht. Und plötzlich die noch immer ein wenig eingeschüchterte Stimme von Octave Le Cloaguen. Er wandte sich an Lucas, als sei der Richter eine zu wichtige Persönlichkeit für ihn.
»In dem Schrank dort ist eine Flasche Portwein. Aber sie hat den Schlüssel!«
Ein haßerfüllter Blick. Wortlos ging Madame Le Cloaguen einen Schlüssel aus ihrer Handtasche holen und legte ihn auf den Tisch.
»Ein Glas Portwein, Madame?«
»Nein, danke.«
Das junge Mädchen, das sich weniger in der Gewalt hatte, murmelte:
»Ich glaube, ich nehme ein Gläschen.«
Das war die Lage um acht Uhr, als Lucas sich dazu entschloß, Licht zu machen, weil man endgültig nichts mehr erkennen konnte. Lucas hatte Hunger, Janvier ebenfalls. Es klingelte, und Lucas, der öffnen ging, hörte als erster Maigrets Stimme auf dem Treppenabsatz.
»Treten Sie ein, Madame!«
Zögernd trat eine kleine, alte Dame ein. Das schwarze Kleid war adrett, ja hübsch, ihr Gesicht erstaunlich jung für ihr Alter. Von den reglosen Gestalten verwirrt, sah sie zunächst nur Madame Le Cloaguen. Beide Hände auf dem silbernen Verschluß ihrer Handtasche, trat sie zwei oder drei Schritte vor und sagte mit einer Stimme, aus der alter, unversöhnlicher Groll herausklang:
»Guten Abend, Antoinette.«
Maigrets Kleidung glänzte wie ein nasser Regenschirm, und er hinterließ eine feuchte Spur auf dem gebohnerten Parkett. Der Kommissar gab keine Erklärung ab. Lediglich den Richter und den Schreiber begrüßte er mit einem kurzen Nicken.
»Wenn dieser liebenswürdige Herr hier nicht darauf bestanden hätte, daß ich komme, wäre ich nach allem, was gewesen ist …«
Doch dann erblickte sie, halb umgewendet, endlich den Alten. Sie öffnete den Mund, setzte zum Sprechen an, zu einer Begrüßung, aber sie brachte kein Wort heraus. Sie kniff die Augen zusammen, öffnete in fieberhafter Eile ihre Handtasche und entnahm ihr eine Brille.
Es war deutlich, daß sie nichts mehr verstand, daß sie sich für das Opfer eines Schwindels hielt.
»Hören Sie, das ist nicht Octave! Sie wissen genau, daß das nicht mein Bruder ist! Mein Himmel, und ich habe mich immer gefragt …«
»Setzen Sie sich, Madame … Herr Richter, darf ich Sie mit Madame Catherine Biron, geborene Le Cloaguen, bekanntmachen, von deren Existenz ich durch die Polizei in Saint-Raphaël erfahren habe … Setzen Sie sich, Madame, ich bitte Sie, und machen Sie sich um den Herrn Pfarrer keine Sorgen. Wir werden Sie nicht lange aufhalten …
Sie müssen wissen, Herr Richter, daß sie nach dem Tod ihres Gatten – eines unbescholtenen Mannes, seines Zeichens städtischer Angestellter in Saint-Denis – fast mittellos dastand, so daß sie als Haushälterin in die Dienste eines alten, fast gelähmten Domherren trat. Sie pflegt ihn mit bewundernswerter Aufopferung …
Würden Sie uns bitte von ihrem Bruder Octave erzählen, Madame Biron?«
Die beiden Frauen maßen sich mit den Blicken. Mit gedämpfter Stimme – das Ergebnis unzähliger Kirchenbesuche – berichtete die Pfarrershaushälterin, wobei sie sich Zeit ließ und viele Pausen einlegte.
»Unsere Eltern waren nicht reich. Sie waren gute Menschen und haben meinen Bruder unter großen Opfern Arzt werden lassen. Er ist viel gereist. Als er das Glück hatte, einem sehr reichen Mann einen Dienst erweisen zu können, hat sich dieser erkenntlich gezeigt. So konnte mein Bruder sich zur Ruhe setzen und heiraten. Ich muß gestehen, er war uns gegenüber sehr großzügig …«
»Einen Moment! Wollen Sie damit sagen, daß er Ihnen regelmäßig Geld geschickt hat?«
»Nicht regelmäßig. Damit wäre mein verstorbener Mann nicht einverstanden gewesen. Aber er hat uns bei jeder sich bietenden Gelegenheit Geschenke gemacht. Als ich vor fünfzehn Jahren meine schlimme Bronchitis hatte, hat er mich in seiner Villa in Saint-Raphaël aufgenommen. Aber man hat mir deutlich zu verstehen gegeben, daß ich störte.«
Es war auch an dem Blick zu merken, den sie Madame Le Cloaguen zuwarf.
»Mein Bruder hatte in seinem eigenen Haus nicht viel zu sagen, und ich bin fest davon überzeugt, daß er der Zeit nachtrauerte, als er noch zur See fuhr. Er hatte sich ein kleines Boot gekauft und seine einzige Leidenschaft war, ganz allein aufs Meer hinauszufahren und zu fischen. Dort hatte er wenigstens seine Ruhe.«
»Wurde in der Villa großer Aufwand getrieben?«
»Ich glaube, es gab dort – warten Sie – zwei Dienstboten.«
»Also alles in allem ein sorgenfreies Dasein mit dieser Pension von zweihunderttausend Francs.«
»Gut möglich. Ich habe nie zweihunderttausend Francs zum Ausgeben gehabt.«
»War Ihr Bruder bei guter Gesundheit?«
»Sein Blutdruck war etwas zu hoch. Aber ich glaube nicht, daß er krank war. Was ist mit ihm geschehen?«
Alle wandten sich Madame Le Cloaguen zu, die mit zusammengekniffenen Lippen in trotzigem Schweigen verharrte.
»Hätte die Frau Ihres Bruders irgendein Interesse daran gehabt, Ihren Bruder umzubringen?«
»Das kann man nie wissen. Trotzdem glaube ich es nicht, da die Rente nur zahlbar war, solange er lebte.«
»Sie haben uns nichts zu sagen, Madame Le Cloaguen?«
In diesem Augenblick begegnete Maigret dem haßerfülltesten Blick, der ihm je zuteil geworden war. Soviel Haß lag darin, daß er sich ein Lächeln nicht verkneifen konnte.
»Na gut«, erklärte er. »dann werde ich Ihnen die Sache ein bißchen erläutern, Herr Richter … Gib mir ein Glas, Lucas. Gibt es in diesem Hause nichts Stärkeres?«
Woraufhin der Alte einwarf:
»In ihrem Zimmer muß eine halbe Flasche Kognak stehen.«
Im Zimmer von Antoinette Le Cloaguen wohlgemerkt.
»Die Geschichte ist in wenigen Worten erzählt. Le Cloaguen genießt in Saint-Raphaël das sorglose Dasein eines Mannes, der zweihunderttausend Francs im Jahr ausgeben kann. Ich habe die Bank angerufen. Vor zehn Jahren beliefen sich seine Ersparnisse nur auf einige zehntausend Francs. Doch da stirbt er plötzlich. Vielleicht wird die Witwe Le Cloaguen eines Tages geruhen, uns mitzuteilen, woran er gestorben ist. Hat er beim Fischen zuviel Sonne abgekommen und einen Hitzschlag erlitten? …
Jedenfalls sind seine Frau und seine Tochter fortan ohne Vermögen. Es gibt Menschen, Herr Richter, die sich mit einer solchen Zukunftsperspektive nicht abfinden können.
Nun will aber der Zufall, daß sich im Hafen von Cannes eine Art Clochard herumtreibt, ein Mann von bescheidener Intelligenz, der völlig harmlos ist und eine verblüffende Ähnlichkeit mit dem ehemaligen Schiffsarzt aufweist.«
Der falsche Le Cloaguen lächelte, keineswegs gekränkt von dieser Einschätzung seiner Intelligenz.
»Nun hat die Polizei von Saint-Raphaël aufgrund von Hinweisen, die ich ihr geben konnte, soeben die sterblichen Überreste des wirklichen Le Cloaguen entdeckt, eingemauert in einem Keller der Villa. Das ist alles … Halt, ein Detail bleibt nachzuliefern: Als man dem alten Clochard ein bequemes und sorgenfreies Leben unter dem Namen eines anderen anbietet und als der arme Teufel, der es satt hat, im Hafen herumzulungern und unter freiem Himmel zu schlafen, einwilligt, sieht man sich unverhofft einem neuen Hindernis gegenüber. Wie soll er die jährlichen Zahlungen des Anwalts quittieren, ohne sich zu verraten? Vergeblich mühen sich die Damen, ihn die Unterschrift des Toten fälschen zu lassen. Er kann kaum den eigenen Namen kritzeln!
Deshalb zwingen sie ihn, sich ein Glied des rechten Zeigefingers abzuhacken, womit eine ausreichende Entschuldigung zur Hand ist.
Nun kennen ihn aber zu viele Leute an der Côte d’Azur. Deshalb zieht die Familie nach Paris.
Die Schwester hätte den Schwindel entdecken können. Sie tragen Sorge, diese Frau, die ihren Stolz hat, so zu kränken, daß sie alle Beziehungen zum Bruder und seiner Familie abbricht.«
»Diese Person«, murmelte Madame Biron, »hat mich in einem Brief als Bettlerin bezeichnet. Ich habe meinem Bruder geschrieben, aber er hat mir nie geantwortet. Jetzt weiß ich warum. Damals habe ich gedacht, sie hätte ihn eben ganz unter ihre Fuchtel bekommen.«
»Geld. Verstehen Sie? Nur ums Geld geht es in dieser miesen Geschichte. Die mieseste, die mir je untergekommen ist. Stellen Sie sich vor, sie mußten die Leiche verschwinden lassen! Die Gestalt des Clochards, die ein wenig schief war, mußte verändert werden. Leider war die eine Schulter nämlich höher als die andere.
Er kann kaum lesen und schreiben. Sie geben ihm Grammatik- und Rechenunterricht. Da die Leute sich gewundert hätten, daß ein ehemaliger Schiffsarzt so ungehobelt ist, verbreiten sie, er sei übergeschnappt, schrullig, halb verrückt. Das Leben im Fernen Osten lieferte eine ausgezeichnete Entschuldigung.«
Mit plötzlichem Ekel blickte der Kommissar in die Runde.
»Am abscheulichsten ist, daß es ihnen noch nicht einmal darum geht, sich mit dem Geld ein schönes Leben zu machen. Der zweite Le Cloaguen kann sterben wie der erste, und noch ein Ersatzmann wird sich nicht auftreiben lassen. Fortan wird also jeder Sou dreimal umgedreht. Sie versuchen, fast das ganze Jahreseinkommen, die gesamten zweihunderttausend Francs auf die Seite zu legen. In zehn Jahren haben die Damen auf diese Weise fast anderthalb Millionen gespart, nicht wahr, Madame Le Cloaguen? …
Und Sie, Picard?«
Der Alte schien gerührt, bei seinem richtigen Namen gerufen zu werden.
»Sie, der Sie Ihr Erstgeburtsrecht für ein Linsengericht verkauft haben … Sie haben ein Bett, gewiß. Man gibt Ihnen zu essen, denn Sie sollen ja am Leben bleiben. Aber keinen Tabak, denn der richtige Le Cloaguen hat nicht geraucht. Keinen Alkohol: er verabscheute ihn. Kein gar nichts! Sie sind wie ein Hund an der Leine, und Ihre einzige Abwechslung besteht darin, wie einst durch die Straßen zu laufen. Sobald Sie nach Hause kommen, werden Sie eingesperrt. Beim jährlichen Besuch des Anwalts werden Sie ins Bett gelegt und gepflegt. Die Damen berichten dem Anwalt, daß Sie krank sind, und sorgen dafür, daß es im Zimmer so dunkel wie möglich ist.
Trotzdem ist es Ihnen gelungen, Ihren Wächterinnen ein Schnippchen zu schlagen. Trotzdem haben Sie bis zuletzt ein Geheimnis bewahrt.«
Gerührt wandte Picard den Kopf ab. Wohl um die Tränen zu verbergen, die ihm in die Augen traten.
»Aus einer lange zurückliegenden Ehe hatten Sie eine Tochter. In Paris haben Sie sie wiederentdeckt. Jede Woche haben Sie sie besucht. Diese Tochter arbeitete in der Rue Caulaincourt als Wahrsagerin.«
Immer noch das staubige Licht des Lüsters, die flächigen Schatten, die Gesichter, die verschwammen wie auf nachgedunkelten Gemälden im Museum. Maigret war verstummt. Unbehaglich schlug der Richter die Beine übereinander, nahm sie wieder auseinander, fragte schließlich zögernd:
»Madame Le Cloaguen, Sie haben Mademoiselle Jeanne getötet?«
»Das ist nicht wahr!«
»Madame Le Cloaguen, Sie sind Ihrem falschen Ehemann in die Rue Caulaincourt gefolgt und haben sich Zutritt zur Wohnung im Hause 67a verschafft?«
»Das ist nicht wahr!« wiederholte sie.
»Geben Sie zu, daß Sie den Leichnam Ihres richtigen Ehemannes in den Keller Ihrer Villa in Saint-Raphaël eingemauert haben?«
»Na und?«
»Geben Sie zu, daß Sie unrechtmäßig eine Rente bezogen haben, auf die Sie keinen Anspruch mehr hatten?«
»Davon weiß ich nichts. Ich habe das Geld nicht bekommen. Der Anwalt hat es diesem Mann ausgehändigt. Damit habe ich nichts zu tun. Ich weiß genau, worauf ich mich eingelassen habe.«
»Mein Gott! Mein Gott!« stammelte die Pfarrershaushälterin, entsetzt von so viel Unverfrorenheit.
Und selbst die anwesenden Männer, die wirklich schon einiges erlebt hatten, sahen sich verblüfft an, als die Le Cloaguen, so mager und nervös sie auch war, kaltblütig erklärte – vom Scheitel bis zur Sohle eine Frau, die wußte, was sie sagte, die alle Erkundigungen eingezogen, alle Vorsichtsmaßregeln getroffen hatte:
»Sie wissen genau, daß ich mich da auf kein großes Risiko eingelassen habe. Eine Geldstrafe zwischen sechzehn und fünfzig Francs und eine Gefängnisstrafe zwischen sechs Tagen und zwei Monaten. Paragraph 368 des Strafgesetzbuches.«
Sie war stolz auf sich. So sehr, daß sie ein Zittern ihrer Lippen nicht zu unterdrücken vermochte – ein Zeichen ihres Hochmuts.
»Ich wußte nicht, daß dieser Mann eine Tochter hatte und sie besuchte. Was meinen Mann angeht, so weiß ich nicht, was für einen Unterschied es ausmacht, ob er auf einem Friedhof begraben ist oder …«
»Schweigen Sie, Sie unglückseliges Geschöpf!« rief Madame Biron aus, die sich nicht mehr im Zaum halten konnte. »Merken Sie denn nicht, daß Sie ein Ungeheuer sind, daß noch keine Frau, kein Geschöpf Gottes je so entsetzliche Dinge gesagt hat? Wenn ich mir vorstelle, daß mein armer Octave … Herr Kommissar, ich kann nicht mehr, ich brauche frische Luft.«
Tatsächlich war ihr alles Blut aus dem Gesicht gewichen, und auf ihrer Oberlippe standen Schweißperlen. Maigret öffnete das Fenster. Der grüne Vorhang blähte sich, ein Luftstrom strich über die Gesichter, unvermittelt drang der grollende Donner in den Salon, in dem alles Leben erstorben schien.
»Und nun, Maigret?« schien der Richter interessiert zu fragen.
Ihm kam es vor, als wäre der Kommissar nicht so sicher wie sonst. Langsam seine Pfeife rauchend, baute er sich vor Madame Le Cloaguen auf, bedrohlich massig, mit steinernem Gesicht.
»Sie haben Recht, Madame. Das Gesetz vermag Ihnen nicht viel anzuhaben. Und trotzdem, in meiner ganzen Berufszeit habe ich noch nicht erlebt, daß jemand die Geldgier so auf die Spitze getrieben hat und sich von ihr zu so schändlichem Tun hat hinreißen lassen. Mir wäre es fast lieber, wenn Sie Le Cloaguen in einem Wutanfall umgebracht hätten.«
Hinter ihm ertönte ein Schrei. Madame Biron verstand die Welt nicht mehr.
»Entschuldigen Sie, Madame Biron. Es gibt Dinge, die herausmüssen. Der Untersuchungsrichter hat eben von der armen Frau gesprochen, die unter sehr seltsamen Umständen in der Rue Caulaincourt ermordet worden ist. Madame Le Cloaguen könnte mit einem Wort Licht in das Dunkel bringen, so daß wir den Mörder in wenigen Minuten hinter Schloß und Riegel hätten. Oder irre ich, Madame?«
Sie musterte ihn. Für den Bruchteil einer Sekunde zögerte sie. Dann verhärteten sich ihre Züge noch mehr, soweit das überhaupt möglich war, und sie sagte:
»Nein!«
»Erzählen Sie!«
»Ich werde nichts sagen. Hören Sie?«
Und plötzlich ging eine Wandlung mit ihr vor. Sie ließ ihrer Wut freien Lauf und wurde zur Furie.
»Niemals, hören Sie? Ich werde nichts sagen, weil ich Sie hasse, ja Sie, Herr Kommissar, mehr als alles in der Welt! Von dem Tage an, da Sie das erste Mal Ihren Fuß in diese Wohnung gesetzt und mich angesehen haben. Ich hasse Sie! Ich hasse Sie! Und ich werde Ihnen nichts sagen. Sie werden gar nichts herausfinden! Ich werde meine zwei Monate absitzen, na gut, aber Sie … Sie …«
»Wem haben Sie die zweihunderttausend Francs gegeben?«
»Ich werde es nicht sagen.«
Zu spät besann sie sich.
»Welche zweihunderttausend Francs?«
»Die, die sie am Samstag von Ihrem Konto abgehoben haben.«
Sie antwortete nicht.
»Wo sind Sie am Sonntag zwischen zehn Uhr morgens und vier Uhr nachmittags gewesen?«
Sie betrachtete ihn mit wildem Hohn. Maigret begriff, daß sie nicht zu viel versprochen hatte, daß eine Frau wie sie tatsächlich in der Lage war zu schweigen, daß kein Verhör ein Wort aus ihr herausbringen würde.
»Herr Richter, seien Sie so freundlich und stellen Sie einen Haftbefehl für diese Frau und ihre Tochter aus.«
»Meine Tochter? Was hat meine Tochter damit zu tun? Sie wissen genau, Herr Richter, daß Sie kein Recht dazu haben. Ich habe niemanden umgebracht, der Kommissar hat es selbst gesagt. Und als ich meinen Mann heimlich begraben habe – das einzige, was man mir vorwerfen kann –, war meine Tochter noch minderjährig. Sie war ein Kind, Sie haben kein Recht. Ich wiederhole …«
Tragödie und Burleske lösten sich von Minute zu Minute, von Sekunde zu Sekunde ab. Sie hatten einen Menschen vor sich, der entschlossen war, sich mit Zähnen und Klauen zu verteidigen.
»Ich habe diese Frau nicht getötet. Ich habe sie noch nicht einmal gekannt.«
»Wer hat sie dann getötet?«
»Ich weiß gar nichts. Ich werde nichts sagen. Ich hasse Sie! Sie sind ein Ungeheuer.«
Maigret, das Ungeheuer, goß sich einen Kognak ein und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Immer noch haftete auf ihm dieser zweifelnde Blick des Untersuchungsrichters, der eben noch geglaubt hatte, den Fall in der Tasche zu haben, und sich jetzt darüber klar wurde, daß die Situation nie ungewisser gewesen war.
»Lucas, schaff die Alte fort!«
Die Alte. Maigret hatte es absichtlich gesagt. Was ihm erneut einen haßerfüllten Blick eintrug.
»Janvier, du kümmerst dich um die Tochter … Achtung, Lucas! Janvier!«
Madame Le Cloaguen war nämlich zum offenen Fenster gestürzt. Doch nicht um ihrem Leben ein Ende zu bereiten, wie der Kommissar wohl befürchtet hatte, sondern weil sie so außer sich vor Wut war, daß sie hoffte, einen Skandal provozieren zu können. Sie wollte schreien, um Hilfe rufen, ohne daran zu denken, daß keine Katze mehr auf dem Boulevard des Batignolles war, wo der Grünsteifen unter den Bäumen von Flüssen durchzogen war wie eine Reliefkarte.
»Die Handschellen, Lucas! Janvier, schließ das Fenster!«
Ein Lachen, ein nervöses Lachen, das gleichfalls voll dramatischer Spannung war. Der alte Clochard konnte nicht mehr an sich halten, Tränen lachte er beim Anblick der Furie, die ihn so lange terrorisiert hatte und sich jetzt mit Lucas balgte, um sich schlug, kratzte und mit den Füßen trat.
Nicht in seinen kühnsten Träumen hätte er sich diese Szene vorgestellt.
»Ich wünsche, ich verlange auf der Stelle einen Anwalt zu sprechen. Niemand hat das Recht …«
Der Abend sollte nicht enden, ohne daß die Groteske ihren Höhepunkt erreichte. Es klingelte. Es hatte geklingelt. Maigret ging zur Tür und öffnete.
»Verzeihung. Ist meine Freundin nicht da?«
Eine Dame mittleren Alters in großer Aufmachung, gefolgt von einem aufgeschossenen, schüchternen jungen Mann. Erstaunt betrachtete sie die seltsamen Gäste, die da wie erstarrt im Salon versammelt waren. Sie erblickte Madame Le Cloaguen und eilte auf sie zu, ein entzücktes Lächeln auf ihrem Gesicht.
»Meine liebe Antoinette. Stell dir vor, bei diesem Gewitter …«
Jäh war sie stehengeblieben. Die Hände, die sie überschwenglich drücken wollte … Was sollten die Handschellen?
»Aber … aber …«
Sie begriff. Diese Männer waren von der Polizei. Und sie, die eine Cascurant de Nemours war, die ihren Sohn fast verheiratet hätte mit einer …
»Komm Germain! Das ist doch … das ist …«
Kein Wort, das stark genug für ihre Empörung gewesen wäre. Ein Hinterhalt war das! Ein … Fehlten nur noch die Journalisten und Fotografen! Und wenn man sie nicht gehen ließe? Wenn ihr Name morgen in den Zeitungen stünde?
Sie hatte nur noch den einen Gedanken, ohne Zwischenfall das Treppenhaus zu erreichen, und schon stürzte sie die Treppe hinunter, ihren Sohn hinter sich herziehend.
Maigret drückte mit dem Zeigefinger etwas Tabak in seine Pfeife und blickte sich ein letztes Mal im Zimmer um. Er sah Lucas und Janvier an.
»Gehen wir, Kinder!«
Die alte Dame fragte sich, ob man sie hier vergessen werde, aber er beruhigte sie.
»Sie, Madame, bringe ich, wenn Sie gestatten, in einem Taxi zurück.«
So fürsorglich, wie ein Sohn zu seiner alten Mutter war.