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Ein Herr protestiert
V
iel fehlte nicht, und Maigret hätte sich seines Berufs geschämt. Von Zeit zu Zeit trat er wie ein Schauspieler, der einen »Abgang« benutzt, um sich hinter den Kulissen den Schweiß von der Stirn zu wischen und seine Muskeln und Gesichtszüge zu lockern, ins Nebenzimmer, wo sich Lucas aufhielt, dem kaum wohler zumute war.
»Nichts?« fragten die Augen seines Mitarbeiters.
Nichts. Maigret nahm einen Schluck Bier und trat mißmutig, besorgt, fast angewidert vor das offene Fenster.
»Was macht sie?«
»Sie hat sich schon zum dritten Mal an den Amtsdiener gewendet und will unbedingt mit Ihnen sprechen. Das letzte Mal hat sie den Kriminaldirektor verlangt.«
Das war die eher komische Seite der Angelegenheit. Um zwei Uhr, dem Zeitpunkt, da er Octave Le Cloaguen zur Vernehmung bestellt hatte, hatte der Kommissar durchs Fenster gesehen, wie ein Taxi auf dem Quai des Orfèvres stoppte. Während das Fahrzeug am Straßenrand gehalten hatte, war eine magere Gestalt ausgestiegen – Madame Le Cloaguen. Maigret hatte gelächelt und dann einem der Inspektoren eine Anweisung gegeben.
Ja, es hatte eher als Farce begonnen.
»Haben Sie eine Vorladung? Sind Sie Monsieur Octave Le Cloaguen?« hatte der Amtsdiener mit todernstem Gesicht gefragt.
»Ich möchte den Kommissar sprechen. Ich werde ihm erklären …«
Sie wurde in den berüchtigten Warteraum mit den Glaswänden geführt, wo sich die Patienten – so wurden sie genannt – unter den gleichmütigen oder ironischen Blicken der Inspektoren ein bißchen wie Tiere im Käfig vorkamen.
Inzwischen ging ein Beamter Le Cloaguen holen, der im Taxi wartete.
»Hat meine Frau gesagt, ich soll hinaufkommen?«
»Der Kommissar.«
»Wo ist meine Frau?«
Jetzt saß der Alte im grünen Überzieher schon fast drei Stunden auf dem gleichen Stuhl in Maigrets Büro, dem offenen Fenster gegenüber.
Jedesmal, wenn der Kommissar, nach ein paar Augenblicken der Erholung bei Lucas, wieder hereinkam, begegnete er schon auf der Schwelle Le Cloaguens hellen Augen, diesem Blick eines Hundes, der nicht viel vom Menschen zu erwarten hat, dessen Herrschaft er aber auch nicht zu entgehen vermag.
Ja, das traf die Sache genau. Eine Schicksalsergebenheit, die wehtat, weil sie den Eindruck vermittelte, der Alte habe viel leiden müssen, um so weit zu kommen.
Drei- oder viermal hatte er gefragt:
»Wo ist Madame Le Cloaguen?«
»Sie wartet auf Sie.«
Das beruhigte ihn nicht. Er kannte die ungeduldige und autoritäre Art seiner Frau und konnte sich nicht vorstellen, daß sie ruhig in einem Vorzimmer sitzenblieb.
Traditionsgemäß hatte Maigret mit der »sanften Tour« begonnen, dem Verhör, das in freundlichem, herzlichem Ton begann und bei dem der Eindruck entstand, er messe den gestellten Fragen überhaupt keine Bedeutung bei, ja, er entschuldigte sich dafür, einer bloßen Formalität genügen zu müssen.
»Ich habe neulich vergessen, einen Punkt zu klären. Nicht wahr, Sie haben uns gesagt, daß Mademoiselle Jeanne, als auf diese bestimmte Art an die Tür geklopft wurde, damit beschäftigt war, Ihnen die Karten zu legen?«
Le Cloaguen hörte zu, ohne zu antworten, schien nicht zu verstehen.
»Mademoiselle Jeanne hat Sie durch eine Tür geschoben, die sie dann hinter Ihnen verschlossen hat. Ich würde nun gern wissen, ob die Karten auf dem Tischchen liegengeblieben sind, oder ob sie sie weggelegt hat. Lassen Sie sich Zeit, denken Sie gut nach. Der Untersuchungsrichter mißt dieser Frage, Gott weiß warum, eine Bedeutung bei, die ich für übertrieben halte …«
Le Cloaguen rührte sich nicht. Er seufzte. Seine merkwürdigen Hände lagen auf den Knien, diese Hände, die, wie neulich im Taxi, Maigrets Aufmerksamkeit erregten.
»Versuchen Sie sich die Szene noch einmal zu vergegenwärtigen. Es ist heiß. Die Balkontür steht offen. Ringsum ist es hell, und die bunten Karten sind auf der Marmorplatte des Louis-XVI.-Tisches ausgebreitet …«
Der Blick des Alten schien zu sagen:
»Begreifen Sie denn nicht, daß ich leide, daß Sie dabei sind, ein armes, wehrloses Geschöpf zu quälen?«
Beschämt wandte Maigret die Augen ab und murmelte:
»Antworten Sie doch! Ich bitte Sie. Dies hier ist kein offizielles Verhör. Ihre Antworten werden nicht zu Protokoll genommen. Die Karten sind auf dem Tischchen geblieben, nicht wahr?«
»Ja.«
»Sind Sie sicher?«
»Ja.«
»Hat Mademoiselle Jeanne Ihnen die Tarockkarten gelegt?«
»Ja.«
Da stand Maigret auf, ging zur Tür und rief Lucas, wobei seine Stimme einen barschen Klang annahm.
»Kommen Sie doch einmal her, Wachtmeister! Ich muß feststellen, daß Ihre Informationen unzutreffend sind. Denn daß Monsieur Le Cloaguen gelogen haben sollte, kann ich mir nicht vorstellen.«
Es war schon so, wie es einmal ein Innenminister ausgedrückt hatte: Die Polizei ist kein Verein für Chorknaben. Oder werden Mörder etwa von Skrupeln geplagt?
»Sie haben mir doch versichert, Wachtmeister, daß Mademoiselle Jeanne nie Karten gelegt hat, daß es überhaupt keine in ihrer Wohnung gegeben hat.«
»Das ist richtig. Alle Zeugen sind sich darin einig. Mademoiselle Jeanne war keine Kartenlegerin, sondern medial veranlagte Hellseherin. Sie versetzte sich nach Art der Orientalen mit Hilfe einer Kristallkugel in Trance.«
»Also, Monsieur Le Cloaguen! Gewiß haben Sie meine Frage eben falsch verstanden. Oder haben Sie geantwortet, ohne nachzudenken? Es lagen keine Karten auf dem Tischchen, nicht wahr?«
Schweißperlen liefen dem Alten über die Stirn, auf der die Adern hervortraten.
»Ich weiß nicht«, stöhnte er.
»Sie können gehen, Lucas! … Es tut mir leid, daß ich ein heikles Thema anschneiden muß, Monsieur Le Cloaguen. Ich glaube, annehmen zu können … Oder vielmehr es ist deutlich, offensichtlich, daß Sie keine sehr glückliche Ehe führen. Angesichts dieser Umstände haben Sie wie viele Männer in Ihrem Alter anderswo Trost gesucht, Freundschaft, Zuneigung, die Wärme einer Frau. Von Anfang an habe ich gewußt, daß Sie nicht der Mann sind, sich die Zukunft wahrsagen zu lassen. Sie waren nicht als Kunde in der Rue Caulaincourt. Deshalb hat Ihre Freundin Sie in der Küche versteckt!«
Der andere wagte nicht mehr Ja und nicht mehr Nein zu sagen. Welchen neuen Schlag hatte er vom Kommissar zu erwarten, nachdem dieser im Nebenzimmer frische Kräfte gesammelt und seine Pfeife mit nervtötender Langsamkeit entzündet hatte?
»Nur Sie können uns helfen. Wir wissen sehr wenig vom Opfer. Wir wissen lediglich, daß sie in Paris als Näherin begonnen hat, daß sie dann Mannequin wurde. Schließlich hat sie in der Rue Saint-Georges einen bescheidenen Modesalon unter dem Firmennamen ›Chez Jeanne‹ eröffnet. Der Vorname Jeanne ist ihr geblieben. Die Geschäfte gingen schlecht, und sie ist in die Rue Caulaincourt gezogen. Was hatte sie für Bekannte? Wer waren ihre Freunde? Es wäre wichtig, das festzustellen.«
»Ich weiß nicht.«
»Kommen Sie! Ich habe Verständnis für Ihre Zurückhaltung. Aber vergessen Sie nicht, wir wollen nur, daß der Mörder Ihrer Freundin seine gerechte Strafe bekommt!«
Es war gespenstisch! Der Alte weinte: große Tränen liefen ihm lautlos über das Gesicht, ohne daß er eine Bewegung machte, sich die Augen wischte, seine knotigen Hände von den Knien nahm! Um seine Rührung zu verbergen, wandte Maigret sich ab, sah aus dem Fenster und betrachtete einen Schleppzug, der vorbeizog.
»All das geht niemanden etwas an, weder Ihre Frau noch sonst jemanden. Ich hätte auch Verständnis dafür, wenn Sie, reich wie Sie sind, einer jungen Frau, die in Schwierigkeiten steckte, finanziell unter die Arme gegriffen hätten. Denn irgend jemand hat ihr geholfen. Von den paar Kunden, die sie hatte, konnte sie nicht leben. Sie hat zwar kein Leben in Luxus geführt, aber bestimmt keine Sorgen gehabt. Und Sie haben ein Jahreseinkommen von zweihunderttausend Francs!«
Die Komödie nahm ihren Fortgang. Nachlässig schob Maigret die auf seinem Schreibtisch verstreut liegenden Papiere hin und her.
»Einer meiner Leute hat sich die Mühe gemacht, Erkundigungen über Ihre finanzielle Situation einzuholen. Ziemlich sonderbar! … Ich möchte aber betonen, daß wir nur Dinge über Sie erfahren haben, die Ihnen zur Ehre gereichen. Vor dreißig Jahren waren Sie an Bord eines Passagierdampfers, der nach Fernost fuhr. An Bord war auch ein ungeheuer reicher Viehzüchter mit seiner Tochter. Gelbfieber brach aus …«
Maigret tat noch immer so, als zöge er eine Akte zu Rate.
»Es scheint, daß Sie sich fabelhaft verhalten und eine Panik verhindert haben. Außerdem haben Sie das junge Mädchen gerettet. Dann sind Sie aber selbst angesteckt worden und mußten nach dem Einlaufen in den nächsten Hafen von Bord gebracht werden. Der dankbare Argentinier beschloß, Ihnen auf Lebenszeit eine jährliche Rente von zweihunderttausend Francs auszusetzen. Sie sind zu beneiden, Monsieur Le Cloaguen … Nach Frankreich zurückgekehrt, haben Sie das junge Mädchen geheiratet, mit dem Sie verlobt waren. Sie haben die Seefahrt an den Nagel gehängt und sich in Saint-Raphaël niedergelassen, wo Sie lange Jahre ein angenehmes Leben geführt haben. Leider ist Ihre Frau mit zunehmendem Alter immer geiziger und herrschsüchtiger geworden. In Paris hat sich Ihr Leben dann grundlegend verändert …«
Ob sich der Alte nicht fragte, wie lange dieses grausame Spiel noch dauern sollte? Alle Augenblicke entstand der Eindruck, es sei vorbei. Maigret stand auf und ging lächelnd zur Tür wie jemand, dessen Aufgabe erledigt ist, dann aber schien ihm einzufallen, daß er doch noch eine Frage zu stellen hatte – eine ganz belanglose Frage, ohne jede Bedeutung.
»Wann haben Sie übrigens diesen Unfall gehabt? Das war in Saint-Raphaël, nicht wahr, unmittelbar vor Ihrer Übersiedlung nach Paris? … Sie haben Holz gehackt, nur so zum Vergnügen, denn Sie hatten ja damals zwei Hausangestellte. Die Axt ist abgerutscht. Das kostete Sie das erste Glied des rechten Zeigefingers, was recht hinderlich sein muß. Das wär’s. Weitere Fragen habe ich nicht, Monsieur Le Cloaguen.«
Na also, es war vorbei. Doch der Alte schien Maigrets Methode jetzt zu durchschauen, denn er stand noch nicht auf. Nur sein Blick fragte, ob er wirklich gehen könne.
»Gestern habe ich mit einem Ihrer Freunde gesprochen. Warten Sie, sein Foto muß hier irgendwo in der Schublade sein.«
Das Bild zeigte Monsieur Blaise auf einem der großen Boulevards.
»Wie war doch gleich sein Name? Sie müssen sich eigentlich an ihn erinnern. Er hat mir gesagt …«
Vergebliche Liebesmühe! Le Cloaguen betrachtete das Foto, ohne eine besondere Regung zu zeigen. Er schien sogar erleichtert zu sein, als hätte er etwas anderes erwartet.
»Sie erinnern sich überhaupt nicht? Gewiß haben Sie ihn schon lange aus den Augen verloren? Auch gut.«
Maigret ging ins Nebenzimmer. Lucas zwinkerte ihm zu.
»Noch ein paar Minuten, und seine Frau schlägt Krach. Es hält sie nicht mehr auf ihrem Platz. Alle fünf Minuten wendet sie sich an den Amtsdiener. Sie wird laut und will den Direktor sprechen. Sie droht, sich bei der Presse zu beschweren und alle ihre Beziehungen spielen zu lassen.«
Seit drei Stunden wartete sie, seit drei Stunden saß der Alte Maigret gegenüber und litt. Und trotzdem ließ Maigret nicht locker. Er wurde aus diesem Mann nicht schlau. Er witterte ein Geheimnis, das ihn erbitterte. Gleichzeitig konnte er nicht umhin, eine gewisse Sympathie für ihn zu empfinden, die nicht nur Mitleid war.
Die »sanfte Tour« nahm ihren klassischen Fortgang. Maigrets Miene wurde ernst, verwirrt.
»Also da ist etwas, was die Sache nicht gerade vereinfacht. Der Untersuchungsrichter ruft an und teilt mit, daß sich soeben ein neuer Zeuge bei der Staatsanwaltschaft gemeldet hat. Ein Mann, der unmittelbar gegenüber dem Hause 67a in der Rue Caulaincourt wohnt. Er behauptet, er habe Sie am Freitag kurz nach fünf den Schlüssel aus dem Fenster werfen sehen. Man hat den Schlüssel gefunden.«
»Ist mir egal«, seufzte Le Cloaguen.
»Trotzdem, diese Aussage vereinfacht Ihre Situation nicht gerade und …«
Maigret legte einen Schlüssel auf den Schreibtisch.
»Sie wissen sehr gut, Herr Kommissar, daß es nicht stimmt«, murmelte der Alte mit entwaffnender Friedfertigkeit.
»Hören Sie, Monsieur Le Cloaguen. Sie müssen zugeben, daß Ihr Leben zumindest einige Rätsel aufgibt. Sie sind reich, intelligent. Sie sind ein ausgezeichneter Schiffsarzt gewesen. Sie haben Mut bewiesen, wie aus Ihren Papieren hervorgeht. Doch plötzlich leben Sie wie ein Bettler, plötzlich werden Sie zu Hause wie ein lästiger Zeitgenosse eingesperrt, verbringen Sie Ihre Tage damit, die Straßen und Quais entlangzulaufen. Was hat diese Veränderung bewirkt? Warum sind Sie von Saint-Raphaël nach Paris gezogen? Warum …?«
Le Cloaguen hob den Kopf. In seinen hellen Augen lag tragische Naivität, als er murmelte:
»Sie wissen genau, daß ich verrückt bin.«
»Sie wollen sagen, daß gewisse Leute – Ihre Frau, vielleicht auch Ihre Tochter – Ihnen einzureden versuchen, Sie seien verrückt?«
Er schüttelte den Kopf. Leidenschaftslos und hartnäckig wiederholte er:
»Nein, ich bin verrückt.«
»Bedenken Sie die Tragweite dessen, was Sie da sagen. Wenn Sie wirklich verrückt sind, was ich nicht glaube, spricht nichts gegen die Annahme, daß Sie Mademoiselle Jeanne ermordet haben. Verrückte sind unberechenbar. Sie sind bei ihr in der Wohnung. Da kommt Ihnen der Gedanke, sie zu töten. Sie setzen ihn in die Tat um. Dann kommen Sie wieder zu Verstand und haben Angst vor den Folgen Ihrer Tat. Um nicht in Verdacht zu geraten oder weil Sie Schritte auf der Treppe hören, schließen Sie sich in der Küche ein und werfen den Schlüssel aus dem Fenster.«
Der andere antwortete nicht.
»War es so?«
Fast hatte Maigret Angst, ein Ja zu hören, obwohl das doch seine Untersuchung beendet hätte. Doch das Ergebnis, das er erzielte, war ein anderes. Nach drei langen Stunden fiel endlich eine Bemerkung, die ein bißchen Licht in die Angelegenheit brachte:
»Ich bin verrückt, aber ich habe Jeanne nicht getötet.«
»Sie haben sie Jeanne genannt. Sie geben also zu, daß Sie in recht intimer Beziehung zu ihr gestanden haben! Sagen Sie genau, welcher Art diese Beziehung war. Haben Sie keine Scheu! Wir sind hier allerlei gewöhnt.«
»Ich habe nichts zu sagen. Ich bin sehr, sehr müde.«
Schüchtern fügte er hinzu:
»Ich habe Durst.«
Da ging Maigret noch einmal nach nebenan und kam mit einem großen Glas Bier zurück. Das Gesicht des Alten neigte sich nach hinten, der Flüssigkeitsspiegel im Glas sank, während man den Adamsapfel heftig arbeiten sah.
»Wo ist Ihre Frau am Sonntag zwischen elf und vier Uhr gewesen?«
»Ich habe gar nicht gewußt, daß sie fort war.«
»Sie sind in Ihrem Zimmer eingeschlossen worden?«
Er antwortete nicht, senkte den Kopf. Maigret hätte viel für einen Augenblick der Aufrichtigkeit gegeben. Noch nie hatte er einen Menschen erlebt – und dieses Büro am Quai des Orfèvres hatte schon einige gesehen! –, noch nie hatte er einen Menschen erlebt, der von einer so undurchdringlichen Atmosphäre des Geheimnisses umgeben war. Der Kommissar war gereizt und gerührt zugleich. Gelegentlich kam ihm die Wut hoch, und er hätte …
»Also, hören Sie, Le Cloaguen, Sie wollen doch nicht behaupten, Sie wüßten überhaupt nichts, noch nicht einmal, warum man Sie wie einen Aussätzigen einsperrt.«
»Weil ich verrückt bin.«
»Verrückte geben nie zu, daß sie verrückt sind.«
»Trotzdem bin ich verrückt! Ich habe keinen Mord begangen, Herr Kommissar. Ich habe nichts Böses getan. Ich schwöre Ihnen, Sie irren sich, wenn Sie …«
»Dann reden Sie, zum Donnerwetter!«
»Was soll ich sagen?«
Entweder er war unbeschreiblich dumm oder …
»Sehen Sie mich an! Hier auf dem Tisch liegt ein Haftbefehl, der auf Ihren Namen ausgestellt ist. Wenn Ihre Antworten nicht zu meiner Zufriedenheit ausfallen, kann ich Ihnen eine Nacht in Polizeigewahrsam verschaffen.«
Das Ergebnis dieser Worte war überaus verblüffend. Statt den Alten zu erschrecken, schienen sie ihn zu beruhigen, zu befriedigen. Man hatte den Eindruck, die Aussicht, ins Gefängnis zu wandern, sei ihm durchaus nicht unangenehm.
War es der Gedanke, der erbarmungslosen Herrschaft der beiden Frauen für eine Weile zu entkommen?
»Warum lassen Sie das alles klaglos über sich ergehen? Unter uns Männern: Alle Nachbarn zerreißen sich das Maul über Sie, die einen voller Verachtung, die anderen voller Mitleid.«
»Meine Frau kümmert sich um mich.«
»Indem Sie sie im Winter wie im Sommer in einem alten Überzieher rumlaufen läßt, für den sich selbst ein Clochard bedanken würde? Indem sie Ihnen noch nicht einmal so viel Geld gibt, daß Sie sich Tabak kaufen können? Gestern hat ein Inspektor gesehen, wie Sie eine Kippe von der Straße aufgesammelt haben, als wären Sie der letzte Abschaum. Und dabei haben Sie zweihunderttausend Francs Rente.«
Er antwortete nicht. Maigret packte die Wut.
»Sie werden in das düsterste und schäbigste Zimmer des Hauses gesperrt. Vor Gästen werden Sie versteckt, als müsse man sich Ihrer schämen, als seien Sie ein Schandfleck!«
»Ganz bestimmt, sie kümmern sich um mich!«
»Sie meinen, Ihre Frau und Ihre Tochter lassen Sie nicht zugrunde gehen? Sie wissen doch genau, warum! Der argentinische Viehzüchter, der Ihnen aus Dankbarkeit eine Rente ausgesetzt hat, hat die Schenkungsurkunde wahrscheinlich so abgefaßt, daß Ihre Erben nichts mehr bekommen, wenn Sie tot sind. Nur an Sie wird die Pension von zweihunderttausend Francs ausgezahlt. Sie wissen genau, nicht wahr, Monsieur Le Cloaguen, warum man sich um Sie kümmert, wie Sie das nennen?«
War der Mann ein Heiliger?
»Ich schwöre Ihnen, Herr Kommissar …«
»Es reicht! Sie schaffen es noch, daß ich aus der Haut fahre. Hören Sie, noch behalte ich Sie nicht da. Ich hoffe, Sie kommen zur Vernunft und sehen ein, daß es das Beste ist, wenn Sie die ganze Wahrheit sagen … Lucas! Lucas!«
Lucas kam herein und bemerkte, daß der Chef in Schweiß gebadet war und nur mühsam an sich hielt.
»Schicken Sie Madame Le Cloaguen herein!«
Und schon zitterten die Hände des Alten wieder, trat ihm wieder dieser erbärmliche Angstschweiß auf die Stirn. Schlug sie ihn etwa?
»Treten Sie ein, Madame! … Schweigen Sie! … Ich muß Sie bitten, den Mund zu halten! Ich weiß, Sie sind empört, weil Sie stundenlang warten mußten. Aber das haben Sie sich selbst zuzuschreiben … Schweigen sollen Sie! Ich habe Ihren Mann vorgeladen, nicht Sie! Er ist alt genug, um allein zum Quai des Orfèvres zu finden. Das nächste Mal werden Sie noch nicht mal ins Haus gelassen … Hier haben Sie ihn wieder! Ich weiß noch nicht, ob andere Maßnahmen erforderlich sein werden. Jedenfalls wird er wohl einer medizinischen Untersuchung unterzogen werden, damit wir wissen, ob er verrückt ist oder nicht … Sie können gehen … Ich habe Sie gebeten, zu gehen, haben Sie nicht verstanden? Wir haben uns nichts mehr zu sagen! Beschweren Sie sich, bei wem Sie wollen. Auf Wiedersehen, Madame.«
Uff! Endlich hatte sich die Tür hinter den beiden geschlossen. Beeindruckt betrachtete Lucas den Chef, der sich den Schweiß abwischte, allmählich seine Ruhe wiedergewann und sich sogar ein Lächeln abrang.
»Nun?«
»Nichts, mein Bester. Absolut nichts. Ich kann diese Frau nicht ausstehen, das ist alles! Ich würde viel darum geben, wenn wir sie anstelle ihres Mannes in der Küche in der Rue Caulaincourt angetroffen hätten.«
Lucas lächelte. Noch nie hatte er Maigret so wütend erlebt.
»Das bringt mich auf eine Idee«, fuhr der Kommissar plötzlich gedankenverloren fort.
Er ließ den Satz in der Luft hängen, heftete seinen Blick auf das Lichterpanorama der Seine, das bunte Gewimmel des Pont Saint-Michel.
»Auf was für eine Idee bringt Sie das?«
»Ach nichts. Ich muß wissen, wo diese Frau am Freitagnachmittag gewesen ist, und zwar ganz genau. Kümmere dich darum!«
»Warum haben Sie sie nicht gefragt, was sie am Sonntag gemacht hat?«
»Darum nicht!«
Weil er überzeugt war, daß sie darauf gefaßt war, daß sie eine Antwort parat hatte und daß sie, gerade weil man sie überhaupt nichts gefragt hatte, verärgert und beunruhigt war. Und während sie jetzt im Taxi davonfuhr, würde sie einiges an Ängsten ausstehen.
»Glauben Sie, daß …«
»Ich glaube gar nichts. Wer weiß? Vielleicht gönne ich mir eine Reise nach Saint-Raphaël. Und was macht das andere Wundertier, der Dummkopf Mascouvin? Hast du mit dem Hôtel-Dieu telefoniert?«
»Sein Zustand ist zufriedenstellend. Seine Schwester hat ihn besucht, aber er hat sie nicht erkannt. Es wird noch ein paar Tage dauern, bis er …«
»Und der Mann mit dem grünen Kabriolett?«
»Nichts. Er muß jetzt einen anderen Wagen haben. Wir sind schon beim zwanzigsten grünen Kabriolett, und noch keinen hat das Mädchen aus dem Milchladen wiedererkannt.«
Es klopfte. Der Amtsdiener.
»Der Chef möchte Sie sprechen, Herr Kommissar.«
Maigret und Lucas wechselten einen Blick. Während einer Untersuchung war das kein gutes Zeichen. Es bedeutete, daß irgend etwas schiefgegangen war, daß es Ärger gab, Beschwerden oder sonst etwas. Maigret war nicht in der Stimmung, einen Rüffel einzustecken oder auch nur einen Rat anzunehmen. Man brauchte nur zu sehen, wie er seine Pfeife zwischen die Zähne klemmte, um zu ahnen, in welcher Verfassung er war.
Er stieß die Polstertür auf.
»Sie haben nach mir verlangt?«
Schweigend reichte ihm der Direktor einen Rohrpostbrief, den er offensichtlich soeben bekommen hatte. Er wirkte ein bißchen verkniffen – vielleicht unzufrieden, vielleicht einfach ironisch? Maigret las:
Sehr geehrter Herr Direktor,
ich möchte mir erlauben, Ihnen einige Tatsachen zur Kenntnis zu bringen, bezüglich derer ich von Ihrer Dienststelle eine Erklärung erwarte. Andernfalls sehe ich mich gezwungen, offiziell Protest einzulegen.
Als ich letzten Sonntag von meinem gewohnten Ausflug nach Morsang-sur-Seine zurückkehrte, habe ich von meiner Concierge erfahren, daß kurz zuvor eine Person, die sich als Polizeiinspektor ausgab, in die Pförtnerloge eingedrungen war und eine Reihe von Fragen zu meiner Person, meinen Einkünften, meinen Gewohnheiten gestellt hatte.
Meine Concierge hat den Betreffenden leider nicht aufgefordert, sich auszuweisen. Ich habe allen Anlaß zu der Annahme, daß es sich um einen falschen Polizisten handelte.
Als ich nämlich vom Fenster aus die Umgebung musterte, konnte ich feststellen, daß er mich von einem kleinen Café an der Place Saint-Georges, dem Vieux Pouilly, aus belauerte.
In Kenntnis der Tatsache, daß ich allein lebe und meine Mahlzeiten im Restaurant einnehme, wollte er offensichtlich abwarten, bis ich fort war, um meiner Wohnung dann einen einträglichen Besuch abzustatten.
Ich will Ihnen nicht verhehlen, daß ich an der Börse spekuliere, wie es das gute Recht eines jeden französischen Bürgers ist, und daß ich gewöhnlich beträchtliche Summen und Wertpapiere in der Wohnung aufbewahre.
Ich habe die oben genannten Tatsachen beim zuständigen Polizeirevier gemeldet und um Polizeischutz gebeten. Kurz darauf habe ich tatsächlich einen Beamten in Uniform in der Rue Notre-Dame-de-Lorette eintreffen sehen.
Der Mann, der mich beschattete, hat mit ihm gesprochen. Die beiden Männer gaben sich die Hand und der uniformierte Polizist ging achselzuckend fort.
Auch am folgenden Tag war mein Beschatter wieder auf seinem Posten. Er wurde von einem Mann mittleren Alters mit aufgedunsenem Gesicht und schlecht sitzendem Anzug angesprochen, mit dem er anschließend auf ein Glas in das Vieux Pouilly ging …
Der Kriminaldirektor konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen, denn unverkennbar war in dem Brief vom Kommissar die Rede.
Ich kann mich des Gedankens nicht erwehren, daß es sich um eine organisierte Bande handelt, die es auf mein Geld abgesehen hat. Den ganzen Montag über wurde ich von verdächtigen Gestalten verfolgt, die sich abzulösen schienen und alle eine ziemlich klägliche Figur machten.
Als ich mich schließlich, wie jede Woche, zu Proud & Drouin begab, den Maklern, die sich meiner Börsengeschäfte annehmen, mußte ich erfahren, daß der Mann mit dem aufgedunsenen Gesicht dort gewesen war und sich erkundigt hatte, ob ich ein Kunde der Firma sei.
Ich möchte Sie bitten, alles in Ihren Kräften stehende zu veranlassen, um diese Vorfälle zu klären und eine Sachlage zu beenden, die mir beunruhigend erscheint.
In Erwartung Ihrer Antwort bin ich mit vorzüglicher Hochachtung, Ihr
Emile Blaise, Rentier.
Rue Notre-Dame-de-Lorette 25
»Nun, mein lieber Maigret?«
Der Kommissar, der schon beim Hereinkommen in Fahrt gewesen war, ließ ein dröhnendes Brummen hören, das an einen gereizten Bären erinnerte.
»Was halten Sie davon? Entweder ist dieser Monsieur Blaise …«
Woraufhin Maigret explodierte:
»Monsieur Blaise? Monsieur Blaise? Monsieur Blaise nimmt Sie auf den Arm, Chef!«
»Und Sie auch, wie mir scheint.«
»Mich auch, ja.«
»Sind Sie wirklich bei Proud & Drouin gewesen?«
»Ja, und verdammt recht hatte ich damit. Ich kann Ihnen das jetzt nicht im einzelnen erklären, aber erinnern Sie sich an Mascouvin, den Mann, der uns die besagte Schreibunterlage gebracht hat? Nun, Mascouvin war Angestellter bei Proud & Drouin.«
»Aber Monsieur Blaise?«
»Einen Augenblick! Wer hat das Verbrechen entdeckt? Eine gewisse Madame Roy, Wirtin des Beau Pigeon in Morsang.«
»Ich kann immer noch nicht ganz folgen …«
»Mademoiselle Jeanne fuhr oft nach Morsang. Monsieur war jede Woche dort und angelte Hechte, die schon einmal gefangen worden waren.«
»Sagen Sie, Maigret, ich fange an zu glauben …«
»Und ich glaube, ich fange an zu verstehen. Mascouvin informiert uns über das Verbrechen, noch bevor es begangen worden ist. Mademoiselle Jeanne wird zur bezeichneten Stunde ermordet. Kurz darauf entdeckt Madame Roy den Leichnam. Monsieur Blaise ist Kunde bei Proud & Drouin und Gast bei Madame Roy. Nur dieser Le Cloaguen …«
Maigret sann einen Augenblick vor sich hin.
»Schon zwei Berührungspunkte. Proud & Drouin und Morsang. Ich glaube, ich nehme heute abend Bridgeunterricht.«
»Bridgeunterricht?«
»Bei der Comtesse. Eine sehr vornehme Dame, wie es scheint, die Pech gehabt hat und die jetzt ihren Lebensunterhalt damit verdient, daß sie Leute, die sich einsam fühlen in Paris, zum Bridgespielen in ihren Salons in der Rue des Pyramides empfängt. Natürlich nicht aus reiner Nächstenliebe. Nehmen wir an, Monsieur Blaise gehört zu ihren Gästen.«
»Na und?«
»Nichts. Ich weiß, das würde nichts beweisen. Aber Sie müssen zugeben, daß es ein merkwürdiger Zufall wäre, wo doch auch Mascouvin, der Angestellte von Proud & Drouin, jeden Abend Bridge bei der Comtesse spielte. Wenn nur Le Cloaguen, dieser senile …«
Verstohlen zuckte der Kriminaldirektor die Achseln, was soviel heißen mochte wie: »Meinetwegen, man darf ihn wohl im Moment nicht reizen!«
Er reichte Maigret die Hand.
»Viel Glück, mein Lieber! Ach ja, vielleicht sollten wir diesem Monsieur Blaise gegenüber ein bißchen Vorsicht walten lassen. Der Herr scheint empfindlich zu sein und wild entschlossen, uns Unannehmlichkeiten zu machen. Wenn sich die Presse einmischt oder wenn er einen Abgeordneten einschaltet …«
Gewiß doch, Herr Direktor! Wir werden äußerst behutsam sein, aber man merkt, daß Sie sich nicht drei Stunden lang mit diesem äußerst merkwürdigen Le Cloaguen abgequält haben!