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Maigret entdeckt Picpus
D
ie Experten im Labor hatten sich vergeblich bemüht, das Rätsel um Picpus zu lösen. Millionen von Menschen suchten diesen Namen in den fettgedruckten Schlagzeilen, wenn sie ihre Zeitung aufschlugen. Man witzelte über Picpus:
»Hast du Picpus nicht gesehen?«
»Und Picpus? Wie geht’s Picpus?«
Und die Taxifahrer hatten einen neuen Ausdruck, mit dem sie die Kollegen traktieren konnten, die ihren Ärger erregten: »Mach schon, he, Picpus!«
Doch zur Entdeckung von Picpus führte eine Fliege, eine ganz gewöhnliche Stubenfliege. Maigret war an jenem Morgen später als gewöhnlich aufgestanden, weil er bis zwei Uhr nachts bei der Comtesse geblieben war. Die Luft bewahrte noch eine angenehme Frische, während die Sonne bereits die Häuser vergoldete und die heißen Stunden des Tages ankündigte.
Maigret, der es liebte, durch Paris zu schlendern, wenn es sich für den Tag zurechtmachte, hatte sich nicht auf direktem Weg vom Boulevard Richard-Lenoir zum Quai des Orfèvres begeben, sondern hatte mit den ziellosen Schritten dessen, den keine Geschäfte mehr zur Eile treiben, einen Umweg über die Place de la République gemacht.
Am Vorabend in den Salons in der Rue des Pyramides hatte er eine sehr unglückliche Figur gemacht. Kaum war er eingetreten, hatte sich die in wallende Gewänder gehüllte Comtesse schon auf ihn gestürzt.
»Scht. Folgen Sie mir, lieber Kommissar. Sie können sich nicht vorstellen, wie ich mich freue, einen so berühmten Mann bei mir zu sehen.«
Sie zog ihn in ein Boudoir. Sie redete und redete. Sie flehte Maigret an, er möge jeden Skandal in ihren Salons vermeiden. Es kämen nur Leute aus bester Familie und in bedeutender Stellung zu ihr.
»Eben sagte ich noch zum Fürsten …«
Ihre Hand mit den dicken, falschen Ringen lag ständig auf Maigrets Knie, während er die aufgeregte Frau mit seinen blaugrünen Augen musterte.
»Und Sie wollen wirklich einen Abend bei uns bleiben? … Nein, ich kenne keinen Monsieur Blaise. Ihre Beschreibung paßt zu keinem unserer Freunde. Wir sind hier nämlich unter Freunden. Wenn sich jeder an den Kosten beteiligt, so liegt das an den schwierigen Zeiten.«
Fünf Minuten darauf stellte sie Maigret ungeachtet der Tatsache, daß die Zeitungen sein Bild mit schöner Regelmäßigkeit brachten, als Oberst im Ruhestand vor und nahm ihn mit an ihren Tisch, den der Anfänger, um ihn mit der Kunst des Bridgespiels vertraut zu machen. Trotzdem fand sie die Zeit, alle ins Bild zu setzen, an allen Tischen ein paar geflüsterte Worte anzubringen.
»Das ist der berühmte Kommissar Maigret! Schauen Sie nicht hin. Er ist inkognito gekommen, weil er meinen Rat braucht.«
Auf der Straße betrachtete Maigret jetzt die Passanten und sagte sich, daß Paris von Tausenden und Abertausenden solcher Zeitgenossen bevölkert ist, geheimnisvollen oder geheimnistuerischen Existenzen, auf die man nur selten, nur im Zuge irgendwelcher dramatischer Verknüpfungen, stößt.
Er kam zum Café des Sports an der Place de la République. Er trat ein, schwankte zwischen der Bar und einem der Tische, verfiel dann auf den Gedanken, sich an Joseph Mascouvins Stammplatz zu setzen. Mechanisch spulten seine Gedanken ab. Picpus! Warum Picpus, der Name einer belebten Straße, eines Viertels in der Gegend vom Père-Lachaise?
»Ober! Ein Bier!«
»Sofort, Herr Kommissar. Ich zapfe gerade ein neues Faß an.«
Nestor, die Ärmel aufgekrempelt, so daß seine behaarten Arme zum Vorschein kamen, räumte auf. Außer Maigret saß nur noch ein junges Mädchen aus der Provinz in der Ecke, das offensichtlich auf jemanden wartete, während es seinen Kaffee trank.
»Schrecklich, die Geschichte mit dem armen Mascouvin, nicht wahr, Herr Kommissar?«
Nestor beugte sich herab, um das Bier auf den Tisch zu stellen. Der Kommissar betrachtete seinen kahlen Schädel, oder genauer, er folgte der Flugbahn einer Fliege, die sich dort niederließ, ohne daß der Kellner es zu bemerken schien.
Von der Fliege, der spiegelblanken Glatze glitt sein Blick weiter. Plötzlich stieß er ein Grunzen aus und wäre fast aufgesprungen, was den Kellner verblüffte, der sich rasch umdrehte und, als er niemanden sah, die plötzliche Erregung des Kommissars noch weniger verstand, stand dieser doch im Ruf unerschütterlicher Ruhe.
Maigret aber hatte soeben Picpus entdeckt! Dort an der Wand, unmittelbar dem Tisch gegenüber, an dem Joseph Mascouvin tagein tagaus gesessen hatte, dem Tisch gegenüber, an dem ganz ohne Frage der Brief geschrieben worden war, der den Tod der Wahrsagerin angekündigt hatte – dort befand sich Picpus.
Köstlich würde sich die Öffentlichkeit amüsieren, wenn die Zeitungen das Bild des Mannes bringen würden, der sich hinter dem Namen Picpus verbarg!
Direkt über dem Spielautomaten hing ein riesiger Reklamekalender, wie ihn manche Geschäftsleute an ihre Kunden ausgeben.
Für alle Umzüge:
der Spediteur, bei dem nichts zu Bruch geht!
Verlangen Sie …
Eine bunte naive Plakatmalerei zeigte einen volkstümlichen Herkules in gestreiftem Pullover, mit struppigem, feuerrotem Bart, rosigem Vollmondgesicht und mit den Muskeln eines Olympioniken. Der Riese zwinkerte dem Beschauer zu und balancierte einen riesigen Spiegelschrank.
Verlangen Sie Picpus!
Das Wort war fettgedruckt und fiel ins Auge. Kleingedruckt stand darunter:
Les Déménageurs Associés
Rue Picpus 101, Paris
Picpus gab es also gar nicht. Er war nur ein komisches Bild, ein Werbeslogan. Irgend jemand hatte sich eines Abends an diesen Tisch gesetzt, um eine Nachricht zu schreiben. Dann hatte er gezögert. Wie sollte er unterzeichnen? Suchend hatte er sich umgeblickt, sein Blick war auf den Kalender gefallen. Picpus!
Ohne weiterzusuchen, hatte der Mann – oder die Frau – vielleicht mit einem amüsierten Lächeln, geschrieben: Gezeichnet Picpus.
Blieb die Frage, wer an diesem Platz gesessen hatte, auf dieser Englischlederbank, wer die violette Tinte und die schlechte Feder benutzt hatte, die das Café des Sports seinen Gästen zur Verfügung stellte.
Eines nur war gewiß, er hatte sich nicht geirrt!
»Ober, zahlen!«
Maigret hätte den Kalender gern für sein Kriminalmuseum mitgenommen, beschloß dann aber zu warten, bis die Untersuchung abgeschlossen war.
Warum sollte er nicht, da es nur ein paar Schritte zum Boulevard Bonne-Nouvelle waren, bei Proud & Drouin vorbeigehen? Bei seinem ersten Besuch hatte er keinen der Inhaber angetroffen.
Es gab eine ganze Reihe Büros in dem Gebäude. Die Treppe war staubig, im zweiten Stock trugen die Fenster, die bis zur halben Hohe mit Sichtblenden aus grünem Glas versehen waren, die Namen der beiden Teilhaber.
»Ist Monsieur Proud zu sprechen?«
»Sie möchten ihn persönlich sprechen?«
»Ja.«
»Monsieur Proud ist seit drei Jahren tot.«
Verärgert fragte Maigret den Bürodiener, der ein spöttisches Grinsen aufgesetzt hatte, nach Monsieur Drouin. Einen Augenblick später trat er bei Monsieur Drouin ein, einem Mann in den Fünfzigern, der ihm argwöhnisch entgegensah.
»Setzen Sie sich, Herr Kommissar. Ich habe Ihre Karte auf meinem Schreibtisch gefunden und muß Ihnen gestehen, daß …«
»Ich verstehe, Monsieur Drouin. Trotzdem muß ich Ihnen ein paar Fragen stellen.«
»Wenn es um einen meiner Kunden geht, muß ich Sie darauf hinweisen, daß wir zu absoluter Verschwiegenheit verpflichtet sind, ja, sogar an ein Berufsgeheimnis gebunden sind.«
»Würden Sie mir bitte sagen, Monsieur Drouin, ob Sie Joseph Mascouvin für einen ehrlichen Angestellten halten?«
»Wäre ich nicht davon überzeugt, hätte ich ihn nicht behalten.«
»Hat er bei Ihnen eine wichtige Stellung?«
Monsieur Drouin stand auf und öffnete die Tür, um sich zu vergewissern, daß niemand ihn hören konnte.
»Angesichts der Umstände und des rätselhaften Verhaltens dieses armen Teufels darf ich Ihnen wohl anvertrauen, daß ich ihn eher aus Mitleid behalten habe.«
»Sie waren nicht mit ihm zufrieden?«
»Sie müssen das richtig verstehen. Es war ihm nicht das geringste vorzuwerfen. Im Gegenteil. Stets kam er als erster und ging als letzter. Nie hätte er sich erlaubt, eine Zeitung oder ein Buch unter der Schreibunterlage zu lesen oder eine Zigarette auf der Toilette zu rauchen. Auch hat er nie irgendein Familienunglück erfunden, um einen Tag freizubekommen. Keine Großmutter, die gestorben war, keine Tante, die erkrankte. Sein Fehler war, daß er zu gewissenhaft war.«
»Wie meinen Sie das?«
»Er war von geradezu krankhafter Gewissenhaftigkeit. Vielleicht spielten da Erfahrungen aus seiner Kindheit mit. Ich wußte natürlich, daß er im Heim aufgewachsen ist. Er hatte stets das Gefühl, er würde überwacht, man wäre unzufrieden mit ihm, er würde verdächtigt. Das machte ihn empfindlich. Ich habe nie gewagt, ihm gegenüber die geringste Mißbilligung zum Ausdruck zu bringen, so empfindlich war er. Seine Kollegen mochten ihn nicht. Er zog sich in seine Ecke zurück und tat seine Arbeit, hatte aber überhaupt keinen Kontakt zu den anderen Angestellten.«
»Sagen Sie, Monsieur Drouin, haben Sie irgendwann festgestellt, daß Geld in der Kasse fehlte?«
Der Geschäftsmann sah ihn verwirrt an.
»Geld? In der Kasse? Aber, Herr Kommissar! Das ist völlig unmöglich. Dazu hat bei uns niemand die Möglichkeit, nicht der älteste Angestellte und noch nicht einmal mein Prokurist. Wir sind kein Ladengeschäft mit Registrierkasse, aus der man sich unbemerkt bedienen könnte. Geld, bares Geld, tritt in unserer Firma so gut wie überhaupt nicht in Erscheinung. Wir verkaufen Immobilien, Schlösser, Villen, Grundstücke. Unsere Transaktionen gehen in die Hunderttausende, meist sogar in die Millionen. Es versteht sich, daß Geschäfte dieser Art immer per Scheck und fast immer vor einem Notar abgewickelt werden. Bei den Immobilien, die wir verwalten, verhält es sich genauso, und wenn die Miete nicht per Scheck bezahlt wird, dann schicken wir unseren Kassenboten.«
»Sie meinen also, Ihr Angestellter hatte keine Möglichkeit, Ihnen tausend Francs zu unterschlagen?«
»Das ist völlig unmöglich. Hinzu kommt, wie ich Ihnen bereits gesagt habe, Mascouvins Charakter. Nein, Herr Kommissar. Da sind Sie auf der falschen Fährte. Es tut mir leid, aber …«
Er stand auf und gab zu verstehen, daß wichtige Kunden auf ihn warteten.
»Nur noch eine kurze Frage, die Ihr Berufsgeheimnis sicherlich nicht berühren wird. Ist Monsieur Blaise ein wichtiger Kunde Ihrer Firma?«
Drouin zögerte. Entschloß sich dann aber zu antworten, um den Kommissar loszuwerden.
»Ein wichtiger Kunde? Nein. Seine Bankauskünfte sind zwar ausgezeichnet. Das könnten sie von jedem Bankinstitut erfahren, aber daß er ein wichtiger Kunde ist, kann ich nicht sagen, nein. Eher ein lästiger Kunde, ohne daß ich ihm zu nahe treten will. Das erleben wir oft. Vor allem bei den Rentiers, die nichts zu tun haben und sich damit die Zeit vertreiben. Er kommt, erkundigt sich, was wir anzubieten haben, besichtigt Grundstücke oder Objekte, die zum Verkauf anstehen, feilscht um den Preis, als sei er zum Kauf entschlossen. Aber meistens kann er sich dann doch nicht entschließen. Warten Sie …«
Er zog einen Aktendeckel hervor, der den Namen Blaise und eine Nummer trug.
»In fünf Jahren hat er über uns drei Objekte erworben – ein kleines Landhaus, einen Pachthof in der Bretagne und ein Gebäude in Nizza. Insgesamt sechshunderttausend Francs. Mehr kann ich Ihnen auch nicht mitteilen, Herr Kommissar. Sie müssen entschuldigen, aber meine Zeit ist so kostbar wie die Ihre.«
Er reichte Maigret die Hand und war sichtlich zufrieden, die Tür endlich hinter ihm schließen zu können.
Warum, um Himmels willen, hatte Mascouvin sich völlig grundlos bezichtigt, tausend Francs unterschlagen zu haben? Nachdenklich ging Maigret in sein Büro. Der Amtsdiener teilte ihm mit, daß der Untersuchungsrichter seit mehr als einer Stunde auf ihn wartete. Noch einer, der ungeduldig wurde, fand, daß die Angelegenheit sich hinzog, von der Presse und der öffentlichen Kritik redete und der forderte, daß endlich konkrete Maßnahmen ergriffen wurden.
Maigret durchquerte, die Pfeife zwischen den Zähnen, das Palais de Justice und erreichte den Gang der Untersuchungsrichter, wo man die von Polizisten eingerahmten Angeklagten und die ständig auf die Uhr sehenden Zeugen schmoren ließ.
»Kommen Sie herein, Herr Kommissar! Setzen Sie sich! … Ich habe Ihren Bericht von gestern abend mit großem Interesse gelesen und heute morgen mit dem Vertreter des Staatsanwaltes darüber gesprochen. Er ist mit mir einer Meinung. Entweder ist Ihr Octave Le Cloaguen …«
Warum sagte er Ihr?
»Entweder ist Ihr Octave Le Cloaguen wirklich verrückt oder aber, wenn er unschuldig ist, woran ich zu zweifeln beginne, er weiß viel mehr, als er zugibt. Deshalb habe ich ihm gleich heute früh mitteilen lassen, daß er um drei Uhr von zwei Psychiatern im Beisein von Dr. Paul untersucht wird. Was halten Sie davon?«
Er war mit sich zufrieden. Es schien fast so, als forderte er den Kommissar heraus. Als wollte er sagen:
»Gewiß, es heißt, Sie hätten Ihre eigenen Methoden. Aber die sind umständlich, mein armer Maigret, veraltet. Ein Untersuchungsrichter ist nicht unbedingt ein Trottel. Von seinem Schreibtisch aus klärt er Dinge, die über den Horizont der Polizei gehen.«
Schweigend rauchte Maigret seine Pfeife. Es war nicht zu erkennen, was er dachte.
»Außerdem lasse ich in Saint-Raphaël Nachforschungen darüber anstellen, was für ein Leben Le Cloaguen dort geführt hat.«
Maigrets Schweigsamkeit brachte ihn aus dem Konzept. War der Kommissar über die Einmischung verärgert, und ließ er jetzt die Finger von dem Fall?
»Sie müssen schon entschuldigen, aber Sie werden einsehen, daß ein Fall wie dieser die Öffentlichkeit beunruhigt, wenn er sich zu lang hinzieht.«
»Sie haben das ganz richtig gemacht, Herr Richter. Ich frage mich nur …«
»Was?«
»Nichts. Vielleicht täusche ich mich.«
Die Wahrheit war, daß er sich Sorgen machte. Er sah wieder den Alten vor sich, wie er am Vortag in seinem Büro gesessen hatte, mit verschlungenen Händen, Tränen auf den Wangen und dem ergreifenden Blick dessen, der seine Mitmenschen um ein kleines bißchen Nachsicht anfleht.
So merkwürdig es klingen mochte, der Untersuchungsrichter hatte schon recht, als er »Ihr Octave le Cloaguen« gesagt hatte.
»Wann ist ihm die Vorladung zugestellt worden?«
»Warten Sie, es ist elf. Der Bote dürfte um halb elf am Boulevard des Batignolles gewesen sein.«
»Wo soll die Untersuchung stattfinden?«
»Zuerst einmal in Le Cloaguens Wohnung. Wenn die Sachverständigen es für notwendig halten, werden sie ihn auf eine ihrer Stationen bringen lassen. Werden Sie dort sein?«
»Vielleicht.«
»Also dann, mein Lieber, bis nachher.«
Maigret war tatsächlich ein bißchen verärgert darüber, daß man es für gut befunden hatte, eine solche Maßnahme zu beschließen, ohne sie mit ihm zu besprechen. Andererseits war er tatsächlich erst spät am Quai des Orfèvres erschienen, und der Untersuchungsrichter hatte versucht, ihn zu erreichen.
Aber das war es nicht allein, was ihn bedrückte und seine Laune beeinträchtigte. Ihm schien … Es war schwer zu sagen. Sein Le Cloaguen? Nun ja, ihm schien, nur er sei in der Lage zu verstehen, was in der Seele dieses Alten vorging. Von Anfang an, schon in der Rue Caulaincourt hatte ihn der Mann verwirrt. Der Gedanke an ihn ließ ihn nicht mehr los, was er auch tat. Er hatte an ihn gedacht, als er den Picpus mit dem ordinären Zwinkern entdeckt hatte, und er hatte immer noch an ihn gedacht, als er im Büro von Monsieur Drouin gesessen und sich allem Anschein nach nur mit Mascouvin und Monsieur Blaise befaßt hatte.
»Komm herein, Lucas!«
Lucas war offenbar über den neuesten Stand der Dinge unterrichtet, denn er musterte den Chef verstohlen.
»Wer ist heute morgen am Boulevard des Batignolles?«
»Janvier.«
Während er am offenen Fenster stand, kamen ihm seltsamerweise ein paar Verse in den Sinn, die er vor langer Zeit in der Schule auswendig gelernt hatte:
Mag der Himmel noch so rein sein,
noch so schön das Meer,
Der Witwe des Seemanns ist das Herz
von Erinnerungen schwer.
Galt das nicht auch ein wenig für seine Situation? Die Seine floß in wahrhaft strahlender Pracht dahin. Beim Anblick der wie Ameisen wimmelnden Passanten hätte man glauben können, ganz Paris könne sich nicht lassen vor Lebensfreude. Um diese Zeit saßen die Menschen am Wasser und angelten, platzten die Badeanstalten aus allen Nähten, waren die Straßen und Boulevards erfüllt von einem Hupkonzert, das mit dem feinen, von der Sonne vergoldeten Staub zum tiefblauen Himmel emporstieg.
Mag der Himmel noch so rein sein …
Er hatte sich schon einen merkwürdigen Beruf gewählt! Zwei Messerstiche in den Rücken einer Frau, die er nie zuvor gesehen hatte. Ein alter Mann, dem der Angstschweiß von der Stirn perlte. Der Angestellte einer Maklerfirma, der vom Pont-Neuf in die Seine sprang. Ein kitschiger Kalender in einem Café an der Place de la République …
»Was jetzt, Chef?«
»Monsieur Blaise?«
»Um diese Zeit müßte er, wie jeden Tag, auf dem Weg zur Börse sein. Ruel ist ihm auf den Fersen.«
Die Suche nach dem grünen Kabriolett und dem Mann mit dem braunen Haar und den beiden Goldzähnen war erfolglos geblieben. Emma, das Mädchen aus dem Milchgeschäft, hielt den ganzen Tag Ausschau nach ihrem schönen Autofahrer. Auf keinem der Bilder, die man ihr zeigte, erkannte sie ihn wieder.
»Verbinde mich mit dem Reisebüro in der Madeleine.«
Er blieb nachdenklich, nahm den Hörer.
»Hallo! Mademoiselle Berthe? … Maigret, ja …. Aber nein, ganz im Gegenteil. Es geht ihm sehr gut und in ein paar Tagen wird ihm nichts mehr anzumerken sein. Wann haben Sie Mittagspause? Um zwölf Uhr? … Würde es Ihnen etwas ausmachen, mit mir in einem kleinen Restaurant dort in der Nähe zu essen? … Wie bitte? … Gut. Bis gleich.«
Er nahm ein Taxi und kam just in dem Augenblick an, als sich aus den Büros der Madeleine und der Boulevards der Strom der Angestellten auf die Straße ergoß. Bald hatte er den kleinen roten Hut und das frische Gesicht mit den Grübchen entdeckt, auf dem sich trotz allem ein leicht bekümmerter Ausdruck zeigte.
»Glauben Sie mir, es ist nichts Schlimmes. Ich möchte mich nur ein bißchen mit Ihnen unterhalten.«
Passanten drehten sich um und fanden, daß der Mann dort, der weiß Gott nicht mehr der Jüngste war, eine Menge Glück hatte.
»Mögen Sie Hors d’œuvres?«
»Für mein Leben gern!«
Er wählte ein kleines Restaurant, das vorwiegend von Stammkunden aufgesucht wurde und in dem die Hors d’œuvres reichlich und lecker waren. Sie setzten sich ans Fenster. Es sah ganz nach einem amourösen Stelldichein aus, zumal Maigret eine Flasche Elsässer Wein bestellt hatte, deren langer Hals aus einem Eiskübel ragte.
»Sagen Sie, Mademoiselle Berthe, als Ihre Eltern starben und Sie Ihre Ausbildung mit Mascouvins Hilfe fortsetzten … Ein paar Pilze? … Ich wollte sagen, da hat er Sie doch wahrscheinlich irgendwo in Pension gegeben?«
»In die Klosterschule von Montmorency.«
»Das hat ihn einiges gekostet, nicht wahr?«
»Es hat mich beschämt. Ich wußte, daß er nicht viel verdiente. Aber er war der Meinung, er stünde tief in der Schuld meiner Familie. Ich bin sicher, daß er manchmal aufs Essen verzichtet hat, um das Geld für mich aufzubringen.«
»Bis zu welchem Alter sind Sie dort geblieben?«
»Achtzehn Jahre. Wie gesagt, ich wollte bei ihm leben, weil es billiger gewesen wäre, aber er war damit nicht einverstanden. Deswegen hat er für mich eine kleine Wohnung in der Nähe der Place des Ternes gemietet.«
»Sicher eine möblierte Wohnung?«
»Nein, ihm behagten die möblierten Wohnungen nicht. Er behauptete, sie seien nichts für ein junges Mädchen, sie seien immer ein wenig armselig oder schmuddelig.«
»Das ist etwa fünf Jahre her«, murmelte Maigret.
»Genau, Sie haben nachgerechnet, nicht wahr? Ich bin jetzt dreiundzwanzig.«
»Sagen Sie, Mademoiselle, wäre es Ihnen sehr lästig, einen alten Herrn wie mich in diese Wohnung mitzunehmen?«
»An sich sehr gern … Aber ich weiß nicht … Was soll ich der Concierge sagen?«
»Das ich ein Freund von Mascouvin bin. Sie weiß doch, daß er Ihr Stiefbruder ist? Lassen Sie sich doch bitte nicht beim Essen stören. Mit meiner dummen Fragerei verderbe ich Ihnen noch den ganzen Appetit.«
Im Restaurant saßen andere Männer seines Alters mit ebenso jungen und fast ebenso hübschen Geschöpfen und speisten in trauter Zweisamkeit:
»Aber ja doch. Ich bestehe darauf, daß Sie ein Dessert bestellen …«
Er wurde von jemandem gegrüßt, den er nicht kannte oder vielmehr nicht sogleich erkannte. Er grüßte wieder, und erst ein paar Minuten später erinnerte er sich an den Mann – ein Bankier mit mehr als zweifelhaften Geschäftsmethoden, dem er schon zweimal einen Gefängnisaufenthalt verschafft hatte.
Taxi! Das junge Mädchen sah auf seine Uhr.
»Wir müssen uns beeilen, denn um zwei Uhr muß ich wieder im Geschäft sein.«
Eine ruhige Straße abseits der belebten Place des Ternes.
»Hier ist es. Es gibt einen Fahrstuhl.«
Drei Zimmer im fünften Stock. Winzig zwar, aber von einer Fröhlichkeit, die gut zu Mademoiselle Berthes Jugend paßte.
»Sehen Sie. Es ist einfach hier. Trotzdem wollte ich nicht, daß er all das bezahlt. Aber er hat mir versichert, es sei ein günstiges Angebot und er könne in Monatsraten bezahlen.«
Maigret war auf billige Kaufhausmöbel gefaßt gewesen. Doch nichts dergleichen! Keine Luxusware, gewiß, aber jedes Stück Qualitätsarbeit. Zwanzigtausend? Fünfundzwanzigtausend?
»Möchten Sie die Küche sehen? Abends koche ich nämlich selbst. Über dem Spülbecken habe ich heißes Wasser. Für den Müll …«
Stolz öffnete sie den Schacht des Müllschluckers.
»Es ist Viertel vor zwei. Wenn nicht sofort ein Bus kommt …«
»Ich bringe Sie mit dem Taxi zurück.«
»Nicht bis zum Geschäft, sonst denken meine Kollegen noch …«
Mascouvin. Le Cloaguen. Mascouvin. Le Cloaguen. Immer wieder drängten sich Maigret diese beiden auf. Auch wenn er versuchte, an den Mann mit den Hechten zu denken. Stets verloren sich Monsieur Blaises Umrisse im Hintergrund. Vielleicht weil der Kommissar bei ihm nicht die gleiche menschliche Betroffenheit verspürt hatte?
»Vielen Dank für das üppige Mittagessen, Herr Kommissar … Sie sind sicher, nicht wahr, daß Joseph …«
Auf den Terrassen der Cafés verdauten Menschen allzu reichliche Mahlzeiten. Andere fuhren in überfüllten Autobussen zu den Rennplätzen.
Maigret hatte Zeit und ging zu Fuß den Boulevard Malesherbes entlang, dann die Avenue Villiers. Um halb drei erreichte er den Boulevard des Batignolles und hielt einen Augenblick nach Janvier Ausschau.
Der Inspektor rief ihn aus einer kleinen Gaststätte für Fernfahrer an, wo er vor den Resten eines Mittagessens und einem Calvados saß.
»Einen Calvados, Chef? Er ist nicht schlecht. Viel gibt es nicht zu berichten von heute morgen. Der alte Mann ist wie gewöhnlich um halb neun fortgegangen. Ich bin ihm auf seinem Spaziergang gefolgt, nachdem ich einen Streifenpolizisten angewiesen hatte, das Haus im Auge zu behalten. In aller Gemächlichkeit haben wir ein hübsches Stück Weg zurückgelegt, zum Bois de Bologne und zurück über die Porte Maillot. Ein paar Minuten vor zwölf war er wieder zu Hause. Unterwegs hat er mit niemandem gesprochen.«
»Der Streifenpolizist?«
»Ich habe ihn gefragt, als ich ihn abgelöst habe. Die Damen waren nicht fort. Fleisch und Gemüse ist angeliefert worden. Offensichtlich haben sie es telefonisch bestellt. Gegen zehn Uhr ist ein Fahrradbote vom Palais de Justice gekommen.«
»Ich weiß.«
»Dann wissen Sie alles. Ich bin ziemlich spät zu Tisch gegangen, weil ganz in der Nähe eine Baustelle ist und die Arbeiter hier essen. Es war kein Tisch frei. Ich bin zur Place Clichy gegangen und habe von dort telefoniert … Was sagen Sie zum Calvados? Sehr ordentlich, nicht? Ich sage, man muß in solche Fernfahrerkneipen gehen …«
Vor dem Haus gegenüber hielt ein Auto. Maigret stand auf.
»Kümmere dich um die Rechnung. Bis gleich.«
»Soll ich bleiben?«
»Ja.«
Ein zweiter Wagen folgte in kurzem Abstand. Im ersten saßen zwei Männer mittleren Alters und ein kräftiger Bursche, wohl ein Pfleger, der eine umfangreiche Tasche trug. Dem anderen entstieg der Untersuchungsrichter, begleitet von Dr. Paul, dem Gerichtsmediziner.
»Sieh da! Guten Tag, Maigret. Ich wußte nicht, daß ich Sie hier treffen würde … Na, was ist nun? Verrückt? Nicht verrückt? Irgendeine Meinung müssen Sie sich doch gebildet haben! … Guten Tag, Herr Professor … Tag, Delaigne. Was war mit dieser Amnesiegeschichte? Ein Simulant, oder?«
Auf dem Bürgersteig stehend, tauschten sie Höflichkeiten aus, machten sie sich miteinander bekannt. Die gute Laune war offenkundig, und niemand hätte auf den Gedanken kommen können, daß diese gesetzten älteren Herren gekommen waren, um über das Schicksal eines Mitmenschen zu entscheiden.
»Wollen wir hinaufgehen? Führen Sie uns, lieber Kommissar, Sie kennen das Haus ja schon.«
Die bunten Glasfenster des Treppenhauses warfen Farbtupfer auf die Gesichter – teils blutrot, teils glänzend wie Goldstücke. Maigret klingelte. Schritte in der Wohnung. Schließlich ging die Tür auf.
»Treten Sie ein, meine Herren«, meinte der Kommissar und trat zur Seite.
Madame Le Cloaguen wiederholte:
»Treten Sie ein.«
Was war los? Sie war nervös. Während sie die Herren in den Salon führte, fragte sie Maigret, den einzigen, den sie kannte:
»Wo ist er?«
»Von wem sprechen Sie? … Wie Sie wissen, sind diese Herren hier, um Ihren Mann auf seinen Geisteszustand zu untersuchen. Sie haben doch die Mitteilung bekommen. Der Untersuchungsrichter hier hat Sie Ihnen heute morgen zustellen lassen.«
»Darum ging es also?«
»Hören Sie, Madame. Heute morgen gegen zehn Uhr, als Monsieur Le Cloaguen seinen Spaziergang machte, hat Ihnen ein Fahrradbote ein amtliches Schreiben überbracht.«
»Ja, aber es war an meinen Mann adressiert.«
»Sie haben es nicht geöffnet? Sie wissen nicht, was darin stand?«
»Ich pflege keine Briefe zu lesen, die nicht an mich adressiert sind. Ich habe den Umschlag – gelb war er, das erinnere ich mich – hierher gelegt. Sehen Sie!«
Sie öffnete eine Tür und wies auf ein Tischchen im Vorzimmer. Tatsächlich lag zu seinen Füßen der gelbe Umschlag mit dem Briefkopf der Staatsanwaltschaft. Der Umschlag war leer.
»Was ist geschehen?«
»Ich weiß nicht. Mein Mann ist wie gewöhnlich zum Essen nach Hause gekommen.«
»Hat er den Brief gelesen?«
»Ich nehme es an, da weder meine Tochter noch ich den Brief geöffnet haben. Wir haben zu dritt gegessen. Ich weiß noch nicht einmal, ob abgeräumt ist … Nein, unser Mädchen hat Urlaub.«
Sie öffnete eine andere Tür, und die Besucher erblickten auf dem Tisch des Eßzimmers drei Gedecke, Obst und einen Rest Käse.
»Sehen Sie? Ich war der Meinung, Octave sei anschließend in sein Zimmer gegangen, um Mittagsruhe zu halten. Er ist sehr verschlossen, sehr …«
Bewundernswert die Unverfrorenheit, mit der sie sprach. Und das, wo sie den Alten wie ein ungezogenes Kind unter Verschluß hielt!
»Ist er nicht in seinem Zimmer?«
»Nein, ich habe gerade nachgesehen. Außerdem hängt sein Mantel nicht an der Garderobe. Er muß fortgegangen sein.«
»Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?«
»Um fünf vor halb eins waren wir mit dem Essen fertig. Wir essen früh … Aber wollen Sie mir nicht sagen, was diese Herren …?«
Maigret bedachte den betretenen Untersuchungsrichter mit einem unfrohen Lächeln. Madame Le Cloaguen war nicht aus der Fassung zu bringen.
»Sie müßten besser wissen als ich, wo er sich befindet, da unser Haus doch von morgens bis abends und von abends bis morgens unter Beobachtung steht!«
Der Kommissar ging zum Fenster und sah Janvier auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig. Er stocherte in den Zähnen, ohne das Haus aus den Augen zu lassen.
Die beiden Psychiater wurden ungeduldig. Es drängte sie, zu ihrer Arbeit zurückzukehren, da niemand da war, den sie hätten untersuchen können.
Verblüfft fragte der Richter:
»Sind Sie sicher, Madame, daß er nicht in der Wohnung ist?«
Und sie, ganz von oben herab, soweit das ihre bescheidene Körpergröße erlaubte:
»Was hindert Sie daran, die Wohnung zu durchsuchen? So wie die Dinge stehen …«
Eine Stunde später stand es eindeutig fest: Octave Le Cloaguen, sein Überzieher und sein Hut waren verschwunden.