12. Ausweg
Was jetzt?, dachte Thomas. Die Kiefer-Brüder waren zwar tot, aber sie beide waren noch immer gefesselt. Noch immer saßen sie hier unten fest, ohne zu wissen, wo der Ausgang war. Wenn sie nicht vor Kälte starben, würden sie verhungern. Das Licht der Taschenlampe auf dem Boden würde länger brennen als ihre Lebenslichter. Hoffnungslos atmete Thomas aus. Wenigstens war er mit Nayeli zusammen. Die Tänzerin hatte wirklich ein Abenteuer in sein Leben gebracht, auch wenn dieses Leben nun zu Ende war.
„Es tut mir so leid!“, sagte Nayeli. „Ich wollte dir doch nur ein ganz besonderes Geburtstagsgeschenk machen.“
Sie sah schrecklich aus mit all dem Blut im Gesicht. Thomas stellte sich vor, dass es sich dabei in Wahrheit nur um Rotwein handelte, so wie vorhin, als ihm die Weinflasche im Rucksack zerbrochen war.
Moment, schoss es ihm durch den Kopf. War das nicht eine Möglichkeit, um wenigstens ihre Fesseln loszuwerden? Thomas drückte sich an der Wand hoch.
„Was hast du vor?“, fragte Nayeli. „Bitte lass mich jetzt nicht alleine.“
„Keine Angst“, entgegnete Thomas. „Ich gehe nicht weit weg.“ Vorsichtig schnüffelnd ging er los. Er folgte dem Duft des Spätburgunders und blieb stehen, als er ihn am intensivsten wahrnahm. Hier musste es sein. Hier war Nayeli gestürzt und die Weinflasche zerbrochen. Thomas sank auf die Knie und suchte mit seinen Händen nach einer Glasscherbe.
„Bist du noch da, Thomas?“
„Ich komme gleich zu dir zurück.“ Thomas versuchte angestrengt, die Glasscherbe an den Kabelbinder zu drückten, aber dazu musste er seine Hände so verdrehen, dass er sich die Nerven abpresste und kaum noch etwas in den Fingern spürte, außerdem konnte er auf diese Weise nur wenig Kraft hinter das provisorische Schneidwerkzeug bringen. Wahrscheinlich verletzte er sich gerade selbst, aber das war ihm egal. Wichtig war, dass er es irgendwie schaffte, diesen verfluchten Kabelbinder aufzuschneiden.
„Thomas?“, rief Nayeli. „Ich werde zu dir kommen und dir helfen.“
„Nicht nötig. Ich habe es geschafft.“ Erleichtert merkte Thomas, dass seine Hände wieder frei waren. Er eilte zurück zu Nayeli und befreite auch sie. Schluchzend umarmte sie ihn und er drückte sie fest an sich. „Du lebst! Ich bin so froh, dass du lebst.“
„Wie kommen wir hier wieder raus?“ Nayeli schluchzte. „Meinst du, wir finden den Ausgang auch ohne die Kiefer-Brüder?“
Thomas wartete noch ein bisschen, bis die Tänzerin ihre Umklammerung ein wenig lockerte, dann löste er sich von ihr. Er hob die Taschenlampe auf, beugte sich zu den Überresten von Johannes hinab und durchsuchte die Hosentaschen des Kochs. Er fand einen Knopf und einen zerknüllten Zettel, aber dabei handelte es sich nur um die Rechnung für den Hummer. Karls Hosentaschen waren glücklicherweise ergiebiger. „Ein Kompass!“ Thomas jauchzte auf. „Und eine Skizze von diesem verdammten Labyrinth. Damit müssten wir es schaffen.“ Thomas zeigte beides Nayeli. Gemeinsam versuchten sie, die Zeichnung zu entziffern, um einen Anhaltspunkt dafür zu bekommen, an welcher Stelle sie sich befanden.
„Das hier muss die Halle mit den Versturzblöcken sein“, sagte Thomas.
„Dann ist dort die Höhle mit den riesigen Tropfsteinen, in der wir gegessen haben.“
„Und hier ist der Ausstieg.“ Thomas zeigte auf eine Stelle, an der sich das Symbol einer Leiter befand.
„Aber wo sind wir?“, fragte Nayeli.
Thomas packte die Skizze samt Kompass in seine Jackentasche, legte seinen Arm um Nayeli und half ihr auf. „Wir gehen am besten erst einmal in die Richtung, in die Karl Kiefer vorhin verschwunden ist. Unterwegs werden wir schon einen charakteristischen Wegmarker finden, der auf der Skizze eingezeichnet ist.“
Sie kamen nur langsam voran, denn Nayeli konnte mit ihrem verletzten Fuß kaum auftreten. Aber das war egal, jetzt wurden sie ja nicht mehr verfolgt. Die Aussicht, dass sie diese Höhle verlassen konnten, gab ihnen Kraft und Zuversicht.
„Da!“, schrie Nayeli.
Thomas sah sofort, was sie meinte, der Lichtkegel der Taschenlampe schien auf einen weißen Kreidepfeil. An dieser Stelle waren sie schon einmal gewesen, als sie die Höhle betreten hatten. Der Ausgang war also nicht weit weg. Sie blickten wieder auf die Skizze, bestimmten ihren Standort und Thomas trug Nayeli die letzten Meter bis zur Leiter. Er ließ der Mexikanerin den Vortritt, an den Sprossen konnte sie sich mit eigener Kraft hochziehen, dafür brauchte sie mehr die Arme als die Beine.
Mit einem Quietschen öffnete Nayeli die Klappe und rollte sich auf den Waldboden, Thomas folgte ihr. Wie herrlich hell es hier draußen war! Es war zwar Nacht, aber am Himmel strahlte eine Mondsichel und auch die Sterne funkelten golden. Nach der Finsternis, der sie gerade entkommen waren, würde er solch eine Nacht niemals mehr für dunkel halten.
„Wir haben es geschafft!“, jubelte Thomas und nahm sein Smartphone in die Hand, um die Polizei anzurufen. „Wir haben es tatsächlich geschafft.“