6. Labyrinth

 

Thomas nahm diesmal den Rucksack und packte noch die letzte Weinflasche ein. Zum einen hatten sie dann im Hotelzimmer noch etwas Anständiges zu trinken, zum anderen musste er sich auf diese Weise nicht das Etikett merken, denn er wollte sich auf jeden Fall ein paar Kisten von diesem Jahrgang zulegen.

Sie hatten es äußerst eilig. Nayeli kuschelte sich eng an Thomas, sie zitterte ein wenig, aber bald konnten sie sich ja aufwärmen. Erst folgten sie den glühenden Steinen am Boden. Danach knipste Nayeli wieder die Taschenlampe an. Nach einigen Metern kamen sie zur ersten Kreidemarkierung. Der Weg zum Ausgang war genauso hervorragend ausgezeichnet wie der Weg hierher.

Trotzdem zögerte Thomas. Der Pfeil zeigte nach rechts, aber er hätte schwören können, dass sie nach links mussten. Was nun? Er wollte auf keinen Fall wieder einen Aufstand machen. Diesmal würde er sich zusammenreißen, er wollte Nayeli auf keinen Fall noch einmal enttäuschen. Bestimmt irrte er sich, natürlich boten die Markierungen die richtige Orientierung, also gingen sie nach rechts.

„Es ist wunderschön hier, aber ich freue mich auch, wieder mit dir im Auto zu sitzen“, sagte Nayeli.

„Ich werde die Wagenheizung auf die höchste Stufe stellen.“

So schnell es der Untergrund zuließ gingen sie weiter und folgten dem nächsten Pfeil. Musste es nicht allmählich wieder aufwärts gehen? Stattdessen fühlte es so an, als ob sie immer tiefer in der Höhle verschwanden. Ich muss mich irren, dachte Thomas. Sicher unterlag er einer Sinnestäuschung, die ungewohnte Umgebung, der Stress, das alles trübte seine Wahrnehmung. Er musste nur den Pfeilen von Secret Ways vertrauen. Nicht mehr lange und sie würden beim Ausstieg sein.

Nayeli jedenfalls schien sich nicht die geringsten Sorgen zu machen. „Weißt du, dass wir diese Höhle gerade nicht begehen, sondern sie befahren?“ Sie lachte Thomas an. „Dieser Ausdruck kommt aus der Bergwerkssprache.“

„Interessant.“ Jetzt müssten wir aber wirklich schon beim Ausgang sein, dachte Thomas. Schließlich gingen sie schneller als auf dem Hinweg und ein Rückweg fühlte sich immer kürzer an. Doch wahrscheinlich hatte er auch jegliches Zeitgefühl verloren, weil er nur daran dachte, mit Nayeli zusammen zu sein. Nein, das stimmt nicht, gestand er sich ein, an ein Federbett denke ich schon längst nicht mehr. Sein Herz schlug schneller und auf seiner Stirn hatten sich Schweißperlen gebildet. Trotzdem blieb er still und folgte der nächsten Markierung.

„Ich habe noch mehr recherchiert“, sagte Nayeli. „Es gibt sogar in solch einer Höhle noch Lebewesen. Höhlenkrebse zum Beispiel.“

Thomas stutzte. Redete Nayeli etwa deshalb so viel, weil auch sie nervös war? „Gibt es hier auch Fledermäuse?“, fragte er.

„Ich hoffe nicht“, entgegnete Nayeli. „Nicht wegen der Fledermäuse, ich glaube die sind nett, obwohl es mir schon unheimlich wäre, wenn sie zu Tausenden über mich herüber flattern. Aber Fledermauskot soll abartig stinken.“ Die Stimmung war inzwischen vollständig gekippt, aber diesmal lag es nicht an Thomas. „LED-Beleuchtung hat übrigens mehrere Vorteile in der Höhlenforschung“, referierte Nayeli weiter. „Sie hat wenig Energieaufwand, keine Hitzeentwicklung und man kann gezielt einzelne Tropfsteine anstrahlen. Außerdem hat man keinen Algenbewuchs an den Lampen, man kann nämlich die wachstumsspezifischen Lichtanteile herausfiltern.“

Normalerweise war das ein Thema für Thomas, er war schließlich ein LED-Fan der ersten Stunde, aber nicht jetzt. „Du glaubst auch, dass hier etwas nicht stimmt, oder?“

Nayeli rückte noch dichter an ihn heran. „Wir haben doch beide auf die Pfeile geachtet. Wir können uns nicht verlaufen haben, oder?“

„Es wird schon alles in Ordnung sein.“

„Nein.“ Nayeli stoppte. „Sag mir bitte ehrlich, was du denkst.“

„Nun – es fühlt sich für mich schon eine ganze Weile so an, als ob wir tiefer in die Höhle gehen.“

Nayeli blickte ihn vorwurfsvoll an. „Warum hast du das nicht schon früher gesagt?“

Na toll, dachte Thomas, egal was ich mache, es ist falsch. „Es gibt gewiss eine sinnvolle Erklärung“, versuchte er Nayeli und sich selbst zu beruhigen. „Wahrscheinlich gehört dieser Umweg zu der Tour, die du gebucht hast.“

„Ich habe aber nichts weiter gebucht. Die Tour sollte nach dem Abendessen zu Ende sein.“

„Vielleicht stand davon etwas im Kleingedruckten. Hast du das Kleingedruckte gelesen?“

„Natürlich nicht, ich lese nie das Kleingedruckte, es ist mir viel zu klein gedruckt. Aber es gab bei dieser Tour auch kein Kleingedrucktes, oder es war megaklein gedruckt.“

„Dann handelt es sich um ein Missverständnis. Secret Ways möchte uns noch etwas Schönes zeigen, was sie gerade erst entdeckt haben. Einen unterirdischen See oder einen Höhlenkrebs oder Excentriques. Jedenfalls sollten wir uns keine Sorgen machen, sondern diesen Umweg genießen. Bisher war doch auch alles exzellent.“

„Du meinst, dieser Umweg ist so etwas wie die Zugabe bei einem Konzert?“

„Genau. Wir sollten uns daran freuen.“ Thomas konnte es nicht fassen, dass er auf einmal der Ruhepol war. Wieso sagte er so etwas? Weil es das Einzige war, was er selbst akzeptieren konnte, etwas anderes durfte einfach nicht sein.

„Du hast Recht. In diese Höhle kommt man schließlich nicht alle Tage, wir sollten uns also alle Highlights ansehen.“

Thomas fuhr Nayeli liebevoll mit dem Daumen über die Lippe, die schon etwas blau war. Eigentlich war er kein Freund davon, ein Buffet leerzuräumen, nur weil man dafür bezahlt hatte. Wenn man satt war, sollte man gehen, genauso wenn einem kalt war. Aber jetzt blieb ihnen offenbar nichts anderes übrig. „Lass uns weitergehen“, sagte er, „dann kommen wir am schnellsten zum Ausgang.“

Sie gingen weiter. Thomas überlegte, ob er ihr den Rucksack geben sollte, weil der ihr vielleicht den Rücken etwas wärmen würde. Aber der Rucksack war auch ziemlich schwer. Enthielt er vielleicht noch etwas, das sie sich überziehen konnte? Auf jeden Fall gab es darin eine Notfallausrüstung. Thomas spürte, dass ihn das ein wenig beruhigte. Ja, er brauchte sich gar nicht so mulmig zu fühlen. Nayeli hatte gesagt, dass jemand darüber Bescheid wusste, dass sie hier unten waren und dass spätestens um einundzwanzig Uhr die Höhlenrettung alarmiert würde, wenn sie sich bis dahin nicht zurückmeldeten. Seine Chopard zeigte ihm an, dass es schon fünf Minuten nach acht Uhr war. Es war also nicht mehr lange hin bis zur verabredeten Zeit, so dass ihnen gar nichts passieren konnte.

Was für ein Labyrinth! Mit jedem Schritt erschien diese Höhle größer und weitläufiger und es fühlte sich an, als ob man hier sehr leicht verloren gehen konnte. Das täuscht nur, sagte sich Thomas. Wahrscheinlich war es wie das Gefühl, wenn man einen Kieselstein im Schuh hatte, der einem darin wie ein großer Brocken vorkam. Sobald man eine Skizze von diesem Höhlensystem sah, würde dieses Labyrinth schnell seinen Schrecken verlieren. Ihre Unsicherheit beruhte allein auf der fehlenden Übersicht, versuchte sich Thomas zu beruhigen. Ihr Licht war zu gering, um die Räume richtig einschätzen und zu einem Bild zusammensetzen zu können. Sie verfügten einfach nicht über die Erfahrung eines Höhlenforschers. Außerdem waren sie nicht hierher gekommen, um eine Karte zu zeichnen, sondern sie vertrauten auf die Führung durch Secret Ways.

Aber durfte man diesem Touranbieter überhaupt vertrauen? Hatten diese Leute überhaupt die Macht in dieser Höhle? Gab es hier nicht doch Berggeister? Unsinn. Thomas schüttelte den Kopf. Er durfte sich nicht von seiner Orientierungslosigkeit verunsichern lassen. Alles war so wie vorhin, als er im Auto saß und Nayelis Maske auf den Augen hatte, alles war ganz sicher. Wahrscheinlich gingen sie nur im Kreis und der Ausgang befand sich ganz in der Nähe. Wenigstens ging es jetzt aufwärts.

Die Steine erschienen jetzt feuchter und auf dem Boden suchte sich ein kleines Rinnsal seine Bahn. War es nicht unsinnig, dass sie weitergingen? Sollten sie nicht lieber direkt mit den Leuten von Secret Ways Kontakt aufnehmen? Aber wenn sie das taten, wäre der Zauber dieses Abenteuers endgültig verloren. Doch war er das nicht längst?

Vor ihnen öffnete sich wieder ein großer Höhlenraum. Hier gab es zwar auch einige Tropfsteine, aber nicht so große, vielmehr war diese Halle geprägt von mächtigen Versturzblöcken. Auf keinen Fall war dieser Ort so faszinierend, dass sich ein Umweg dafür gelohnt hätte. Außerdem war plötzlich nicht mehr erkennbar, wo sie weitergehen sollten. Sie strahlten alle Steine um sich herum an, aber sie fanden keine Kreidemarkierung.

„Wir müssen zurück“, sagte Thomas. „Wir gehen einfach den Pfeilen nach, bloß umgekehrt. Dann finden wir irgendwann schon die Stelle, an der wir falsch abgebogen sind.“

„Gut, machen wir das“, stimmte Nayeli ihm zu.

Zuversichtlich, weil sie einen Plan hatten, stapften sie zurück. Bald kamen sie an die Stelle, wo der letzte Pfeil gewesen war. Aber so oft Thomas auch an die Steine leuchtete, die weiße Markierung war nicht mehr zu entdecken. Er ging dichter zu einem Felsen und leuchtete auf dessen Oberfläche. „Kreidespuren“, sagte er. „Hier gab es einmal einen Pfeil, aber er wurde weggewischt.“

Nayeli starrte ihn entsetzt an. „Wieso? Warum sollte jemand so etwas tun?“

„Ich weiß es nicht.“ Thomas leuchtete panikartig in alle Richtungen. „Aber ich weiß noch, woher wir kamen, als wir diesen Pfeil gesehen haben. Hier lang.“

Ihre Umgebung sah zwar überall gleich aus, aber Thomas meinte trotzdem, sich daran erinnern zu können. Er wollte nicht glauben, dass jemand die Markierung absichtlich weggewischt hatte, vielleicht war der Kreidepfeil nur durch die Feuchtigkeit verschwunden.

Erneut blieben sie stehen. Diesmal war sich Thomas allerdings nicht sicher, aus welcher Richtung sie gekommen waren. Chaotisch ließ Thomas den Kreis der Taschenlampe über die Steine wandern, aber überall sah er nur kahlen Felsen.

„Da!“ Nayeli deutete in eine Richtung. „Dort ist ein Pfeil.“

Thomas atmete erleichtert aus. Sie gingen in die Richtung, aus der man die Markierung am besten sehen konnte, auch wenn Thomas dieser Bereich völlig unbekannt vorkam. Dieser Teil der Höhle wirkte ziemlich abgeschlossen, mehrere kleine Grotten folgten aufeinander. Thomas rümpfte die Nase und wandte sich an Nayeli. „Es riecht hier ziemlich eklig. Ist das vielleicht Fledermauskot?“

Abrupt blieb Nayeli stehen. Sie wandte sich nach rechts, wo eine Grotte tiefer nach hinten ging. Sie schaute zunächst nach oben und ihre Helmleuchte strahlte an die Decke. Dann blickte sie tiefer und kreischte.

Thomas brauchte einen Moment, um zu begreifen, was sie sah. Das Licht der Taschenlampe beleuchtete zwei Menschen, die mit dem Rücken zur Wand am Boden saßen, ein Mann und eine Frau. Ihre Augen starrten leer vor sich hin, ihre Haut wirkte seltsam grünlich, insgesamt schienen sie irgendwie aufgequollen und der üble Geruch stammte definitiv von ihnen. Diese beiden Menschen waren tot.