10. Johannes
Obwohl, noch bestand die Chance, dass sie gerettet wurden. Wenn sie morgen nicht auf der Arbeit erschienen, würde man dann nicht nach ihnen suchen? Nein, schoss es Thomas durch den Kopf, mein Geschäftsführer glaubt, ich würde mit Nayeli Urlaub machen. Und wenn Nayeli nicht zur Theaterprobe erschien, dann würde sich lediglich ihre Zweitbesetzung freuen. Ihr Leben lag einzig und allein in den Händen der Kiefer-Brüder. Thomas überlegte fieberhaft. „Wartet“, schrie er, „ich kann euch noch mehr Geld geben!“
Die Brüder blieben stehen, das Licht ihrer Taschenlampe strahlte wieder in ihre Richtung.
„Ich kann meine Bankgeschäfte vom Smartphone aus erledigen“, rief Thomas. „Ich kann Nayelis Konto auffüllen und auch die Konten von den Holländern. Das dauert nicht lange, ich muss nur ein paar Daten in mein Handy eingeben.“
„Ach ja?“ Karl runzelte die Stirn. „Wie soll denn so etwas funktionieren?“
„Im Prinzip ist es normales Online-Banking. Solange man sich keine fremde Tastaturen installiert, die deine Passwörter abfangen und man kein öffentliches Netzwerk verwendet, ist es sicher. Hier unten gibt es allerdings gar kein Netz. Dafür müssen wir an einen Ort gehen, wo ich Handyempfang habe.“
Karl lachte auf. „Das könnte dir so passen. Du willst nur, dass wir euch nach draußen bringen. Ich glaube dir kein Wort.“
„Dann gibt es eben kein zusätzliches Geld.“
Karl kam wieder dichter heran. „Warum tust du das? Warum willst du uns freiwillig mehr Geld geben?“
„Damit ihr wenigstens Nayeli freilasst“, entgegnete Thomas. „Ich kann hier verrecken, aber bitte lasst sie am Leben!“
Nayeli schluchzte auf. „Nein Thomas, ich will nicht ohne dich sein.“
„Halt die Klappe!“, herrschte Karl sie an. „Ich muss nachdenken.“
Thomas schätzte ihn als gierig genug ein, dass er sich das Geld nicht entgehen lassen würde. Allerdings würde er es nicht zu der Bedingung machen, die Thomas ihm genannt hatte. Niemals würde er Nayeli das Leben schenken, da gab sich Thomas keinerlei Illusion hin. Wahrscheinlich würde Karl alleine mit ihm nach draußen gehen und Johannes bei Nayeli lassen. Aber das war schon etwas, was ihm nützen würde, denn mit Karl alleine konnte Thomas vielleicht fertig werden.
„Wir machen es folgendermaßen“, sagte Karl. „Du erklärst mir, wie das mit dem Handy funktioniert und ich mache es draußen alleine, während Johannes hier unten auf euch aufpasst. Sollte es klappen, dann tragen wir deine Freundin nach draußen und lassen sie gehen.“
„Also so einfach geht das nun auch nicht mit dem Smartphone,“ widersprach Thomas.
„Wir machen es so oder gar nicht.“
Thomas dachte angestrengt nach. Vielleicht war das gar nicht so schlecht. Wenn er hier unten alleine mit Johannes war, dann standen seine Chancen vielleicht sogar noch besser, denn irgendwie hatte er den Eindruck, dass Johannes schwächer war als Karl. „In Ordnung. Ich gebe die Daten offline ein. Dann musst du nur noch für jede Transaktion eine eTAN eingeben, die bekommst du per SMS zugeschickt, sobald du draußen bist. Nun, wahrscheinlich nicht sofort, ein paar Minuten musst du warten, bis das System begreift, dass es wieder online ist.“
Karl übergab Johannes das Gewehr. „Alles klar, fang an.“ Er holte Thomas Smartphone aus der Tasche und überreichte ihm zusätzlich die Bankkarten der Niederländer. Thomas dachte daran, eine SMS zu schreiben, die automatisch abgeschickt wurde, wenn Karl nach draußen ging, aber Karl beobachtete ihn genau. Er konnte nur die Bank-App öffnen. „Wie viel soll ich überweisen?“, fragte Thomas. „Zehntausend Euro auf jedes Konto?“
Johannes klappte die Kinnlade herunter. „So viel Geld hast du?“
„Mach fünfzehntausend daraus“, sagte Karl.
„Fünfzehntausend mal vier“, rechnete Johannes, „das sind über vierzigtausend Euro.“
„Fertig“, sagte Thomas und übergab Karl das Smartphone. „Das müsste so klappen.“
„Wenn es nicht klappt, dann spürt das zuerst deine Freundin. Und jetzt streckt eure Hände aus.“
„Wie bitte?“
„Die Hände!“
Verdutzt sah Thomas zu, wie Karl zwei lange Kabelbinder aus der Tasche zog. Damit hatte er nun gar nicht gerechnet. Karl schnappte sich seine beiden Hände und zog den Kabelbinder zu, dasselbe machte er bei Nayeli. „So, die Pakete sind verschnürt. Dann werde ich mal sehen, wie sinnvoll so ein Smartphone ist und ob ich mir selbst auch eins zulegen werde.“ Karl verschwand im Labyrinth.
Thomas versuchte mit aller Kraft, seine Hände zu befreien, aber er erreichte damit nur, dass ihm der Kabelbinder tiefer ins Fleisch schnitt. Wie sollte er denn so gefesselt gegen Johannes kämpfen? Seine tolle Idee hatte gar nichts gebracht, nun waren sie endgültig verloren.
„Es tut mir leid, Thomas.“ Nayeli schluchzte. „Es tut mir leid, dass ich dir so einen schrecklichen Geburtstag bereitet habe. Es sah alles so echt aus, die Website wirkte so professionell.“
„Ach ja?“ Thomas fühlte plötzlich nur noch Wut. „Verdammt noch mal, hierbei geht es doch nicht um einen Webshop für Mode, wo man einfach alles zurückschicken kann, was einem nicht gefällt!“
„Aber da hat doch jemand gute Bewertungen abgegeben.“
„Solche Bewertungen kann man einfach erfinden. Du bist so naiv, Nayeli! Wahrscheinlich hast du nicht einmal ein Antivirusprogramm auf deinem Computer installiert.“
„Ich habe sogar ein Desktop-Haustier, das man jeden Tag füttern muss, auf meinem Computer installiert.“
„Hört auf, euch zu streiten!“, brüllte Johannes Kiefer. „Das ist ja noch schlimmer als euer Turteltäubchengehabe.“ Er fuchtelte so wild mit der Flinte herum, dass sich ohne weiteres unabsichtlich ein Schuss lösen könnte, also schwiegen Thomas und Nayeli sofort. Johannes senkte die Waffe und der Lauf zeigte wieder auf den Boden.
Thomas holte tief Luft. Natürlich war es idiotisch, sich jetzt zu streiten. Sie durften nicht aufgeben, noch waren sie alleine mit Johannes. Ja, sie waren gefesselt, er konnte nicht gegen Johannes kämpfen, aber vielleicht konnte er ihn auf ihre Seite ziehen. Vielleicht ließ sich Johannes davon überzeugen, sich gegen seinen Bruder zu stellen. „Karl überweist euch gerade sechzigtausend Euro.“ Thomas blickte Johannes direkt in die Augen. „Aber du kannst mehr bekommen. Ich gebe dir das Doppelte, wenn du uns jetzt die Fesseln durchschneidest.“
Johannes schien zu überlegen.
„Natürlich verraten wir euch nicht“, fügte Thomas hinzu, „Wir lassen die Sache einfach auf sich beruhen. Ist das nicht ein fairer Deal?“
„Hundertzwanzigtausend Euro.“ Johannes sah Thomas fest an. „Kannst du auch eine viertel Million daraus machen?“
Thomas nickte. „Auch dass lässt sich machen.“ Hoffnung keimte in ihm auf.
„Und was soll ich mit Karl tun, wenn er zurückkommt?“, fragte Johannes.
„Du hast das Gewehr. Er kann die Schuld für alles übernehmen. Lass uns frei, Johannes und du kommst gut aus dieser Sache heraus.“ Thomas lächelte ihn an wie einen Freund.
Doch Johannes grinste feindlich zurück. „Glaubst du wirklich, ich würde dir nur einen Moment lang glauben? Solchen Leuten wie dir kann man nicht vertrauen. Du glaubst, du kannst dir alles kaufen mit deinem Geld. Damit gibst du mir noch einen Grund mehr dafür, um dich verrecken zu lassen. Ich werde mich niemals gegen meinen Bruder stellen.“
Thomas war frustriert, aber er war schon in genügend Verhandlungen gewesen, um zu wissen, dass es noch nicht vorbei war. Wenn man auf die eine Weise nicht weiterkam, dann musste man eben eine andere Strategie wählen. Aber welche? Durch seinen ersten Fehlversuch hatte Thomas neue Informationen bekommen, die musste er nutzen. Johannes lehnte Geld dafür ab, um sich gegen seinen Bruder zu stellen, also waren ihm persönliche Beziehungen besonders wichtig. Was zeichnete ihn sonst noch aus? Thomas sah, wie angespannt Johannes war. Auf keinen Fall war er so skrupellos wie sein Bruder. Was hatte Karl vorhin zu ihm gesagt, als er von dem Fleisch sprach, das man weichkochen musste? Gerade du müsstest das doch wissen.
„Du bist Koch, Johannes, nicht wahr?“ Thomas blickte in ein überraschtes Gesicht. „Du hast unser Dinner gemacht. Du bist sehr talentiert, das Menü war deliziös.“
Johannes Mund zeigte ein leises Lächeln.
„Warum machst du nicht ein Restaurant auf? Ich kann dir Investoren besorgen und eine gut gelegene Immobilie. Du kannst groß rauskommen.“
Das Lächeln in Johannes Gesicht verschwand. „Du versuchst ja schon wieder mich zu bestechen.“
„Nein, du verstehst mich falsch. Ich will dir nur sagen, dass du das hier gar nicht nötig hast. Du kannst etwas.“
„Weißt du, wie schwer es ist, ein Restaurant zu führen? Ich kann vielleicht gut kochen, aber ich kann keine Rechnungen schreiben. Und dann vertraut man auf einen, der das macht, so einem Kerl wie dir, und dann betrügt er einen und man bleibt auf einem Berg Schulden sitzen.“
„Das tut mir wirklich leid.“ Thomas schluckte. „Es muss schlimm sein, sein eigenes Geschäft zu verlieren. Aber dafür kannst du doch nicht Menschen sterben lassen, die damit gar nichts zu tun haben. Es gibt die Möglichkeit dich zu entschulden. In fünf Jahren kannst du wieder von vorn beginnen.“
„Wenn es nur um mich ginge, dann würde ich das vielleicht machen.“ Johannes seufzte. „Aber ich habe eine Tochter. Sie studiert in München. Sie ist äußerst gescheit. Ich kann nicht fünf Jahre warten, um sie zu unterstützen, das muss ich jetzt tun. Die Stadt ist zum Leben zu teuer und sie muss sich voll auf das Studium konzentrieren, damit sie einen guten Abschluss bekommt. Ich will, dass sie ein besseres Leben hat als ich.“
„Und du glaubst, sie will, dass ihr Vater dafür Menschen sterben lässt?“
„Davon wird sie doch nie etwas erfahren.“
„In Bezug auf uns vielleicht nicht. Aber irgendwann fliegt ihr auf. Dann sitzt du im Gefängnis und deine Tochter wird dich hassen und sich für dich schämen.“
„Niemals! Wir fliegen niemals auf, niemand kann uns etwas nachweisen. Secret Ways ist sicher.“
Thomas Gehirn arbeitete unermüdlich. Während er redete, versuchte er, alle neuen Informationen miteinander zu verbinden. „Euch beiden wird man vielleicht nichts nachweisen können. Aber dafür wird deine Tochter ins Gefängnis wandern.“
Johannes wich jede Farbe aus dem Gesicht. „Was meinst du damit?“
„Ihr beide habt doch keine Ahnung davon, wie man eine Website aufbaut. Es war deine Tochter, die den Internetauftritt von Secret Ways gestaltet hat, nicht wahr? Sie hat euch das Logo designt und die gefälschten Kommentare gepostet.“ Thomas hatte offensichtlich voll ins Schwarze getroffen.
„Aber sie weiß nichts davon, was wir wirklich machen“, rief Johannes. „Sie glaubt wir bieten tatsächlich diese geheimen Touren an. Sie wollte uns nur dabei helfen, unser Geschäft aufzubauen.“
„Trotzdem habt ihr sie mit hineingezogen. Eure Website kann man zurückverfolgen, man wird auf deine Tochter zukommen, ihr Fragen stellen und sie unter Druck setzen. Dann wird sie dir Fragen stellen und sie wird merken, ob du sie anlügst. Auch wenn euch die Polizei nichts nachweisen kann, deine Tochter wird wissen, dass du nur ein feiger Mörder bist. Du willst ihr helfen mit dem Geld, aber in Wahrheit zerstörst du damit ihr Leben.“
„Du lügst. Mein Bruder hat gesagt, sie ist sicher.“
„Dein Bruder nutzt euch beide aus, dich und deine Tochter. Er hat nichts zu verlieren, aber du kannst alles verlieren. Du trägst das ganze Risiko alleine.“
Johannes schlug Thomas mit dem Gewehrkolben gegen den Kopf. „Halt endlich die Klappe!“
Thomas Lippe war aufgeplatzt, er spürte, wie ihm das Blut über das Kinn floss. Johannes wandte den Blick von ihm ab und stierte stattdessen Nayeli an. „Meine Tochter nimmt auch gerne Tanzunterricht. Es ist nur in ihrer Freizeit, aber es macht ihr viel Spaß und ich will, dass sie sich das weiter leisten kann. Sie freut sich so, dass Secret Ways gut läuft. Sie will mich besuchen kommen.“
„Verdammte Scheiße!“ Karl erschien wieder neben seinem Bruder, sein Gesicht war knallrot vor Wut. „Es klappt nicht mit der Überweisung“, brüllte er, „der Typ hat uns verarscht. Gut, dass du ihn geschlagen hast. Aber das reicht noch nicht. Jetzt ist die Schlampe dran.“ Karl schnappte sich das Schrotgewehr von Johannes, lud einmal durch und richtete die Waffe auf Nayelis Gesicht. Der Schuss knallte, warmes Blut spritzte Thomas auf die Wange.