7

Das Schweigen des Kommissars

O

nein, Herr Richter, Maigret befriedigt keine Rachegelüste. Nicht verärgert, nicht wütend ist er, sondern besorgt. Das Herz ist ihm schwer, und doch hat er das Gefühl, er beginne allmählich zu verstehen. Deshalb schweigt er!

Sie dagegen reden und reden. Reden, um Ihre Verlegenheit zu kaschieren, um irgend jemanden dazu zu bringen, Ihnen endlich zu sagen, daß Sie recht haben oder doch zumindest nicht unrecht gehabt haben.

Maigret nimmt Ihnen die Selbstgefälligkeit, die mit einer Spur von Ironie versetzte Befriedigung nicht übel, mit der Sie ihn am Morgen über die von Ihnen angeordneten Maßnahmen in Kenntnis gesetzt haben.

»Die Polizei ist kein Verein für Chorknaben …«

Ebensowenig ist die Untersuchung eines Kriminalfalls eine Aufgabe für junge Mädchen. Und moralisch gesehen sind Sie, Herr Richter, im Vergleich zu Maigret ein junges Mädchen. In Büchern haben Sie viel über die menschliche Seele gelesen. Sie könnten es auswendig hersagen. Aber das zählt nicht. Der Beweis dafür ist, daß Sie eben noch rot geworden sind und noch immer zittern.

»Sehen Sie sich das an, Maigret! Ein Mensch, der in einem solchen Zimmer lebt, muß einfach verrückt sein. Geben Sie zu, daß …«

Warum? Warum verrückt? Was hatte Maigret in den dreißig Jahren seines Berufs nicht alles gesehen! Er kannte den Geruch menschlicher Leidenschaften, Laster, Verbrechen, Zwangsvorstellungen – all die vielen Möglichkeiten der gärenden menschlichen Seele.

»Kein vernünftiger Mensch, der in einer so behaglichen, ich möchte fast sagen luxuriösen Wohnung lebt und der einmal einen so interessanten Beruf ausgeübt hat, wird bereit sein …«

Maigret schwieg. Seit sich die Psychiater unter Händeschütteln verabschiedet hatten, war der Untersuchungsrichter von nervöser Unruhe ergriffen, während sich Madame Le Cloaguen und ihre Tochter im Salon zu seiner Verfügung hielten.

Auf seine Anweisung hin war Janvier heraufgerufen worden, der auf dem Boulevard des Batignolles Posten bezogen hatte. Der Richter hatte gefragt:

»Hören Sie, mein Lieber, sind Sie sicher, daß Sie die Eingangstür dieses Gebäudes keinen Augenblick aus den Augen gelassen haben?«

»Ja. Abgesehen von ungefähr einer Viertelstunde. Kurz nach halb eins. Ich mußte die Kriminalpolizei anrufen, um Bericht zu erstatten.«

»Nun, mein Lieber, das war ein Fehler. Sie hätten einen anderen Weg finden müssen. Ich weiß zwar nicht welchen, das ist Ihre Aufgabe, aber observieren heißt nun einmal observieren …«

Maigret lächelte noch nicht einmal. All das war ohne Bedeutung.

»Ich nehme an, Sie haben daran gedacht, die Concierge zu fragen, ob das Gebäude einen zweiten Ausgang besitzt?«

»Es gibt keinen, Herr Richter.«

»Sagen Sie, Maigret, mir kommt da ein Gedanke. Nicht daß ich daran zweifle, daß Le Cloaguen, in die Enge getrieben, das Weite gesucht hat, als Ihr Inspektor telefoniert hat, aber wir dürfen in einer so ernsten Angelegenheit wie dieser nicht die geringste Möglichkeit außer acht lassen. Der Inspektor könnte alle Mieter im Haus aufsuchen und um die Erlaubnis bitten, die Wohnungen zwar nicht zu durchsuchen, aber doch einen Blick hineinzuwerfen … Sehr nett von Ihnen, mein Lieber.«

Maigret schwieg. Die Hände in den Taschen, hatte er seine Pfeife ausgehen lassen, was selten vorkam. Während es den Richter umhertrieb, starrte er auf den grauen Fußboden.

Janvier kam von seinem Rundgang durchs Haus zurück, natürlich ohne Erfolg. Der Richter verlor allmählich die Fassung.

»Wir müssen diesen Mann unbedingt fassen! Stellen Sie sich vor, Maigret, ein Verrückter, ein Verrückter, der schon einen Mord begangen hat, spaziert ungehindert durch die Straßen von Paris!«

Er rief Madame Le Cloaguen.

»Sagen Sie, Madame, hatte Ihr Mann Geld bei sich?«

»Nein, Herr Richter.«

»Sind Sie sicher?«

»Ganz sicher.«

»Haben Sie gehört, Maigret? Er hat kein Geld bei sich! Trotzdem muß er essen. Spätestens heute abend hat er Hunger. Er muß irgendwo schlafen! Wie verschafft er sich das notwendige Geld? Begreifen Sie, was ich sagen will? … Madame, würden Sie mir bitte ein Bild Ihres Manes aushändigen?«

Maigret schwieg, und sein Schweigen hatte etwas Beeindruckendes. Der Untersuchungsrichter wußte sich nur noch mit spektakulären Maßnahmen zu helfen: das Foto, das in allen Zeitungen veröffentlicht wurde, das in Tausenden von Exemplaren an alle Kriminalbeamten, Streifenpolizisten, Grenzposten ausgegeben wurde.

»Ich glaube, es gibt kein Foto von meinem Mann.«

»Hören Sie! Es muß kein großartiges Porträtfoto sein, noch nicht einmal eine Aufnahme jüngeren Datums. Irgend etwas wird sich doch auftreiben lassen. Sehen Sie einmal nach! In seinem Paß zum Beispiel!«

»Seit dreißig Jahren, seit mein Mann Frankreich nicht mehr verlassen hat, ist sein Paß nicht mehr verlängert worden. Wenn Sie ihn nicht in seinem Zimmer finden, ist er nicht mehr da.«

Der Richter sah Maigret an. In dessen Augen zeigte sich ein Funke von Interesse, den der Beamte aber nicht verstand, denn hätte er ihn verstanden, hätte er sich die ganze überflüssige Aufregung ersparen können.

»Maigret, würden Sie bitte dem Fahndungsdienst sofort Octave Le Cloaguens Beschreibung durchgeben und anordnen, daß …«

Aber ja doch! Maigret tat alles, was man von ihm verlangte. Ohne nachzudenken. Er witterte das Drama, das wahre, das nicht auf den Straßen von Paris und an den Grenzen zu finden war.

Während er sich zum Telefonapparat begab, der im Vorzimmer an der Wand hing, spürte er den Blick von Madame Le Cloaguen auf sich gerichtet, nahm er im Vorbeigehen den Umriß von Gisèle Le Cloaguen wahr und erinnerte sich …

Er erinnerte sich an den Schweißtropfen, der im Taxi auf die Hand des Alten gefallen war, an den Schweiß, der dem Mann auf der Stirn gestanden hatte.

Wann war das gewesen? Erst zu dem Zeitpunkt, da sich das Taxi dem Haus am Boulevard des Batignolles genähert hatte!

Vor dem Leichnam in der Rue Caulaincourt, in den Zimmern, die noch voller Blutflecken waren, hatte der Alte keine Angst gezeigt. Er war wie erschlagen gewesen, aber Angst hatte er nicht gehabt.

Und am Vortag in Maigrets Büro am Quai des Orfèvres schien ihm der Gedanke, ins Gefängnis zu gehen, Erleichterung zu verschaffen.

»Hallo! Die Fahndung? … Sind Sie’s, Maniu? … Geben Sie bitte wie üblich folgende Beschreibung aus … Bei der Verhaftung des Gesuchten ist mit aller gebotenen Vorsicht vorzugehen … Ja, der Richter wünscht, daß er als gefährlich eingestuft wird.«

Maniu am anderen Ende der Leitung entging nicht, daß diese Bemerkung vor Ironie triefte, denn er wußte, was Maigret davon hielt, wenn sich Richter in laufende Untersuchungen einschalteten.

»Ist er Ihnen durch die Lappen gegangen?«

»Es scheint so.«

Hinter seinem Rücken stand die Frau. Er drehte sich um und sah ihr in die Augen, so unverwandt, daß sie plötzlich ein nervöses Zittern nicht unterdrücken konnte.

Draußen wiederholte der Richter:

»Ich bin buchstäblich schreckensstarr bei dem Gedanken, daß dieser Mann irgendwo herumläuft, gewiß bewaffnet und wild entschlossen, seine Haut zu retten. Sie müssen zugeben, Maigret, es war höchst unglücklich, daß Ihr Inspektor seinen Posten verlassen hat, um zu telefonieren! Wir hatten den Mörder, seine Flucht ist ein Eingeständnis … Und jetzt? Fahren Sie zum Quai des Orfèvres zurück?«

»Ich weiß nicht.«

»Was wollen Sie tun?«

»Ich weiß noch nicht.«

»Das hat Sie wohl getroffen, nicht?«

Wozu sich streiten? Maigret schwieg! Und er schwieg immer noch, als sich ein kleinlauter Janvier auf dem Bürgersteig zu ihm gesellte. Erst viel später, als sie ein Bier auf der Terrasse des kleinen Restaurants gegenüber tranken, murmelte Maigret:

»Mach dir nichts draus!«

»Und wenn es Stunk gibt?«

»Dann ist auch nichts dran zu ändern.«

»Haben Sie eine Idee?«

Maigret schwieg. Er stopfte seine Pfeife, zündete sie an und sah zu, wie das Streichholz abbrannte.

»Ich frage mich, ob ich genügend Zeit habe«, seufzte er schließlich und streckte müde die Beine aus.

»Genügend Zeit wofür, Chef?«

»Um nach Saint-Raphaël zu fahren.«

»Können Sie nicht jemanden hinschicken?«

Genau das war unmöglich. Er hätte einen Inspektor mit einem klar umrissenen Auftrag hinschicken können. Aber wie sollte er ihm sagen … ihm die Anweisung geben, dorthinzufahren und herumzuschnüffeln wie ein Hund, der in Mülltonnen stöbert, um koste es, was es wolle, den Knochen zu entdecken oder vielmehr das Geheimnis, welches …

Maigret wurde unruhig. In einem der Fenster gegenüber bewegte sich eine Gardine. Ein Augenpaar starrte den Kommissar an, und dieses Mal waren die Augen der Frau voller Schrecken.

Was für ein Gedanke war ihm durch den Kopf gegangen? Er hatte das Gesicht am Fenster betrachtet. Das Gesicht war verschwunden, und jetzt packte ihn Unruhe.

»Du gehst jetzt rüber, mein Lieber, und stellst dich ins Treppenhaus, direkt vor ihre Tür! Dort rührst du dich unter keinen Umständen vom Fleck. Es macht nichts, wenn sie dich sehen. Klar?«

»Und wenn eine der Frauen fortgeht?«

»Laß sie gehen. Du rührst dich nicht vom Fleck!«

Als er sicher war, daß seine Anweisung befolgt würde, ging er in das Restaurant.

»Haben Sie ein Telefon?«

Der Apparat hing im Saal, was erklärte, warum der Inspektor, als das Restaurant voller Gäste gewesen war, lieber eine weniger öffentliche Telefonzelle in einem Café an der Place Clichy aufgesucht hatte.

»Bist du’s, Lucas? … Was sagst du? … Aber nein! Das macht nichts, mein Lieber! Wenn es den Herrschaften von der Staatsanwaltschaft Vergnügen macht … Rasch, spring in einen Wagen! … Ja, Boulevard des Batignolles. Das Restaurant gegenüber. Ich warte auf dich.«

Der Wirt sah ihn neugierig an und fragte sich, was die Polizei hier im Viertel zu suchen hatte, denn er hatte mitgehört.

»Hallo, Mademoiselle, verbinden Sie mich mit Saint-Raphaël! Die Nummer weiß ich nicht. Maître Larignan, Anwalt. Mehr weiß ich nicht. Eine dringende Polizeiangelegenheit!«

Es war wohl der Tag des Biers. Auf dem Tisch lagen schon vier Bierdeckel, als Saint-Raphaël antwortete.

»Hallo? … Das Hausmädchen am Apparat … Nein, Monsieur … Ja, Monsieur … Nein, Monsieur. Monsieur ist nicht im Hause … Wie bitte? … Ja, Monsieur, er wird auf der Mole sein und malen. Von wem soll ich das ausrichten? … Von der Polizei? … Gut, Monsieur, ich gehe sofort.«

Er sah sie vor sich, wie sie eine helle und großzügige Villa verließ, in das Sonnenlicht der Côte d’Azur hinaustrat, von deren Wasser sich das blendende Weiß der Segel abhob, und sich auf die Suche nach dem malenden Anwalt begab, der seine Staffelei, von Neugierigen umringt, auf der Mole aufgestellt hatte.

»Was nimmst du, Lucas? … Herr Wirt, zwei Bier!«

Lucas hatte längst verstanden, daß es nicht der geeignete Moment war, um irgendwelche Fragen zu stellen. Mehr als eine Stunde verstrich, während der arme Janvier auf einer Treppenstufe Trübsal blies und jedesmal hastig aufsprang, wenn einer der Mieter vorbei wollte. Das Telefon klingelte.

»Monsieur Larignan? … Wie bitte? … Aber nein, Monsieur Larignan, Ihrer Frau ist nichts zugestoßen! Ich weiß noch nicht einmal, wo sie ist … In Vichy, wegen eines Leberleidens? … Sehr schön. Sagen Sie, ab wann hat Monsieur Le Cloaguen … Ja, Ihr Klient Monsieur Le Cloaguen … Ab wann hat er die von Ihnen ausgezahlten Beträge nicht mehr persönlich quittiert? … Aber ja, Sie sehen doch, daß ich im Bilde bin. Sie brauchen keine Angst zu haben … Warum ich aus einem Restaurant anrufe, wo ich doch von der Polizei bin? Weil ich keine Zeit habe, zum Quai des Orfèvres zurückzukehren. Sie sind sehr mißtrauisch, Monsieur Larignan … Ja, ich höre … Seit ungefähr zehn Jahren? … Ja … Seit seinem Unfall? … Damals hat die Familie auch Saint-Raphaël verlassen, nicht wahr?«

Er wischte sich den Schweiß von der Stirn. Sein Gesprächspartner am anderen Ende der Leitung, im Süden des Landes, war nicht sehr entgegenkommend. Er mußte ihm jedes Wort einzeln aus der Nase ziehen, was am Telefon gar nicht so einfach war.

»Wie wurde ihm die Pension von zweihunderttausend Francs ausgezahlt? … Ah, ja, Sie sind jedes Jahr persönlich in Paris erschienen. In Banknoten? … Trennen Sie uns nicht, Mademoiselle! Hören Sie zu, wenn es Ihnen Spaß macht, aber trennen Sie uns um Himmels willen nicht! … Sind Sie noch da, Monsieur Larignan? … Haben Sie das Geld Monsieur Le Cloaguen persönlich ausgehändigt? … Was sagen Sie? … Ich verstehe, es ist in der Schenkungsurkunde festgelegt. Natürlich. Ja. Ich verstehe.«

Unvorstellbar mißtrauisch, dieser Anwalt in Saint-Raphaël! Er sagte – vielmehr, er schrie in den Apparat, denn er gehörte zu den Menschen, die meinen, man höre sie besser, wenn sie ins Telefon brüllen –, es sei seine Pflicht, sich davon zu überzeugen, daß sein Klient zum Zeitpunkt der Auszahlung am Leben sei.

»Sie haben ihn also jedesmal gesehen? … Ja, ich verstehe. Lag er im Bett? … Nein? … Krank, aber nicht im Bett? … Ah ja. Ziemlich abgemagert … Reden Sie! Seien Sie unbesorgt! … Ja. Das ist merkwürdig, natürlich. Noch etwas. Die Villa, die sie bewohnt haben? Verkauft? … Sie ist augenblicklich unbewohnt? … Eine Amerikanerin, die nur alle zwei oder drei Jahre nach Frankreich kommt? … Und Sie haben die Schlüssel? … Es wäre sehr nett von Ihnen, wenn Sie sie den Leuten aushändigen könnten, die ich Ihnen schicke. Seien Sie unbesorgt. Sie werden eine telegrafische Weisung der Staatsanwaltschaft Paris erhalten, die Sie von aller Verantwortung befreit. Ich danke Ihnen, Monsieur Larignan … Besser nicht. Bleiben Sie lieber zu Hause. Es könnte sein, daß ich noch einmal zurückrufen muß.«

»Ein Bier, Herr Wirt!«

Sein Gesicht wirkte freundlicher. Sogar ein Anflug von Lächeln lag darauf, als er sich setzte und dem geduldig wartenden Lucas erklärte:

»Zum Schießen. Rate mal, womit Le Cloaguen beschäftigt war, als Monsieur Larignan eines Tages mit seinen zweihunderttausend Francs in Scheinen bei ihm auftauchte! … Er paukte Grammatik! Er saß im Salon mit seiner Frau, die ihm offensichtlich Unterricht gab und nicht gerade davon erbaut war, dabei überrascht zu werden.«

»Versteh ich nicht.«

»Warte! Es würde mich überraschen, wenn noch vor heute abend … Jetzt muß ich unseren so überaus tüchtigen Untersuchungsrichter anrufen, der mich am liebsten zum Teufel schicken würde.«

Die kleine Fernfahrerkneipe war zu einer Art Hauptquartier geworden. Fast entstand der Eindruck, es widerstrebe Maigret, das große graue Gebäude mit der Toreinfahrt aus den Augen zu lassen, in dem sich von Zeit zu Zeit eine Gardine bewegte.

»Hallo! Entschuldigen Sie die Störung, Herr Richter … Nein, noch nichts Wichtiges. Ich möchte Sie bitten, eine telegrafische Weisung nach Saint-Raphaël zu schicken. Bei Maître Larignan, einem Anwalt, sollen die Schlüssel einer bestimmten Villa abgeholt werden. Nach Möglichkeit sollen bei der Durchsuchung ein Maurer und ein oder zwei Erdarbeiter zur Hand gehen … Nicht unproblematisch? Ja, ich weiß. Natürlich wird die Eigentümerin bei ihrer Rückkehr Krach schlagen, wie Sie sagen. Aber ich halte diese Maßnahme für erforderlich … Ja. Die Kellerräume und das ganze Anwesen. Den Park, sofern einer vorhanden ist, die Grotte, wenn es eine gibt, den Brunnen. Alles, aber auch wirklich alles! Die Antwort soll mir per Telefon hierher durchgegeben werden. Vielen Dank, Herr Richter.«

War es das fünfte Bier oder das sechste? Allmählich wurde Maigret ein anderer Mensch. Als ob er sich in Bewegung setzen, seine Fähigkeiten mobilisieren, mit ruhiger Kraft seinen Weg suchen würde.

»Was soll ich tun, Chef?« fragte Lucas.

»Kauf erst mal eine Zeitung!«

Sie brachte schon die Beschreibung von Octave Le Cloaguen.

Ein gefährlicher Wahnsinniger, der aller Wahrscheinlichkeit nach die Wahrsagerin aus der Rue Caulaincourt ermordet hat, treibt sich in den Straßen unserer Hauptstadt herum.

Maigret zuckte die Achseln. Wenn es dem Richter, den Zeitungen und der Öffentlichkeit Spaß machte!

»Glauben Sie, daß er geflohen ist?«

»Nein.«

»Was dann?«

»Na ja, vielleicht, vielleicht auch nicht.«

»Die beiden Frauen?«

»Weiß nicht … Komm! … Herr Wirt, was muß ich zahlen? Wenn ein Anruf aus Saint-Raphaël oder vom Quais des Orfèvres kommt, holen Sie mich auf dem schnellsten Wege. Ich bin im Haus gegenüber.«

Ihm wäre es lieber gewesen, nicht so rasch zu handeln, zu warten, so lange wie nötig zu warten. Aber wenn Le Cloaguen nicht tot war …

Er begrüßte die Concierge:

»Guten Tag, Madame. Ich bin’s schon wieder, ja. Hören Sie, ich nehme an, alle Ihre Mieter verfügen über einen eigenen Keller. Würden Sie uns bitte führen? … Eine Lampe? … Sehr freundlich, ja, bringen Sie eine mit.«

Hintereinander stiegen sie hinunter. In einem riesigen gewölbten Kellerraum verfügten die Mietparteien über eigene Lattenverschläge, in denen Kohle und alte Kisten zu erkennen waren.

»Aber nicht doch! Stören Sie die Damen nicht. Das Schloß hier ist kein Problem, glauben Sie mir.«

Tatsächlich brauchte er nur einen Augenblick, um es zu öffnen. Leere Kartoffelsäcke. Ein Stapel Brennholz, das kürzlich geliefert worden war. Ein Rest Kohle vom letzten Winter.

»Haben Sie eine Schaufel, Madame?«

»Sie werden sich schmutzig machen.«

Macht nichts! Auf gut Glück stocherte Maigret in dem Kohlehaufen herum, dann nahm er sich mit gleicher Geduld die Verschläge der anderen Mieter vor.

»Da fällt mir ein, Madame, auch wenn die Le Cloaguens kein Mädchen haben, so verfügen sie doch bei der Größe ihrer Wohnung sicherlich über ein oder zwei Dienstbotenzimmer?«

»Ja, im siebten Stock. Sie haben zwei.«

»Darf ich Sie bitten, uns nach oben zu begleiten?«

»Wenn ich vorher das Gas kleinstellen darf, sonst brennt nämlich mein Ragout an.«

Finster stand Janvier auf, um sie vorbeizulassen. Von dem ganzen Auftritt beeindruckt, drehte sich die Concierge um.

»Eigentlich sollte ein Fahrstuhl eingebaut werden. Es ging aber nicht, weil das Treppenhaus zu schmal ist.«

Oben veränderte sich das Bild. Ein langer Flur mit Ölfarbe an den Wänden. Nummern an den Türen. Eine einzige Luke ließ etwas Licht herein.

»Hier ihre beiden Zimmer: 13 und 14. Letztes Jahr haben sie versucht, sie zu vermieten, aber sie verlangten zuviel Miete. Warten Sie, der Hauptschlüssel müßte passen.«

Lucas, der gefolgt war, wurde allmählich unruhig. Das erste Zimmer, in dem den Eintretenden der Geruch von Schimmel fast den Atem verschlug, enthielt nur ein Kinderbett, zwei wacklige alte Stühle und eine Kiste voller ausrangierter Bücher.

»Sozusagen verlassen«, erklärte die Concierge.

Im zweiten Zimmer erwartete sie die gleiche Enttäuschung. Was hatte der Kommissar zu finden gehofft? Zu sehen waren nur die unbrauchbaren Dinge, die in allen Häusern auf dem Dachboden herumliegen. Eine Weltkarte, eine Schneiderpuppe, noch mehr Bücher, vor allem medizinische Werke und anatomische Karten, die die Fliegen mit braunen Flecken übersät hatten.

»Leer, wie Sie sehen!«

»Leer«, kam es wie ein Echo von Maigret.

Trotzdem konnte er sich nicht dazu entschließen, den engen Flur zu verlassen, der nirgendwohin führte.

»Noch eine Frage, Madame. Warum ist dort die Leiter über der Treppe?«

»Eigentlich ist sie überflüssig, weil sie so gut wie nie benutzt wird. Über den letzten drei Zimmern ist eine Art Dachboden. Einige Mieter können dort die großen Koffer verstauen, mit denen sie sonst nicht wissen wohin. Der Dachboden ist nur mit der Leiter zu erreichen.«

Ein Blick und Lucas holte gehorsam die Leiter herbei.

»Soll ich rauf, Chef?«

»Nein.«

Maigret schickte sich selbst an hinaufzusteigen, und ein leiser Schrecken bemächtigte sich Lucas’.

»Hören Sie, Chef, wollen Sie nicht lieber …«

Er reichte ihm seinen Revolver, den der Kommissar achselzuckend entgegennahm.

Als er auf der zweiten Sprosse war und die Leiter unter seinem Gewicht zu ächzen begann, besann er sich und stieg wieder herab.

»Ich glaube nicht, daß er tot ist«, murmelte er.

»Warum?«

»Weil ich bezweifle, daß zwei Frauen einen leblosen Körper diese Leiter hinaufschaffen können.«

Er hob den Kopf, als riefe er nach einem Kind, das auf einem Baum hockt.

»Le Cloaguen! Le Cloaguen!«

Schweigen. Aufgeregt hatte die Concierge die Hand in ihr Kleid gekrallt. Sie war auf das schlimmste gefaßt.

»Hören Sie, Le Cloaguen, Leitern sind mir ein Greuel. Sie wollen mich doch nicht zwingen, diese hier hochzuklettern, die mich bestimmt nicht trägt?«

Das Schweigen hielt an.

»Soll ich hochkommen?«

Ein leises Scharren. Dort oben hatte sich jemand bewegt, war beim Gehen an einen Gegenstand gestoßen, der hohl klang; gewiß ein leerer Koffer. Dann tauchte ein Bein auf, ein Fuß, der die Leiter suchte, ein Mann in einem grünen Überzieher, der die Leiter herunterkletterte.

Niemand vermochte sich vorzustellen, welch triumphierende Freude Maigret in diesem Augenblick erfüllte. Das heißt, einer doch – Lucas, der den Chef ansah und hätte schwören können, daß dem die Tränen in den Augen standen.

Maigret hatte das alles ganz allein entdeckt. Sozusagen ohne Indizien, oder besser, anhand von Indizien, die die anderen vernachlässigt hatten, und vor allem mit seiner außerordentlichen Intuition, seiner beängstigenden Fähigkeit, sich in die Situation anderer zu versetzen.

»Sie haben Glück gehabt, Le Cloaguen!«

Dieser zeigte keinen Schrecken mehr. Fast gleichgültig stand er da wie ein Mann, der bis zuletzt gekämpft hatte und jetzt aufgab. Seine einzige Reaktion war ein Seufzer, der im Grund wohl ein Seufzer der Erleichterung war.

»Ich glaube, wenn wir nicht gekommen wären, wären Sie verhungert.«

Offensichtlich mißverstand der Mann die Worte, denn nach kurzem Zögern stammelte er:

»Haben Sie sie verhaftet?«

Er war mit Staub bedeckt. Dort oben war es nicht hoch genug zum Stehen.

Im Anschluß an Maigrets Äußerung mußte die Frage doch wohl bedeuten:

»Da Sie sagen, ich wäre verhungert, können meine Frau und meine Tochter nicht mehr im Haus sein, denn sie hätten mir ja Essen gebracht.«

So jedenfalls verstand Lucas den Alten, und er warf seinem Chef einen Blick ehrfürchtiger Bewunderung zu.

»Nein, ich habe sie noch nicht verhaftet.«

Der Alte verstand gar nichts mehr.

»Sie werden schon sehen. Kommen Sie!«

Sie gingen die Treppe hinab. Im dritten Stock erblickten sie Janvier, der vor der Tür saß und lebhaft aufsprang.

»Verstehen Sie jetzt, Le Cloaguen? Sie hätten es nicht gewagt, Ihnen Essen zu bringen, nicht wahr? Deswegen war ich gezwungen, heute zu handeln. Trotzdem, ich hätte viel lieber noch gewartet!«

Sie hörten Schritte hinter der Tür. Maigret klingelte. Zur Concierge sagte er:

»Sie können wieder nach unten gehen, Madame! Ich danke Ihnen. Sie sehen, es ist alles bestens gegangen.«

Die Tür öffnete sich einen Spalt breit. Eine spitze Nase. Ein spitzes Gesicht. Die stechenden Augen von Madame Le Cloaguen. Ein Schrei.

»Sie haben ihn gefunden? Wo war er?«

»Komm rein, Lucas! Komm rein, Janvier! Sie auch, kommen Sie ruhig herein, mein Lieber.«

Le Cloaguen zuckte zusammen, als er die freundschaftliche Anrede hörte, die der Kommissar ihm gegenüber zum ersten Mal benutzte. Er schien es gern zu hören, erleichtert zu sein.

»Wohlgemerkt, ich verlange noch nicht einmal, daß Sie mir die Regeln des Perfekts aufsagen.«

Diesmal schreckte die Frau zusammen und fuhr wie von einer Tarantel gestochen herum.

»Was wollen Sie damit sagen?«

»Nur das, was ich gesagt habe, Madame. Laß sie nicht aus den Augen, Lucas! … Janvier, du holst Mademoiselle und überwachst jeden ihrer Schritte. Beim Alten ist das nicht nötig. Das stimmt doch, mein Guter, von jetzt an sind Sie brav, nicht?«

Am merkwürdigsten war, daß der Alte ihm einen dankbaren Blick zuwarf.

»Kann ich meinen Mantel ausziehen?« fragte er.

»Aber ja doch. Das hat jetzt überhaupt keine Bedeutung mehr.«

Und trotzdem verfolgte Maigret den Vorgang mit Interesse. Es schien, als sei er auf eine außergewöhnliche Enthüllung gefaßt. Die Sache selbst war dann weniger spektakulär, als er gedacht hatte. Als der Alte den dicken Überzieher ausgezogen hatte, war zu erkennen, daß er auf der einen Seite stark wattiert war. Eine Schulter des Alten war nämlich höher als die andere.

Lucas und Janvier begriffen das Frohlocken des Chefs nicht, der seine Pfeife auf den Teppich leerte und eine neue, kalte stopfte, die er immer als Reserve mit sich führte.

Alle sechs waren sie jetzt in dem Salon mit den dunklen Möbeln und den grünen Samtvorhängen. Trotzdem erreichte sie noch der Straßenlärm von Paris. Reglos saßen sie wie die Insassen eines Wachsfigurenkabinetts. Nur Madame Le Cloaguens Hände waren von einem unkontrollierbaren Zittern befallen.

Schwere und dennoch rasche Schritte auf der Treppe. Vor der Tür zögerte jemand. Ruhig öffnete Maigret.

»Telefon, Herr Kommissar. Saint-Raphaël.«

Der Wirt des kleinen Restaurants blickte verwirrt auf die reglosen Gestalten, die stumm zurückstarrten. Maigret folgte ihm zur Tür.

»Also, Leute …«

Er nahm sich Zeit, suchte die Augen von Madame Le Cloaguen.

»Die erste, die sich rührt …«

Fröhlich schlug er sich auf die Stelle des Jacketts, unter der Polizisten für gewöhnlich ihren Revolver tragen.

»Bis gleich!«